Der scheidende Regierungschef Johannes Rau (SPD) hat bei seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten in einer Erklärung am 27. Mai im Plenum des Landesparlaments in bewegenden Worten bekräftigt, in all den Jahren sei es ihm immer besonders wichtig gewesen, daß er das Vertrauen, das die Menschen in Nordrheinwestfalen und die Mehrheit Im Landtag in ihn gesetzt hätten, gerechtfertigt und erwidert habe. Landtagspräsident Ulrich Schmidt hob in seiner Dankesrede hervor, Johannes Rau sei es zusammen mit dem Parlament gelungen, in Nordrhein-Westfalen identitätsstiftend zu wirken und erstmalig ein Landesbewußtsein zu schaffen. "Wir in Nordrhein-Westfalen" dahinter verberge sich das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Solidarität. Hier die beiden Reden im Wortlaut:
Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) sagte: "Herr Präsident, meine Damen und Herren! Am 6. Juli 1995 hat mich der Landtag nach den Landtagswahlen vom 14. Mai zum Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen gewählt. Heute möchte ich dieses Amt zurückgeben. Als ich am 20. September 1978 zum Nachfolger von Heinz Kühn gewählt worden war, habe ich mir nicht vorstellen können, daß ich diese Funktion so lange innehaben würde. Ich konnte damals nicht wissen, daß ich einmal vor Ihnen als dienstältester Ministerpräsident und dienstältester Abgeordneter dieses Landtages sprechen würde. In all den Jahren war es mir immer besonders wichtig, daß ich das Vertrauen rechtfertige und erwidere, das die Menschen in Nordrhein-Westfalen und das die Mehrheit im Landtag in mich gesetzt haben. Ich habe mich immer darum bemüht, jenseits tagespolitischen Streits und grundsätzlicher Unterschiede in den politischen Auffassungen auch die Gesprächsfäden zu Kolleginnen und Kollegen in anderen Fraktionen nicht abreißen zu lassen. Das habe ich am Schwanenspiegel so gehalten. Daran hat sich auch hier in diesem lichten Gebäude am Rhein nichts geändert. Ich war und ich bleibe geprägt von den ganz unterschiedlichen Erfahrungen, die ich habe machen dürfen als Abgeordneter in der Opposition, als Vorsitzender der größten Regierungsfraktion, als Mitglied und Chef einer Koalitionsregierung, als Ministerpräsident mit eigener parlamentarischer Mehrheit und dann wieder in einer Koalition. Noch wichtiger als die Gesprächsfäden auch in andere Fraktionen des Parlaments war es mir, daß ich mir in allen Ämtern und in allen Funktionen ein möglichst ungefiltertes Bild machen konnte von dem, was die Menschen in unserem Land bewegt. Dazu haben neben vielen Gesprächen auch ungezählte Briefe beigetragen, die mir geschrieben wurden. Die Briefe zu lesen, war mir wichtiger als manches andere. Ich verdanke ihnen neben manchen Einsichten und den Möglichkeiten, praktisch zu helfen, vor allem das sichere Gefühl, daß ich Bodenhaftung behalten habe. Es hat meinem Amtsverständnis entsprochen, daß Menschen, die dem Ministerpräsidenten schreiben, auch eine Antwort bekommen, und zwar so schnell wie möglich, und wenn es irgend ging, von mir selber.
Grenzen des Wortes
In der Politik kommt es, wie in kaum einem anderen Bereich, auf das geschriebene und das gesprochene Wort an. Darum ist es so wichtig, die Möglichkeiten und die Grenzen des Wortes zu kennen und zu beachten. Hans Jonas, den ich in der kommenden Woche ehre, und von dem zu wenige wissen, daß er ein Sohn unseres Landes war, aus Mönchengladbach stammte, hat das so formuliert: Er hat die Sorge der .Vergeblichkeit des Wortes', das, so sagte er, ,dann ohnmächtig werden kann für die Gegenwart, wenn es zu sehr in die Zukunft greift, oder wenn es zu stark in Widerspruch gerät mit den Zwängen, den Nöten, den Interessen oder den Mächten der Zeit'. Ich habe mich in allen Ämtern darum bemüht, ich selber zu bleiben im Reden und im Handeln , und vor allem darin, daß beides übereinstimmt. Wer sich darum bemüht, kann es nicht jedem recht machen. Das wollte ich auch nicht. Ich habe getan, was ich für richtig hielt und unterlassen, was ich für falsch hielt. Dabei waren die Interessen unseres Landes Nordrhein-Westfalen und das Wohl aller Menschen, die hier leben, mein Orientierungspunkt.
Ich bin dankbar dafür, daß ich mich bei meiner Arbeit immer auf eine solide und zuverlässige Mehrheit im Parlament stützen konnte. Ich bin aber auch den Kolleginnen und Kollegen dankbar, deren Vertrauen in mich nicht ganz gereicht hat, um mich in meiner politischen Arbeit zu unterstützen. Das bedeutete ja nicht, daß der Gedankenaustausch, die politische Auseinandersetzung, und wo nötig auch der heftige Streit immer fruchtlos bleiben mußten. Meine Erfahrung sagt mir, daß konstruktive Kritik auch dann als Ansporn dienen kann, wenn man sie selber nicht für ganz berechtigt hält oder wenn man sie nur teilweise verstehen kann. Am fruchtbarsten habe ich immer jene parlamentarischen Debatten empfunden, in denen quer durch die Fraktionen spürbar wurde, daß die Welt sich nicht auf Schwarz oder Weiß reduzieren läßt selbst dann nicht, wenn klare und eindeutige Entscheidungen nötig sind. Weil ich bei der Abwägung des Für und Wider in den meisten Fällen nicht hundert Prozent auf der einen oder auf der anderen Seite buchen konnte, habe ich mich manches Mal mit Entscheidungen schwergetan. Wer das als Schwäche ansieht, dem will ich das gern nachsehen. Ich lasse mich leiten von einer Einsicht, die Andre Gide so formuliert hat: .Vertraut denen, die die Wahrheit suchen. Mißtraut denen, die sie gefunden haben.' Meine Damen und Herren, wer die Zukunft gestalten will, muß wissen, woher er kommt. Nordrhein-Westfalen ist ein junges Land, aber ein Land mit traditionsreichen Städten und Regionen. So vielschichtig wie seine Vergangenheit, so vielfältig wie seine Landschaften so kontrastreich sind auch die Eigenarten der Menschen, die in Nordrheinwestfalen leben: die hintergründig verhaltenen Westfalen, die temperamentvollen und lebensfrohen Rheinländer und die Lipper, die für ihre Sparsamkeit ebenso bekannt sind wie für ihren Selbstbehauptungswillen. All das kann nur der verstehen, der die vielfältigen geistigen und religiösen Traditionen kennt, die unser Land prägen. Da gibt es den Ravensberger ebenso wie den Wuppertaler Pietismus, den Paderborner Katholizismus wie den des Münsterlandes, die Freiheitsliebe der Rheinländer und den Freisinn der Lipper. Aus dieser Vielfalt gewinnt Nordrhein-Westfalen seine Stärke.
Eine lange Tradition
Bei aller Vielfalt und bei allen Gegensätzen haben die Menschen in Nordrhein-Westfalen inzwischen ein Bewußtsein für unser Land und von unserem Land entwickelt, ein Landesbewußtsein, das nicht auf Ausgrenzung setzt, sondern zu gemeinsamem Handeln einlädt. Wie kaum eine andere Region in der Bundesrepublik Deutschland ist unser Land seit über einem Jahrhundert davon geprägt, daß Menschen als Fremde zu uns kommen und hier eine neue Heimat finden: Arbeiter aus Schlesien und aus Masuren schon vor über hundert Jahren, Flüchtlinge aus dem ehemaligen deutschen Osten nach 1945, Männer und Frauen aus der Türkei, aus Italien, aus Griechenland und aus vielen anderen Ländern, die vor allem große Unternehmen in den 60er Jahren als Gastarbeiter gerufen haben, seit Mitte der 80er Jahre viele Deutschstämmige, vor allem aus Polen, Rumänien und aus dem Gebiet der früheren Sowjetunion, und Menschen, die auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung, vor Elend und Bürgerkrieg zu uns gekommen sind. Diese lange Tradition hat dazu beigetragen, daß die meisten Menschen in Nordrhein-Westfalen nicht danach fragen, woher einer kommt, sondern was er tut, und was er beiträgt, gemeinsam die Zukunft zu gestalten. Wie schwer das ist, wie viele Probleme das bringt, das wissen wir alle, und das erfahren wir jeden Tag. Darum muß das friedliche Zusammenleben und gute Miteinander zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten politisch gefördert werden. Wir dürfen es nicht zerreden oder gar zerstören. Das muß auch in Zukunft die gemeinsame Aufgabe aller Demokraten sein ohne Wenn und Aber. Solidarität und die Bereitschaft, auch in schwierigen Zeiten zusammenzustehen, das zeichnet unser Land Nordrhein-Westfalen aus. Solidarität hat bei uns Tradition; sie wird tagtäglich gelebt. Das hat den Menschen in unserem Land Sicherheit gegeben, unaufgeregt undmit ruhiger Kraft immer wieder auch große Herausforderungen zu meistern. In kaum einem Land haben die Menschen schon seit Jahrzehnten stärker als bei uns erfahren, daß Veränderung die einzige Konstante ist. In den vergangenen Jahren hat sich Nordrhein-Westfalen gewaltig verändert weit mehr, als die meisten von uns vor zwanzig Jahren gedacht haben. So wenig wie die alten Zeiten immer gut waren, so wenig hat sich alles zum Besseren verändern können. Aber daß es auch durch vorausschauende Politik gelungen ist, dafür zu sorgen, daß aus wirtschaftlicher Dynamik nicht soziales Dynamit entsteht: Das ist eine Gemeinschaftsleistung, auf die wir in Nordrhein- .Westfalen stolz sein können. In den nächsten zwanzig Jahren wird sich wieder vieles verändern. Manches erkennen wir schon, anderes sehen wir erst in Umrissen. Unser Land wird sich das ist jedenfalls gewiß auch in den kommenden zwanzig Jahren so stark verändern, daß es in vielem nicht wiederzuerkennen sein wird. Unser gemeinsames Ziel aber sollte es sein, daß Nordrheinwestfalen ein starkes Land bleibt, in dem es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.
Ich bin sicher, daß mein Nachfolger, dem ich Glück und Segen wünsche, seine ganze Kraft für dieses Ziel einsetzen wird. Ich wünsche mir unser Land auch in Zukunft auf der Höhe der Zeit, leistungsfähig und selbstbewußt, heimatverbunden und weltoffen, freiheitlich und sozial, umweltbewußt und kulturell reich, tolerant und menschenfreundlich. Ich wünsche mir ein Land, das seine Stärke bezieht aus dem Ausgleich unterschiedlicher Interessen, aus dem Dialog verschiedener Kulturen und aus der Bereitschaft der Menschen, nicht nur an sich selber zu denken, sondern gemeinsam mit anderen die Dinge zum Besseren zu verändern. Ich wünsche mir ein Land, das sich stark macht für einen lebendigen Föderalismus in Deutschland und für ein zusammenwachsendes Europa, das seine Kraft aus der Vielfalt der Regionen bezieht. Wenn das gelingt, dann ist mir nicht bange um die Zukunft unseres Landes. Dazu kann jeder einen Beitrag leisten. Ich werde das tun als Abgeordneter, der ich bleibe, und jenseits des Amtes des Ministerpräsidenten, das ich heute dankbar abgebe.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Fehler machen alle. Auch ich habe Fehler gemacht. Ich entschuldige mich bei denen, die ich verletzt oder gekränkt habe. Ich habe das nicht gewollt. Ich überreiche Ihnen, Herr Präsident, jetzt den Brief, mit dem ich gemäß Artikel 62 Absatz 1 unserer Landesverfassung vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktrete. Glück auf und Gottes Segen für unser Land!"
Schmidt: "Wir schätzen Sie als brillanten Redner"
Der Präsident des Landesparlaments, Ulrich Schmidt, ging in seiner Laudatio auf des scheidenden Ministerpräsidenten oratorisches Talent ein. Seit seiner Jungfernrede im Jahr 1959 seien bis heute 700 Redebeiträge im Archiv dokumentiert. Schmidt überreichte deren gebundene Sammlung in fünf Bänden, exakt 7,885 Kilo schwer.
Landtagspräsident Ulrich Schmidt führte aus: "Nun bin ich zwar lange nicht so bibelfest wie Sie, Herr Ministerpräsident Dr. Rau, trotzdem will ich in Anlehnung an einen bekannten Bibelvers sagen: Es gibt eine Zeit des Vorausschauens, es gibt eine Zeit des Erinnerns und es gibt eine Zeit des Bedenkens. Wir lesen das bei Prediger 3 Vers 1.
Heute ist für mich vor allem ein Tag des Einhaltens, ein Tag, an dem ich zusammen mit Ihnen, Herr Ministerpräsident, für einen Moment innehalten und auch kurz zurückblicken möchte auf die vergangenen zwanzig Jahre. Der heutige Tag ist schon ein denkwürdiger Tag, weil er das Ende einer Etappe markiert. Er wird als Meilenstein auf einer langen Wegstrecke festgehalten werden, nicht aber als ein Tag des endgültigen Abschieds in unsere Geschichtsbücher eingehen.
Mit dem heutigen Tag haben Sie ein Amt niedergelegt, das Sie zwei Jahrzehnte ausgefüllt haben; Zwanzig Jahre lang haben Sie als Ministerpräsident die Politik unseres Landes gestaltet. Dafür spreche ich Ihnen Respekt, Dank und Anerkennung im Namen des nordrhein-westfälischen Landtags aus. Erinnern Sie sich?
,Ich werde wohl kein Landesvater, [...] weil mir dazu bestimmte Strukturen fehlen.' Erinnern Sie sich noch an dieses Zitat, Herr Ministerpräsident? Es stammt aus Ihrer Abschiedsrede vor dem Rat der Stadt Wuppertal, Ihrer Heimatstadt, deren jüngster Oberbürgermeister Sie ja auch einmal gewesen sind wenige Tage nach Ihrer Wahl zum Ministerpräsidenten. Aus heutiger Sicht stelle ich fest: Hier hat sich ein großer Politiker gründlich geirrt!
Herr Ministerpräsident Johannes Raul Sie haben in einer Zeit Verantwortung getragen, in der sich in unserem Land ein tiefgreifender Wandel vollzogen hat. Die strukturelle Krise im Bergbau zeichnete sich bereits bei Ihrem Einzug in den Landtag im Jahre 1958, das heißt, vor fast vierzig Jahren, ab. Hunderttausende von Arbeitsplätzen sollten in den folgenden Jahren verlorengehen, nicht nur im Bergbau und in der Stahlindustrie, auch im Textil- und Bekleidungsgewerbe und in vielen Zuliefererbetrieben. Rückblickend kann man sicher die Ruhrgebietskonferenz im Mai 1979 als eine Ihrer ganz großen politischen Taten bezeichnen. Nicht allein, weil mit dem aus der Konferenz resultierenden Aktionsprogramm Ruhr wichtige Weichen gestellt werden konnten, sondern vor allem, weil die Menschen damals Ihre Sorge um die Zukunft des Reviers gespürt haben, weil Sie den Menschen Hoffnung vermittelt haben, Hoffnung und ein neues Selbstbewußtsein. Nicht nur im Ruhrgebiet lernten die Menschen, wieder stolz auf ihre Heimat zu sein, auf ihr Land, das zwar nicht mehr das Land von Kohle und Stahl, aber ein Land mit Kohle und Stahl sein würde.
Ihnen ist es gelungen, in Nordrhein-Westfalen auch besonders identitätsstiftend zu wirken und erstmalig ein Landesbewußtsein zu schaffen. Wir in NRW dahinter verbirgt sich das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Solidarität. Aus dem "Bindestrichland" Nordrhein-Westfalen haben Sie ein Gemeinwesen geschaffen, in dem Rheinländer, Westfalen und Lipper gern zusammenleben. Die Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen war beispielgebend auch für andere Industrieregionen in Europa, vor allen Dingen auch deswegen, weil Sie die Menschen einbezogen und nicht außen vor gelassen haben. Der Strukturwandel bis heute ist auch deshalb gelungen, weil er auf der Grundlage der Politik des Dialogs, der partnerschaftlichen Zusammenarbeit aller Entscheidungsträger erfolgt ist eines Politikstils, den Sie maßgeblich geprägt haben. Wir haben gelernt, daß große Herausforderungen nur dann erfolgreich bewältigt werden können, wenn alle erforderlichen Maßnahmen auf dem tragfähigen Fundament eines breiten Konsens vollzogen werden. Die Einbeziehung aller verantwortlichen Akteure, die Bündelung aller Kräfte, das Zusammenwirken von staatlichen, kommunalen, verbandlichen und privaten Entscheidungsträgern, eben der Dialog am ,runden Tisch', dieses Modell hat sich bewährt.
Inzwischen hat sich unser Land zu einem attraktiven und international anerkannten Wirtschaftsstandort entwickelt. Aus der "alten" von manchen auch als "veraltet" bezeichneten Industrieregion von einst ist ein moderner, zukunftsfähiger Standort geworden, der sich im Wettbewerb der Regionen bewährt hat. Ich will nicht wiederholen, was uns allen aus unzähligen Landtagsdebatten, Regierungserklärungen und Pressemeldungen bekannt ist: die Dichte und Qualität der Hochschullandschaft und vieles mehr. Wir alle wissen und schätzen es. Daran waren Sie und war dieses ganze Parlament mit Ihnen gemeinsam beteiligt.
Es war ein langer und es war ein harter Weg, ein Weg mit Erfolgen und mit Niederlagen. Und es ist ein Weg, der noch nicht beendet ist, denn Strukturwandel ist für uns alle, die wir hier sitzen, eine dauernde Aufgabe.
Die zurückliegenden Jahre haben uns eines besonders gelehrt: Strukturwandel als Chance zu begreifen. Diese Erfahrung wird eine gute Grundlage für die Bewältigung der anstehenden Probleme sein.
Die Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft, die Veränderungen der Umwelt und der Wandel unserer Kultur stellen uns alle vor völlig neue Herausforderungen. Aber sie bergen auch neue Chancen, die wir nutzen müssen. Wir werden einsehen müssen, daß sie Gewinner bringt, leider aber auch Verlierer.
Unser Ziel ist die moderne Informations- und Dienstleistungsgesellschaft, nicht aber die Gesellschaft der Individualisten. Modernisierung kann und darf deshalb nur in sozialer Verantwortung stattfinden. Sie, Herr Ministerpräsident, haben es kürzlich auf den Punkt gebracht und gesagt: Das Bindeglied zwischen Globalisierung und Individualisierung heißt schlicht Solidarität.
Ein ganz wichtiger Begriff der aktuellen Politik lautet nicht von ungefähr "Vertrauen". Wir, die Politiker, sind für die Menschen die Zugangspunkte zum politischen System, einem System, das für viele bedauerlicherweise immer noch undurchschaubar ist Sie, Herr Ministerpräsident und dies stelle ich mit großem Respekt fest haben sich dieses Vertrauen der Menschen erworben. ,Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.' Dieser Satz stammt von Goethe, er könnte aber genausogut auch aus Ihrem Munde gekommen sein. Die alltäglichen Probleme und Sorgen der Menschen liegen Ihnen am Herzen. Sie gehen zu den Menschen, oft abseits der Öffentlichkeit, im Stillen.
Es ist Ihr Verständnis von Politik, wie Sie es einmal formuliert haben, .dem Bedürfnis der Menschen nach Harmonie und Konsens zu entsprechen und Politik als eine Sache erscheinen zu lassen, die wenig mit Macht zu tun haben sollte, aber viel mit Zwischenmenschlichkeit, Zuwendung und Mitleidenschaft.'
Einbinden, nicht ausschließen, Gemeinsamkeiten finden, statt Gegensätze in den Vordergrund zu stellen, so haben wir Sie hier im Parlament erlebt; versöhnen statt spalten, zuhören, nachdenken, antworten und dann erst entscheiden. Dies sind die Maximen Ihres Politikstils.
Nun liegt es aber in der Natur der Sache, daß gerade Politiker nicht immer uneingeschränkte Zustimmung erfahren. Das wissen wir alle. So gibt es auch Menschen, die diesen Politikstil als ,zu wenig entschlußfreudig' oder gar ,als Entpolitisierung der Vorgänge' bezeichnet haben. Ich will dies nicht bewerten, aber gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung: Gerade in einer Zeit rasanter Umbrüche erscheint es mir manchmal geboten, für einen Moment einzuhalten, um besonnen und beharrlich über die Tragweite anstehender Entscheidungen nachzudenken auch damit wir die Menschen auf dem Weg des Wandels und der Veränderung, auf dem Weg in die Zukunftsgesellschaft nicht wieder verlieren. Sie haben die Gabe des Zuhörens auch das möchten wir alle Ihnen bestätigen ,aber Sie haben auch die Gabe eines guten Politikers, der gut reden kann. Wir kennen und schätzen Sie in diesem Hause als einen brillanten Redner und gelegentlich bitte verzeihen Sie mir die etwas saloppe Umschreibung auch als begnadeten, humorvollen Unterhalter.
Den ersten Reden, die Sie wie ich in Ihrer Biographie nachlesen konnte bereits als Kind unter der Bettdecke gehalten haben, sollten noch unzählige folgen. Allein hier im Landtag sind von Ihrer Jungfernrede im Jahre 1959, Herr Ministerpräsident Dr. Rau übrigens zum Landesjugendplan, der damals noch im Haushalt des Ministerpräsidenten etatisiert war bis heute rund 700 Redebeiträge im Archiv dokumentiert. Eine gebundene Sammlung Ihrer bisherigen Redebeiträge möchte ich Ihnen später zur Erinnerung überreichen. Sie umfaßt übrigens etwa 3000 Saiten und wiegt genau 7,885 Kilogramm.
Die zukünftigen Reden in diesem Parlament eine Erklärung haben Sie vorhin abgegeben werde ich zu gegebener Zeit nachliefern.
Ihre menschliche Grundhaltung spiegelt sich auch in der Art und Weise Ihrer Rede wider: Wenn es sein muß hart in der Sache, aber nie verletzend, immer darauf bedacht, Verbindendes statt Trennendes in den Vordergrund zu stellen, die Auseinandersetzung mit dem Florett, statt dem Säbel, wie es schon öfter formuliert wurde. Und noch eines ist Ihnen stets wichtig gewesen: von den Menschen verstanden zu werden. Wie sagte schon Moliere: ,Wer so spricht, daß er verstanden wird, spricht gut.' Dem möchte ich mich widerspruchslos anschließen.
Ihre besondere Integrationskraft haben Sie aber nicht nur innerhalb der Grenzen unseres Landes bewiesen. Bei den vielen Begegnungen haben Sie sich Sympathie und Anerkennung erworben und auch Freundschaften geschlossen. Im Ausland war es Ihnen stets wichtig, über das offizielle Programm hinaus mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Ich will den Schwerpunkt Europa nennen: Sie haben früh erkannt, daß Nordrhein-Westfalen aufgrund seiner geographischen Lage und seiner Wirtschaftsstruktur von allen Entscheidungen auf europäischer Ebene am stärksten betroffen sein würde und daß es gilt, die Stellung unseres Landes im .Europa der Regionen' zu behaupten, aber auch daß es im Zuge der Internationalisierung trotz aller ökonomischen Konkurrenz für viele Probleme unserer Zeit nur gemeinsame Lösungen mit unseren europäischen Nachbarn geben kann. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren Nachbarregionen in den Niederlanden und in Belgien sind ein Beispiel dafür.
Meine Damen und Herren, unser Land tragt als modernes Industrieland mit internationalen Verflechtungen auch eine besondere Verantwortung. Die Entwicklungszusammenarbeit, die .Eine-Welt-Politik", die wir auch im Landtag durch einen eigenen Ausschuß etabliert haben, gehörte zum Aufgabenspektrum Ihrer fünf Amtsperioden. Entwicklungspolitische Aktivitäten, von der humanitären Hilfe bis zur Unterstützung beim demokratischen Aufbau, das heißt für Sie und für uns: konkreter Friedensdienst.
Einen zentralen Schwerpunkt Ihrer politischen Arbeit möchte ich abschließend hervorheben: Ihr Engagement für die Versöhnung mit dem jüdischen Volk. Ihnen lag und liegt die Schaffung eines neuen Vertrauens, aber auch die Erinnerung an das Unrecht und die Verbrechen während der nationalsozialistischen Diktatur, die überhaupt erst eine Versöhnung möglich macht, am Herzen. Sie haben die Beziehungen zwischen Israel und Nordrhein-Westfalen gefördert und ausgebaut. Sie haben dies nicht allein getan, wir alle und viele Menschen, Städte und Gemeinden unseres Landes sind diesen Weg engagiert mitgegangen.
Herr Ministerpräsident, mit Freude und Dankbarkeit stellen wir fest, daß sich in unserem Land wieder jüdisches Gemeindeleben entwickelt. Aber Sie wären nicht Johannes Rau, wenn sich Ihre Bemühungen und Aktivitäten auf die Aussöhnung mit Israel beschränken würden. Zu der .kritischen Partnerschaft' mit dem jüdischen Volk gehört untrennbar auch Ihr Bemühen um eine von gegenseitigem Verständnis geprägte Nahost-Politik. Ihr Engagement in Israel schließt deshalb selbstverständlich konkrete Hilfsmaßnahmen für die palästinensische Bevölkerung in den autonomen Gebieten mit ein. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen, insbesondere die deutsch-israelische und die deutsch-palästinensische Parlamentariergruppe, unterstützen Sie in diesem Bemühen und danken Ihnen für Ihre Signale der Verständigung.
"Letzte Schicht"
Es ließe sich noch vieles sagen zu Ihren Aktivitäten, zu Ihrem Engagement in vielen Bereichen, zu dem, was Sie in den zwanzig Jahren Ihrer Regierungsverantwortung geleistet haben. Ich will hier bewußt zum Schluß kommen; zum einen, weil die Zeit dazu gar nicht reichen würde, und zum anderen, weil dies keine Abschiedsrede werden soll, und zum letzten, weil zum 40jährigen Abgeordnetenjubiläum im Laufe dieses Jahres noch unveröffentlichtes Material vorgehalten werden muß.
Aber eine letzte Bemerkung ist mir doch noch wichtig: Durch die Rolle des Landesvaters, in die Sie in den beiden Jahrzehnten als Ministerpräsident mehr und mehr hineingewachsen sind, ist für viele unserer Bürgerinnen und Bürger die Tatsache aus dem Blickfeld verlorengegangen, daß Sie immer mit Leib und Seele Parlamentarier gewesen und geblieben sind. Sie haben den Vorrang des Parlaments nie aus dem Auge verloren. Sie haben den Landtag, seine Abgeordneten und vor allem seine Aufgaben respektiert, auf ein gutes Verhältnis und eine konstruktive Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg geachtet. Dafür gilt Ihnen heute unser besonderer Dank.
Als junger Parlamentarier haben Sie noch die drei Kabinette Meyers erlebt, die von der CDU und später von der CDU und der F.D.P. getragen wurden. Sie dienten im Koalitionskabinett von Heinz Kühn als Wissenschaftsminister. Ihr erstes Kabinett war eine Koalition mit der F.D.P. Danach folgten drei SPD- Allein-Regierungen. In dieser Wahlperiode arbeiten Sie in einer Koalition mit BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN. In diesen fast vierzig Jahren haben Sie in diesem Hause viele Kontakte und Freundschaften über die Fraktionsgrenzen hinweg gepflegt. Ihre ersten parlamentarischen Händel hatten Sie mit der Ihnen gelegentlich mütterlich zugewandten Christine Teusch von der CDU. Näheres zu diesem Thema, Herr Ministerpräsident, bei einer späteren Laudatio.
Herr Ministerpräsident, mit dem heutigen Tage Ihrer .letzten Schicht' als Regierungschef geht eine wichtige, eine bedeutende Etappe Ihres politischen Wirkens zu Ende, aber gleichzeitig beginnt ein neuer Abschnitt. Sie haben einmal gesagt, daß es das Ideal Ihrer Politik sei, ,das Leben der Menschen im Laufe der Jahre ein Stückchen menschlicher zu machen.' Für das in diesem Sinne bisher Geleistete danke ich Ihnen im Namen des gesamten Hohen Hauses und ich tue dies auch stellvertretend für die Menschen in unserem Land. In meinen Dank an Sie schließe ich auch Ihre Familie ein, die Ihnen den nötigen Rückhalt gegeben hat. Für den nächsten Abschnitt in Ihrer Lebensplanung, Herr Ministerpräsident, wünschen wir Ihnen alle Glück und Erfolg. Mit dem heutigen Tag wechseln Sie von der Regierungsbank als dienstältestes Mitglied dieses Hauses zurück in die Reihen der Abgeordneten: Herzlich willkommen, Glück auf und Gottes Segen!"
Bildunterschrift:
Zum Abschied Blumen: Landtagspräsident Ulrich Schmidt (r.) dankte dem scheidenden Ministerpräsidenten Johannes Rau (SPD). Foto: Schälte
Am Tag der Wahl: v. l. der neue Ministerpräsident Wolfgang Clement, sein Vorgänger Johannes Rau und der SPD-Fraktionsvorsitzende Klaus Matthiesen (r., alle SPD). Neben Ihm Regierungssprecher Dr. Norbert Walter- Borjans.
Die Fraktionsspitze der GRÜNEN, Gisela Nacken (2. v. r.) und Roland Appel (3. v. r.) sowie der Abgeordnete und SPD-Landesvorsitzende Franz Müntefering (l.) gratulieren Wolfgang Clement.
Vor Beginn des Plenums am 27. Mai: CDU-Fraktionschef Dr. Helmut Linssen, der sich zur Wahl stellte, sowie der CDU-Wirtschaftsexperte Laurenz Meyer (v. l.).
Landtagspräsident Ulrich Schmidt bei seiner Laudatio.
Systematik: 1220 Landesregierung
ID: LI980921