16. September 2010 - Auf die Regierungserklärung (siehe Seite 3) von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) antworteten am Folgetag die politischen Spitzen der fünf Landtagsfraktionen. In der Aussprache bezogen die Fraktionsvorsitzenden Stellung zu den politischen Plänen der rot-grünen Minderheitsregierung.
"Ihrer Regierungserklärung fehlt die Substanz", antwortete der CDU-Fraktionsvorsitzende Karl-Josef Laumann auf Ministerpräsidentin Kraft. NRW stehe vor großen Herausforderungen, habe aber keine starke Landesregierung. Es gelte, die Schulden aus der Weltwirtschaftskrise zurückzufahren, den demographischen Wandel zu meistern, den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft weiter zu gestalten, NRW zum ökologischen Industrieland zu wandeln und den Kommunen wieder finanziellen Gestaltungsspielraum zu geben. Er kritisierte unter anderem, dass die Regierung bisher keine konkreten Einsparvorschläge zur Konsolidierung der Landesfinanzen vorgelegt habe. Die Pläne für eine "Einheitsschule" könne die CDU nicht unterstützen und sei nicht bereit, "das vielfältige Schulsystem zum Abschuss freizugeben". Der Ministerpräsidentin hielt Laumann vor, zur Zukunft des Kraftwerksbaus in Datteln zu schweigen. Die Sorge in der CDUFraktion sei groß, "dass Datteln zum Symbol einer verhängnisvollen Industrie- und Wirtschaftspolitik" werde. Erschreckend sei für ihn die Finanzpolitik von Rot-Grün: Die Regierung wolle "die Nettoneuverschuldung auf 8,9 Milliarden Euro um über 36 Prozent erhöhen". Es sei dringend notwendig, auch die Probleme der Kommunalfinanzen vor allem strukturell zu lösen. Zudem fürchtete Laumann, dass unter Rot-Grün "Wirtschaft und Soziales wieder gegeneinander ausgespielt werden" und der Zusammenhalt in NRW gefährdet werde. Dennoch lud Laumann zu gemeinsamem Handeln ein. Er sah es als notwendig an, vor allem in der Behindertenpolitik, im Maßregelvollzug und in der Integrationspolitik auf gemeinsame Positionen zu setzen. Der Landesregierung wünschte er abschließend "eine glückliche Hand für schwere Aufgaben" - und eine nicht allzu lange Regierungszeit.
Norbert Römer, Vorsitzender der SPD-Fraktion, war mit der Rede seines Vorgängers nicht zufrieden. Ohne Alternativen zu nennen, sei Laumann in alte Rituale zurückgefallen. Dabei biete die Minderheitsregierung durchaus Chancen für eine neue politische Kultur. Einer kritischen Rückschau auf die vergangene Legislaturperiode unter CDU und FDP stellte Römer seine Zuversicht hinsichtlich einer kompromissbereiten und handlungsfähigen Landesregierung unter Hannelore Kraft gegenüber. Diese werde den Menschen in den Mittelpunkt stellen und die anderen Fraktionen wie auch gesellschaftliche Gruppen immer wieder einladen, gemeinsam Lösungen zu finden. Kompromissmöglichkeiten sah der SPD-Sprecher etwa in der Steinkohlepolitik, aber auch in der Arbeits- und Bildungspolitik. "Wir sind weit weg von einem sozial gerechten Schulsystem, das alle Talente nutzt, das die Verschiedenheit schätzt, Leistung fördert und kein Kind zurücklässt", erklärte er. Wichtig sei, Reformen mit den Beteiligten gemeinsam vorzubereiten. Römer kündigte zudem an, SPD und Grüne wollten die Wirtschaft stärken und zugleich wirksamen Klima- und Umweltschutz sicherstellen. Als weiteren politischen Schwerpunkt kündigte der SPD-Fraktionschef an, die Handlungsfähigkeit der Kommunen zu stärken. Dazu gehöre eine Finanzausstattung, die den kommunalen Aufgaben folgen müsse. Auch die Integrationspolitik sprach Römer an und plädierte wie sein Vorredner dafür, dieses Politikfeld im Konsens zu gestalten. Allerdings müssten Arbeit, Soziales und Integration zusammen gedacht werden, empfahl er. Die angekündigten neuen Schulden der rot-grünen Landesregierung verteidigte Römer mit dem Hinweis auf den vorsorgenden Sozialstaat, der seine Bürgerinnen Bürger durch Bildung unabhängig von staatlichen Almosen werden lasse.
Diese Regierung werde nicht mit Arroganz, aber mit Selbstbewusstsein an die Arbeit gehen und bei anderen Fraktionen um Unterstützung werben, kündigte Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen an. Vor diesem Hintergrund begrüßte er das Angebot des CDU-Fraktionsvorsitzenden, die Themen Maßregelvollzug, Behindertenpolitik und Integration über Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam zu behandeln. In der Bildungspolitik dagegen hielt Priggen der CDU vor, an den Interessen der Menschen vorbei gehandelt zu haben. Man müsse angesichts des demographischen Wandels bereit sein, Gemeinschaftsschulen einzurichten und generell im Schulwesen den Kommunen gewisse Freiheiten einzuräumen. Wichtig sei angesichts eines beginnenden Fachkräftemangels, die richtigen Wege für mehr und besser qualifizierte Jugendliche zu finden. Die Grünen wollten keine Schulform zerstören, aber sie respektierten den Elternwillen, erklärte Priggen und forderte eine Debatte "ohne Scheuklappen". Mit Blick auf den Industriestandort NRW unterstrich er die Notwendigkeit einer ökologischen industriellen Revolution und eines deutlich niedrigeren CO2-Ausstoßes. Konkret forderte der Grünen-Politiker, die Stromerzeugung dezentraler zu gestalten, die Nutzung erneuerbarer Energien sowie der Kraft- Wärme-Kopplung auszubauen und verstärkt im Bereich der Gebäudesanierung zu investieren. Es sei auch wirtschaftspolitisch falsch, wenn die Bundesregierung hier kürzen wolle - zu einem Zeitpunkt, zu dem das Konjunkturpaket auslaufe. Notwendig sei des Weiteren, sich den Umwälzungen im Bereich der Automobiltechnik zu stellen, die sich beispielsweise aus der Elektromobilität ergäben. In der Verkehrspolitik trat Priggen für Verbesserungen an den Bahn-Knotenpunkten Köln, Dortmund und Hamm sowie generell im öffentlichen Nahverkehr ein.
"Man muss den Eindruck gewinnen, dass Sie gar keinen Zukunftsplan für Nordrhein-Westfalen haben", erklärte der FDP-Fraktionsvorsitzende Dr. Gerhard Papke zur Regierungserklärung der Ministerpräsidentin. Die rot-grüne Regierungspolitik werde dem Land großen Schaden zufügen. Kraft sei mit einem "schlimmen Wählerbetrug", mithilfe einer Tolerierung durch die Linksfraktion, ins Amt gekommen. Die "Koalition der Einladung" von SPD und Grünen sei nicht ernst gemeint, was ein Blick auf die mangelnde politische Unterstützung für den Mittelstand zeige. Das "erfolgreiche" ordnungspolitische Prinzip der FDP "Privat vor Staat" solle nun in "Staat vor Privat" umgedreht werden. Dabei mache die FDP nicht mit, ebenso wenig bei der Abschaffung der Studiengebühren. Diese seien sozialverträglich ausgestaltet und hätten die Qualität der Lehre erheblich verbessert. Papke kritisierte, erfolgreiche Projekte der früheren Landesregierung sollten aus rein ideologischen Gründen zurückgedreht werden. Mit einer "Bankrotterklärung" starte die Regierung in die Haushalts- und Finanzpolitik. Die geplante Erhöhung der Neuverschuldung um 2,3 Milliarden Euro sei ein "Offenbarungseid". Kraft werde beweisen müssen, dass sie in der Lage sei, der Verantwortung für das wichtigste Industrieland gerecht zu werden. Der Ruf NRWs sei dauerhaft beschädigt, wenn der Bau des "modernsten Steinkohlekraftwerks der Welt" in Datteln zur Investitionsruine werde. Kraft habe in ihrer Erklärung zudem keine Antwort auf die Frage gegeben, ob sie die Schulvielfalt erhalten wolle. Die FDP wolle keinen "Schulkrieg", aber funktionierende Realschulen und Gymnasien dürften nicht infrage gestellt werden. Papke forderte die Ministerpräsidentin auf: "Sie müssen in Zukunft im Regierungshandeln konkreter werden."
"Der 9. Mai hat den Menschen in NRW den von uns geforderten Regierungswechsel gebracht", begann Linken-Fraktionschefin Bärbel Beuermann ihre Rede. Allerdings habe Hannelore Kraft vergessen, auf eine wichtige Neuigkeit hinzuweisen: dass es nun wieder eine linke Kraft links von der SPD im Landtag gebe. Ohne die Enthaltung ihrer Fraktion wäre die Wahl Krafts zur ersten NRW-Ministerpräsidentin nicht möglich gewesen, erinnerte Beuermann. Sie hoffe zwar auf einen neuen Regierungsstil als "echte Chance" für die Menschen in NRW, könne aber bisher weder etwas von einer "tatsächlichen politischen Wende" noch von einer Ankunft im Fünf-Parteien-System spüren. Beuermann warnte Kraft deshalb davor, "unstete Kompromisse in dringenden Fragen" einzugehen. Während die Linken-Fraktionsvorsitzende das Regierungsziel, Steuergerechtigkeit zu erreichen, unterstützte, kritisierte sie Rot-Grün für eine zögerliche Haltung, die eine möglichst schnelle Abschaffung der Studiengebühren verhindere. Das dreigliedrige Schulsystem sei antiquiert und ungerecht und gehöre abgeschafft. Allerdings sei die geplante Gemeinschaftsschule kein Ersatz für die Forderung nach einem Ausbau der stark nachgefragten Gesamtschulen. Beuermann forderte außerdem, die Grundschulbezirke wieder einzuführen und die Kopfnoten abzuschaffen. Darüber hinaus kritisierte sie das "Turbo-Abitur" und forderte eine staatliche Ausbildungsgarantie. Bildung brauche gezielte Investitionen über Ankündigungspolitik hinaus. So müsse die Regierung auch zeitnah beim Kibiz nachbessern, anstatt sich Soforthilfen zu verweigern. Neben dem Thema Bildung setzte Beuermann weitere Schwerpunkte bei der Gleichberechtigung und Integrationspolitik. Sie plädierte für stärkere Integrationsräte und forderte, die "unmenschliche Abschiebepraxis" zu stoppen.
sw, sow, cw, bra
Systematik: 1220 Landesregierung
ID: LI100804