13. Februar 2019 - Die Stromgewinnung aus Kohle soll bis spätestens 2038 in Deutschland beendet werden. Dies empfiehlt eine Kommission, die
von der Bundesregierung eingesetzt worden war. Das Rheinische Braunkohlerevier steht damit vor einem Strukturwandel. Was der Kohleausstieg
für die Region bedeutet, dazu äußerten sich Sachverständige in einer umfangreichen Anhörung.
Rund 40 Expertinnen und Experten u. a. von
Unternehmen, Verbänden, Gewerkschaften
und Kommunen waren auf Einladung des
Ausschusses für Wirtschaft, Energie und Landesplanung
sowie des Verkehrsausschusses in
den Plenarsaal des Landtags gekommen. Über
mehrere Stunden standen sie den Abgeordneten
Rede und Antwort und konnten zuvor auch
schriftliche Stellungnahmen einreichen. Der
Anhörung lagen Anträge von allen fünf Fraktionen
zugrunde (siehe Kasten).
Der Energieversorger und Kraftwerksbetreiber
RWE Power AG nannte die Empfehlungen
der Kohlekommission zur Stilllegung von
Kraftwerken "sehr ambitioniert", zumal
Deutschland bis Ende 2022 aus der
Kernenergie aussteige. Studien
zeigten, dass es bei einem vorzeitigen
Ausstieg aus der
Kohleverstromung "zu
einem deutlichen
Strompreisanstieg
kommen kann, der die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie
erheblich belasten könnte", heißt es in einer
Stellungnahme des Konzerns. Es sei daher folgerichtig,
dass es ein Monitoring mit den "Haltepunkten"
2023, 2026, 2029 und 2032 geben solle,
das auch die Auswirkungen auf die Versorgungsicherheit
und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie
beinhalte.
Forderung nach Moratorium
Die RWE Power AG betonte, dass die bereits
laufenden Umsiedlungen für den Braunkohleabbau
im Rheinischen Revier "planmäßig und
vollständig" zu Ende geführt werden müssten.
"Das gilt auch für die laufende Umsiedlung im
Tagebauvorfeld Garzweiler, da die Kohle schon
in den 2020er-Jahren benötigt wird."
Der Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland (BUND) in NRW sprach sich hingegen
für einen "sofortigen Stopp" der Umsiedlungen
aus. Die Landesregierung müsse einen
Kabinettsbeschluss für eine neue Leitentscheidung
zur Braunkohlepolitik fassen und mit RWE
ein Moratorium vereinbaren, "welches das Schaffen
irreversibler Fakten ausschließt".
In der Stellungnahme des BUND-Landesverbandes
heißt es: "Aus der geplanten Abschaltung
von 3,1 Gigawatt an Kraftwerksleistung
bis 2022 und dem damit verbundenen Kohle-Minderbedarf ergibt sich zwingend, dass sowohl der Hambacher Wald als auch die Dörfer
Kerpen-Manheim, Merzenich-Morschenich,
Keyenberg, Kuckum, Unter- und Oberwestrich
sowie Berverath vom Tagebau ausgespart werden
können und folglich ausgespart werden müssen."
Der Landesverband Erneuerbare Energien
NRW (LEE NRW) forderte einen kontinuierlichen
Ausbau von Windkraft im Binnenland
und Sonnenergie von jährlich 4 bis 5 Gigawatt,
um das Ziel der Bundesregierung zu realisieren,
einen Anteil der Erneuerbaren Energien von 65
Prozent am Stromverbrauch bis 2030 zu erreichen.
Dies sei "angesichts dramatisch einbrechender
Ausbauzahlen bei der Windkraft und
weiterer geplanter Restriktionen (erhöhte Abstandsvorgaben,
Aufhebung der Privilegierung
im Außenbereich)" nur möglich, wenn es einen
Kurswechsel "zu einem gewollten Ausbau der
Erneuerbaren Energien" komme.
Für die Wirtschaftsförderungsgesellschaft
für den Kreis Heinsberg (WFG) fällt die Bewertung
des Kommissionsberichts zum Kohleausstieg
"zwiegespalten" aus. So seien einerseits
die "gravierenden Probleme der Umsiedler und
Menschen, die am Tagebaurand Garzweiler II leben",
nicht ausreichend gewürdigt worden. Dies
habe zur Folge, dass konkrete Planungen für die
Zukunft dieser Betroffenen immer noch nicht
möglich seien.
Andererseits biete der Kompromiss "auch eine
Chance für eine zukunftsorientierte regionale
Wirtschafts-, Struktur- und Infrastrukturentwicklung
(...) - und damit für Wachstum und
Beschäftigung in der Region". Die Gesellschaft
fordert: "Es muss jetzt darauf ankommen,
dass eine rasche Umsetzung in Gesetzgebung
und Vertragswerke erfolgt, um Rechtsverbindlichkeit
zu schaffen und klare Entwicklungsperspektiven.
Dies ist entscheidend für die
Menschen vor Ort, ebenso aber auch für Investitionsentscheidungen
von Unternehmen."
Der Landrat des Rhein-Erft-Kreises, Michael
Kreuzberg, warnte vor einem "wesentlichen
Arbeitsplatzabbau" in der Region. Betroffen
sein könnten rund 3.900 direkt Beschäftigte sowie
weitere mittelbar betroffene Arbeitsplätze.
Er forderte: "Dies abzufedern bedarf dringend
zusätzlicher Anreize für Firmenneuansiedlungen.
Nur so kann gewährleistet werden, dass
das Rheinische Revier weiterhin ein attraktiver
Standort für alle Beteiligten bleibt."
Kreuzberg mahnte zugleich, dass die Kommunen
für die Unternehmensansiedlung und
die Schaffung qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze
ausreichend Gewerbeflächen benötigten.
Er forderte ein Vorkaufsrecht der Städte und Gemeinden
für die von RWE nicht mehr benötigten
Flächen "zu den marktüblichen Preisen". Zudem
sei ein Sonderverkehrswegeplan "unbedingt
notwendig". Kreuzberg: "Ein Szenario, welches
nicht eintreten darf, ist, dass der Strukturwandel
wegen fehlender Infrastruktur verzögert oder gar
negativ beeinflusst wird."
Der Landrat des Rhein-Kreises Neuss, Hans-Jürgen Petrauschke, verwies darauf, dass die
Wirtschaft im Rheinischen Revier und im Rhein-Kreis Neuss stark von energieerzeugenden und
energieintensiven Unternehmen geprägt sei
Rund 93.000 Menschen im Revier seien in energieintensiv
produzierenden Unternehmen tätig.
Daher sei es unabdingbar, dass bei der Umsetzung
der Beschlüsse der Kohlekommission einer
"dauerhaft verfügbaren und sicheren Energieversorgung
zu international wettbewerbsfähigen
Preisen eine hohe Priorität eingeräumt wird".
Petrauschke betonte: "Der Rhein-Kreis Neuss
erwartet von der Bundes- und Landesregierung,
dass die zur Gewährleistung der zukünftigen
Versorgungssicherheit vorgesehenen Maßnahmen
zeitnah und konsequent umgesetzt werden."
Sollte sich zu den geplanten Monitoring-Terminen zeigen, dass Maßnahmen nicht oder
nur unzureichend griffen, müsse nachgesteuert
werden. "Dies bedeutet auch, dass entsprechende
Kraftwerkskapazitäten erhalten bleiben müssen,
damit eine Nachsteuerung auch möglich ist."
Vermittlung und Qualifizierung
Nach Angaben der Regionaldirektion NRW der
Bundesagentur für Arbeit sind in der nordrhein-westfälischen
Braunkohlewirtschaft zwischen
9.000 und 10.000 Menschen beschäftigt. Die
Regionaldirektion kündigte an, ihre Strukturen
und Ressourcen im Revier "bedarfsgerecht anzupassen",
um Beratungs-, Weiterbildungs- und
Qualifizierungsangebote flexibel vorzuhalten.
In Zusammenarbeit mit RWE könnten Angebote
zu Vermittlung, Weiterbildung und Qualifizierung
entwickelt werden. Solche Angebote
seien die interne Vermittlung zwischen verschiedenen
Standorten der Braunkohleunternehmen,
externe Vermittlungen sowie berufliche Weiterbildungen,
heißt es in der Stellungnahme weiter.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund NRW
mahnte in seiner Stellungnahme, dass die Menschen
im Rheinischen Revier "langfristige und verlässliche Perspektiven" benötigten. "Ein gerechter
Strukturwandel und das Ende der Kohleverstromung
müssen Hand in Hand gehen." Die
Region benötige neue und zusätzliche Arbeitsplätze
- und zwar für hoch-, mittel- und niedrigqualifizierte
Beschäftigte. Dabei sei darauf zu
achten, dass es sich um tarifgebundene Arbeit in
mitbestimmten Unternehmen handele.
Mit dem Ausstieg aus der Kohleförderung
und -verstromung müsse "ein Einstieg in eine
wirtschaftlich zukunftsfähige, sozial sichere und
kulturell lebenswerte Region" möglich sein. "Dies
kann nur gelingen, wenn gut bezahlte Arbeitsplätze
in dem Maße geschaffen werden, wie sie an
anderer Stelle wegfallen. Im Vordergrund stehen
hierbei tarifliche und mitbestimmte Arbeitsplätze
in allen Wertschöpfungsstufen, insbesondere
in der Industrie und im Dienstleistungssektor."
Das Forschungszentrum Jülich sprach sich
dafür aus, die Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen
im Rheinischen Revier besser
miteinander zu vernetzen. Dafür sei es auch
notwendig, die Verkehrsinfrastruktur "spürbar
zu verbessern". Das Zentrum regt die Gründung
eines "Koordinierungskreises Innovation
durch Wissenschaft" an. Es unterstützt zudem
die Forderung nach Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone,
"um bürokratische Hemmnisse
abzubauen und freie Bahn für Innovationen zu
schaffen".
wib/sow
Zusatzinformationen:
Mehr zum Thema lesen Sie auf den Seiten 3, 10 und 11.
Eine Übersicht über alle eingegangenen Stellungnahmen
der Anhörung finden Sie unter www.landtag.nrw.de (Parlament
& Wahlen -> Ausschüsse & Gremien -> Ausschussübersicht
der 17. Wahlperiode -> A18 Ausschuss für Wirtschaft,
Energie und Landesplanung -> Anhörungen)
Die Anträge
Der Sachverständigenanhörung lagen insgesamt
sechs Anträge und ein Entschließungsantrag
aller fünf Fraktionen zugrunde.
Die SPD fordert, das Rheinische Revier
als Sonderfördergebiet auszuweisen, um mehr
Fördermöglichkeiten zu erhalten, und will den
Fokus auf präventiven Strukturwandel legen
(Drs. 17/3811). Sie nennt smarte Energie, digitale Infrastruktur
sowie spezialisierte Bildung und Forschung
als Zukunftsperspektiven (Drs. 17/4117). Die
Landesregierung soll außerdem neue Flächen für
Wohnraum-, Gewerbe- und Industrieentwicklung
ausweisen (Drs. 17/4118) und für zahlreiche
Verbesserungen im Verkehr sorgen (Drs. 17/4292).
Die Grünen setzen u. a. auf zentrale Strukturen,
die Raumplanung, Flächenmanagement, Wirtschaftsförderung
und Verkehrsinfrastruktur für
die ganze Region steuern sollen, damit diese
zusammenwachse. Besondere Schwerpunkte
im Rheinischen Revier sollen "Autonome Mobilität"
und die "digitale Energiewende" werden
(Drs. 17/4104).
Anstatt "von oben herab" vorzuschreiben,
was zu tun sei, wollen CDU und FDP
laut Antrag die Akteure vor Ort unterstützen
(Drs. 17/4446). Für die Zukunft erachte die "Zukunftsagentur
Rheinisches Revier" richtigerweise
eine Fokussierung auf Energieforschung,
eine vorausschauende Raumentwicklung und
gute Infrastruktur, Innovation und Bildung wie
auch eine regionale Bioökonomie für wichtig.
Der Bund müsse für ausreichende Finanzierung
im Strukturwandel sorgen, so die Koalitionsfraktionen
weiter.
Im Entschließungsantrag "Rheinisches Revier
stärken und Wachstum generieren - Arbeitsplätze
sichern und Versorgungssicherheit
gewährleisten" spricht sich die AfD-Fraktion
dafür aus, "allen geforderten, beschleunigten
Ausstiegspfaden eine Absage zu erteilen, insbesondere
kein festes Ausstiegsdatum zu akzeptieren"
(Drs. 17/4609).
Systematik: 2200 Bergbau/Bodenschätze; 2110 Herkömmliche Energien
ID: LI190209