Kann sich das Land Nordrhein-Westfalen an der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Niederlande orientieren? Diese Frage beschäftigte den Hauptausschuß unter der Leitung seines Vorsitzenden Klaus Matthiesen (SPD) bei der Aussprache über den CDU-Antrag "Umsetzung der Erkenntnisse des Ministerpräsidenten aus der Niederlandreise am 6. und 7. Februar 1997 für eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation und Wirtschaftslage in NRW. In öffentlicher Sitzung forderte die CDU am 27. November, alle Kraft daran zu setzen, um eine Entwicklung für mehr Arbeitsplätze wie in Holland zu erreichen. SPD und GRÜNE äußerten sich zurückhaltender. Niederländische Erkenntnisse sollten durchaus aufgegriffen werden, das Modell des Nachbarlandes indessen könne wegen der anders gearteten Verhältnisse in Deutschland komplett als "Modell" so nicht übernommen werden. Der CDU- Antrag wurde mehrheitlich abgelehnt (Drs. 12/1798).
Zu Beginn erinnerte der Vorsitzende daran, daß der Antrag der CDU-Fraktion durch Beschluß des Landtags am 5. März an den Hauptausschuß federführend und an den Wirtschaftsausschuß überwiesen worden sei. Der Hauptausschuß habe zusammen mit dem Wirtschaftsausschuß am 12. Juni zu diesem Antrag ein Fachgespräch mit Experten durchgeführt. Der mitberatende Ausschuß habe am 13. November mitgeteilt, daß er den CDU-Antrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt habe.
Die Sprecherin der CDU-Fraktion, Ruth Hieronymi, bedauerte nachdrücklich, daß der Wirtschaftsausschuß diese Initiative, die ja auf einer Reise und einer sich daraus ergebenden Bewertung des Ministerpräsidenten dieses Landes beruhe, abgelehnt habe. Der Ministerpräsident habe auf seiner Reise abschließend die Bilanz gezogen, daß es sich in den Niederlanden um ein kleines "Wirtschaftswunder" handele. Sie denke, es sollte eigentlich Einigkeit bestehen, wenn eine solche Entwicklung im Nachbarland zu verzeichnen sei, "daß wir dann auch alle gemeinsam alle Kraft daran setzen, um für die Menschen in unserem Land eine solche Entwicklung für mehr Arbeitsplätze zu erreichen." Drei Prozent Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren in den Niederlanden, 800 000 zusätzliche Arbeitsplätze und eine fast nur halb so hohe Arbeitslosigkeit wie in Nordrhein-Westfalen, sie meine, das wäre ein Ziel, für das es sich gemeinsam zu kämpfen lohnte. Frau Hieronymi wies darauf hin, die Sachverständigen hätten hervorgehoben, daß dieser Erfolg nur möglich gewesen sei, weil die Tarifpartner sowie die politischen Kräfte in den Niederlanden bereit gewesen seien, über einen langen Zeitraum Kompromiß- und Konsensfähigkeit unter Beweis zu stellen. Man habe die Landesregierung aufgefordert, die Erkenntnisse des Ministerpräsidenten aus der Reise auch für NRW zu verwirklichen und darzulegen, durch welche Initiativen das Land bereit sei, dazu beizutragen, daß die Grundzüge dieser Politik auch im Bund und im Bundesrat verwirklicht werden könnten. Die Sprecherin vermißte diese Bereitschaft bei SPD und GRÜNEN.
SPD-Sprecher Reinhard Grätz meinte knapp: "Wir lehnen den CDU-Antrag deshalb ab, weil er für uns zu kurz springt." Das heiße aber nicht, daß man sich nicht mit dem Thema beschäftige. Es sei ja so, daß das Land NRW, soweit es als Land überhaupt wirksam werden könne, ja schon vor der Niederlandreise wichtige niederländische Erkenntnisse aufgenommen habe. Er erinnerte an das Projekt "START". Grätz merkte allerdings an, er finde es schon bemerkenswert, daß die CDU die von ihr gestellte Bundesregierung für so inaktiv halte, daß es Initiativen eines Landes über den Bundesrat bedürfe, damit sie endlich wirtschafts- und beschäftigungspolitisch aufwache. Denn die Bundesebene sei die vergleichbare Ebene mit den Niederlanden. "Aber wenn es darum geht, die Bundesregierung endlich auf Trab zu bringen, damit sie niederländische Erkenntnisse und Modelle in Deutschland verwirklicht, dann sind wir immer dabei", erklärte der Abgeordnete. Zur unterschiedlichen Situation in beiden Ländern stellte er fest, in den letzten beiden Jahrzehnten sei der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung, die im Erwerbsalter stünden, in Deutschland um vier auf 65 Prozent gesunken. Anders in den Niederlanden in den letzten zwanzig Jahren. Da sei der Anteil von 56 auf 64 Prozent gestiegen. Der enorme Unterschied erkläre günstigere Beschäftigungswerte in den Niederlanden. Der enorme Unterschied liege auch in den Zahlen, was Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung anlange. In Deutschland seien nach wie vor 75 Prozent der Menschen in einem sogenannten Vollzeitarbeitsverhältnis, in den Niederlanden nur 52 Prozent der beschäftigten Menschen. Daraus resultiere letztlich die bessere Quote der Niederlande bei der Arbeitslosenzahl. Die flexiblen Möglichkeiten, die man in den Niederlanden durch eine Vielzahl von Näherungsschritten in einem Prozeß des sozialen Konsenses gefunden habe, diese Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, die nicht zu einer übermäßigen Verunsicherung der Menschen geführt habe, sei offenbar "bei uns" nicht möglich, denn seit der "geistig moralischen Wende" in Deutschland sei ja das soziale Klima hier so vergiftet, daß es eben nicht möglich scheine, zu einem solchen sozialen Konsens zu kommen, wie es in den Niederlanden zwischen den Tarifparteien, den Tarifparteien und Verbänden sowie zwischen Tarifparteien, Regierung und Parlament offenbar immer wieder möglich sei. Und da liege die entscheidende Aufgabe der Bundesregierung. Insoweit unterstütze man tendenziell die CDU. Initiativen über den Bundesrat seien offenbar weiter nötig, damit die Bundesregierung gute Beispiele aus dem Ausland übernehme. Grätz schloß, vieles aus den Niederlanden sei sicherlich übertragbar, gleichwohl sei man nicht der Meinung, daß das Ergebnis dieses langjährigen konsensualen Prozesses als Modell darzustellen sei, insbesondere weil die Größenordnungen und die ganz anderen gesellschaftlichen Strukturen in den Niederlanden nicht platt übertragbar seien auf andere Länder der Europäischen Gemeinschaft. Doch vieles sei beispielhaft und lasse sich erproben. Auch die GRÜNEN lehnten den Antrag ab, betonte deren Fraktionssprecherin Gisela Nacken. Von der Forderungsseite her sei er im Prinzip erfüllt. Für sie sei immer schon klar gewesen, daß dieser Antrag der CDU nur dazu diene, eine Reise des Ministerpräsidenten hier im Parlament zu thematisieren. Das Hauptproblem sei, daß auf Bundesebene das gesellschaftliche Klima nicht da sei, zu einer solchen konsensualen Anstrengung wie in den Niederlanden zu kommen. Frau Nacken erinnerte an das Bündnis für Arbeit, das vom Bundeskanzler zu Fall gebracht worden sei und nicht von den Gewerkschaften.
Frau Hieronymi griff die Initiativen im Bundesrat auf. Sie hätten den Sinn, die bisherige Blockadehaltung des Bundesrates aufzubrechen, um überhaupt zu Ergebnissen zu kommen. Auch der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Lothar Hegemann (CDU) meinte, wenn der Ministerpräsident dieses Landes im Landtag von NRW erkläre, man könne viel von den Niederländern lernen, dann hätte der Abgeordnete Grätz den Zwischenruf machen müssen: "Das müssen Sie im Bundesrat erzählen und nicht hier, wir haben keinen Handlungsspielraum!" Hegemann machte klar, wenn man nach Gesprächen und Anhörungen auch zu dem Ergebnis komme, das Modell in den Niederlanden sei interessant, aber nicht kopierbar, müsse man dennoch an dieses Modell, zum Beispiel an den Vertrag von Wassenaar herangehen, der für ihn nicht viel mehr als ein Bündnis für Arbeit beinhalte. 1982 in Wassenaar sei ein ganz anderer Ausgangspunkt gewesen, als es der Abgeordnete Grätz mit der "geistig moralischen Wende" beschrieben habe.
Der Abgeordnete Wolfram Kuschke (SPD) erinnerte anhand von zwei Beispielen daran, daß die Landesregierung initiativ im Bundesrat gewesen sei. Er nannte die Flexibilisierung im Bereich der Altersteilzeit "abgeschmettert von Ihrer Mehrheit im Bundestag". Das zweite, wo man versucht habe, ein anderes Arbeitsstruktur- und -förderungsgesetz auf den Weg zu bringen, sei ebenfalls von Bundestag und Bundesregierung abgeschmettert worden. Reinhard Grätz meldete sich noch einmal zu Wort: "Manmerkt, das Stichwort .geistig moralische Wende' tut weh, tut sehr weh." Das sei für ihn ein Fingerzeig, daß man es öfter gebrauchen müsse, um bestimmte Tatbestände in Erinnerung zu rufen. Er sage nicht allein im Scherz, das wäre vielleicht eine Initiative im Bundesrat wert, einmal abzufragen, was denn aus der "geistig moralischen Wende in diesem Lande geworden sei. Die Antwort werde sicher sehr kärglich ausfallen.
Zum Schluß meldete sich die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Ruth Hieronymi noch einmal zu Wort und sagte: "Das, was wir hier beantragt haben, darzulegen, welche Initiativen die Landesregierung nach den Erkenntnissen des Ministerpräsidenten im Bundesrat einzubringen bereit ist, das ist gerade die notwendige Offenheit, die wir brauchen, wenn wir tatsächlich traditionelle Gräben überspringen wollen im Interesse der Menschen."
Bildunterschriften:
Bei der 31. Sitzung des Hauptausschusses: Vorsitzender Klaus Matthiesen (SPD).
Das Beispiel Niederlande: v. l. Reinhard Grätz und Wolfram Kuschke (beide SPD), Karin Jung (SPD) und Gisela Nacken (GRÜNE) sowie Lothar Hegemann und Werner Jostmeier (beide CDU).
Systematik: 2000 Wirtschaft; 2410 Arbeitsmarkt
ID: LI971911