In Wissenschaft und Praxis würde eine auffällige Zunahme verhaltensschwieriger und verhaltensgestörter Jugendlicher beklagt, betonte Arbeits- und Sozialminister Professor Dr. Friedhelm Farthmann (SPD) bei der Debatte über den Landes-Kinderbericht (Drs. 9/930) im Landtag. Bei der Einbringung des Berichtes über die Situation des Kindes im Land wies der Minister auf die steigende Zahl der Selbstmorde hin, die in der Statistik der Todesursachen junger Leute inzwischen an vierter Stelle ständen. Aggressivität, Angst, Depressionen und Drogenkonsum bei Kindern und Jugendlichen könnten "keinen von uns unberührt lassen". Der familienpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Norbert Schlottmann, wies darauf hin, in Nordrhein-Westfalen gebe es inzwischen mehr Haushalte ohne als mit Kindern. Von der Opposition, auf deren Initiative der Bericht durch eine Kommission unabhängiger Wissenschaftler erarbeitet worden war, wurde ferner der Rückgang des öffentlich geförderten Wohnungsbaus beklagt.
Arbeits- und Sozialminister Professor Dr. Friedhelm Farthmann (SPD) erläuterte, mit dem Landes-Kinderbericht sollten politische Aktivitäten ausgelöst werden, damit sobald wie möglich Notstände beseitigt und Fehlentwicklungen verhindert werden könnten. Zehn unabhängige Kommissionsmitglieder hätten an dem Bericht rund zweieinhalb Jahre gearbeitet. Darin werde unter anderem festgestellt, daß in der Statistik der Todesursachen von Kindern und Jugendlichen der Selbstmord inzwischen an vierter Stelle stehe. Die Zahl der kindlichen Selbstmorde habe sich in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt, wobei immer auch jüngere Kinder Selbstmord begingen. Jedem gelungenen Selbstmord ständen zwanzigmal so viele Versuche gegenüber. Ein weiteres Indiz für depressives Verhalten sei die Zunahme des Drogenkonsums. Nach einer empirischen Untersuchung aus dem Jahr 1979 in NRW hätten mehr als 27 Prozent der befragten 3483 Schüler bereits Erfahrungen mit Drogen unter Einfluß von Alkohol- und Nikotinkonsum. 4,7 Prozent der Zwölfjährigen, 9,3 Prozent der Siebzehnjährigen, 18,2 Prozent der Achtzehnjährigen und bereits 52,2 Prozent - über die Hälfte - der Neunzehnjährigen hätten Erfahrungen mit Haschisch besessen. 89,8 Prozent der in der Drogenszene integrierten Schüler kämen aus äußerlich intakten Familien. "Sowohl Aggressivität einerseits, aber auch Angst, Resignation und Depressivität von Kindern und Jugendlichen andererseits können in ihren Folgen niemanden von uns unberührt lassen", schloß Farthmann.
Norbert Schlottmann (CDU) erklärte, die CDU begrüße den Bericht. Er sprach sich dafür aus, die nächsten Jugend- und Familienberichte auch von einer unabhängigen Fachkommission erstellen zu lassen. Der Politiker wies auf ein Dilemma in NRW hin, das Kind, Familie und Geburtenentwicklung betreffe. 1981 habe es 798000 Kinder von 0 bis 5 Jahren, 955000 von 5 bis 10 Jahren, 1,3 Millionen von 10 bis 15 Jahren, insgesamt also 3,1 Millionen Kinder bis zu 15 Jahren in 3,026 Millionen Familien gegeben. "Wir haben in Nordrhein-Westfalen bereits mehr Haushalte ohne Kinder als Haushalte mit Kindern", betonte Schlottmann. Es gebe Prognosen, die sagten, wenn hier zuwenig Kinder geboren würden, würden eines Tages vielleicht über eine europäische Regierung aus dem Süden Europas Menschen mehr und mehr nach Norddeutschland geschickt in Bereiche, in denen es weniger Menschen gebe.
Waltraud Lauer (SPD) wies darauf hin nicht abwertend, wie sie betonte -, die Kommission habe Vorbehalte bestätigt, daß nur eine Zusammenstellung bekannter wissenschaftlicher Ergebnisse zu erwarten sei, nicht aber eine umfassende Grundlagenforschung, die wesentliche neue Erkenntnisse in diesen Politikbereich hätte einführen können.
Hermann-Josef Arentz (CDU) bezweifelte, daß die Landesregierung noch ihre Hochglanzbroschüre "Ein Land für Kinder Nordrhein-Westfalen" hätte herausbringen können, wenn der Kinderbericht vorher hier vorgelegt worden wäre. Der Abgeordnete beklagte die Kinderfeindlichkeit vieler Wohnsilos und die Unwirtlichkeit der Städte. "Für Kinder ist oft weder die Wohnung noch das Wohnumfeld das, was wir eigentlich mit Heimat bezeichnen können", meinte Arentz. Junge und kinderreiche Familien seien die Hauptleidtragenden der verfehlten Wohnungspolitik in NRW und im Bund. Nach einer Ein- Prozent-Stichprobe von 1978 lebten in NRW 40900 Familien mit Kindern in Wohnungen mit ein bis zwei Räumen und weitere 25000 Familien in Wohnungen mit einem Raum.
Erich Heckelmann (SPD) stellte dagegen fest, daß im Lande NRW 40 Prozent der in der Bundesrepublik überhaupt im öffentlichen Wohnungsbau geförderten Wohnungen im Jahre 1981 entstanden seien. Zum Bereich "Kinder und Medien" erklärte der Politiker, die "heimlichen oder auch bekannten Miterzieher", die Medien, bedürften kritischer Sichtweise, kritischer Überprüfung. Gerade die Nutzungsgewohnheiten der Kinder beim Fernsehen bedürften des Nachdenkens.
Doris Altewischer (CDU) begrüßte den Bericht als vielseitig, der sich beispielsweise auch im Kapitel "Kinder in Problemlagen" den Zigeunerkindern widme, über die normalerweise hier nicht gesprochen werde. Ein anderes Kapitel gelte den Strafgefangenen. Vieles, was die CDU "in diesem Haus" seit Jahren tauben Ohren gepredigt habe, werde mit diesem Bericht der Landesregierung ins Stammbuch geschrieben. Das Kapitel über Kinder und Schule sei der Regierung offensichtlich besonders unangenehm.
Landes- und Stadtentwicklungsminister Dr. Christoph Zöpel (SPD) stimmte dem CDU-Sprecher Arentz zu, daß die Wohnungsbedingungen von Familien mit Kindern das Kernproblem der Wohnungs- und Städtebaupolitik seien. Das Hauptproblem für Familien mit Kindern sei, daß sie ausreichend große Wohnungen haben müßten und diese bezahlen könnten. Gebraucht würden öffentlich geförderte Wohnungen sowohl im Eigenheimbereich wie im Mietwohnungsbereich für einkommensschwächere Familien mit Kindern. Er setzte sich dafür ein, öffentlich geförderte Wohnungen in ausreichender Zahl und Größe im Ruhrgebiet zu bauen.
Bildunterschrift:
Bei der Diskussion über den Landes-Kinderbericht: Arbeits- und Sozialminister Farthmann (rechts) im Gespräch mit dem Abgeordneten Hans Jürgen Büssow (beide SPD). Foto: Öge
Systematik: 5030 Kinder/Jugendliche
ID: LI820607