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  • "Haushalt der Erneuerung".
    Heftiger Schlagabtausch bei erster Lesung des Etatentwurfs für 2008.
    Plenarbericht;
    Titelthema / Schwerpunkt;

    S. 7-9 in Ausgabe 9 - 19.09.2007

    Gesamtausgaben von 50,8 Milliarden Euro umfasst der Haushaltsplanentwurf für 2008, den Finanzminister Dr. Helmut Linssen (CDU) zur ersten Lesung eingebracht hat (Drs. 14/4600). Der Entwurf sieht bei steigenden Steuereinnahmen eine Nettoneuverschuldung von 1,99 Milliarden Euro vor. Gleichzeitig wurde von den Abgeordneten das Gemeindefinanzierungsgesetz (Drs. 14/4602) beraten, das Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) vorstellte. Wie üblich nutzten die Oppositionsfraktionen die Debatte für eine Generalabrechnung mit der Politik der Landesregierung. Das Koalitionslager seinerseits sah angesichts der Schuldenlage des Landes keine Alternative zum eingeschlagenen Konsolidierungskurs.
    Finanzminister Dr. Helmut Linssen (CDU) bekannte sich zum Abbau des Schuldenbergs in Höhe von 118 Milliarden Euro im Rahmen einer verantwortungsbewussten Haushaltspolitik. "Eine Konsolidierung ist machbar", betonte der Minister. Dazu will er die Nettoneuverschuldung schrittweise auf Null reduzieren, die sei im kommenden Jahr noch mit zwei Milliarden Euro veranschlagt: "Das ist immerhin der niedrigste Stand seit dem Jahr 1977", unterstrich Linssen und warnte davor, angesichts der gegenwärtigen guten Konjunkturlage die Konsolidierung des Landeshaushalts zu vernachlässigen: "Die Spendierhosen bleiben weiterhin im Schrank." Es gebe noch genügend strukturelle Haushaltsrisiken, so die Steigerung bei den Versorgungsausgaben. Die Zinsen für die aufgenommenen Landesschulden müssten auch nicht so niedrig wie im Moment bleiben. Für Investitionen im kommenden Jahr sind 4,7 Milliarden Euro vorgesehen, eine Steigerung von 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Mittel sollen vor allem der Finanzierung von Zukunftsaufgaben in den Bereichen Bildung, Familie und Wirtschaft zugute kommen. Linssen rief die Parlamentarier zur Unterstützung seiner Haushaltspolitik auf: "Wenn wir jetzt Kurs halten, können wir es schaffen, unser Land mit einer dauerhaft tragfähigen Finanzpolitik wieder nach vorne zu bringen."
    Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) begann seine Einbringung des Gemeindefinanzierungsgesetzes (GFG) mit "drei guten Nachrichten": Der Steuerverbund sei mit 7,3 Milliarden zehn Prozent höher als 2007. Der Verbundsatz bleibe bei 23 Prozent, es gebe keine Abrechnungen mehr. Im Sinne des Schwerpunkts Bildungspolitik werde die bisherige Schulpauschale zur Schul- und Bildungspauschale weiterentwickelt und mit 540 Millionen Euro ausgestattet - 80 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Der Minister räumte ein, dass die kommunale Finanzlage immer noch angespannt sei, besonders in den 110 Städten und Gemeinden, "die sich ohne ein genehmigtes Haushaltssicherungskonzept in der vorläufigen Haushaltswirtschaft befinden." Was das Volumen des Steuerverbunds angehe, "so ist die Talsohle aus rot-grüner Regierungszeit endgültig verlassen". Im kommenden Jahr stünden 7,3 Milliarden Euro zur Verfügung - 650 Millionen mehr als 2007. "Das ist wahrlich eine gute Botschaft für unsere Kommunen." Zusammenfassend stellte Wolf fest: "Das GFG 2008 ist transparent und fair abgewogen. Die Finanzausstattung der Kommunen wird sich durch die Zuweisungen des GFG 2008 erheblich verbessern."
    Hannelore Kraft, SPD-Fraktionsvorsitzende, hielt der Landesregierung einen "falschen Kurs für Nordrhein-Westfalen" vor. Der Entwurf zeige die Widersprüche der Politik von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. So verspreche die Landesregierung mit dem Kinderbildungsgesetz (KiBiz) mehr Geld für Kinder, andererseits habe sie seit 2006 nicht weniger als 156,9 Millionen Euro bei den nordrhein-westfälischen Kindergärten gekürzt. "Die Kinder sind die Leidtragenden Ihres Schlingerkurses", meinte sie zum Ministerpräsidenten und kritisierte, dass die Investitionen für den Ausbau der Ganztagsgrundschulen reduziert worden seien. "Sie erhöhen die Bildungspauschale und tun so, als gäbe es frisches Geld für die Schulen. Aber gleichzeitig senken sie die Investitionspauschale im Gemeindefinanzierungsgesetz ab, aus denen die Kommunen hauptsächlich ihre Schulen finanzieren." Das alles sei eine "Politik nach dem Prinzip: linke Tasche - rechte Tasche". Der Finanzminister habe erneut sein Versprechen gebrochen, alle Mehreinnahmen vollständig in den Abbau der Neuverschuldung zu stecken. 500 Millionen Euro der erwarteten Steuereinnahmen sollten stattdessen zur Finanzierung höherer Ausgaben verwendet werden. Die Vorsitzende bescheinigte der Landesregierung: "Mit jedem Haushalt, den Sie verabschieden, wird klarer, dass Sie nicht halten, was Sie versprechen."
    Helmut Stahl, CDU-Fraktionsvorsitzender, sah die Haushaltpolitik der Landesregierung im Einklang mit den Menschen in NRW. Er fuhr fort: "Bis 2005 hat Rot-Grün Geld verbrannt. Die Menschen aber wollen, dass mit ihrem Geld sorgsam und solide umgegangen wird." Als Beispiel für eine verantwortungsbewusste Haushaltspolitik nannte er den Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung. Weitere Erfolge von Schwarz-Gelb: Unter Ministerpräsident Rüttgers seien 3.000 neue Lehrerstellen geschaffen worden. Jedes fünfte Kind unter drei Jahren in Nordrhein-Westfalen werde bald einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen können - zu Zeiten von Rot-Grün sei das nicht einmal jedes 35. Kind gewesen. Zum Landespersonalvertretungsgesetz sagte er: "Anders als in privatwirtschaftlichen Unternehmungen stoßen sich im staatlichen Hoheitsbereich die Gestaltungsrechte der Politik mit den Ansprüchen der öffentlich Bediensteten." Dann stellte er klar: "Wir sind Vertreter des Volkes. Personalvertreter - so wertvoll ihre Arbeit ist - sind Vertreter ihrer Beschäftigungsgruppen." Am Ende zeigte sich Stahl überzeugt, dass die Bevölkerung des Landes den Konsolidierungskurs der Regierung trage: "Die Menschen wollen weiter den Weg der Erneuerung unseres Landes gehen - mit Jürgen Rüttgers, mit dieser Landesregierung, mit dieser Koalition der Erneuerung."
    Dr. Gerhard Papke, Fraktionsvorsitzender der FDP, sicherte dem Finanzminister "jede Form der Unterstützung" beim Konsolidierungskurs zu. Er sagte voraus: "Wenn wir weiterhin so konsequent sparen, und sich die Konjunktur auch weiterhin so vorteilhaft entwickelt, dann gelingt uns ein ausgeglichener Haushalt vielleicht schon im Jahr 2010." SPD und Grüne hätten ein "haushaltspolitisches Trümmerfeld" hinterlassen. "Wenn wir den Schuldenberg von 118 Milliarden Euro in 20-Euro-Scheinen aneinanderreihen, dann würde diese Strecke mit Sicherheit einmal von der Erde bis zum Mond und wieder zurückführen", rechnete der FDP-Politiker vor. Den Vorschlägen der SPD erteilte er eine Absage, da es keine Vorschläge zur Gegenfinanzierung gebe. Papke verteidigte die Pläne, die wirtschaftliche Betätigung kommunaler Betriebe im Zuge einer reformierten Gemeindeordnung Grenzen zu setzen: "Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass Staatsbetriebe den mittelständischen Unternehmen im Land die Aufträge wegnehmen." Sein Versprechen am Schluss: "Die FDP steht auch zukünftig für Freiheit vor Gleichheit und Privat vor Staat."
    Sylvia Löhrmann, GRÜNE-Fraktionsvorsitzende, bescheinigte der Landesregierung, bereits nach zwei Regierungsjahren die Bodenhaftung verloren zu haben.. Dem Ministerpräsidenten prophezeite sie: "Wenn Sie weiterhin eine Politik gegen die Mehrheit machen, dann werden Sie scheitern!" Konzeptionslosigkeit allerorten: "Statt den geplanten Abbau der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst zu überdenken, werden die Protestierenden beschimpft und verunglimpft", erläuterte sie und fuhr fort: "Statt Ihr verkorkstes Kindergartengesetz zu überdenken, täuschen Sie die Öffentlichkeit mit unsauberen Rechenbeispielen und Vergleichsdaten." Obwohl der Entwurf Mehreinnahmen in Höhe von sieben Milliarden Euro vorsehe, würden dennoch neue Schulden in Höhe von 2,6 Milliarden Euro in Anspruch genommen. "Sie sind mit der Koalition 2005 mit 110 Milliarden Euro gestartet. Jetzt sind Sie zwei Jahre danach schon bei fast 117 Milliarden angekommen", wandte sich die Politikerin an den Finanzminister und fügte an: "Die Landesregierung hat mit der Politik der vergangenen Monate ihren Offenbarungseid gegenüber ihren Wahlversprechen abgelegt."
    Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) war ganz anderer Meinung: "Wir können die ersten Früchte unserer Anstrengungen ernten." Die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen wachse so stark wie seit Jahren nicht mehr. Der Exportmotor laufe mit deutlich gestiegenen Ausfuhren rund. Vom Ausbau der Ganztagschulen bis hin zur fortgesetzten Verwaltungsmodernisierung fasste der Regierungschef die wichtigsten Reformvorhaben seiner Regierung zusammen. Kritik übte er an Plänen der nordrhein-westfälischen SPD zur Einführung einer Gemeinschaftsschule im Land: "Die Realisierung dieser Pläne würde bedeuten, dass hunderte Schulen ihre Türen schließen müssten und die bisherigen Real- und Gesamtschulen aufgelöst werden." Oppositionsführerin Kraft warf er vor, seine Regierungspolitik "durch Verdrehungen und Verfälschungen" schlecht reden zu wollen. Zu möglichen Koalitionsüberlegungen der SPD mit der Linken auf Landesebene sagte Rüttgers: "Ich sehe keine linke Mehrheit in Deutschland. Auch nicht in Nordrhein-Westfalen." Zu Verkaufsplänen der angeschlagenen Westdeutschen Landesbank (WestLB) unterstrich er, dass man sich nicht unter Zeitdruck setzen lasse. Finanzminister Linssen werde weiter Gespräche mit Investoren führen. Die Interessen der Bank und des Finanzplatzes Nordrhein-Westfalen sollten dabei gewahrt bleiben.
    Gisela Walsken (SPD) sah auch in diesem Haushalt keine der Ankündigungen von Schwarz-Gelb aus dem Herbst 2005, kurz nach Übernahme der Regierungsverantwortung, umgesetzt. Damals sei versprochen worden, jeden zusätzliche Steuereuro zum Schuldenabbau zu verwenden. Ein strikter Sparkurs sollte gefahren, Personal abgebaut werden. "All diese Sätze sind vergessen", kritisierte die haushaltspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion und nannte die Sätze, die stattdessen nach ihrer Ansicht den Haushalt kennzeichnen. Das sei zum einen das Kriterium "Konsumieren statt Konsolidieren". Dann werde mit dem Etatentwurf der höchste Schuldenstand erreicht - "wer hier von Schuldenabbau redet, ist einfach nicht redlich." Dann gebe es ohne Zutun der Regierung acht Milliarden Euro mehr an Steuern; aber Schwarz-Gelb nutze dieses zusätzliche Potenzial nicht, um den Haushalt zu sanieren, Schulden abzubauen und ein politisches Zukunftskonzept vorzulegen. Dieser Haushalt, so Walsken am Schluss, sei ein Etat der "Koalition der Enttäuschung und der vergebenen Chancen".
    Hendrik Wüst (CDU) riet im Gegenzug, die Nettoneuverschuldung der letzten Haushalte von Rot-Grün gegen die der vier schwarz-gelben Haushalte zu legen: "Wir sind mit Ihrem Vermächtnis von sechs Milliarden Euro Nettoneuverschuldung drangekommen, heute sind es zwei Milliarden. Das sind veritable Zahlen, mit denen man arbeiten kann." Die SPD-Chefin Kraft lasse in ihrer Rede wieder dasselbe Muster erkennen. Wüst umschrieb es so: "Mit viel Getöse wird als Tiger gestartet und am Ende unsanft als Bettvorleger gelandet." Als Beispiele nannte der Abgeordnete die Haltung der SPD zur Steinkohle, die Unternehmenssteuerreform und die Position zum Aufbau Ost. Wenn man sich gegen die Folgen der Wiedervereinigung stelle, dann mache es auch durchaus Sinn, sich mit der Nachfolgepartei des SED/PDS zusammenzutun, ergänzte der Abgeordnete. Das neue Schulkonzept der Einheitsschule - der erste Versuch einer inhaltlichen Alternative - sei nichts als "alter Wein in neuen Schläuchen". Das werde in ländlichen Bereichen ein Schulsterben auslösen, sagte Wüst voraus. "Alles, was Sie planen, sind Schulfabriken mit über 1.000 Schülern. Sie stehen für Schulfabriken. Wir stehen für individuelle Förderung und für wohnortnahe Schulversorgung, insbesondere im ländlichen Raum."
    Angela Freimuth (FDP) räumte ein, der Weg zur Konsolidierung sei mit diesem Haushalt nicht abgeschlossen, "aber wir haben einen ganz wichtigen und wesentlichen Schritt getan: Wir haben die Nettokreditaufnahme deutlich gesenkt. Wir sind wieder auf dem Niveau eines verfassungskonformen Haushalts. Das war zu Ihrer Zeit nicht mehr der Fall", rief sie Rot-Grün ins Gedächtnis zurück. Zurzeit rede man darüber, ob es einen ausgeglichenen Haushalt 2010 oder schon 2009 geben könne. Haushaltskonsolidierung sei ein mühsames Geschäft - angesichts der Tatsache, dass Rot-Grün 116 Milliarden Euro Schulden hinterlassen habe und in Anbetracht des Umstands, dass 98 Prozent der Ausgaben aufgrund dauerhafter rechtlicher Verpflichtungen gebunden seien. Konsolidierung sei auch kein Selbstzweck, denn jeder Euro, mit dem Schulden zurückgezahlt werden, mache langfristig mehr als einen Euro frei, "den unsere Kinder zukünftig ausgeben können". Die Zukunft der Kinder haben bei FDP und CDU hohe Priorität, fügte die Abgeordnete an und betonte Bildung als Schwerpunkt im Haushalt. Die haushaltspolitische Sprecherin der Liberalen warb für ein Verschuldungsverbot in der Landesverfassung und einen neuen Investitionsbegriff, der nicht nur die Aufwendungen für Straßenbau, Infrastruktur und Krankenhäusern umfasst, sondern im Haushaltsrecht auch die Investitionen für Bildung und Ausbildung abbildet.
    Ewald Groth (GRÜNE) warf der Koalition vor, trotz "gigantischer Mehreinnahmen" stiegen die Schulden weiter an - auf 120 Milliarden Euro Ende nächsten Jahres. Der Abgeordnete wollte wissen: "Wo aber ist die versprochene Umkehr geblieben?" Das Land falle wirtschaftlich zurück, derweil versuche Schwarz-Gelb, den Menschen einen Aufschwung zu suggerieren, obwohl NRW in der wirtschaftlichen Entwicklung hinter den anderen Bundesländern zurückfalle. Die Wahrheit sei: "Es geht wirtschaftlich bergab, und die Schulden steigen weiter an." Die Regierung spare nicht, sondern nehme nur mehr ein. Und wenn sie spare, dann "nur auf Kosten anderer, der Kommunen und durch kontinuierliches Brechen von Wahlversprechen". Der Abgeordnete wertete das so: Diese Landesregierung habe nach der Wahl 2005 blühende Landschaften versprochen "und ist jetzt in den Niederungen der Realpolitik gescheitert". An die Koalition gewandt sagte er: "Sie haben die Situation des Landes durch eigenes Zutun jedenfalls nicht verbessert, sondern Sie haben sie verschlechtert." Statt eines Schulessens für alle Kinder würden die Schlachten der Vergangenheit geführt: "Das wird uns in Nordrhein-Westfalen nicht voranbringen."
    Rüdiger Sagel (fraktionslos) urteilte, der Haushaltentwurf sei sozialpolitisch und ökologisch nicht zu verantworten. "Sie machen eine knallharte Klientelpolitik", meinte er zu CDU und FDP. Trotz gigantischer Mehreinnahmen steige die Verschuldung weiter an. Er forderte eine deutlich stärkere Umverteilung der Lasten und ein solidarisches Steuersystem. "Von tatsächlicher Haushaltskonsolidierung kann keine Rede sein", so sein abschließendes Verdikt.

    Gemeindefinanzierungsgesetz: "Neue Freiheiten" oder "Raubzug"?

    Ralf Jäger (SPD) warf dem Innen- und dem Finanzminister vor, sie setzten ihren "Raubzug durch die Kassen der Kommunen unverfroren fort" - und das, obwohl die Steuerquellen in NRW ohne eigenes Zutun sprudelten.
    Rainer Lux (CDU) fand, die Koalition habe mit dem GFG unter Beweis gestellt, dass sie ein "verlässlicher Partner der Kommunen" sei. Die verteilbare Finanzausgleichsmasse steige im Vergleich zum Vorjahr um 650 Millionen Euro bei gleichzeitiger Beibehaltung des Verbundsatzes von 23 Prozent.
    Horst Engel (FDP) betonte, der Entwurf biete den Kommunen neue Freiheiten. Insgesamt werde der schon mit dem GFG 2006 und 2007 eingeschlagene Erfolgskurs fortgeführt: "Vorrang für Schlüsselzuweisungen, Steigerung der Investitionspauschalen und Konstanz bei den Sonderpauschalen."
    Horst Becker (GRÜNE) bescheinigte der Regierung kommunalfeindliches Verhalten: "Addiere ich die strukturellen Effekte und Lastenverschiebungen aus den letzten Jahren mit dem, was Sie für das GFG 2008 vorsehen, kommen wir strukturell für jedes Jahr in der Summe auf 1,1 Milliarden Euro, die Sie den Kommunen entziehen."

    Tabelle zu Haushaltseckdaten: hier nicht erfasst.
    Tabelle zu Einzeletats: hier nicht erfasst.
    Tabelle:
    Daten zur Gemeindefinanzierung
    (in Klammern Veränderung gegenüber Vorjahr/ Angaben in Euro)
    Zuweisungen 7,3 Milliarden (+650 Millionen)
    Schlüsselzuweisungen 6,3 Milliarden (+560 Millionen) davon für
    - Gemeinden 4,9 Milliarden
    - Kreise 737 Millionen
    - Landschaftsverbände 617 Millionen
    Schulpauschale/Bildungspauschale 540 Millionen (+80 Millionen gegenüber bisheriger Schulpauschale)
    Investitionspauschalen 454 Millionen (+6,5 Millionen)
    Pauschale Bedarfszuweisungen 24,5 Millionen (+2,1 Millionen)
    Sportzuweisungen 50 Millionen (unverändert)
    Verbundsatz 23 Prozent (unverändert)

    Systematik: 8300 Öffentlicher Haushalt

    ID: LIN03506

  • Klein, Volkmar (CDU); Walsken, Gisela (SPD); Freimuth, Angela (FDP); Groth, Ewald (Grüne)
    Schlag auf Schlag: "Landtag intern" macht den Aufschlag, die Abgeordneten retournieren.
    Diesmal sind es die finanzpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 9 - 19.09.2007

    Der finanzielle Handlungsspielraum des Landes ...

    Volkmar Klein (CDU): ... wurde von rot-grünen Landesregierungen hemmungslos verzehrt. Wir erzielen große Fortschritte, Geld für Begehrlichkeiten haben wir aber nicht.
    Gisela Walsken (SPD): ... ist so groß, wie schon seit Jahren nicht mehr: Fast sechs Milliarden Euro zusätzliche Steuereinnahmen seit 2006.
    Angela Freimuth (FDP): ... ist leider nicht so groß, um alles Wünschenswerte zu realisieren. Ziel der Konsolidierung ist, finanzielle Gestaltungsoptionen im Interesse nachfolgender Generationen zurückzugewinnen.
    Ewald Groth (Grüne): ... muss genutzt werden, um NRW zu einem sozial-ökologischen Land der Zukunftschancen umzubauen. Bildung und Forschung sind Garanten unseres zukünftigen wirtschaftlichen Erfolgs.

    Knapp zwei Milliarden neue Schulden in 2008 ...

    Volkmar Klein (CDU): ... bedeuten - anders als es unter Rot-Grün zuletzt die Regel war - die Einhaltung der Kreditverfassungsgrenze, sind aber immer noch zwei Milliarden Euro Generationen- ungerechtigkeit zu viel.
    Gisela Walsken (SPD): ... machen erneut deutlich, dass der Finanzminister sein Versprechen "Jeder zusätzliche Steuer-Euro wird in den Schuldenabbau gesteckt" längst gebrochen hat.
    Angela Freimuth (FDP): ... sind leider noch nicht zu vermeiden. Ziel ist aber, künftig keine neuen Schulden mehr aufzunehmen und bestehende Schulden zurückzuzahlen.
    Ewald Groth (Grüne): ... sind eine Ohrfeige für die, die eine Wende in der Haushaltspolitik versprachen und trotz Mehreinnahmen in Höhe von 7,2 Milliarden Euro gegenüber 2004 heute immer noch neue Schulden machen.

    Personalausgaben in Höhe von über 19 Milliarden Euro ...

    Volkmar Klein (CDU): ... müssen künftig, anders als früher, solide finanziert werden.
    Gisela Walsken (SPD): ... sind eine große Summe, die in unserem Land 370.000 Arbeits- und 32.000 Ausbildungsplätze sichert.
    Angela Freimuth (FDP): ... sind ein großer Kostenblock. Eine strukturelle Haushatskonsolidierung verlangt deshalb auch eine Senkung der Personalausgaben. Dabei wollen und müssen wir die Beschäftigten mitnehmen.
    Ewald Groth (Grüne): ... sind der Preis für harte Arbeit der Beschäftigten im Landesdienst. Wer dies angesichts steigender Kosten finanzieren will, muss sagen, worauf er künftig verzichtet oder woher er frisches Geld bekommt.

    Die sprudelnden Steuereinnahmen sollten genutzt werden, ...

    Volkmar Klein (CDU): ... um Verschuldung zu reduzieren, egal ob ausgewiesene Kreditmarktschulden oder weniger sichtbare Verschuldung durch bisher ungedeckte Pensionszusagen.
    Gisela Walsken (SPD): ... um die Verschuldung zurückzuführen und um in die Zukunft des Landes zu investieren: Nur die schwarz-gelbe Landesregierung folgt dem Motto "Konsumieren statt Konsolidieren".
    Angela Freimuth (FDP): ... um die Rekordverschuldung abzubauen. Weil jeder Euro nicht gezahlte Kreditzinsen für Bildung und Ausbildung unserer Kinder und Jugendlichen investiert werden kann.
    Ewald Groth (Grüne): ... zur Haushaltssanierung, für Kinderbetreuungsplätze, ein Mittagessen für alle Schulkinder, den Ausbau der Ganztagsangebote, sowie die Schaffung von Studienplätzen.

    Das Land stattet seine Kommunen finanziell ...

    Volkmar Klein (CDU): ... im Rahmen seiner Möglichkeiten verlässlich aus und überweist deutlich steigende Beträge an Städte und Gemeinden.
    Gisela Walsken (SPD): ... schlecht aus: In den vergangenen zwei Jahren hat die Landesregierung den Städten und Gemeinden über 500 Millionen Euro an zusätzlichen Lasten aufgebürdet.
    Angela Freimuth (FDP): ... im Rahmen des Möglichen angemessen aus. Wichtig wäre aber eine grundlegende Neuregelung der Finanzbeziehungen Bund-Länder-Kommunen, mit klaren Kompetenzverteilungen und Finanzierungsrechten.
    Ewald Groth (Grüne): ... nur dürftig aus. Das Abwälzen von Kosten zum Beispiel bei Krankenhäusern und der Kinderbetreuung sowie das Stehlen von Steueranteilen raubt den Kommunen jährlich über 500 Millionen Euro.

    Die Losung "Privat vor Staat" ist in meinen Augen ...

    Volkmar Klein (CDU): ... ist für mich ein anderer Ausdruck für das Subsidiaritätsprinzip, dem Kern sozialer Marktwirtschaft.
    Gisela Walsken (SPD): ... genau so falsch wie die Ideologie der Linkspartei "Staat statt Privat".
    Angela Freimuth (FDP): ... ordnungspolitisch richtig. Der Staat sollte nur übergeordnete Interessen des Gemeinwohls regeln und wo Solidarität gegenüber Schwachen ein staatliches Handeln erforderlich macht.
    Ewald Groth (Grüne): ... eine neoliberale Kampfparole der FDP und CDU. Dahinter verbirgt sich in Wahrheit, dass die Gemeinschaft die Defizite verwalten soll und die Gewinne an Einzelne gehen.

    Die Zukunft der WestLB ...

    Volkmar Klein (CDU): ... muss von ihren Eigentümern im Interesse des Landes und seiner Menschen gesichert werden, wobei es unverantwortlich wäre, nicht alle Optionen zu prüfen.
    Gisela Walsken (SPD): ... sichern heißt: Der Ministerpräsident soll schnell handeln, um eine Lösung mit den Sparkassenverbänden im öffentlich-rechtlichen Bankensektor zu finden. Nur so sind die Arbeitsplätze in Düsseldorf und Münster zu sichern.
    Angela Freimuth (FDP): ... ist augenblicklich vielfach diskutiert und im Interesse des Finanzplatzes NRW von den Eigentümern gemeinsam zu gestalten.
    Ewald Groth (Grüne): ... ist nur im Einklang aller Eigner zu gestalten, damit Kunden und Personal nicht verloren gehen. Weder der Verkauf an einen Privaten noch die Zerstörung des Sparkassengeschäfts helfen hier weiter.

    "Spare in der Zeit, so hast du in der Not" - diese Volksweisheit ...

    Volkmar Klein (CDU): ... ist von früheren rot-grünen Landesregierungen in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt worden.
    Gisela Walsken (SPD): ... sollte sich der Finanzminister in sein Büro hängen, um sie täglich vor Augen zu haben.
    Angela Freimuth (FDP): ... lässt sich leider nicht 1:1 auf den öffentlichen Haushalt übertragen. Wir müssen unsere Haushalte so gestalten, dass wir nur das ausgeben können, was wir auch einnehmen.
    Ewald Groth (Grüne): ... ist die Grundlage für unseren grünen Vorschlag für eine Schuldenbremse nach schweizerischem Vorbild und widerspricht starren Schuldenverboten.

    Ein "ehrlicher Kaufmann" ist für mich ...

    Volkmar Klein (CDU): ... eine gute Beschreibung für das finanzpolitische Leitbild der CDU im Düsseldorfer Landtag.
    Gisela Walsken (SPD): ... ein Finanzminister, der seine Zahlen nicht frisiert.
    Angela Freimuth (FDP): ... eine Persönlichkeit mit folgenden Eigenschaften: Gestaltungswillen, Realismus, Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit und Verantwortung.
    Ewald Groth (Grüne): ... einer der eingesteht, dass 2008 die Nettoneuverschuldung gegenüber 2007 um 300 Millionen Euro ansteigt, obwohl er die höchsten Steuereinnahmen aller Zeiten hat.

    Als NRW-Finanzminister würde ich zuallererst ...

    Volkmar Klein (CDU): Der amtierende Finanzminister macht alles richtig.
    Gisela Walsken (SPD): ... das Gespräch mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Finanzministeriums suchen. Sie wissen am besten, welche Gestaltungsmöglichkeiten der Haushalt bietet.
    Angela Freimuth (FDP): ... würde ich das Parlament bei den Haushaltsberatungen 2008 mit allen Informationen unterstützen und um Zustimmung zum Etatentwurf und zur Konsolidierungsstrategie werben.
    Ewald Groth (Grüne): ... auf Bundesebene um die Reform der Grund-, Erbschafts- und Vermögenssteuer sowie um zukunftsfähige föderale Finanzbeziehungen kümmern, damit NRW mehr Eigenverantwortung in Finanzfragen erhält.

    Idee und Umsetzung: Jürgen Knepper und Axel Bäumer

    Systematik: 8300 Öffentlicher Haushalt

    ID: LIN03507

  • Das Werben der Politik.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 8 - 22.08.2007

    Der Landtag, das unbekannte Wesen? Das kann doch nicht wahr sein! Wofür sind Plenar- und Ausschusssitzungen öffentlich, werden Arbeitsbilanzen vorgelegt, Besucher in das "Hohe Haus" eingeladen? Wieso berichten die Medien regelmäßig über Themen aus der Volksvertretung und wozu gibt es kostenlose und frei zugängliche Informationen, die der Landtag verbreitet? Ganz abgesehen von der Arbeit, die die Abgeordneten in und für ihren Wahlkreis leisten.
    Trotzdem - niemand wird bestreiten wollen, dass es Informationsdefizite, Berührungsängste, auch Desinteresse gibt. Transparenz ist immer erst ein Angebot. Eine Botschaft muss auch entgegengenommen werden.
    Was ist besser dafür geeignet, als der unmittelbare, persönliche Kontakt? Im letzten Jahr, als Landtag und Land ihren 60. Geburtstag feierten, besuchten über 60.000 Bürgerinnen und Bürger am Tag der offenen Tür ihre Volksvertretung. Ein toller Erfolg! Jetzt im Jahr danach geht der Landtag auf Tour und beginnt zusammen mit der Landesregierung die Reihe der Nordrhein- Westfalen-Tage. Der erste regionale ist in Paderborn, demnächst trifft man sich in Wuppertal.

    Appell an die Jugend

    Der Landtag wartet also nicht, dass man auf ihn zukommt. Er sucht die Menschen auf. Sein besonderes Interesse gilt dabei der jungen Generation. "Ohne Jugend ist kein Staat zu machen" - das ist nicht nur der Titel der vor kurzem gefassten Resolution der Präsidentenkonferenz (siehe Seite 10), sondern auch ein ernster Appell an Politik und Gesellschaft. Die Aufforderung zu Transparenz und die Bitte um Mitarbeit in der Demokratie. Junge Menschen stehen dabei zu Recht im Mittelpunkt des Werbens. Sie sind die Zukunft, umso mehr, als diese Gesellschaft immer älter wird. Sie müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.
    Da ist Paderborn, die alte Stadt und einer der größten IT-Standorte Deutschlands, eine hervorragende Wahl für den Nordrhein-Westfalen- Tag. Hier in Paderborn verbinden sich Tradition und Moderne, Geschichte und Zukunft. Das ist spannend, vor allem für junge Leute. Sie gehen in hoffentlich großer Zahl an diesem NRW-Tag auf Entdeckungsreise durch die "Welten" der Stadt, der Region und des Landes. Wer danach ein wenig erschöpft im kulturellen und kulinarischen Angebot neue Kraft tankt, der sagt vielleicht: Unser Land ist so bunt und fesselnd, ich mache mit, dass es so bleibt!
    JK

    ID: LIN03235

  • Die Abgeordneten des 14. Landtags Nordrhein-Westfalen.
    Ein aktueller Service von "Landtag intern".
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-17 in Ausgabe 8 - 22.08.2007

    Abgeordnete werden für fünf Jahre in den Landtag Nordrhein-Westfalen gewählt. Bei einem 187-köpfigen Parlament wie dem gegenwärtigen ergeben sich im Lauf der Zeit Veränderungen: Abgeordnete scheiden aus, neue Parlamentarier rücken nach. Hin und wieder gibt es einen Parteiaustritt. Das alles sorgt für neue Namen. Auf die Mehrheitsverhältnisse hat das in der Regel kaum Auswirkungen.
    Seit der Landtagswahl 2005 hat es elf Veränderungen in der Zusammensetzung des Landtags gegeben. Zehn Abgeordnete (vier SPD- und je zwei CDU-, FDP- und GRÜNE-Fraktionsangehörige) haben ihr Mandat niedergelegt und sind durch Nachrücker von den Landesreservelisten ihrer Partei ersetzt worden. Ein grüner Abgeordneter hat vor der Sommerpause seine Partei verlassen.
    Landtag intern" dokumentiert den Wechsel und bringt damit die Galerie der Abgeordnetenporträts auf den neuesten Stand (August 2007). Wenn Sie sich stets gut über die Debatten und Ereignisse im Parlament des Landes informiert wissen möchten, können Sie "Landtag intern" kostenfrei regelmäßig beziehen.
    Die Parlamentszeitschrift "Landtag intern" informiert umfassend, objektiv und parteipolitisch neutral. "Landtag intern" erscheint seit 37 Jahren und hat eine Auflage von 30.000 Exemplaren. 14-mal im Jahr finden Sie aktuelle Berichte aus dem Plenum und den Ausschüssen, Nachrichten aus den Fraktionen und Abgeordnetenporträts. Regelmäßig erhalten Parlamentarier Gelegenheit, zu besonderen Schwerpunkten ihre Meinung zu sagen.
    Bestellen können Sie "Landtag intern" in der Druckausgabe unter der postalischen und unter der Internet-Adresse des Landtags Nordrhein-Westfalen. Noch einfacher ist der regelmäßige Bezug als E-Paper: Hier genügt auf der Homepage des Landtags (www.landtag.nrw.de) ein Klick auf das Feld "Parlamentszeitschrift". Dort lässt sich "Landtag intern" bestellen, einzelne Artikel lassen sich auch downloaden.
    Die Abgeordneten aller Fraktionen werden mit Bild und Wahlkreisangabe vorgestellt.

    ID: LIN03233

  • Gemeinsam gegen Armut.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 7 - 13.06.2007

    Das sind die Fakten: 2,57 Millionen Menschen in NRW sind einkommensarm, das heißt sie verdienen weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens der Gesamtbevölkerung. Sie müssen mit 615 Euro im Monat auskommen. Wie man das schafft? Nun, die Kinder aus einkommensschwachen Haushalten - es sind im Land rund 815.000 junge Menschen - können ein unfrohes Lied davon singen: Sie müssen auf die Teilnahme an Schulausflügen verzichten, sie haben kein Geld für die Mahlzeit zwischendurch und stehen im Wettbewerb um die angesagtesten Klamotten abgeschlagen am Rand.
    Die andere Seite der Medaille: In NRW leben 3.192 Einkommensmillionäre. Also der Wohlstand ist ungleich verteilt. Das sind die Daten aus dem jüngsten Sozialbericht, den die Landesregierung vorgelegt hat.
    "Armut in einem reichen Land ist mehr als nur eine Herausforderung, sie ist ein Skandal", sagt der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber. "Armut ist politisch gemacht" - dieser Satz kommt von Friedhelm Hengsbach, Jesuit und Sozialethiker an der Philosophisch- Theologischen Hochschule Sankt Georgen.

    Auftrag

    Man kann dem Bischofswort einiges abgewinnen und muss andererseits der dezidierten Meinung von Hengsbach nicht unbedingt zustimmen. Man kann die Schuld auf die Globalisierung und den technischen Fortschritt schieben, der immer weniger Raum für unqualifizierte Arbeit lässt. Das alles schafft nur vorübergehend Luft. Denn die Frage, die immer im Hintergrund steht, lautet: Wie lässt sich die Armut überwinden?
    An dieser Stelle ist es hilfreich, sich auf die politische Tradition der Bundesrepublik zu besinnen: Soziale Marktwirtschaft, die Errungenschaft der Tarifpartnerschaft, den alten Slogan "Wohlstand für alle". Manchmal drängt sich der Eindruck auf, das alles wird allzu bereitwillig aufgegeben, als nostalgische Erinnerung an Zeiten, die vorbei sind und nie wiederkommen werden.
    Das ist eine Haltung, die sich der Politik aber verbietet. Politik und Politiker haben einen Gestaltungsauftrag. Sie mögen die Dinge unterschiedlich sehen. Sie haben eine unterschiedliche Grundeinstellung - zum Glück, denn wie sollte sich sonst ein Diskurs über den besten Weg entwickeln? Aber sie sollten eins gemeinsam haben, den festen Willen, Armut als Massenphänomen nicht zuzulassen.
    JK

    ID: LIN03163

  • "Armut macht krank".
    Landtag debattiert über Kindergesundheit in Nordrhein-Westfalen.
    Plenarbericht;
    Titelthema / Schwerpunkt;

    S. 6 in Ausgabe 7 - 13.06.2007

    Auf Antrag der Fraktionen von CDU und FDP hat sich der Landtag in einer Aktuellen Stunde mit dem Thema "Kindergesundheit in Nordrhein-Westfalen stärken" beschäftigt. Hintergrund ist die Kinder- und Jugend-Gesundheitsstudie, deren Ergebnisse das Berliner Robert-Koch-Institut gerade vorgestellt hat. Die Studie wertet Daten aus den Jahren 2003 bis 2006 aus und kommt zu dem Schluss, dass vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien sowie Familien mit Zuwanderungsgeschichte stärkeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind: Übergewicht, Essstörungen und Rauchen sind deutlich häufiger anzutreffen als bei Kindern aus wohlhabenden Familien.
    Rudolf Henke (CDU) erinnerte an die Fortschritte auf dem Gebiet der Kindergesundheit im vorigen Jahrhundert und warnte: "Wir sind nach Kräften dabei, sie wieder zu verschlechtern." Diskutiert werden müsste nun, ob Geldleistungen an Eltern das Existenzminimum besser sicherten als Sachleistungen an die Kinder: "Kein Kind hat etwas davon, wenn der Vater das für ein Frühstück, ein warmes Mittagessen oder für die Mitgliedschaft im Sportverein gedachte Geld in Alkohol oder Zigaretten verwandelt." Eine kindorientierte Politik müsse nach ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten für alle Kinder streben, den Zugang zu Kindertagesstätten sichern und kindgerechte Ganztagsschulen ausbauen, um Lern- und Verhaltensdefizite auszugleichen. Die Vorschläge der Delegierten des Deutschen Ärztetages könnten Handlungsansätze sein - zum Beispiel die Idee, dass Eltern von Neugeborenen frühzeitig zu Hause aufgesucht und über Hilfsangebote informiert werden. Auch ein Meldesystem sei richtig, denn so könnten Jugendhilfe und Gesundheitsdienst erkennen, welche Eltern nicht mit ihrem Kind an Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen.
    Ulla Meurer (SPD) stellte fest, dass alle im Landtag eine weitere Vorsorgeuntersuchung zwischen U 7 und U 8 (zwischen dem 2. und 4. Geburtstag) wollten. Zum Fazit der Studie sagte sie, dem Armuts- und Reichtumsbericht 2007 könnte man entnehmen, dass Empfänger von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II monatlich 132 Euro für Nahrungsmittel, ihre Kinder 79 Euro zur Verfügung hätten: "Ein Euro für das Frühstück, ein Euro für das Mittagessen, 65 Cent für das Abendessen. Davon wird man noch nicht einmal satt. Heranwachsende schon gar nicht." Immer wieder würde über Kinderarmut geredet, nun müssten endlich Ergebnisse aus dem Handlungskonzept des Familienministers auf den Tisch und Konsequenzen vom Sozial- und Gesundheitsminister gezogen werden. "Die am schwersten wiegende Erkenntnis ist, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien nicht nur in einzelnen Bereichen von Gesundheit und Lebensqualität schlechtere Ergebnisse aufweisen, sondern in durchweg allen."
    Dr. Stefan Romberg (FDP), selbst Arzt, meinte: "Menschen sind individuell und was sie essen, was sie verkraften und was ihnen gut tut, ist auch individuell." Ernster genommen werden müsse die Gesundheitserziehung, denn viele Eltern wüssten ja selbst nicht, was gesund ist. Sportunterricht dürfe nicht ausfallen und müsse ebenfalls ernster genommen werden. Die Regierung habe bereits begonnen, die Rahmenbedingungen in NRW so umzugestalten, dass Bildungsmängel und gesundheitliche Probleme als größte Armutsrisiken Schritt für Schritt reduziert würden.
    Barbara Steffens (GRÜNE) warf den Regierungsparteien vor, gerade die Strukturen abzuschaffen, die in dem Bericht gefordert würden: "Reihenuntersuchungen, die wir früher in den Schulen hatten, müssen wieder stattfinden. Sie haben das Geld der Beratungsstellen gekürzt, die sich mit Kindern beschäftigt haben, deren Mütter Opfer von häuslicher Gewalt waren. Sie wollen, dass in den Kneipen geraucht wird, wodurch schwangere Arbeitnehmerinnen belastet werden. Auch beim Flatrate-Saufen ist es so, dass die FDP freies Trinken für freie Bürger will", kritisierte sie.
    Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) bekannte, der Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit habe ihn nicht überrascht. Am Tag zuvor habe er bereits den "Sozialbericht NRW 2007" erläutert, in dem ebenfalls festgestellt wird: Je höher der Bildungsabschluss, desto geringer die Armutsgefährdung. Da Armut wiederum zu ungünstigem Gesundheitsverhalten führe, habe die Landesregierung eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen. Stellvertretend nannte er das Präventionskonzept NRW mit den Landesinitiativen "Leben ohne Qualm", "Gesundheit von Mutter und Kind" und "Prävention von Übergewicht bei Kindern", aber auch die "Bewegungsfreudige Schule" und eine Verbesserung des Impfschutzes.

    ID: LIN03154

  • Ausbau contra Betreuungsgeld.
    Koalition will gezielt das Platzangebot ausbauen.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 7 in Ausgabe 7 - 13.06.2007

    Wie sollen Kinder betreut werden, welche Familienpolitik wollen wir und welche Art von Förderung ist ökonomisch sinnvoll, damit - vielleicht - mehr Kinder geboren werden? Brauchen wir mehr Plätze für unter Dreijährige, eine Betreuungsplatzgarantie oder sogar ein Betreuungsgeld für Eltern, die zu Hause bleiben? Diese Fragen wurden im Plenum heftig diskutiert. Die Debatte entzündete sich am Antrag der SPD (Drs. 14/4377) zu einer Aktuellen Stunde unter dem Titel: "Ausbau der Kinderbetreuung sichern - Rechtsanspruch jetzt verbindlich einführen".
    Hannelore Kraft, SPD-Fraktionsvorsitzende, fand es wichtig, die Infrastruktur auszubauen. Sie setzte hinzu: "Wenn die nötigen Plätze geschaffen sind, dann müssen Schritt für Schritt die Elternbeiträge abgeschafft werden. Auch sie verhindern echte Wahlfreiheit: Wenn das Einkommen der Frauen fast vollständig von Abgaben und Betreuungskosten für ihre Kinder aufgezehrt wird, dann steuern wir falsch. Wir wollen Beitragsfreiheit!" Den Forderungen der CSU nach einem Betreuungsgeld für nicht berufstätige Eltern erteilte Kraft eine Abfuhr. Das Betreuungsgeld käme sowieso nicht bei den Kindern an, die hätten nichts davon. Darüber hinaus sei der Anreiz auch frauenpolitisch verfehlt: "Wir wissen alle: Je länger eine Frau aus ihrem Beruf aussteigt, desto schlechter sind ihre beruflichen Chancen im Anschluss. Staatliche Anreize für eine möglichst lange Unterbrechung sind kontraproduktiv." Schließlich sei ein Betreuungsgeld auch sozial ungerecht: Die Millionärsgattin würde in gleicher Höhe Geld erhalten wie die Kassiererin von Aldi. Ein Betreuungsgeld werde es deshalb mit der SPD nicht geben.
    Thomas Jarzombek (CDU) erinnerte die Opposition daran, sie habe 39 Jahre Zeit gehabt, die Kinderbetreuung in NRW zu optimieren, es aber nicht getan: "Die Betreuungsquote lag bei Ihnen zuletzt mit 2,8 Prozent am bundesdeutschen Ende. Damit haben Sie die Mütter im Stich gelassen. Bildung gab es bei Ihnen nicht in den Kindertagesstätten, bestenfalls als Zufallsprodukt - PISA dokumentiert das eindeutig. Damit haben Sie die Kinder im Stich gelassen." Es gehe nicht nur um Kinderbetreuung, sondern auch um Bildung.
    Sylvia Löhrmann, GRÜNE-Fraktionsvorsitzende, meinte, der Rechtsanspruch ab 2013 auf Bundesebene sei kein Durchbruch: "Das ist erst in sechs Jahren. Das sind Trippelschritte statt der erforderlichen Siebenmeilenstiefel." Dabei begünstige unser jetziges Steuersystem, insbesondere das Ehegattensplitting, das Modell "Mann verdient viel, Frau wenig bis gar nichts, bleibt daher besser zu Hause." Das sei ein Argument gegen das Betreuungsgeld. Als weiteren Grund nannte sie Bildung: "Uns kommt es bei der Schaffung von Krippenplätzen nicht nur darauf an, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, sondern uns kommt es auch und besonders darauf an, Kindern früh die bestmögliche Bildung, Betreuung und Erziehung zu bieten - und zwar insbesondere den Kindern, die dies nicht in ihren Elternhäusern erfahren."
    Christian Lindner (FDP) erklärte, bis 2010 würden die Betreuungsplätze in Kindertageseinrichtungen deutlich erhöht. "Bis 2010 werden 90.000 Betreuungsplätze mehr geschaffen worden sein. Gleichwohl werden wir beratschlagen, ob eine Platzgarantie nicht möglich werden kann. Wenn der Bund sich engagiert, ist die Platzgarantie für jeden Zweijährigen möglich!" Zum Betreuungsgeld sagte Lindner, das sei überflüssig wie ein Kropf. Die Einverdienerehe werde jetzt schon so stark subventioniert wie kein anderes Modell. In Richtung SPD kritisierte er, diese Partei wolle die Kita-Plätze durch eine Reduzierung des Kindergeldes finanzieren. "Sie wollten den Eltern in die linke Tasche greifen, um ihnen in die rechte Tasche Geld zu geben. Das ist doch nicht familienfreundlich!"
    Familienminister Armin Laschet (CDU) kündigte an, NRW werde im nächsten Jahr das Angebot der Kleinkindbetreuung deutlich ausbauen. Zurzeit gebe es 16.000 Plätze für unter dreijährige Kinder, im Jahr 2008 werde die Zahl auf 34.000 Plätze erhöht. "Diese 18.000 Plätze mehr helfen Eltern schon im Jahr 2008", sagte Laschet. Ein Rechtsanspruch ab 2013 sei eine "Veräppelung von Eltern". Im Jahr 2013 könne man auch darüber nachdenken, wie man Familienarbeit anerkenne. Aber: "Jetzt brauchen wir Betreuungsplätze. Wir brauchen einen schnelleren Ausbau der Plätze für unter Dreijährige, kleinere Gruppen und eine bessere Erzieherinnenausbildung. Erst dann würde ich den Kindergarten kostenlos machen."

    Bildunterschrift:
    Kinder bringen Freude und Verantwortung - und oft auch organisatorische Schwierigkeiten und finanzielle Probleme, wenn ein Betreuungsplatz gesucht wird: Es gibt im Land noch zu wenige davon. Das soll sich bessern.

    ID: LIN03159

  • Warten auf Karlsruhe.
    Strittig: Gebührenbefreiung für Geringverdiener.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 8 in Ausgabe 7 - 13.06.2007

    Mit Inkrafttreten des achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages am 1. April 2005 haben sich die Voraussetzungen zur Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht geändert. Folge: Viele Menschen, die zuvor wegen geringen Einkommens von der Rundfunkgebühr befreit waren, müssen heute Gebühren zahlen. Um dies zu korrigieren, fordern SPD und GRÜNE die Landesregierung in einem gemeinsamen Antrag (Drs. 14/4346) auf, sich für eine Erleichterung der Gebührenbefreiung für Geringverdienende einzusetzen. Mit diesem Antrag konnte sich die Opposition nicht durchsetzen. In einer von der SPD beantragten namentlichen Abstimmung votierten 73 Abgeordnete mit Ja und 83 Abgeordnete mit Nein.
    Wolfram Kuschke (SPD) räumte ein, dass es durch die Änderungen im 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag - damals war noch Rot-Grün in Regierungsverantwortung - "in der Tat zu einem Rückgang bei den Befreiungstatbeständen gekommen ist". Jetzt sei der geeignete Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen, was konkret geändert werden muss. Die wahre Flut von Eingaben, die in dieser Frage den Petitionsausschuss des Landtags erreicht hat, habe alle Fraktionen dazu gebracht, sich dieses Themas ernsthaft anzunehmen. Ungeachtet der notwendigen Befreiungen, müsse jedoch am Prinzip der Bedarfsermittlung durch die unabhängige KEF (siehe Kasten) festgehalten werden.
    Oliver Keymis (GRÜNE) bezeichnete es aufgrund der erheblich gesunkenen Befreiungsquote als sinnvoll, "die Befreiungstatbestände neu zu definieren und den engen Rahmen, den wir ursprünglich seitens der Staatskanzleien im 8. Vertrag gesetzt haben, spätestens mit dem nächsten, dem 10. Rundfunkänderungsstaatsvertrag zu korrigieren". Keymis warb für eine fraktionsübergreifende Initiative. SPD, Grüne und CDU hätten bereits eine relativ weitreichende Einigung erreicht. "Mit Blick auf die Medienpolitik würden wir dann eine an sich schöne Tradition aus der vorherigen Legislaturperiode fortsetzen."
    Lothar Hegemann (CDU) betonte, dass der Antrag im Grundsatz wenig strittig sei. Irritierend finde er hingegen, dass keine der Antrag stellenden Fraktionen ein Wort über Kosten oder Finanzierungsalternativen verloren habe. "Sie sprechen nur von Befreiung, sagen aber nicht, welche Einnahmeverluste es bei den Rundfunkanstalten geben wird", so Hegemann. Da der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht durch Steuern finanziert werde, bedeute dies, dass alle anderen Rundfunkteilnehmer mehr zahlen müssten. "Insofern präjudizieren Sie zumindest die Entscheidungsfreiheit der KEF." Zudem sei die Frage der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ohnehin in einem Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Das Urteil solle erst abgewartet werden.
    Ralf Witzel (FDP) forderte eine grundlegende Reform des Gebührensystems, statt über Einzelmaßnahmen zu diskutieren. Unter dem Strich bedeute der Antrag ein Einnahmeausfallvolumen in zweistelliger Millionenhöhe. "Der Weg, die finanziellen Belastungen für alle Bürger sowie auch Unternehmen durch Rundfunkgebühren im Rahmen zu halten, ist der, den öffentlich-rechtlichen Finanzbedarf der KEF zu senken und nicht die Privilegierung durch Befreiung einzelner mit immer größeren Belastungen anderer zu erkaufen." Durch die Praxis der Gebühreneinzugszentrale, praktisch jedes technische Gerät als Rundfunkempfänger zu deklarieren, würden Menschen "doppelt und dreifach abkassiert".
    Minister Michael Breuer (CDU) meinte, eine isolierte Betrachtung der im Antrag aufgeworfenen Änderungsvorschläge mache zumindest zum jetzigen Zeitpunkt keinen Sinn. Zum einen werde für den Sommer ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts erwartet. Dieses dürfte grundlegende Ausführungen zu Fragen der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks enthalten. Zudem sei eine Ausdehnung der Rundfunkgebührenbefreiung nur dann möglich, wenn die bestehenden Rundfunkänderungsstaatsverträge von allen Landesregierungen und allen Parlamenten geändert würden. Die Rundfunkkommission der Länder sei inzwischen von den Ministerpräsidenten beauftragt worden, alternative Finanzierungskonzepte zu der derzeitig gerätebezogenen Gebühr zu erarbeiten.

    Zusatzinformation:
    Die KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten) überprüft den Finanzbedarf des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland und empfiehlt den Landesparlamenten die Festsetzung von Rundfunkgebühren für Rundfunkempfangsgeräte (z.B. Radios, Fernseher, neuartige Rundfunkempfangsgeräte), die dann durch die GEZ (Gebühreneinzugszentrale der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland) von den Rundfunkteilnehmern eingezogen werden. Gesetzliche Grundlage der KEF ist der Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag, der sowohl die Höhe der Gebühren wie auch die Verteilung der Mittel regelt.

    ID: LIN03160

  • Kinder als Hartz IV-Verlierer?
    Grüne: Junge Menschen haben ihren eigenen Bedarf.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 9 in Ausgabe 7 - 13.06.2007

    "Hartz IV - Kinder brauchen mehr" titelt ein Antrag der Grünen (Drs. 14/4330), der jetzt im Landtag diskutiert wurde. Die Fraktion mahnt darin an, dass die derzeitige Ausgestaltung der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II und SGB XII den entwicklungsbedingten Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht werde. Sie forderten die Landesregierung zur Nachbesserung auf. Minister Laumann (CDU) erklärte seine Bereitschaft, die finanziellen Hilfen für Kinder von Hartz IV-Empfängern überprüfen zu lassen.
    Barbara Steffens (GRÜNE) kritisierte: Bei der SGB II-Gesetzgebung habe man es sich bei der Regelsatzhöhe für Kinder und Jugendliche zu leicht gemacht: Kinder bekämen einfach einen bestimmten Prozentsatz dessen, was ein Erwachsener erhält. Diese Regelung werde jedoch dem Bedarf von Kindern und Jugendlichen in keiner Weise gerecht. Der Kinder-Tagessatz für Essen und Trinken liege bei gerade einmal 2,65 Euro. "Davon kann man nicht einmal das Ganztagsessen in der Schule bezahlen." Gleiches gelte auch für die Pauschalen für Kleidung und Schuhe. Wachstumsbedingt sei der Bedarf bei Kindern hier viel höher als bei Erwachsenen. Sie forderte die Einsetzung einer unabhängigen Kommission, die speziell die Bedürfnisse der Kinder je nach Altersstufe analysiert und Instrumente findet, wie sie kontinuierlich angepasst werden können. Im Übergang müssten zudem gesetzliche Regelungen geschaffen werden, die die Gewährung von einmaligen Hilfen in Einzelfällen wieder erlaube.
    Walter Kern (CDU) hielt fest: "Es darf nicht sein, dass man an der Adresse eines Kindes oder an seinem Glück, in eine bestimmte Familiensituation hineingeboren zu sein, die Lebensperspektive ablesen kann." Jedes vierte Kind in NRW lebe in einem einkommensschwachen Haushalt. Daraus dürfe man jedoch nicht den Schluss ziehen, dass einkommensschwache Eltern schlechte Eltern seien. "Das hat nichts miteinander zu tun", so der Abgeordnete. Fest stehe hingegen, dass Erwerbstätigkeit ein wesentlicher Lösungsfaktor für das Problem der Kinderarmut ist. Kern: "Mehr Arbeitsplätze helfen den Familien, Eltern und Kindern mehr als jede staatliche Förderung." Die Landesregierung befinde sich mit ihrer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik auf dem richtigen Weg, um Kinderarmut zu bekämpfen.
    Heike Gebhard (SPD) gestand der Koalition zu, das Problem der Kinderarmut richtig erkannt zu haben, ohne jedoch die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ihr Vorredner habe richtig darauf hingewiesen, dass Kinder, die in materieller Armut leben, sich oftmals auch in kultureller Armut sowie in sozial und gesundheitlich prekärer Situation befinden. Mit dem Kinderbildungsgesetz, der Sprachstandsfeststellung sowie dem Schulgesetz weise die Politik der Landesregierung jedoch in eine vollkommen falsche Richtung. "Sie erheben Ansprüche, Sie stellen Anforderungen auf, aber Ihre Politik bewirkt genau das Gegenteil", so Gebhard. "Ihre Politik stellt nicht Wasser zum Löschen der Feuer bereit, nein, Sie gießen zusätzlich Öl hinein!"
    Dr. Stefan Romberg (FDP) wertete Kinderarmut als ein Problem, das mit Priorität und über Fraktionsgrenzen hinweg angegangen werde müsse. Dabei gehe es aber nicht allein darum, die Regelsätze zu erhöhen. Vielmehr sei es wichtig, die Startbedingungen der Kinder im Bildungssystem, in der Frühförderung und der Sprachförderung zu verbessern. Auch eine gesunde Ernährung sei nicht zwingend eine Geldfrage. "Es gibt einfache Mittel, auch mit preiswerten Lebensmitteln gesund zu leben", so Romberg. Zusammenfassend sagte er: "Eigentliches Ziel muss für uns alle sein, zu verhindern, dass ein längerer Leistungsbezug im Rahmen von Hartz IV überhaupt erst erforderlich wird."
    Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) fand es fraglich, ob eine prozentuale Ableitung des Erwachsenenregelsatzes in jedem Punkt die Lebenswirklichkeit von Kindern trifft. Dies müsse nochmals einer fachlichen Prüfung unterzogen werden. Die Lebensvielfalt lasse sich nicht ausschließlich in Pauschalen abbilden. Behörden müssten stattdessen die Möglichkeit haben, in besonderen Fällen auch eine besondere Leistung zu gewähren. Eine generelle Anhebung der Regelsätze lehnte der Minister aber ab.
    Elisabeth Veldhues (SPD) nannte die Überwindung von Kinderarmut eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben. Dies dürfe nicht länger als unabänderliche Tatsache hingenommen werden.
    Bernhard Tenhumberg (CDU) sah in dem Antrag einen weiteren guten Anlass, um über die Situation von Kindern nachzudenken und festzustellen, was positiv läuft und was noch zu tun ist.
    Sigrid Beer (GRÜNE) appellierte an den Minister: "Bitte mischen Sie sich in die Frage von Lehrmittelfreiheit, Schulessen und Klassenfahrten ein."

    Bildunterschrift:
    Es geht ans Eingemachte - viele Hartz IV-Empfänger haben kaum Chancen, Rücklagen für Anschaffungen für Kinder oder außergewöhnliche Belastungen zu bilden, klagen die Grünen und fordern, dass die besonderen Belange junger Menschen vom Gesetzgeber stärker berücksichtigt werden.

    ID: LIN03161

  • Mit Bildung gegen Armut.
    Koalition: Rot-Grün hat zu wenig getan - Opposition: Konzept fehlt.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 10-11 in Ausgabe 7 - 13.06.2007

    Engagiert und offen haben die Landtagsabgeordneten den jüngsten Sozialbericht der Landesregierung im Plenum debattiert - Auftakt einer von Sozialminister Laumann (CDU) angestrebten landesweiten Diskussion. Die Opposition vermisste Vorschläge zur Verbesserung und kritisierte, dass Schwarz-Gelb so tue, als habe Rot-Grün aus früheren Armuts- und Reichtumsberichten keine Konsequenzen gezogen. Vorangegangen war der Erörterung im Plenum die Unterrichtung der Landesregierung unter dem Motto "Teilhabe gewährleisten - Konsequenzen aus der Sozialberichterstattung ziehen".
    Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) betonte, der vorgelegte Sozialbericht ende mit den Daten für das Jahr 2005. Daraus schloss der Minister: "Er ist damit eine Abschlussbilanz der Lebensverhältnisse der Menschen in Nordrhein-Westfalen nach Ihrer Regierungszeit." Rot-Grün habe bereits 2004 den ersten Sozialbericht vorgelegt, aber, fuhr er fort: "Sie haben über die Probleme nur geredet und den Menschen gebetsmühlenartig erklärt, dass alles auf einem gutem Weg sei. Konsequenzen aus dem Sozialbericht sind aber nicht gezogen worden." Anders Schwarz-Gelb: Die neue Regierung betreibe konkrete Armutsbekämpfung. Weil Armut am besten durch bessere Bildung zu bekämpfen sei, bringe sie das Schulsystem auf Vordermann. Sie wende in drei Jahren mehr als 90 Millionen Euro für das Sonderprogramm Ausbildung 2006 auf. Sie verfolge das Ziel, dass Kinder kein Armutsrisiko mehr sein dürfen. Sie kümmere sich um die Migrantenfamilien und deren Kinder. Laumann blickte nach vorne. Bei der Vorstellung des nächsten Sozialberichts werde man sicher sagen können: "Die Landesregierung und das Land haben Konsequenzen aus der Sozialberichterstattung gezogen, die Regierung Rüttgers hat ihr Möglichstes getan, um die Teilhabe zu gewährleisten, und das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales ist der Freund der kleinen Leute."
    Norbert Killewald (SPD) gab das Argument zurück, der vorangegangene Sozialbericht sei - anders als der jetzige - nicht im Plenum diskutiert worden: Die oppositionelle CDU hätte damals, wenn sie Wert darauf gelegt hätte, die Debatte im Plenum herbeiführen können. Rot- Grün habe sich für die Debatte des alten Sozialberichts im Fachausschuss entschieden, um das Thema 2004 nicht in den beginnenden Vorwahlkampf zu ziehen, erklärte der Abgeordnete rückblickend. Nach vorn gewandt ("Wir Sozialdemokraten werden weder ideenlos noch konzeptionslos reagieren") nannte er eine Reihe von Arbeitsfeldern: Zum Kampf gegen die Armut verlange man mehr Ganztagsangebote in der Schule, eine schnellere Realisierung des Rechtsanspruchs auf Betreuung unter drei Jahren, Beitragsfreiheit für den Elementarbereich, gemeinsame Mahlzeiten in Schule und Elementarbereich, Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit und eine aktivere Rolle des Landes in der Gesundheitsvorsorge von der frühkindlichen Phase bis zum Jugendalter.
    Rudolf Henke (CDU) bezeichnete den Sozialbericht als "Berichterstattung von der Schattenseite der Gesellschaft". Die darin getroffenen Befunde seien eine der Triebkräfte für seine Partei gewesen, auf den Wechsel hinzuarbeiten und die Verhältnisse zu verbessern. Der Abgeordnete: "Inzwischen hat dieser Neuanfang begonnen" - an Rhein und Ruhr zusammen mit den Liberalen und in Berlin gemeinsam in der Großen Koalition. Er habe den Eindruck, dass zumindest die Kälteperiode, die der Sozialbericht beschreibe, zu Ende gehe und "dass Deutschland auf Betriebstemperatur kommt". Und diese höhere Wärme erreiche auch die Schattenseite unserer Gesellschaft, fand Henke und ergänzte: "Wir in Nordrhein-Westfalen leisten dazu entscheidende Beiträge." Er erwähnte die Verbesserungen im Schulsystem, in der betrieblichen Ausbildung und bei der Gesundung des Landeshaushalts. Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft seien positiv. Der Abgeordnete: "Wir tun alles dafür, die Innovationskraft unserer Betriebe sowie den Forschungsgeist an unseren Hochschulen und Universitäten, die Neugier unserer Kinder, Schüler und Studierenden zu fördern und voranzubringen, damit der Strom der Ideen nicht abreißt, der Deutschland zum Land der Ideen macht, damit wir als soziale Marktwirtschaft im internationalen Wettbewerb vorne bleiben."
    Barbara Steffens (GRÜNE) erinnerte an die zögerliche Haltung der Union bei der Debatte vor sieben Jahren über möglichst frühe kindliche Sprachförderung. Damals habe die CDU darüber diskutiert, ob diese Förderung nicht mit Kindern im Alter von fünf Jahren beginnen solle und wie viel Geld dort hineingegeben werden dürfe. Steffens an die CDU: "Überlegen sie doch einmal, statt Ihre Vergangenheit zu verdrängen, was das für ein langer Weg für Sie war, auf unseren Zug aufzuspringen." Zur Initiative "Jugend in Arbeit plus" meinte die Abgeordnete, die Union schmücke sich mit fremden Federn. Nur weil der Sozialminister diesem und anderen Programmen jetzt einen anderen Namen gebe, seien diese Programme nicht neu; viele davon seien alt und fortgeführt. In den meisten Fällen, ergänzte sie, seien sie sogar schlechter geworden. Sie kritisierte die Argumentation der CDU als rückwärts gewandt; die Menschen erwarteten nicht dieses "Hickhack und Gestreite", sondern dass man die Probleme ernst nehme und dass ihnen "nach vorne gerichtet gesagt wird, was man jetzt tun will".
    Dr. Stefan Romberg (FDP) schloss im Kampf gegen Armut neue Programme und neue Schulden aus. Er sagte: "Wir verbessern die Rahmenbedingungen der Menschen in Nordrhein- Westfalen durch bessere Bildung, mehr Arbeit und bessere Gesundheit. Wir schaffen die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft und damit die Voraussetzungen, die Armut Schritt für Schritt wirklich abzubauen." Der Bericht enthalte zum Teil dramatische Zahlen; Besorgnis erregend sei die Tatsache, "dass sich die Lebenssituation bestimmter Zielgruppen weiter verschlechtert hat: die Langzeitarbeitslosen, die Alleinerziehenden, die Migrantinnen und Migranten, die Familien mit den vielen Kindern". Am besten sei nach Ansicht der Liberalen, dass Missstände gar nicht erst entstünden - durch "Prävention, den präventiven sozialen Staat". Der Abgeordnete: "Wir wollen in erster Linie eine Hilfe zur Selbsthilfe in Form einer echten Chancengleichheit, die es allen Kindern ermöglicht, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen." Schwarz-Gelb wolle aus NRW wieder ein "Wohlstandsland" machen: "Fehlende Bildung, fehlende Arbeit und fehlende Gesundheit sind die größten Armutsrisiken, die wir Schritt für Schritt gemeinsam reduzieren werden."
    Günter Garbrecht (SPD) erinnerte daran, dass es im Land seit 1992 eine Sozial- und Armutsberichterstattung gebe. Aus jedem Bericht, betonte er, seien Konsequenzen gezogen worden, etwa zur Linderung der Wohnungsnot, in der Drogen- und Suchtberatung und bei den Arbeitslosenberatungsstellen. Die Schere zwischen Arm und Reich öffne sich weiter. Bestimmte Menschen säßen in der "Armutsfalle" fest; dieser Kern verfestige sich. Der Frage der Verteilungsgerechtigkeit könne man nicht ausweichen: "Es geht um die Frage der solidarischen Gesellschaft". Wer wie die Koalition, die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse als politische Priorität aus dem Auge verloren habe ("Privat vor Staat"), der könne sich nicht als Speerspitze im Bekämpfen von Kinderarmut hinstellen - in Gegenteil: der verstärke diese Prozesse. Zum Schluss stellte Garbrecht die Frage: "Wie viel Armut und Ausgrenzung verträgt eine demokratische Gesellschaft?" Er warnte davor, dass sich die Menschen in bestimmen Wohnquartieren zunehmend aus der demokratischen Gesellschaft ausklinkten.
    Oskar Burkert (CDU) betonte ebenfalls den hohen Stellenwert von Bildung und Ausbildung bei Vermeidung und Bekämpfung von Armut. Das habe die Koalition erkannt und arbeite seitdem an Lösungsstrategien. "Die Erfolge in Bildung und in Arbeit zeigen die ersten positiven Ansätze", erklärte der Abgeordnete: "Nordrhein-Westfalen kann mit CDU und FDP auf eine gute Zukunft bauen." Anstelle des Nichtstuns der alten Regierung habe die Koalition in die Bildung investiert. Die Folge: NRW sei 2006 zum Aufsteigerland Nummer 1 geworden. Burkert: "Die Menschen haben wieder Vertrauen gefunden, die Menschen packen wieder an. In diesem Jahr sind wir das Mittelstandsland Nummer 1 - sogar noch vor Bayern."
    Sylvia Löhrmann, GRÜNE-Fraktionsvorsitzende, wertete die Debatte so: Die Erkenntnisse über die Befunde seien noch relativ einvernehmlich, "aber wir streiten darüber: Was sind die richtigen Antworten?" Da sehe die Koalition nicht die Zusammenhänge. Dadurch, dass immer etwas wieder heruntergebetet werde, passiere es nicht schon, mahnte die Vorsitzende und warnte davor, frühe Ansätze der individuellen Förderung von Kindern nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie selbst habe bei den Beratungen zum Landeshaushalt 2002 mit darauf hingewirkt, dass Mittel zur Förderung von Kindern im vorschulischen Bereich zur Verfügung gestellt werden. Die seien in den Folgejahren aufgestockt worden - "das waren sehr drastische Steigerungsraten. Wir begrüßen, dass Sie das jetzt fortsetzen."
    Minister Karl-Josef Laumann (CDU) erneuerte sein großes Interesse an einem breiten Dialog über den Sozialbericht und betonte sein Interesse an einer guten Zusammenarbeit bei der Umsetzung der Maßnahmen für Bildung und gegen Armut. Sein Ministerium werde mit dem Bericht in allen fünf Regierungsbezirken zu regionalen Konferenzen einladen. Denn es helfe nichts, die Situation schön zu reden. Vor Ort bedürfe es der Zusammenarbeit mit den Beteiligten der Kommunalpolitik. Auch sei das ehrenamtliche Engagement zu ermutigen und zu stärken. Der von der Opposition ins Feld geführte gesetzliche Mindestlohn helfe seiner Ansicht nach nicht weiter. Es gebe sicher Bereiche, in denen sich die Löhne "schwierig" entwickelten. Der Minister schlug vor, diese Entwicklung zu verfolgen und dann zu entscheiden. "Ich glaube, dadurch kann man mit den Mitteln, die mir heute als Landesminister zur Verfügung stehen, einen wirksamen Beitrag dazu leisten, sittenwidrige Löhne zu verhindern, die hier im Hause niemand will."

    ID: LIN03162

  • Mit Energie in die Zukunft.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 6 - 23.05.2007

    Nordrhein-Westfalen gilt als Energieland Nr. 1. Aus NRW kommen 30 Prozent des erzeugten Stroms. Hier haben zwei bedeutende international aufgestellte Energiekonzerne ihren Sitz. In der Energiewirtschaft an Rhein und Ruhr sind eine Viertelmillion Menschen beschäftigt. In Unternehmen, an Hochschulen und Forschungsinstituten wird an der Energie der Zukunft geforscht.
    Energieland - das beschreibt also nicht nur die Gegenwart. NRW will auch in den kommenden Jahren die erste Adresse in Sachen Energie sein und Schrittmacher für Fortschritt und Innovation im internationalen Wettbewerb bleiben.
    Diese führende Position ist nicht umsonst zu haben. Neben Geld, viel Geld, erfordert er Kraft und Entschlossenheit. Die Politik muss die Rahmenbedingungen setzen und auf einen gesellschaftlichen Konsens hinarbeiten. Viel Zeit bleibt ihr nicht: Der Klimawandel gibt den Fahrplan vor.

    Perspektiven

    Entsprechend leidenschaftlich die Debatten. Die Ausgangslage ist klar: Die fossilen Brennstoffe gehen irgendwann zur Neige und müssen ersetzt werden. Neue Energiequellen müssen gefunden werden. Aber welche und in welchem Mischungsverhältnis? Wie schnell lassen sich erneuerbare Energien ausbauen? Wie sehen die Strukturen einer künftigen Energieversorgung aus? Welche neuen Energien sind wirtschaftlich und behaupten sich am Markt und welche Energielieferanten sind "sicher"?
    Die Debatte darüber geht weiter. Bis zu einem Ergebnis legt das Energieland NRW aber nicht die Hände in den Schoß. Hierzulande ist schon viel Neues angepackt worden. Es gibt die Schritte zur Biomassegewinnung, zur Nutzung von Erdwärme und Solarenergie, Arbeiten an der Brennstoffzelle, um nur einige Felder zu nennen. Über das Land verteilt laufen Pilotund Demonstrationsanlagen.
    NRW hält sich an das Motto: Das Neue tun, ohne das Alte aus dem Auge verlieren. Das geschieht derzeit mit den Kohlekraftwerken im Land. Sie werden modernisiert und nachgerüstet. Ihr Wirkungsgrad wird erhöht (und damit der Brennstoffeinsatz reduziert). Die Planungen für ein CO2-armes, wenn nicht freies Großkraftwerk laufen. Auch für die derzeitige Übergangszeit soll es mit Fug und Recht heißen: Nordrhein-Westfalen, das Energieland Nr. 1.
    JK

    ID: LIN03130

  • Globale Brille aufsetzen?
    Grüne halten der Landesregierung weitgehende Untätigkeit vor.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 9 in Ausgabe 6 - 23.05.2007

    Bis zum Jahr 2020 sollen - ausgegangen vom Jahr 1990 - die Treibhausgasemissionen in Deutschland um 40 Prozent reduziert werden. Diese von Bundesumweltminister Gabriel (SPD) formulierte Zielvorgabe soll unter anderem durch die Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien erreicht werden. In diesem Bereich jetzt mit Nachdruck zu handeln, sei Aufgabe auch der hiesigen Landesregierung. Das zumindest sagen die NRWGrünen, die die Diskussion in einer Aktuellen Stunde auf die Tagesordnung der Plenarsitzung brachten. Ihrer Meinung nach werden die von der Landesregierung vorgelegten Energiekonzepte diesen Ansprüchen nicht gerecht.
    Reiner Priggen (GRÜNE) kritisierte die Klimaschutzpläne der Landesregierung als nicht weitreichend genug: "Es ist Lyrik. Es sind allgemeine Feststellungen. Jedoch fehlen Zielmarken und Angaben dazu, wie was erreicht werden soll." NRW setze falsche Prioritäten. Das Land benötige keine neuen Kondensationskraftwerke auf der Basis von Braun- und Steinkohle. Stattdessen habe man großen Nachholbedarf bei den erneuerbaren Energien. Priggen: "So, wie Sie diesen Markt behandeln, geht er an NRW vorbei. Wir finanzieren ihn, und Bayern und Baden-Württemberg bauen aus. Das kann nicht unser Ziel sein."
    Marie-Luise Fasse (CDU) konstatierte: "Zum ersten Mal wird jetzt Ernst gemacht bei der Umsetzung der Klimaschutzziele." Die EU habe mit ihrem "historischen Beschluss" über die Klimapolitik die Messlatte sehr hoch gehängt. Die Landesregierung stelle sich jedoch der Herausforderung. Den Vorwurf der Untätigkeit wies sie zurück: Bereits im Februar habe das Kabinett Konzepte zur Energieeffizienz, zu erneuerbaren Energien und zur Energieforschung verabschiedet. Darüber hinaus habe man vielerlei Maßnahmen eingeleitet, die teilweise sogar über die EU-Vorgaben hinausgingen.
    André Stinka (SPD) lobte die Agenda des Bundesumweltministers als bedeutenden Meilenstein für die nationale Klimapolitik. Bislang sei die Landesregierung dem Parlament jedoch ein Klimaschutzkonzept schuldig geblieben. Es gehe nicht um Absichtserklärungen, sondern um konkrete Maßnahmen. "Für die NRW-SPD steht fest: Wir arbeiten für heimische Energieträger von Kohle bis Sonne, wir wollen Lebensqualität und wir stehen für Versorgungssicherheit", so der Abgeordnete.
    Holger Ellerbrock (FDP) warf Gabriel vor, er bleibe seinem Grundsatz treu, hehre Ziele zu formulieren, ohne jedoch Maßnahmen, geschweige denn Finanzierungsvorschläge zu nennen. Es sei zudem illusorisch, Klimaprobleme auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene lösen zu wollen. Die "globale Brille" sei zwingend notwendig. Ellerbrock: "Dabei müssen wir überlegen: Aus welchen Bereichen wollen wir aussteigen und wohin wollen wir? Dabei kommen wir um den Begriff Energiemix inklusive Kernkraft nicht herum!"
    Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) wendete ein: Aufgrund der industriellen und landschaftlichen Struktur sei es fraglich, ob sich in NRW der Anteil erneuerbarer Energien so weit steigern ließe, wie in der Gabriel-Agenda angekündigt. "Viele vergessen, dass Klimaschutz und die Nachhaltigkeit der Energieversorgung nur ein Ziel sind; wir haben daneben noch die Versorgungssicherheit und die Wirtschaftlichkeit als weitere Ziele", so die Ministerin. Die Regierung habe aber ein Gutachten in Auftrag geben, das die einzelnen Maßnahmen zur CO2- Reduktion quantifizieren soll.
    Thomas Eiskirch (SPD) bemängelte, dass Klimadebatten häufig auf die Notwendigkeit des Verzichts und die Sorge um den wirtschaftlichen Niedergang reduziert würden. Stattdessen müsse man die Chancen sehen, die der Klimaschutz für die Wirtschaft in NRW bringt.
    Christian Weisbrich (CDU) hielt fest: Auch Schwarz-Gelb wolle erneuerbare Energien ausbauen, "aber mit Augenmaß und Verstand". Man dürfe aber auch die Empfehlung des UNKlimarates nicht vollständig ignorieren, sichere Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen.
    Johannes Remmel (GRÜNE) sagte, der überwiegende Teil der Koalition habe mit Klimaschutz nichts am Hut. Aufgrund der öffentlichen Debatte habe man notgedrungen Papiere vorgelegt - "Notstandspapiere, gedrungen und geschoben und nicht aus eigenem Herzen und Willen."
    Dietmar Brockes (FDP) merkte an, dass Klimaschutz ein globales Problem sei. Trotzdem müsse NRW seine Hausaufgaben erledigen. Gleichzeitig müsse man die Technologieentwicklung und damit den Export vorantreiben.
    Umweltminister Eckhard Uhlenberg (CDU) nannte die Erneuerung des NRW-Kraftwerkparks die Hauptherausforderung. Wie man jedoch gleichzeitig den Ausstieg aus der Braunkohle, aus den Steinkohlekraftwerken und die vorzeitige Abschaltung von Kernkraftwerken realisieren wolle, auf diese Frage seien die Grünen eine glaubwürdige Antwort schuldig geblieben.

    ID: LIN03131

  • Ortgies, Friedhelm (CDU); Schulze, Svenja (SPD); Remmel, Johannes (Grüne); Ellerbrock, Holger (FDP)
    City-Maut findet keinen Zuspruch.
    Interviews mit den umweltpolitischen Sprechern der Fraktionen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 6 - 23.05.2007

    Der ungemein milde Winter, der zerstörerische Orkan Kyrill, der wärmste April seit über 100 Jahren - sind all das bereits Hinweise auf einen fortschreitenden Klimawandel oder Extremwetterlagen, die selten aber nicht ungewöhnlich sind? Die Wissenschaft hat hierzu noch kein abschließendes Urteil gefällt. Die Politik hingegen hat Handlungsbedarf angemahnt. Ganz oben auf der Agenda steht die Reduzierung der CO2-Emissionen. Aber auch andere Themen wie die Feinstaubproblematik oder die Müllentsorgung beschäftigen Politiker auf kommunaler, Landes-, Bundes- und Europaebene. Über mögliche Lösungsansätze und konkrete Zielvorgaben sprach "Landtag intern" mit Friedhelm Ortgies (CDU), Svenja Schulze (SPD), Johannes Remmel (GRÜNE) und Holger Ellerbrock (FDP).

    Der Klimarat der UN gibt acht Jahre Zeit zum Umsteuern. Die EU warnt vor dem Bau neuer (Braun)Kohlekraftwerke. Steht das Energieland NRW vor der Krise?

    Ortgies: Die Kritik der EU am Neubau von Braunkohlekraftwerken ist aus meiner Sicht schwer nachvollziehbar. Schließlich können wir nicht heute dafür bestraft werden, dass unsere Vorgängerregierung bereits vor mehr als zehn Jahren das letzte Kernkraftwerk in NRW außer Betrieb genommen hat. Braunkohle ist seitdem einer unserer wichtigsten Energieträger, der zudem ohne Subventionen auskommt. Vor dem Hintergrund muss die Landesregierung in Zusammenarbeit mit dem Bund und der EU Wege finden, wie wir die Braunkohle auch künftig verantwortbar und effizient nutzen können. Beispielsweise könnten wir einen Teil der durch den Auslauf der Steinkohlesubventionen frei werdenden Mittel in die Forschung und Entwicklung von klimafreundlicheren Techniken für die Braunkohleverstromung investieren. Ich denke da beispielsweise an das Verfahren, CO2 -Emissionen abzuspalten und unterirdisch zu verbringen.
    Schulze: Zu Regierungszeiten hat die SPD als erstes Land Klimaschutzberichte vorgelegt und deutlich gemacht, wie ein sinnvoller Energiemix aussehen kann - ohne Atomkraft! Wir setzen auf unsere heimischen Energieträger von der Kohle bis zur Sonne. Weltweit werden derzeit noch viele neue Kohlekraftwerke gebaut. Um kurzfristig den CO2-Ausstoß zu reduzieren, wollen wir alte, ineffiziente Kraftwerke durch neue ersetzen. Gleichzeitig müssen wir den Anteil der erneuerbaren Energien kontinuierlich steigern. Wir müssen das Repowering von Windkraftanlagen erleichtern, den Ausbau der Kraftwärmekopplung fördern und den Einsatz erneuerbarer Energie zur Wärmebereitstellung erheblich ausbauen. Dazu brauchen wir eine stärkere Förderung der Solarthermie, mehr Anstrengungen für die Gebäudeeffizienz und mehr Schub bei der Geothermie. Die Landesregierung verpasst derzeit die große Chance, NRW als Energieland mit den richtigen Rahmenbedingungen zu versehen, damit wir im internationalen Wettbewerb gut aufgestellt bleiben. Da Klimawandel ein Querschnittsthema ist, haben wir dazu einen Sonderausschuss beantragt. Für die SPD steht NRW nur dann vor einer Krise, wenn die Landesregierung weiterhin versucht, Klimaschutz und Arbeitsplätze gegeneinander auszuspielen.
    Remmel: Wenn wir die Ziele der EU sowie die Pläne des Bundesumweltministers, der die CO2- Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren möchte, einhalten wollen, dann müssen wir uns dringend Gedanken über unsere Kraftwerksstruktur machen. Von den bundesweit 46 Kraftwerksneubauvorhaben sollen allein 20 Braun- und Steinkohlekraftwerke auf NRW entfallen. Wenn das verwirklicht würde, ließen sich die Ziele von Bund und EU mit Sicherheit nicht erreichen. Natürlich sperren auch wir uns nicht grundsätzlich gegen die Erneuerung von Kraftwerken. Eins ist aber klar: Ein Zubau von Kraftwerkskapazitäten kommt auf gar keinen Fall in Frage. Insgesamt sollte der Zug eindeutig in Richtung Kraft-Wärme-Kopplung fahren. Das ist die effizientere Art, Strom und Wärme zu produzieren, würde aber ein längst überfälliges Umsteuern bei der Energiepolitik voraussetzen.
    Ellerbrock: Nein! Jedes modernisierte Kohlekraftwerk trägt dazu bei, die Energieeffizienz zu erhöhen und den Schadstoffausstoß zu reduzieren. Wir als FDP sagen Ja zu moderner Braunkohleverstromung. Wir sagen auch Ja zu moderner Steinkohleverstromung, setzen aber auf Importkohle. Daher macht es Sinn, neue und effiziente Kohlekraftwerke zu bauen. Ich kann nicht erkennen, dass das Energieland NRW in einer Krise steckt. Wir haben die Forschung, wir haben die Anwendung, wir haben die Technik, wir haben den Maschinenbau und wir haben die Braunkohle als einzige nicht subventionierte Lagerstätte im Bereich der Energiewirtschaft. Wir sind Energieland Nr.1 und wir wollen Energieland Nr.1 bleiben. Man muss aber feststellen, dass in einer Laufzeitverlängerung der Kernenergie das größte CO2-Reduktionspotential liegt.

    Hightech im Umweltschutz: Wird NRW aufgrund seiner modernen Abfallbeseitigungsanlagen zur bevorzugten Adresse für Giftmüll aus aller Welt?

    Ortgies: Ich wundere mich, dass die Diskussion erst heute geführt wird und nicht schon vor vier oder fünf Jahren. Die Genehmigungen und Verträge für die Entsorgung ausländischen Giftmülls in NRW sind in der Zeit der Vorgängerregierung und unter Umweltministerin Höhn ausgehandelt worden. Ich persönlich halte das insbesondere dann für inakzeptabel, wenn Giftmüll aus hochindustriellen Ländern wie Australien um den halben Globus nach NRW importiert wird. Problem- und Giftmüllabfälle sollten nach Möglichkeit dort verbrannt beziehungsweise entsorgt werden, wo sie entstehen. In Schwellenländern, in denen diese modernen Entsorgungsanlagen nicht zur Verfügung stehen, stellt sich die Situation wieder anders da. Hier muss NRW Hilfestellung leisten und verhindern, dass Giftmüll auf illegalen Deponien gelagert oder im Meer verklappt wird.
    Schulze: Wir haben in NRW einen sehr hohen Standard für die Beseitigung von Sondermüll. Schließlich müssen wir in der Lage sein, die Giftstoffe, die hier in der Produktion entstehen, auch selber zu entsorgen, damit sie nicht auf illegalen Mülldeponien landen. Ich halte es allerdings für ein Unding, wenn ein Industrieland wie Australien seinen Müll um die halbe Welt schafft. Australien muss Entsorgungsmöglichkeiten vor Ort schaffen, dafür liefern wir ihnen gerne Technik aus NRW.
    Remmel: Die damalige SPD-Landesregierung hat in den 90er Jahren einen enormen Ausbau der Müllverbrennungskapazitäten bewirkt. Wir haben eine Vielzahl an hochmodernen Anlagen und damit mehr Verbrennungskapazitäten, als wir hierzulande benötigen. Dies ist ein Problem. Wir befürchten nun, dass die geplanten Giftmüllimporte aus Australien von anderen Ländern als Einladung missverstanden werden könnten, nicht für eigene Kapazitäten zu sorgen, sondern NRW als Zielpunkt für Sondermüll zu wählen. Das kann nicht im Interesse des Landes liegen und steht zudem im Widerspruch zum Basler Abkommen, das eine ortsnahe Entsorgung vorsieht. NRW sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, das hier vorhandene Know-how stärker ins Ausland zu exportieren.
    Ellerbrock: Das glaube ich nicht. Wir haben in NRW über Jahre eine sehr verantwortungsvolle Entsorgungspolitik betrieben. Da hierzulande produzierter Sondermüll auch hierzulande entsorgt werden sollte, hat das Land den Bau von Hightech-Sonderabfallbehandlungsanlagen vorangetrieben. Einen gewissen grenzüberschreitenden Austausch hat es immer gegeben und wird es immer geben, da nicht jedes Land für jeden Abfall die entsprechenden Anlagen vorhalten kann. Gerade mit Blick auf die Entwicklungsländer ist es mir letztlich lieber, dass Sonderabfälle bei uns umweltgerecht entsorgt werden, als dass sie in illegalen Kanälen verschwinden. Mülltourismus zwischen Industrieländern sollte jedoch die Ausnahme bleiben, da auch ich grundsätzlich eine ortsnahe Entsorgung befürworte.

    Luftqualität in Ballungsräumen. Große Städte stehen mit der Planung von Umweltzonen Gewehr bei Fuß. Wäre die City-Maut eine gangbare Alternative?

    Ortgies: Wir stehen derzeit in engen Beratungen mit den Städten und Gemeinden. Ich möchte mir da zum jetzigen Zeitpunkt noch kein abschließendes Urteil erlauben. Fest steht, wir müssen uns der Feinstaubproblematik stellen und tun dies auch bereits. Ob in diesem Zusammenhang die City-Maut der Weisheit letzter Schluss ist, wage ich zu bezweifeln. Damit verärgert man nur die Bürgerinnen und Bürger. Wir werden jedoch darüber reden müssen, ob man die so genannten "Stinker" künftig ganz aus den Ballungsräumen verbannt. Dann müssten wir aber auch die Lkw mit einbeziehen. Das kann man nicht nur auf den Individualverkehr beschränken.
    Schulze: Gerade in Ballungsräumen ist es wichtig, die Luftqualität kontinuierlich zu verbessern. "Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden" hat Willy Brandt schon 1961 gesagt. Seitdem arbeitet die SPD erfolgreich daran, die Lebensqualität in Ballungsräumen zu verbessern. Die Umweltzonen sind die richtige Antwort auf die Belastung der Luftqualität. Wir wollen Anreize schaffen, auf schadstoffärmere Autos umzusteigen. Eine Maut kann das nicht leisten. Diese hätte zur Folge, dass der Geldbeutel und nicht die Schadstoffmenge darüber entscheidet, wer künftig in unseren Innenstädten mit dem Auto fahren darf.
    Remmel: Wir erleben jetzt schon heftige Diskussionen über die Einrichtung von Umweltzonen aufgrund zu hoher Feinstaubbelastung. Ab 2010 wird der Ausstoß von Stickoxiden zusätzliche Maßnahmen erforderlich machen. Ein weiteres Problem des Autoverkehrs ist der Lärm. Spätestens im Herbst werden Lärmkartierungen für ganz NRW vorliegen. Die dritte Problemstellung ist der CO2-Ausstoß und der damit einhergehende Klimawandel. Alles drei zusammen erfordert eine Offensive für einen umweltfreundlicheren Verkehr. Hier kann die City-Maut ein Instrument sein. Ich plädiere allerdings eher für einen wirklichen Quantensprung beim Ausbau des ÖPNV als überzeugendes Alternativangebot. Stattdessen werden die Regionalisierungsmittel gekürzt sowie die Strecken- und Bedienungsqualität eingeschränkt.
    Ellerbrock: In den letzten 35 Jahren haben wir in Deutschland die Belastung durch Stäube um mehr als 90 Prozent reduziert. Noch vor 15 Jahren konnten wir Feinstäube gar nicht messen. Das ist heute anders. Daher wollen wir das Problem der Feinstäube auch angehen, zum Beispiel durch den Einsatz modernster Filtertechniken. Ich warne nur davor, jetzt auf einmal Ängste zu schüren und mit der Feinstaubproblematik Symbolpolitik zu betreiben. Zweitens: Ich bin nicht grundsätzlich gegen Umweltzonen. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass die Fahrverbotszone nur ein Instrument von vielen ist, um die Feinstaubbelastung zu senken. Es handelt sich keinesfalls um ein Allheilmittel. Drittens: Die City-Maut ist mit der FDP nicht zu machen. Sie ist ohne umweltpolitische Wirkung. Hier geht es einmal mehr darum, die Bürger zur Kasse zu bitten.

    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN03132

  • Jugendliche lieben das klare Wort.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 5 - 03.05.2007

    Jugend und Politik, das ist nicht immer gleich Liebe auf den ersten Blick. Mit 16 will man "cool" sein, dazugehören, sich mit den angesagten Attributen schmücken. Dann oder kurz darauf beginnen die jungen Menschen, ihren Platz in der Gesellschaft zu suchen. Sie rackern sich im Endspurt um gute Zensuren in der Schule ab, machen Praktika, sie schreiben Bewerbungen für eine Lehrstelle - und ernten oft nur Absagen oder Schweigen.
    Da soll man sich für Politik interessieren? Wo sind denn die Perspektiven, die versprochen werden? Die Politik soll erst einmal dafür sorgen, dass Chancen wahrgenommen werden können. So denken viele junge Menschen und wenden sich ab.
    Das ist zu kurz gedacht. Wer etwas erreichen oder verändern will, braucht Bundesgenossen und Mitstreiter. Demokratie lebt von der Veränderung. In der Demokratie geschieht das über Mehrheiten. Desinteresse und Rückzug aus Enttäuschung sorgen nicht für solche Mehrheiten.
    Distanz abbauen
    Jugendliche mit Distanz zur Politik verhalten sich nicht viel anders als Erwachsene. Zudem ist demokratische Teilhabe mehr als Wahlrecht ab 16. Viele junge Menschen bringen sich in den Kirchen ein, absolvieren ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr, arbeiten in Vereinen und in den politischen Jugendorganisationen mit. Sie wissen, es lohnt sich, politisches Engagement zu zeigen.
    Die anderen müssen mitgenommen werden. Dabei fällt den Politikern eine Schlüsselrolle zu. Sie müssen um Vertrauen werben, am besten durch ihre Politik. Auf die jungen Menschen zuzugehen, ist die andere Voraussetzung. Jeder Abgeordnete hat in seinem Wahlkreis eine Fülle von Terminen, die ihn mit jungen Menschen ins Gespräch bringen. Die Spitze des Landtags tut dies derzeit mit ihren Schulbesuchen.
    Junge Menschen mögen sich für Parteien nicht so sehr interessieren, aber dass ihnen die Politik gleichgültig ist, stimmt nicht. Sie fühlen sich oft schlecht informiert (was spricht dagegen, dem durch Eigeninitiative abzuhelfen?), wählen unabhängig von den Eltern und schauen genau auf die Person, die zur Wahl steht. Sie lieben das klare Wort, die direkt vertretene Position, sie wünschen die rasche Entscheidung. Kurz: Sie stehen für frischen Wind in der Politik. Was ist dagegen einzuwenden?
    JK

    ID: LIN03097

  • Schneller Klick zum Parlament.
    1.600 NRW-Schulen haben ihre Homepage bereits mit der Landtags-Website verlinkt.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 5 - 03.05.2007

    Erst wenn man eine Sache versteht, hat man auch Interesse daran. Deshalb hat der Düsseldorfer Landtag für Jugendliche die Internet-Initiative "Lerne den Landtag NRW kennen" ins Leben gerufen. Alle Schulen erhielten ein E-Mail mit der Bitte, auf ihren Schul-Homepages einen Link zu legen zum Internetauftritt des Landtags Nordrhein-Westfalen (www.landtag.nrw.de). 1.600 Schulen sind dieser Bitte bereits nachgekommen. Deren Schülerinnen und Schüler haben so einen direkten Draht zum Landtag.
    Ziel der Aktion ist, alle Schulen (von Grund-, über Haupt-, Real- und Gesamtschule bis hin zu Gymnasium und Berufskolleg) auf die parlamentarische Arbeit des Landtags aufmerksam zu machen und ihr Interesse für landespolitische Themen zu wecken. Sie können und sollen sich dort live Plenarsitzungen anschauen, über Debatten informieren und auf den speziellen Jugendseiten (siehe Text unten) mit einem Quiz und einem Landtagsspiel beschäftigen.
    Die Schulen haben fast alle das Landtags- Wappen an prominenter Stelle auf der Homepage platziert. Viele von ihnen haben nicht nur einen Link zur Schul-Homepage gelegt, sondern berichten auf der Startseite ihrer Website ausführlich über die Initiative. Andere Schulen nutzen die Rubrik "Aktuelles", um über die Aktion zu berichten. Beispiele findet man rasch im Netz, wenn man eine Internet-Suche mit "Lerne den Landtag kennen" oder "Lerne den Landtag NRW kennen" startet.
    "Wir werten die Aktion als zusätzlichen, wichtigen Schritt, um mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen", so Landtagspräsidentin Regina van Dinther.
    Schulen, die noch mitmachen möchten, können das Logo des Landtags (das Wappen) von der Landtags-Homepage herunterladen. Es befindet sich in der linken oberen Ecke der Seite. Das Landtags-Logo und der Satz "Lerne den Landtag NRW kennen" können dann mit der Internetseite www.landtag.nrw.de verlinkt werden.
    DD

    ID: LIN03094

  • Kastner, Marie-Theres (CDU); Jörg, Wolfgang (SPD); Asch, Andrea (Grüne); Lindner, Christian (FDP)
    Partizipation ja, Wahlrecht nein?
    Interviews mit den jugendpolitischen Sprechern der Fraktionen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 5 - 03.05.2007

    Nicht zuletzt wegen der besorgniserregend niedrigen Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen in Sachsen Anhalt wird auch hierzulande diskutiert, wie man das Interesse junger Menschen an demokratischer Teilhabe stärker wecken kann. Gleichzeitig lassen Themen wie Killerspiele, "Koma-Saufen" oder die zunehmende Brutalität bei Jugendlichen auch im politischen Raum die Rufe nach Verboten und härteren Strafen laut werden. "Landtag intern" widmete sich dem schwierigen Verhältnis zwischen Jugend und Politik und sprach mit Marie-Theres Kastner (CDU), Wolfgang Jörg (SPD), Andrea Asch (GRÜNE) und Christian Lindner (FDP).

    Rechtsextremisten buhlen verstärkt um die Gunst junger Menschen. Was kann die Politik tun, um Jugendliche für die Demokratie zu gewinnen?

    Kastner: Es ist eine beängstigende Tatsache, dass die Zahl der Rechtsextremen hierzulande zugenommen hat. Wir müssen uns die Frage stellen, warum es rechtsextremen Organisationen gelingt, Jugendliche in ihren Bann zu ziehen. Grund hierfür ist, dass viele junge Menschen für sich selbst keine Perspektive sehen - insbesondere wenn sie ohne Schulabschluss oder Lehrstelle dastehen. Es gehört daher zu den zentralen Aufgaben, die Chancen Jugendlicher durch qualitativ hochwertige Schulbildung und Weiterbildungsangebote zu verbessern. Darüber hinaus ist es nach wie vor wichtig, in den Schulen den Jugendlichen Politik möglichst gegenwartsnah zu vermitteln. Aus diesem Grund begrüße ich es ausdrücklich, wenn Schulen an Zeitungsprojekten teilnehmen, um den Schülern den täglichen Umgang mit dem Medium Zeitung näher zu bringen. Und nicht zuletzt sind auch die Parteien gefragt, wenn es darum geht, auf Jugendliche zuzugehen und ihnen zu erklären, wie Demokratie funktioniert.
    Jörg: Politik muss vor allen Dingen authentisch und glaubhaft sein. Es kann nicht sein, dass man auf der einen Seite etwas verspricht und Hoffnung weckt, und auf der anderen Seite diesen Versprechen im Realleben keine Taten folgen lässt. Denn nur wenn Kinder und Jugendliche Politik und Politiker als verlässlich und ehrlich erfahren, können sie Vertrauen gegenüber Politik und unserer demokratischen Grundordnung aufbauen. Wenn das gelingt, dann bin ich zuversichtlich, dass Jugendliche auf die Verführungen rechter Gruppen nicht mehr hereinfallen werden. Selbstverständlich sind aber auch die Schulen gefordert, die Schülerinnen und Schüler durch intensive Aufklärungsarbeit vor Rechtsextremen und deren oftmals gut getarnten Anbiederungsversuchen zu warnen.
    Asch: Rechtsextremismus ist eine große Gefahr für unsere Demokratie. Rechtsextreme Organisationen sind sehr geschickt darin, junge Menschen zu ködern und für ihre Belange zu instrumentalisieren. Ursache hierfür ist der Umstand, dass viele junge Menschen sich nicht integriert fühlen, in der Gesellschaft keine Perspektive für sich sehen und sie wenig Wertschätzung für die eigene Person empfinden. Bei diesen Jugendlichen setzen Rechtsextreme verstärkt an, indem sie ihnen das bieten, was ihnen fehlt: Dort haben sie eine Aufgabe, sie erfahren eine Wertigkeit und Zugehörigkeit. Und genau hier muss Politik ansetzen, indem wir über ausreichend Ausbildungsplätze den Jugendlichen Zukunftsperspektiven bieten. Zudem müssen wir dem Bedürfnis der Zugehörigkeit Rechnung tragen und mehr Geld in die Arbeit der Jugendverbände stecken, statt hier zu kürzen.
    Lindner: Jugendliche brauchen Perspektiven. Fehlen diese, sind sie eher erreichbar für Rattenfänger. Diese versuchen an Jugendliche heranzutreten, indem sie CDs von rechten Bands auf Schulhöfen verteilen oder Freizeitaktivitäten in der Gruppe organisieren. Hier ist Politik gefordert, alternative Angebote in den gefährdeten Stadtteilen bereitzuhalten. Beispielsweise mit der Stärkung der offenen Jugendarbeit im Landesjugendplan und dem Ausbau der Ganztagshauptschulen hat die Koalition bereits wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Rechtsextremisten das Handwerk gelegt wird. Darüber hinaus bin ich der Überzeugung, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte einen Schwerpunkt der Bildungs- und Jugendpolitik bilden sollte. Es war deshalb töricht, dass Rot-Grün die Mittel für Gedenkstättenfahrten auf null zusammenzustreichen wollte. Diese Form der politischen Bildung brauchen wir weiterhin.

    Jugendliche Straftäter werden immer gewalttätiger. Ist die "Strategie der Nulltoleranz" die richtige Antwort?

    Kastner: Ja und nein. Aus zahlreichen Gesprächen mit Justizbehörden weiß ich, dass das Frustpotential hoch ist. Hier existiert schon lange die Tendenz, schneller und härter durchzugreifen. Natürlich legen wir das Hauptaugenmerk auf die Prävention: Dabei spielen Aufmerksamkeit, gute Jugendarbeit sowie eine kompetente schulische wie auch familiäre Erziehung eine gewichtige Rolle. Sollte Prävention jedoch nicht mehr ausreichen und kommt es zu Gewalt- und Straftaten, dann sind jugendpädagogische Maßnahmen häufig nicht die richtige Antwort. Es geht nicht um maßlos hartes Durchgreifen, sondern darum, straffällig gewordenen Jugendlichen unmissverständlich Grenzen aufzuzeigen. Das entlässt uns auch nicht aus der Verantwortung, den Jugendstrafvollzug immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen - so wie es die Justizministerin derzeit macht.
    Jörg: Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Auch hier gilt: Wir müssen alles daran setzen, jugendliche Straftäter wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Das funktioniert nur dann, wenn man sie für die Gesellschaft begeistern kann. Zweifellos hängt das vom Einzelfall ab. Auch ich möchte keine jugendlichen Mehrfachstraftäter auf die Menschen los lassen, die mit Sexual- oder Tötungsdelikten behaftet sind. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von jugendlichen Straftätern, die Gewalt anwenden als Ausdruck dafür, dass sie mit dieser Gesellschaft nicht mehr zurechtkommen, keine Anknüpfungspunkte finden. Dieses Phänomen ist übrigens unabhängig von der sozialen Herkunft und zieht sich durch alle Schichten. Genau hier sind Politik und Gesellschaft gefragt, Jugendlichen Halt zu bieten. Null Toleranz halte ich daher für falsch. Übersetzt bedeutet das, man schließt die Leute weg. Aber zwischen wegschließen und tatenlos zuschauen gibt es eine breite Palette an Möglichkeiten, die dem Gesetzgeber jetzt schon zur Verfügung steht. Sie müssen nur tatsächlich auch angewendet werden.
    Asch: Die Null-Toleranz-Strategie ist eindeutig die falsche Antwort! Es ist immer leicht, bei solchen Phänomenen einfache Antworten zu geben. Ministerpräsident Rüttgers hat ja erst kürzlich geschlossene Heime auch für nicht strafmündige Kinder gefordert. Wir haben bis in die siebziger Jahre hinein sehr schlechte Erfahrungen mit solchen Einrichtungen gemacht, die sich jetzt in Hamburg wiederholen, wo es auf Betreiben der damaligen Schill-Regierung wieder ein geschlossenes Heim für Jugendliche gibt. Innerhalb dieser Einrichtung gibt es sehr viel Gewalt, massive Ausbruchsversuche und eine hohe Rückfallquote. Im Landesjugendamt Rheinland haben wir hingegen ein deutlich besseres Modell entwickelt, das erfolgreich arbeitet. Null Toleranz abzulehnen heißt nicht, keine Grenzen zu setzen. Selbstverständlich brauchen gewalttätige Jugendliche Grenzen, aber eingepasst in ein pädagogisches Konzept, zeitlich begrenzt und individuell auf den Einzelnen abgestimmt.
    Lindner: Nein, das wäre wenig erfolgversprechend. Wir brauchen Ausbildung und Erziehung statt "law and order". Gerade bei hochgradig delinquenten Kindern unter 14 Jahren helfen keine repressiven Maßnahmen. Es geht vielmehr darum, Eltern Hilfen zur Erziehung zu geben oder Kinder notfalls aus prekären Familienverhältnissen herauszuholen. Für strafunmündige Kinder brauchen wir eine erzieherisch ausgerichtete und geschlossene Heimunterbringung. Bei älteren Jugendlichen sprechen wir uns für einen "Warnschuss-Arrest" von bis zu vier Wochen aus, der neben einer Jugendstrafe verhängt werden kann. Er dient dazu, frühzeitig ein Signal zu senden, damit Jugendliche gar nicht erst auf die schiefe Bahn geraten und dann dauerhaft straffällig werden.

    Wahlrecht ab 16: Können Sie sich das bei der nächsten Landtagswahl in NRW vorstellen?

    Kastner: Nein. Denn wenn man wie ich viel Kontakt zu Kindern und Jugendlichen hat, dann erfährt man, wo die Interessen der jungen Leute liegen, und Politik gehört nach meiner Erfahrung zunächst nicht dazu. Auf kommunaler Ebene haben wir ja bereits das Wahlrecht ab 16. Dort hat sich jedoch gezeigt, dass die Wahlbeteiligung bei den Jung- und Erstwählern sehr gering ist, obwohl Jugendliche hier die Möglichkeit haben, über Dinge mit zu entscheiden, die sie unmittelbar vor Ort betreffen. Im Vergleich dazu sind landes- und bundespolitische Themen deutlich abstrakter und viel weiter von den Jugendlichen entfernt.
    Jörg: Wir Politiker müssen den Jugendlichen ernsthafte Partizipationsangebote machen. Es geht hier nicht um irgendwelche Spielwiesen, sondern es geht darum, Jugendlichen mehr Verantwortung zu übertragen, indem sie die Gesellschaft aktiv mitgestalten können. Von daher halte ich eine Ausweitung des Jugendwahlrechts für 16-Jährige auch auf Landesebene für außerordentlich begrüßenswert. Ich würde übrigens bei Landtagswahlen keine Grenze ziehen, sondern könnte mir darüber hinaus eine Ausweitung auf Bundestagswahlen vorstellen.
    Asch: Ich bin eine Verfechterin der Senkung des Wahlalters auf 16. Als kinder- und jugendpolitische Sprecherin und als Mutter habe ich sehr viele Kontakte zu jungen Menschen. In allen Gesprächen wird mir deutlich, dass Jugendliche mit 16 in der Regel ein sehr starkes Interesse an Politik und gesellschaftlichen Themen insgesamt haben. Die Erfahrungen bei den Kommunalwahlen haben uns gezeigt, dass sie verantwortlich mit diesem Wahlrecht umgehen. Ich glaube, dass wir Jugendliche noch stärker für unsere Demokratie motivieren können, wenn wir ihnen die Teilnahme an Landtags- und Bundestagswahlen künftig früher zugestehen.
    Lindner: Ich halte das nicht für sinnvoll. Wir brauchen zweifellos mehr Partizipation auf der kommunalen Ebene; der unmittelbaren Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen, die sie überblicken und erfahren können. Die Absenkung des Wahlalters auf kommunaler Ebene 1999 hat jedoch nicht den erwünschten Erfolg gezeigt, weder bei der Wahlbeteiligung noch beim politischen Interesse. Bezeichnenderweise haben sich laut jüngster Shell-Jugendstudie mehr als die Hälfte der Jugendlichen gegen eine Absenkung des Wahlalters bei Landes- und Bundestagswahlen ausgesprochen. 23 Prozent der Befragten war es "egal".

    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer

    ID: LIN03095

  • Tabakqualm sticht in die Nase.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 4 - 28.03.2007

    Ich möchte ein umfassendes Rauchverbot für ganz Europa." Das sagte am 30. Januar dieses Jahres in Brüssel Markos Kyprianou, EU-Gesundheitskommissar, bei der Vorlage des so genannten Grünbuchs für ein Europa ohne Tabakdunst. Und fügte noch hinzu: "Also auch in den deutschen Bundesländern." Gesagt, getan? Ganz so einfach ist das nicht.
    Die Diskussion über die gefährlichen Folgen des Nikotins und der anderen Feinstäube und chemischen Verbindungen, die der Rauch einer Zigarette enthält, gibt es schon länger. An warnenden Stimmen hat es nie gefehlt. Bloß durchsetzen konnten sie sich nicht. Raucher galten als Menschen, die nach individueller Freiheit strebten, die Werbung plakatierte sie als kommunikativ und gesellig. Nichtraucher waren nur "Spaßbremsen".

    Richtungsentscheidung

    Und der Staat sitzt in der Zwickmühle: Einerseits verdient er an Tabaksteuer und an Umsatzsteuer, die jedes Gramm Tabak in die Kasse spült. Andererseits sind die Folgen für den Einzelnen, für Gesellschaft und Wirtschaft nur zu gut bekannt. Ein Blick in die Statistik belegt, dass junge Menschen immer früher mit dem Rauchen anfangen.
    Irgendwann ist das Pendel in die andere Richtung geschlagen, die Raucher gerieten in die Defensive. Die Tabakwerbung wurde eingeschränkt. Passivraucher klagten ihr Recht auf einen nikotinfreien Arbeitsplatz ein. Die Raucherschilder verschwanden an immer mehr Eisenbahnwaggons. Die ersten landesweiten Rauchverbote wurden in Europa erlassen - und sie wurden inzwischen befolgt.
    Auch der Tanker Bundesrepublik nimmt inzwischen Fahrt auf. Der Bund prescht mit seinem Vorschlag eines bundesweiten Rauchverbots vor und wird ausgebremst. Arbeitsschutz liegt zwar weiterhin in der Kompetenz des Bundes, aber nach der ersten Föderalismusreform ist die Gesundheitspolitik zur Sache der Länder geworden.
    Da liegt nun der Ball im Feld der 16 Bundesländer. Wozu können sie sich aufraffen: zu einer einheitlichen Lösung oder zu einem "Flickenteppich" unterschiedlicher Regelungen? Die Antwort ist offen. In Nordrhein-Westfalen werden die Argumente noch abgewogen. Ausnahmen für die Eckkneipe oder ein Gesetz ohne Wenn und Aber, wie es die Sozialdemokraten fordern? Die europäische Richtung ist vorgegeben. NRW wird sich bis zur Sommerpause entscheiden. So oder so.
    JK

    ID: LIN03019

  • "Nicht nur lästig, sondern giftig".
    Engagierte Debatte über Tabakqualm in Gaststätten.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 8-9 in Ausgabe 4 - 28.03.2007

    In zwei Punkten herrschte Einigkeit im Parlament: Passivrauchen ist ungesund und Nichtraucher müssen durch ein Rauchverbot in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens besser geschützt werden. Weniger Einigkeit gab es hingegen in dem Punkt, wie weitreichend ein solches Rauchverbot formuliert werden soll. Bei Kindertageseinrichtungen, Schulen oder Krankenhäusern waren sich alle Fraktionen einig. Für deutlich mehr Zündstoff sorgte die Diskussion über ein allgemeines Rauchverbot in der Gastronomie. Während die Opposition hier auf ein ausnahmsloses Verbot pochte, warnten die Liberalen vor "Überregulierung". Grundlage der hitzigen Debatte war ein Gesetzentwurf der SPD zum Passivraucherschutz (Drs. 14/3673). Zum Ende der Aussprache wurde der Entwurf zur weiteren Beratung an 14 der insgesamt 18 Ausschüsse des Landtags überwiesen.
    Ursula Meurer (SPD) zeigte sich besorgt über Meldungen, wonach die Landesregierung beim Nichtraucherschutz in Gaststätten einen Sonderweg anstrebe. Geschuldet sei dies offenbar der Koalition der CDU mit der FDP, "einem Partner, der so liberal ist, dass ihm die große Freiheit der Raucher vor Kinder- und Jugendschutz und vor Nichtraucherschutz geht", so Meurer. "Sie wollen es den Gastronomen überlassen, sich zu Nichtraucher-Gaststätten zu erklären. Dann stehen wir wieder am Beginn der Debatte." Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) habe zwei Jahre lang versucht, den Nichtraucherschutz durch freiwillige Selbstverpflichtungen seiner Mitgliedsunternehmen zu regeln. "Er ist gescheitert!" Aus diesem Grund habe die SPD jetzt einen eigenen Entwurf eines Passivraucherschutzgesetzes eingebracht, das seit Langem überfällig sei. Konkret gehe es darum,das Rauchen in öffentlichen Gebäuden, Einrichtungen der Kinderund Jugendhilfe, Institutionen des Gesundheitswesens, Bildungs-, Altenpflege- und Behinderteneinrichtungen sowie in Diskotheken und Gaststätten - ohne Unterschied zwischen Schank- und Speisewirtschaft - zu verbieten. Im bundesweiten Vergleich sei das der am weitesten gehende Entwurf zum Passivraucherschutz, erklärte die Abgeordnete. Ausnahmen müsse es jedoch da geben, wo der öffentliche Raum den privaten ersetzt, wie in geschlossenen Anstalten der Forensik oder der Psychiatrie. "Wir werden niemanden zwingen, nicht zu rauchen, wir werden aber den Nichtraucher vor dem Passivrauchen schützen."
    Rudolf Henke (CDU) argumentierte von der Warte des Mediziners. Zwar werde seit Langem gegen den Tabak gepredigt, doch allen gut gemeinten Appellen zum Trotz sei es bis heute nicht gelungen, einem zuverlässigen Nichtraucherschutz zum Durchbruch zu verhelfen. Die Zeiten, als "Zwangsbequalmung von Nichtrauchern" bloß eine Frage der Höflichkeit war, seien vorbei: "Rauchen ist die häufigste Einzelursache für Erkrankungen und Todesfälle in Deutschland. 35 Millionen erwachsene Nichtraucher werden von den Rauchern heute gezwungen, zu Hause, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit unfreiwillig mitrauchen zu müssen", so Henke. 3.000 Nichtraucher koste dieser Umstand jedes Jahr das Leben. Diese Fakten machten deutlich: "Tabakqualm ist nicht nur lästig, Tabakqualm ist giftig." Daher habe niemand das Recht dazu, seine Mitmenschen zur Befriedigung der eigenen Lust am Rauchen zu vergiften. "Es ist ja auch nicht gestattet, anderen in ihr Bier zu pinkeln", meinte Henke drastisch. Vor diesem Hintergrund begrüße er es, dass in dieser Frage die parlamentarischen Initiativen der Koalition so wie auch der Oppositionsfraktionen grundsätzlich in die gleiche Richtung wiesen. Von der Landesregierung erwarte er alsbald die Vorlage eines umfassenden Nichtraucherschutzgesetzes für NRW, das den einstimmigen Beschlüssen der Gesundheitsministerkonferenz folge.
    Barbara Steffens (GRÜNE) warf der CDU vor, in der Koalition mit der FDP zu "kuschen", statt sich tatsächlich für die Belange und den Schutz von Nichtrauchern einzusetzen. Was die Christdemokraten derzeit veranstalteten sei "Augenwischerei" und ein "Eiertanz ohnegleichen". Steffens: "Sagen Sie doch besser ehrlich: Liebe Leute, erwarten Sie von der CDU und FDP nicht, dass Nichtraucherinnen und Nichtraucher geschützt werden, wir tun es nämlich nicht. Wir verkünden nur, dass der Schutz uns wichtig ist. Wir können Ihnen auch erklären, woran Sie sterben, aber dass Sie sterben, daran werden wir nichts ändern." Eine Regelung des Nichtraucherschutzes auf Bundesebene bezeichnete Steffens als die beste Lösung. Sie regte daher eine fraktionsübergreifende Bundesratsinitiative an. Sollte dies nicht gelingen, sei eine Regelung auf Landesebene die zweitbeste Lösung. Die GRÜNE-Fraktion habe mit einem Antrag bereits im August vergangenen Jahres ihren Willen bekundet, eine Initiative zum Nichtraucherschutz zu ergreifen. Daher begrüßte sie es als Schritt in die richtige Richtung, dass jetzt ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion auf dem Tisch liege.
    Dr. Stefan Romberg (FDP) stellte fest: "Allen ist klar, dass Passivrauchen schädlich ist, dass Nichtraucher deutlich besser als bisher geschützt werden müssen und dass hierzu ein umfassendes Rauchverbot in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens notwendig ist." Gleichzeitig warnte er jedoch vor Überregulierung. "Überzogener Nichtraucherschutz schadet der Sache und überspannt den Bogen", mahnte er. Beispielsweise sei die Forderung nach einem Rauchverbot im eigenen Auto unsinnig. Solch ein Verbot stoße auch auf keine Akzeptanz in der Bevölkerung. "Differenzierte Lösungen" forderte Romberg auch für Gaststätten. Laut Umfrage des ZDF stimmten nur 28 Prozent der Bevölkerung für ein absolutes Rauchverbot. 43 Prozent hätten sich hingegen dafür ausgesprochen, dass der Gastwirt bestimmen kann, ob sein Lokal ein Raucher- oder Nichtraucherlokal ist. Darüber hinaus führe ein Rauchverbot in Kneipen eher dazu, dass die Menschen mehr zu Hause rauchten und dass Kinder geschädigt würden, so Romberg. Die FDP unterstütze daher den Vorschlag des Ministerpräsidenten, die Einrichtung von reinen Raucherkneipen mit entsprechender Kennzeichnung zu ermöglichen. Romberg: "Diese Koalition steht für angemessenen, praktikablen, nachhaltigen und zielführenden Nichtraucherschutz."
    Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) betonte, die Notwendigkeit eines umfassendes Schutzes der Nichtraucherinnen und Nichtraucher sei unbestritten. Das habe auch der Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz der Länder in Hannover einstimmig bestätigt. Ausnahmen von einem Rauchverbot sollten nur dann zulässig sein, wenn dies "zwingende konzeptionelle oder therapeutische Gründe rechtfertigen oder wenn die Privatsphäre gewahrt werden muss", so Laumann. Übereinstimmung habe darin bestanden, dass auch Gaststätten von dem Rauchverbot nicht ausgenommen werden dürften. Rauchen solle lediglich in definierten Räumen möglich sein, für die eine ausdrückliche Kennzeichnung zu erfolgen habe. Zudem sei zu klären, inwieweit einzelne gastronomische Betriebe gegebenenfalls die Möglichkeit erhalten könnten, sich zu so genannten Rauchergaststätten zu erklären. Dies werde derzeit von Fachleuten seines Ministeriums, der Staatskanzlei, des Wirtschaftsministeriums und des Wissenschaftsministeriums zusammen mit dem Hotelund Gaststättenverband und der IHK geprüft. "Die Grundsätze von Verhältnismäßigkeit und Übermaßverbot sowie die Berücksichtigung der Privatsphäre von Rauchern und Nichtrauchern verlangen eine differenzierte und ausgewogene Gesetzgebung", sagte der Minister. "Deshalb sollten wir uns schon die Zeit gönnen, ein handwerklich vernünftiges Gesetz in diesem Bereich vorzulegen, weil wir in viele Lebensbereiche von Menschen regelnd eingreifen." Er kündigte an, in Abstimmung mit allen Ressorts, noch vor der Sommerpause ein umfassendes Nichtraucherschutzgesetz für NRW vorzulegen.
    Britta Altenkamp (SPD) übte Kritik an der Haltung der CDU: Nach langem Ringen um die Föderalismusreform habe das Land nun endlich die Möglichkeiten und das Recht, nach der Gaststättenverordnung und dem Gaststättengesetz tatsächlich etwas zu regeln. Da sich aber der Koalitionspartner FDP in der Frage des Rauchverbots in Gaststätten quer stelle, sehe die CDU den Bund in der Pflicht, über die Arbeitsstättenverordnung eine Lösung zu erarbeiten. "Das ist Föderalismusdiskussion verkehrt herum", befand Altenkamp. "Mit unserem Vorschlag für ein Passivraucherschutzgesetz geht es uns mitnichten darum, über das Ziel hinauszuschießen und die Gastronomie abzuwürgen. Sondern wir wollen dazu beitragen, dass es aufgrund von Ausnahmeregelungen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommen kann."
    Barbara Steffens (GRÜNE) unterstich, man wolle keinen "Flickenteppich" für NRW - Stichwort separate Räume oder Unterscheidung zwischen Speise- und Schankwirtschaft -, sondern eine umfassende Lösung, die die gesamte Gastronomie beinhaltet. "Alle diese Ausnahmeregelungen schaffen Probleme, aber sie schaffen weder Sicherheit für die Gastronomie noch schaffen sie Sicherheit für die Menschen, die vor dem Qualm geschützt werden wollen."
    Dr. Gerhard Papke, FDP-Fraktionsvorsitzender, spielte den Ball zurück: "Sich hier hinzustellen, Frau Kollegin Steffens, und anderen vorzuwerfen, sie würden nichts oder zu wenig für einen verbesserten Nichtraucherschutz tun, während Sie in zehn Jahren Regierungsbeteiligung nichts auf die Reihe bekommen haben, ist schon abenteuerlich."

    ID: LIN03027

  • Rauchsignale aus dem Landtag.
    Das Parlament verwirklicht umfassenden Schutz vor Passivrauchen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10 in Ausgabe 4 - 28.03.2007

    Rauchen - Lust oder Laster? Wer zwischen beiden Polen schwankt, der hat auf jeden Fall Recht, wenn er feststellt: Regelmäßiges Rauchen führt irgendwann zur Sucht. Jeder, der sich einmal das Rauchen abgewöhnt hat (viele tun das immer wieder), weiß, wie schwer es dem Organismus fällt, auf die Droge Nikotin zu verzichten.
    Was gibt es nicht alles, und was hat man nicht alles versucht: Nikotinpflaster, Nikotinkaugummi, autogenes Training, Akupunktur, Tai-Chi, der Entwöhnungskurs in der Volkshochschule, das Nichtrauchertraining der Krankenkasse. Nur den wenigsten gelingt es, mit großer Willensanstrengung und ohne fremde Hilfe von heute auf morgen den Glimmstängel beiseite zu legen.
    Warum überhaupt dieser Verzicht? Raucherinnen und Raucher sind kommunikativ, sie schätzen die guten und schönen Dinge des Lebens. Sie sind in der Lage zu genießen. Was gibt es heimeligeres und gemütlicheres als die verräucherte Eckkneipe, wo man nach einem harten Arbeitstag bei Bier und Zigarette abschalten kann? So lautet das Klischee. Rauchen spült außerdem dem Staat noch Geld in die klammen Kassen. Es sichert Arbeitsplätze in der Tabakindustrie und - ohne allzu zynisch zu sein - in direkter Folge auch im Gesundheitswesen.
    Denn das ist die Kehrseite: Rauchen macht nicht nur süchtig, Rauchen macht mit großer Wahrscheinlichkeit auch krank, sehr krank sogar. 90 Prozent aller an Lungenkrebs leidenden Patienten sind Raucher. Das Einstiegsalter in die Alltagsdroge Nikotin liegt bei unter zwölf Jahren. Mit jedem Zug inhalieren Raucherinnen und Raucher ein Furcht einflößendes Gemisch aus Blausäure, Ammoniak, Kohlenmonoxid, Benzol, Vinylchlorid, Arsen, Cadmium, Chrom und radioaktivem Polonium 210.
    Das alles ist bekannt, das alles kann man wissen. Seit 210 Jahren, so war es in der Landtagsdebatte zu hören, werde von der Schädlichkeit des Tabaks gepredigt. "Nach diesen 210 Jahren habe ich keine Hoffnung mehr", bekannte der CDU-Abgeordnete und Arzt Rudolf Henke jüngst im Plenum, "dass man die Raucher mit bloßen Appellen über die Beeinträchtigung ihrer eigenen Gesundheit oder Wünschen an ihre Bereitschaft zur Rücksichtnahme gegenüber anderen dazu bringen kann, die Zwangsbequalmung von Nichtrauchern aufzugeben".
    Also werden jetzt andere Saiten aufgezogen. In Europa haben sich Italien, Irland, Großbritannien, Finnland, Norwegen, Schweden, Spanien und Malta zu rauchfreien Nationen erklärt. Was kaum einer geglaubt hat: Es funktioniert. Rauchgeschwängerte Kneipenluft muss also doch nicht sein, um sein Feierabendbier oder seinen Abendschoppen zu trinken.
    Während unter den Landesregierungen in Deutschland noch erörtert wird, ob es eng begrenzte Ausnahmen vom umfassenden Nichtraucherschutz geben soll, ist sich der Landtag Nordrhein- Westfalen seiner Vorbildfunktion bewusst. Ab 1. April 2007 gilt im Hohen Haus ein umfassendes Rauchverbot in allen öffentlich zugänglichen Bereichen. Eine gute Gelegenheit also, um mit dem Rauchen aufzuhören: Auch hier gibt es ein Angebot des Landtags. "Wie werde ich Nichtraucherin, wie werde ich Nichtraucher" - auf diese Frage soll eine Informationsveranstaltung eine Antwort liefern. "In einem zweiten Schritt", schreibt die Landtagspräsidentin an alle Beschäftigten, "ist geplant, den Bedarf für weitere Angebote zu Raucherentwöhnung zu ermitteln und gegebenenfalls entsprechende Seminare anzubieten."
    JK

    Zusatzinformation:
    Verlustrechnung
    In Deutschland rauchen 33 Prozent der Erwachsenen. Bei den Jugendlichen in Deutschland sinkt erfreulicherweise seit einiger Zeit die Raucherquote: In der Altersgruppe von 12 bis 17 ist sie von 28 im Jahr 2001 auf 20 Prozent im Jahr 2005 zurückgegangen - nicht zuletzt ein Erfolg von Anti-Raucher-Kampagnen wie "Be smart - dont start". Das ist ein Wettbewerb für Schüler und Schülerinnen, bei dem sich Schulklassen verstärkt mit dem Thema Rauchen auseinandersetzen.
    Der Drogen- und Suchtbericht 2006 der Bundesregierung beziffert die Zahl der Todesfälle durch Tabakkonsum mit 110.000 pro Jahr, das Deutsche Krebsforschungszentrum setzt die Ziffer mit etwa 140.000 an. Tabakrauchen führt oft zu Krebs, vor allem Lungenkrebs, zu Kreislaufund Atemwegserkrankungen sowie zu Magengeschwüren. In Deutschland sterben Jahr für Jahr laut Krebsforschungsinstitut an die 3.300 Nichtraucher an Krankheiten, die durch Passivrauchen verursacht werden. Auf NRW entfallen davon rund 750 Menschen, wie im Plenum vorgerechnet wurde. Man schätzt, dass Raucher ihre Lebenserwartung um fünf bis neun Jahr verkürzen.
    Eine ältere Studie beziffert die Kosten für Gesundheit und Wirtschaft auf jährlich 17 Milliarden Euro. Andere setzen den Schaden auf 20 Milliarden Euro und weit mehr an.
    Die deutsche Tabakwarenindustrie setzte 2005 knapp 20 Milliarden Euro um. Sie beschäftigte im selben Jahr 11.220 Menschen.
    Dem stehen jene 14 Milliarden Euro gegenüber, die der Bund 2005 an Tabaksteuer kassiert hat.

    ID: LIN03028

  • Zeitenwende an der Ruhr.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 3 - 07.03.2007

    Nach monatelangen Verhandlungen haben sich in Berlin die Große Koalition, Förderländer, Unternehmen und Gewerkschaft auf ein Ende des Steinkohlenbergbaus in Deutschland verständigt: 2018 soll die staatliche Förderung dieses heimischen Energieträgers auslaufen. Dass diese Entscheidung 2012 revidiert wird, gilt vielen als unwahrscheinlich.
    Damit gehen im Ruhrrevier 200 Jahre Bergbau zu Ende. Das ist ein tiefer Schnitt - auch in wirtschaftliche Strukturen, obwohl der Bergbau schon seit Jahrzehnten auf dem Rückzug war. Um ihn herum hatte sich eine Zuliefererindustrie gebildet, deren Technologie auf den Weltmärkten ihren starken Auftritt hat.
    Vor allem sind es die Menschen, die die historische Wende zu verkraften haben. Jahrhunderte lang haben Zechen und Hütten den Rhythmus der Region bestimmt. Die unter und über Tage beschäftigten Arbeiter, woher sie auch immer stammten, waren ein festes Milieu. Das Wissen um die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Arbeit und um deren Gefährlichkeit führte bei den Menschen zu Stolz und zu einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit. Diese gelebte Solidarität ließ schließlich auch den wachsenden Bedeutungsverlust der Kohle eine Zeitlang verschmerzen.
    Mentalitätswandel
    Es wird nicht leicht sein, den Zeitenwechsel zu vollziehen. An der Ruhr nicht, weil über Jahrzehnte Milliardensummen an Subventionen geflossen sind. Am Rhein nicht, weil die politische Gestaltung und Begleitung des Wandels, der schon begonnen hat, weiterhin auf Jahre hinaus großer Entschlossenheit und Kraft bedarf.
    In den Ministerien wird jetzt viel gerechnet, es geht um Börsengang, Stiftung, Pensions"lasten" und Ewigkeitskosten - das ist die eher technische Seite des Kohleausstiegs. Dann gibt es noch das große Versprechen der Politik: "Sozialverträglich", also ohne Kündigungen, soll der Wechsel gelingen. Für die Kumpel und ihre Familien schafft das Sicherheit.
    Diese Zusage ist aber auch Voraussetzung für das gesamte Gelingen. Wenn der Ausstieg in einem Klima geschieht, das die Menschen mitnimmt, wenn auch der Mentalitätswandel gelingt, das Revier sich also auf seine eigene Kraft besinnen kann, dann ist der Strukturwandel einen großen Schritt weiter - und das "neue Ruhrgebiet" endgültig im Werden.
    JK

    ID: LIN02914

  • Blick in die Zukunft.
    Neue Perspektiven nach dem Ausstiegsbeschluss.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 5 in Ausgabe 3 - 07.03.2007

    Nordrhein-Westfalen wird die Subventionierung der Steinkohle bereits Ende des Jahres 2014 einstellen, 2018 folgt der Bund. Beide sind entschlossen, den Ausstieg sozialverträglich zu gestalten. Mit diesem Ergebnis des so genannten "Kohlegipfels" sowie den Zukunftsperspektiven für das Ruhrgebiet beschäftigte sich am 8. Februar, einen Tag nach dem Berliner Kohlegipfel, der Landtag in einer Sondersitzung.
    Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) teilte mit: "Gestern haben wir den Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau in Nordrhein- Westfalen beschlossen. Heute beginnt eine neue Zeit in der Wirtschafts- und Industriegeschichte Nordrhein-Westfalens." Jetzt gehe es darum, ein neues Kapitel der Landesgeschichte aufzuschlagen. In Kürze werde es die neue "Initiative Zukunft Ruhr" geben, mit der Maßnahmen der Landesregierung effizient und zukunftsweisend gebündelt würden. Besonders wichtig sei, dass im Ruhrgebiet neue Forschungseinrichtungen entstünden. Exemplarisch nannte Rüttgers ein neues Institut für Werkstoffforschung an der Universität Bochum, an dem sich das Land mit zwölf Millionen Euro beteiligt, eine neue lebenswissenschaftliche Innovationsplattform an der Universität Dortmund mit einer Landesbeteiligung von 33,3 Millionen Euro sowie ein neues Science-to-Business Center der Degussa AG in Marl mit einer Landesförderung von 11,3 Millionen Euro. Von strategischer Bedeutung für Nordrhein-Westfalen seien auch Investitionen in neue, hochmoderne Kraftwerke - allein im Ruhrgebiet stünden Kraftwerksinvestitionen von über 5,5 Milliarden Euro an: "Wir schlagen ein neues Kapitel auf. Eine neue Ära beginnt. Lassen Sie uns jetzt gemeinsam anpacken und gemeinsam die Zukunft gestalten - zum Wohle aller Menschen an Rhein und Ruhr."
    Hannelore Kraft, SPD-Fraktionsvorsitzende, bewertete positiv, dass es eine Einigung und damit endlich Sicherheit für die Betroffenen (Bergleute, Zulieferer, Mitarbeiter des RAG-Konzerns) gebe und die Bewilligungsbescheide für 2009-2012 auf den Weg gebracht würden. Der Konzern könne endlich an die Börse gehen. Sie machte aber darauf aufmerksam, dass das Land auch nach 2015 noch zahlen werde. "2015 ist nicht das Ende aller Subventionen. Zu zahlen bleiben weiterhin die laufenden Altlasten. Das Land muss auch in den nächsten Jahren behilflich sein, damit das Unternehmen nicht in eine Unterfinanzierung gerät, denn die so genannte Sprechklausel (Vereinbarung zur Verrechnung der Vorfinanzierungskosten durch die RAG zur Vermeidung einer Unterfinanzierung) gilt fort, auch für das Land." Den Ministerpräsidenten fragte sie, wie er die jetzt notwendigen Strukturveränderungen sicherstellen wolle: "Wo ist Ihr Konzept? Wie wird es finanziert? Das ist jetzt nach den Ergebnissen allein Aufgabe des Landes, nicht mehr des Bundes. Welche Änderungen wird es im Haushalt NRW geben?" Sie forderte die Landesregierung auf, ein Programm für die Kohlerückzugsgebiete aufzulegen.
    Helmut Stahl, CDU-Fraktionsvorsitzender, stellte fest, heute sei das "Ende einer Epoche". Er bedankte sich beim Ministerpräsidenten für den Verhandlungserfolg in Berlin. Rüttgers habe die zentralen Forderungen der Christdemokraten in NRW an einen Ausstieg aus dem subventionierten Steinkohlenbergbau umgesetzt. Dazu gehöre, dass kein Bergmann ins "Bergfreie" falle: "Denn vor allem der Einsatz der Bergleute hat das Wirtschaftswunder Deutschland erst möglich gemacht." Die Menschen im Ruhrgebiet hätten jetzt endlich Klarheit: "Wir trauen den Menschen zu, den Wandel aktiv zu gestalten", sagte Stahl. Der SPD warf der Christdemokrat dagegen vor, sie habe "die Mentalität eines Industrie-Museums."
    Sylvia Löhrmann, GRÜNE-Fraktionsvorsitzende, bekräftigte: "Ja, es ist eine historische Stunde für Nordrhein-Westfalen." Bei Verträgen dürfe man jedoch nicht nur die Überschriften angucken. Die Abgeordnete: "Fakt ist: Der Bund stiehlt sich aus der Verantwortung für die Risiken bei den Altlasten und Ewigkeitskosten. Was Sie, Herr Ministerpräsident, als Erfolg verkaufen, die 30 Prozent Beteiligung des Bundes, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als schwere Erblast für unser Land." Rüttgers habe zugelassen, dass der Bund sich aus der Verantwortung für den Strukturwandel im Ruhrgebiet komplett verabschiede. Ungeklärt sei auch die konkrete Ausgestaltung der Stiftung.
    Dr. Gerhard Papke, FDP-Fraktionsvorsitzender, erklärte, das Eckpunktepapier besiegele das Ende des subventionierten Steinkohlenbergbaus: "In Zukunft wird in helle Köpfe investiert und nicht mehr in dunkle Schächte." Dem Ministerpräsidenten bescheinigte er einen großen Verhandlungserfolg. Insbesondere der Versuch, einen Teil der Erlöse des Börsengangs für laufende Subventionen zu verwenden, habe verhindert werden können: "Die SPD hätte akzeptiert, dass der Erlös des Börsenganges nicht in eine Stiftung fließt, sondern für laufende Kosten verbraucht wird. Die Erlöse gehen nun vollständig in die Stiftung." Zum Thema Sockelbergbau sagte Papke: "Wer jetzt noch glaubt, dass der Sockelbergbau kommt, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten."

    ID: LIN02910

  • Altlasten und Ewigkeitskosten.
    NRW: Nur eine gerechte Lösung wird vom Land akzeptiert.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 6-7 in Ausgabe 3 - 07.03.2007

    Während zur gleichen Zeit in Berlin Politiker aus Land und Bund, Gewerkschaft und Unternehmensvertreter zum Kohlegipfel zusammentrafen, erwartete der Landtag am 7. Februar eine Unterrichtung der Landesregierung mit dem Titel "Neue Chancen für NRW - Ende des Steinkohlenbergbaus in Deutschland". Den Vorstoß der Oppositionsfraktionen, die Landesregierung zu bitten, sie möge ihre Unterrichtung verschieben, bis die Ergebnisse des Kohlegipfels vorliegen, lehnte die Mehrheit der Abgeordneten ab.
    Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) stellte mit Blick auf die laufenden Verhandlungen in der deutschen Hauptstadt fest: "Eine Entscheidung gegen die Interessen unseres Landes und seiner Steuerzahler werden wir nicht akzeptieren." Der Ministerpräsident des Landes werde "heute und in Zukunft keine Entscheidungen akzeptieren, die den Interessen des Landes Nordrhein-Westfalen zuwiderlaufen". Allerdings gebe es Hinweise auf ein "gewisses Zugehen des Bundes auf NRW-Positionen". Das betreffe sowohl die Dauer und Höhe der künftigen Kohlehilfen aus NRW als auch die Ausfallhaftung für eine mögliche Deckungslücke bei den Alt- und Ewigkeitslasten.
    Die Ministerin zeichnete den Zusammenhang zwischen Börsengang der RAG AG mit ihrem "weißen" Bereich und der Bewältigung der Hinterlassenschaften des Bergbaus in NRW und im Saarland auf. Sie verwies auf die unstrittigen Punkte des angestrebten Kohlekompromisses: Einstellung der staatlichen Hilfen für den deutschen Steinkohlenbergbau im nächsten Jahrzehnt und damit Beendigung des Steinkohlenbergbaus in Deutschland. Der Abschied von der Steinkohle werde dabei sozialverträglich gestaltet. Eine weitere wichtige Weichenstellung sei die Absicht, dass die Anteile an der RAG von den derzeitigen Gesellschaftern zum symbolischen Preis von einem Euro an die zu gründende Stiftung übertragen werden und dass die Stiftung das vorhandene Vermögen für die öffentliche Hand zur Abdeckung der Folgen des Steinkohlenbergbaus sicherstellt.
    Der von der SPD ins Spiel gebrachte Sockelbergbau sei weder energiepolitisch noch sozialpolitisch zu begründen und entspreche eher "parteipolitischem Klienteldenken". Das Thema habe zur Verzögerung um drei Monate beigetragen und die Diskussion massiv behindert. Thoben: "Ohne die Sockeldiskussion wären wir heute weiter." Da könne man der Landesregierung, die in wichtigen Fragen noch Gesprächsbedarf feststelle, keine Hinhaltetaktik oder gar Blockade vorwerfen. Zu den Auswirkungen des Kohleausstiegs meinte die Ministerin, trotz staatlicher Hilfen von 126,8 Milliarden Euro seit 1949 sei es nicht gelungen, den Steinkohlenbergbau in Deutschland wettbewerbsfähig zu machen. Das sei kein Vorwurf an die Unternehmen und die Beschäftigten, vor deren Arbeit sie größten Respekt habe, sondern liege an der Lagerstätte der Kohle. Schon seit Jahrzehnten habe deutsche Steinkohle keine wirtschaftliche Perspektive mehr. Sie trage mittlerweile noch im einstelligen Prozentbereich zur Deckung des Primärenergieverbrauchs bei, da sei es "ökonomisch nur sinnvoll, die Kohle am Markt zu kaufen und den eigenen Bergbau auslaufen zu lassen". Thoben: "Wir wollen die Zukunft gestalten und nicht allein in die Vergangenheit investieren."
    Norbert Römer (SPD) zählte die vier Punkte auf, auf die sich die Große Koalition in Sachen Steinkohle Ende Januar dieses Jahres geeinigt habe. Das seien das vitale Interesse des Landes an einer börsennotierten RAG, größte energiepolitische Sicherheit und Wahrung des Zugangs zu den heimischen Lagerstätten, sozialverträgliche Gestaltung des Anpassungsprozesses sowie Haftung des Landes für diejenigen Alt- und Ewigkeitslasten, die nicht durch den Haftungsverbund in der RAG AG gedeckt seien. Römer: "Wir Sozialdemokraten stützen dieses Ergebnis der Großen Koalition, denn drei der von mir genannten zentralen Ziele für NRW wurden bei diesen Verhandlungen bereits erreicht."
    In der Frage des Sockelbergbaus habe sich die Landesregierung nicht durchsetzen können, betonte der Sprecher und warf dem Ministerpräsidenten vor, während Zweidrittel der Menschen im Land für einen Sockelbergbau seien, wolle er die Optionsklausel mit aller Macht verhindern und "die Tür zu den Lagerstätten ein für alle Mal verschließen". Dazu betonte Römer: "Die Tür zu unseren Lagerstätten ist nicht verschlossen. Sie ist nur angelehnt. Sie kann und wird im Jahr 2012 wieder aufgestoßen werden. Dessen bin ich ganz sicher."
    Die FDP habe den Börsengang der RAG verzögert und damit gegen die vitalen Interessen des Landes gehandelt. Dabei sei ein zügiger Börsengang für das Land entscheidend, um die Alt- und Ewigkeitslasten sowie die Haftungsfragen finanziell abzusichern, unterstrich der Abgeordnete. Obwohl man hier ein vertretbares Ergebnis erreicht hatte, habe der Ministerpräsident auf Druck des Koalitionspartners eine radikale Kehrtwende vollzogen und ein Ende des Bergbaus bereits für das Jahr 2014 gefordert.
    Die Landesregierung forderte Römer auf: "Geben Sie den untauglichen Versuch auf, den Kompromiss der Großen Koalition nachverhandeln zu wollen!" Auch die Bergleute und die gesamte RAG AG sollten "aus der Geiselhaft für Ihre politisch motivierten Ausstiegspläne" entlassen werden. Drittens: "Lassen Sie uns gemeinsam in Berlin für die Lösung der Altlasten, Ewigkeits- und Haftungsfragen im Interesse dieses Landes eintreten."
    Christian Weisbrich (CDU) wandte sich an die SPD: "Hören Sie auf, die Bergleute dauerhaft zu belügen." Dass die Tür nicht verschlossen, sondern nur angelehnt sei, stelle zwar ein "wunderschönes Bild" dar, aber, so der Sprecher weiter: "Die Bergleute hassen am meisten, dass ihnen permanent Versprechungen gemacht werden, die hinterher nicht eingehalten werden." Im Übrigen sei es die SPD gewesen, die, um sich persönlich zu profilieren und ihr "Biotop im Ruhrgebiet" zu erhalten, für Zeitverzögerung mit ihrer Forderung nach einem Sockelbergbau gesorgt habe. Wenn sich der Bund im Jahr 2012 für diesen Sockelbergbau entscheiden sollte, dann könne es nicht sein, dass sich NRW an der Finanzierung dieses Sockels beteilige. Es dürfe auch nicht geschehen, dass der Erlös des Börsengangs nicht nur für die Alt- und Ewigkeitslasten eingesetzt werde, sondern auch dafür, den Bergbau bis zum Jahr 2018 zu finanzieren, betonte Weisbrich.
    Der subventionierte Steinkohlenbergbau sei energiepolitisch unsinnig und auf Dauer nicht finanzierbar. Was solle ein Sockelbergbau, "der gerade einmal 1,5 Prozent zusätzliche Energiesicherheit bedeutet"? Diese Einschätzung hätten bereits im September vergangenen Jahres die Gewerkschaft, die RAG und der Bundesfinanzminister für die SPD übernommen. Schon zur damaligen Zeit sei der sozialverträgliche Ausstieg einvernehmlich gewesen. Einvernehmen habe auch darin bestanden, dass der "weiße" Bereich der RAG eine vernünftige Entwicklungschance haben müsse, "die er unabhängig vom Börsengang nur dann hat, wenn die Mitfinanzierung der Verluste im Bergbau aufhört".
    Reiner Priggen (GRÜNE) sagte, beim Ende der 200-jährigen Bergbaugeschichte im Ruhrgebiet gehe es um insgesamt 40 Milliarden Euro, "die der Restbergbau in der aktiven Zeit kostet und die notwendig sind, um die Schäden zu beheben". Der Abgeordnete weiter: "Diese 40 Milliarden müssen zwischen dem Bund und im Wesentlichen dem Land Nordrhein-Westfalen verteilt werden." Das sei sehr riskant und könne zu erheblichen Einbußen und Verlusten des Landes führen. Wenn jetzt seit Mitte 2006 in Berlin verhandelt werde, dann "ist es wie immer bei der Kohle: eine organisierte Intransparenz, bei der die Parlamente außen vor gehalten werden". Für ihn sei der wichtigste Punkt die zukünftige Lastenaufteilung und Haftung. Es wäre vom Bund "zutiefst unanständig", NRW ab einem bestimmten Datum auf den Kosten sitzen zu lassen. In diesem Punkt sei die Intervention von Ministerpräsident Rüttgers "sozusagen last exit" gewesen. Ein anderer für ihn, Priggen, völlig undurchschaubarer Punkt sei die Konstruktion der geplanten Stiftung, "was sie machen kann, wer genau dafür haftet und wer in dieser Stiftung entscheidet". Ferner tauche in der Stiftungssatzung die Sicherung der Rechte der Berggeschädigten nicht auf. Es wäre hochriskant zu glauben, dass der Erlös aus dem Börsengang und die Rückstellungen ausreichten, die Ewigkeitslasten in Höhe von 400 Millionen Euro jährlich zu finanzieren.
    Dr. Gerhard Papke, FDP-Fraktionsvorsitzender, sagte zu den Kohleverhandlungen voraus: "Wir werden ein Gesamtergebnis bekommen, das das Ende des Subventionsbergbaus in NRW, in ganz Deutschland, festschreibt." Das sei ein historisches Ereignis. Der Abgeordnete: "Alles andere würden wir auch nicht akzeptieren." Dann könnten die Ressourcen, "die in den zurückliegenden Jahrzehnten unter rot-grüner Regie in NRW vergraben worden sind, endlich in die Zukunft unseres Landes investiert werden". Was die finanziellen Folgen für das Land angehe, wolle man eine faire Lastenverteilung zur Bewältigung der Ewigkeitskosten. Was da in Berlin ohne das Land NRW verabredet worden sei, hätte letztlich bedeutet, dass der "weiße" Bereich auch nach dem Börsengang für die laufende Finanzierung des Steinkohlenbergbaus "hätte verfrühstückt werden können". Der Bund habe über Jahrzehnte die Subventionierung des Steinkohlenbergbaus als nationale Aufgabe betrachtet, "dann darf der Bund uns in den Bergbaurevieren in NRW auch nicht allein lassen, wenn es um die Bewältigung der Folgelasten geht". Das Land brauche eine Entlastung bei den laufenden Auslaufsubventionen, um in Zukunftstechnologien, in Bildung und in Forschung und Entwicklung zu investieren. Dieses Umsteuern müsse nach Ansicht der FDP schneller erfolgen: "Je früher wir aussteigen, desto mehr bleibt für Zukunftsinvestitionen übrig." Sein Appell: "Lasst uns alle die Ärmel hochkrempeln, jetzt beginnt der Tag X nach dem Bergbau!"

    ID: LIN02911

  • Lienenkämper, Lutz (CDU); Eiskirch, Thomas (SPD); Priggen, Reiner (Grüne); Brockes, Dietmar (FDP)
    "Für NRW geht es um sehr viel Geld".
    Interviews mit den wirtschaftspolitischen Sprechern der Fraktionen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 8-9 in Ausgabe 3 - 07.03.2007

    Der Kohlekompromiss ist geschlossen. Während CDU, FDP und GRÜNE vom "Ende einer Epoche" sprechen, hält die SPD weiterhin an einem Sockelbergbau in NRW fest. Fakt ist jedenfalls: Trotz der grundsätzlichen Verständigung auf den Ausstieg aus dem Subventionsbergbau sind viele Detailfragen weiter offen. Welche Chancen bietet der Kompromiss für NRW und welche Herausforderungen hat das Land künftig zu meistern? Darüber sprach "Landtag intern" mit Lutz Lienenkämper (CDU), Thomas Eiskirch (SPD), Reiner Priggen (GRÜNE) und Dietmar Brockes (FDP).

    Nach dem Bergbau ist vor dem Bergbau? Welche Chancen sehen Sie für eine privatwirtschaftlich betriebene Zeche ohne staatliche Subventionen?
    Lienenkämper: Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich es für spekulativ, die Chancen einer privatwirtschaftlich betriebenen Zeche einzuschätzen. Wenn man nach der prognostizierten Preisentwicklung der Steinkohle geht, ist solch ein Vorhaben sicherlich skeptisch zu sehen. Allerdings ist es weder Sache des Landes noch der Fraktionen, die Wirtschaftlichkeit einer möglichen Investition eines privaten Investors zu bewerten. Wichtig für das Land ist nur, dass die volle Haftung für Bergschäden und für zusätzlich entstehende Ewigkeitslasten auf Seiten des Investors liegt - so sich denn überhaupt einer finden sollte.
    Eiskirch: Die Fragestellung impliziert ja, dass das Ende des NRW-Bergbaus bereits besiegelt wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. 2012 wird der Bundestag über die Möglichkeiten für einen Sockelbergbau nach 2018 entscheiden. Ich sehe darin die große Chance, den Zugang zu den heimischen Energiereserven offen zu halten sowie die Entwicklung und Fertigung von Bergbautechnik hierzulande dauerhaft zu sichern. Das sollte uns auch künftig etwas wert sein. Wer kann denn vor dem Hintergrund stark schwankender Weltmarktpreise heute schon mit Gewissheit sagen, dass die heimische Steinkohle in einigen Jahren nicht schon wieder konkurrenzfähig ist. Ich erinnere in diesem Zusammenhang gerne an die mahnenden Worte des RAG-Chefs Werner Müller, der im Wirts chaftsausschuss gesagt hat: "Wenn es typisch deutsch läuft, dann schließen wir die letzte Zeche genau dann, wenn die deutsche Kohle gerade wettbewerbsfähig ist".
    Priggen: Ich sehe hierfür überhaupt keine Chancen. Das Planungsverfahren für die Zeche Donar sollte sofort eingestellt werden. Das ist Verschwendung öffentlicher Gelder. Wir haben in NRW gute Bergleute, wir haben eine sehr gute Bergbautechnik, aber die geologischen Gegebenheiten machen einen wirtschaftlich vertretbaren Steinkohlenbergbau hierzulande unmöglich. In unmittelbarer Nachbarschaft der Zeche Donar liegt die Zeche Hamm. Hier belaufen sich die Förderkosten derzeit auf 349 Euro pro Tonne, während beispielsweise in Kanada die Tonne Steinkohle für fünf Euro gefördert wird. Ich halte es daher für völlig ausgeschlossen und illusionär, die Zeche Donar privatwirtschaftlich betreiben zu können. Dafür wird sich nie und nimmer ein Investor bereit erklären.
    Brockes: Die FDP ist nicht gegen den Steinkohlenbergbau an sich, sondern gegen dessen staatliche Subventionierung in Milliardenhöhe zu Lasten der Steuerzahler. Und wegen ihrer geologischen Situation ist die heimische Steinkohle nicht wettbewerbsfähig. Zudem müsste der Eigentümer einer privat betriebenen Zeche sämtliche Kosten, auch die Altlasten und Ewigkeitskosten, übernehmen. Das ist der Grund dafür, dass sich kein privater Investor für das Abbaufeld Donar findet. Weder die Stahlindustrie noch die Bergbauzulieferer haben ein Interesse an der Finanzierung eines solchen Projekts, weil es wirtschaftlich unsinnig wäre. Die RAG selbst hat dies erkannt und ihren Bergbautechnikbereich an ein amerikanisches Bergbauunternehmen verkauft. In keinem Fall dürfte am Ende der Steuerzahler für ein solches Himmelfahrtskommando zur Kasse gebeten werden.

    Ist die für die Ewigkeitskosten gefundene Lösung für das Land tragfähig?
    Lienenkämper: Nach meiner Einschätzung handelt es sich um eine tragfähige Lösung. Es ist ein Erfolg, dass sich der Bund zu einem Drittel an den nicht gedeckten Ewigkeitskosten beteiligen wird. Weiter ist zu begrüßen, dass es eine Neuaufteilung der Kosten insgesamt gegeben hat. Das bringt für NRW eine Einsparung von rund 278 Millionen Euro. Gut ist sicherlich auch, dass vermieden werden konnte, die Erlöse aus dem Börsengang der RAG für laufende Subventionen einzusetzen. Damit sind die zum jetzigen Zeitpunkt seriös prognostizierbaren Kosten abgedeckt. Grundlage dieser Berechnung ist das KPMG-Gutachten. Klar ist aber auch, dass kein Gutachter der Welt alle möglichen Eventualitäten bis zum Jahre 2018 detailliert mit einbeziehen kann. Von daher hat die gefundene Lösung immer einen gewissen Prognosecharakter. Deshalb ist der Kompromiss in bestimmten Punkten auch noch dynamisch.
    Eiskirch: Die Frage müsste eher lauten, ob sich die Lösung noch tragfähiger hätte gestalten lassen? Der Status quo besagt, der "weiße" Bereich der RAG haftet für die Schäden, die der "schwarze" Bereich verursacht, und wenn die Haftungsmasse nicht ausreichen sollte, muss das Land NRW dafür aufkommen. Im Rahmen der Berliner Verhandlungen zum Kohlekompromiss hatte der Bund angeboten, künftig mehr als ein Drittel eines möglichen Risikos abzusichern. Doch da unserem Ministerpräsidenten die Symbolpolitik eines Ausstiegsjahres für NRW wichtiger war, liegt der Anteil des Bundes jetzt bei lediglich einem Drittel. Das ist zwar eine Verbesserung, mit mehr Verhandlungsgeschick hätte der Ministerpräsident jedoch eine noch bessere Lösung aushandeln können.
    Priggen: In dieser Frage gibt es derzeit noch keine Lösung. Bislang haben der Bund, NRW und das Saarland die historische Entscheidung über das Ende des subventionierten Steinkohlenbergbaus getroffen. Das ist gut so. Ich bin mir aber sicher, das Ende der Kohle wird für NRW viel teurer werden, als wir alle angenommen haben. So war es in Frankreich und so wird es auch hierzulande sein. Detaillierte Regelungen, was zu den Altlasten und was zu den Ewigkeitskosten zu zählen ist und wie genau eine Aufteilung der Lasten zwischen Bund und Land aussehen könnte, sind noch nicht getroffen worden. Auch das KPMG-Gutachten weist in vielen Detailfragen Lücken auf. Mit der Beantwortung all dieser Fragen liegt noch viel Arbeit vor uns. Für NRW geht es um sehr viel Geld.
    Brockes: Entscheidend ist zunächst einmal, dass der endgültige Ausstieg aus dem Subventionsbergbau beschlossen worden ist. Der sozialverträgliche Ausstieg ohne betriebsbedingte Kündigungen aus dem Subventionsbergbau ist sichergestellt. Nordrhein-Westfalen zahlt 2014 den letzten Euro für die Förderung deutscher Steinkohle. Der von der SPD geforderte Sockelbergbau ist vom Tisch. Das ist eine historische Entscheidung für NRW und ein großer Erfolg für die FDP. Spätestens 2018 werden keine zusätzlichen Ewigkeitskosten mehr entstehen. Unsere Koalition aus CDU und FDP hat zudem durchgesetzt, dass der Bund sich zu einem Drittel an der Finanzierung der Ewigkeitskosten beteiligt und NRW die Zeche nicht alleine zahlen muss. Es wäre uns auch gelungen, mehr zu erreichen, wenn die schwarz-gelbe Koalition bei der Interessenwahrnehmung für Nordrhein- Westfalen von allen Fraktionen und verantwortlichen Parteien im Lande unterstützt worden wäre. Stattdessen ist die SPD dem Ministerpräsidenten in den Rücken gefallen und hat offensiv gegen die Interessen unseres Landes gearbeitet.

    Die halbe Bergbau-Milliarde des Landes - fließt diese Summe künftig uneingeschränkt für das "neue Ruhrgebiet"?
    Lienenkämper: Zunächst einmal wird es die Initiative "Zukunft Ruhr" geben. Darüber hinaus darf man nicht übersehen, dass Steinkohlenbergbau nicht nur im Ruhrgebiet stattfindet. Bei der Diskussion dürfen wir das Münsterland und den Niederrhein nicht unter den Teppich kehren. Aufgabe der Landesregierung ist es, den Strukturwandel, der sich aus dem auslaufenden subventionierten Steinkohlenbergbau ergibt, insgesamt zu begleiten und abzufedern. Natürlich wird auch künftig ein Schwerpunkt im Ruhrgebiet liegen, da hier die größten Anpassungsnotwendigkeiten entstehen. Aber die Landesregierung wird auch die anderen Landesteile nicht unberücksichtigt lassen. Die eingesparten Mittel sollten jedenfalls teilweise - wie auch bei der Ziel-2-Förderung aus Europa - nach Wettbewerbsgesichtspunkten vergeben werden. Dahinter steckt die Idee, Gelder nicht nach dem Gießkannenprinzip übers Land zu verteilen, sondern Anreize für Innovation und Forschung zu schaffen.
    Eiskirch: In der derzeitigen Debatte ist ja immer von zwei halben Milliarden die Rede. Schwarz-Gelb gibt vor, das Land spare künftig eine halbe Milliarde Euro ein. Das ist jedoch mitnichten so. Selbst im Falle von Einspareffekten bin ich wenig zuversichtlich, dass das Ruhrgebiet von diesen Mitteln profitieren wird. Eher landen sämtliche Einsparungen - wie schon in den vergangenen zwei Jahren - beim Finanzminister. Die zweite halbe Milliarde ist die, die der Bund als Strukturhilfen für das Ruhrgebiet angeboten hatte. Voraussetzung wäre eine Beteiligung des Landes an den Bergbausubventionen bis zum Jahre 2018 gewesen. Dieses Angebot hat der Ministerpräsident jedoch ebenfalls ausgeschlagen. Dabei bräuchte man jetzt die Mittel, um Perspektiven für die Menschen in den betroffenen Regionen zu schaffen. Da er die Bundesmittel nicht genommen hat, muss er jetzt Landesgeld in die Hand nehmen.
    Priggen: Ich befürchte, dass wir auch in den kommenden Jahren keine Mittel einsparen können, sondern im schlimmsten Fall die halbe Milliarde bis 2018 zahlen müssen. Die Kosten für den Ausstieg werden dramatisch ansteigen und von der halben Milliarde wird nicht viel übrig bleiben. Zudem darf man nicht vergessen, dass NRW derzeit Schulden aufnimmt, um die Subventionszahlungen an die Steinkohle aufbringen zu können. Das Ruhrgebiet wird sich aus eigener Kraft helfen müssen. Schon seit langem ist die Kohle kein Gewinn mehr für das Ruhrgebiet, sondern eine Belastung. Daher bedauere ich auch die Revisionsklausel im Kohlekompromiss. Damit wird bei den Bergleuten die Illusion erweckt, die Steinkohle hätte womöglich noch eine Chance in NRW. Dabei sollten insbesondere die jüngeren, gut ausgebildeten Kumpels jetzt bereits alles daran setzen, um sich nach beruflichen Alternativen umzugucken.
    Brockes: Wir haben den sozialverträglichen Ausstieg aus dem Subventionsbergbau in Deutschland besiegelt. Dieser Beschluss eröffnet uns die Chance für eine nachhaltige Modernisierung der Bergbaureviere, mit der wir bereits jetzt beginnen. Wir haben dafür gesorgt, dass jetzt endlich in die Zukunft Nordrhein-Westfalens investiert werden kann, in Bildung, Forschung und Entwicklung. Denn der Ausstieg aus dem Subventionsbergbau ist für uns zugleich der Einstieg in die Modernisierung Nordrhein- Westfalens.
    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN02912

  • Das Wetter und die Politik.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 2 - 07.02.2007

    Kyrill war einfach fällig. Der Missionar und Apostel der Slawen kann aber nichts dafür, dass der verheerendste Orkan, der unser Land heimgesucht hat, seinen Namen trug. Kyrill stand gerade oben auf der Namensliste für Stürme.
    Wir brauchen Namen, um Personen und Dinge auseinander zu halten. Namen bezeichnen etwas, aber sie erklären nichts. Zu gerne wüsste man nämlich, wie viel Kyrill mit der globalen Klimaveränderung zu tun hat. Da gibt es, wie sich auch im Landtag gezeigt hat, unterschiedliche Meinungen. Die Diskussion darüber ist zu führen - auch hier im Parlament, wo Entscheidungen fallen und Weichen für den Umweltschutz gestellt werden.

    Entscheidungen

    Zum Beispiel: Was geschieht mit unseren heimischen Energieträgern? Ist die Atomenergie ein Auslaufmodell oder soll hier weiter geforscht werden? Wollen wir mehr Gaskraftwerke? Welche Strategien fördern den Ausbau der erneuerbaren Energien? Machen Umweltzonen in unseren Ballungsgebieten Sinn? Mehr Geld für mehr Straßen oder für mehr öffentlichen Nahverkehr? Hier haben die Abgeordneten des Landtags ein wichtiges Wörtchen mitzureden.
    Das macht die Debatte über die Gefahr einer globalen Klimaerwärmung nicht akademisch, sondern sehr konkret. Sie muss geführt werden. Die Wissenschaft kann die Abgeordneten beraten, aber die Entscheidungen müssen in der Politik fallen. Das geschieht auch, und es gibt Prioritäten dabei. Jetzt, da das ganze Ausmaß der Schäden deutlich geworden ist, laufen die Maßnahmen richtig an.
    Vor allem die Privatwaldbesitzer brauchen die Unterstützung durch die öffentliche Hand, etwa den Landesbetrieb Wald und Holz. Steuerliche Hilfen, ein Förderprogramm von derzeit 40 Millionen Euro für Sofortkredite und gegebenenfalls auch Landesbürgschaften sollen den Wiederaufbau der Wälder unterstützen.
    Die Wälder in NRW werden sich erst langsam wieder erholen. Es wird Monate und Jahre dauern, bis die ärgsten Wunden geschlossen sind. Bäume wachsen langsam und verlangen Geduld. Der Forst und die Menschen, die jetzt in ihnen ihrer gefahrvollen Arbeit nachgehen, brauchen aber keine Schaulustigen und Katastrophentouristen, die sich leichtsinnig in Gefahr bringen - auch wenn sie sich, wie unlängst in Winterberg beobachtet, zur eigenen Sicherheit einen Schutzhelm aufgesetzt haben.
    JK

    ID: LIN02837

  • Kyrill und seine Lehren.
    Abgeordnete setzen sich mit Vorfällen und Folgerungen auseinander.
    Titelthema / Schwerpunkt;
    Plenarbericht
    S. 4-5 in Ausgabe 2 - 07.02.2007

    Der Orkan Kyrill und seine Folgen waren die Themen der Aktuellen Stunde im Plenum. CDU und FDP sowie die GRÜNE-Fraktion hatten unter unterschiedlichen Akzenten die Debatte beantragt, in die auch zwei Eilanträge der SPD einbezogen wurden. Die Koalition stellte die Bewährung des Katastrophenschutzes in den Vordergrund, während die Grünen Hilfen für betroffene Waldbesitzer und - wie die SPD, die zusätzlich den Klimaschutz thematisierte - einen Stopp der Forstreform verlangten. In einem waren sich die Fraktionen einig, im Dank an die vielen Helferinnen und Helfer, die die Großschadenslage zu bewältigen halfen.
    Wolfgang Schmitz (CDU) erinnerte an die sechs Todesopfer, die der Orkan gefordert hat. Zwei Feuerwehrleute sind getötet, 44 Feuerwehrleute und ein Polizist verletzt worden. "Den Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer gehört unser ganzes Mitgefühl", betonte Schmitz und dankte den 43.000 haupt- und ehrenamtlichen Einsatzkräften. Der Katastrophenschutz funktioniere im Lande, das habe sich erwiesen. Der Abgeordnete meinte, ohne die ehrenamtliche Hilfe gehe es in diesem Bereich nicht. Aber die Feuerwehren und die Hilfsorganisationen hätten große Nachwuchsprobleme: "Wir müssen überlegen, was wir dagegen tun können und wie wir der Feuerwehr helfen können."
    Horst Engel (FDP) sagte, das Sieger- und das Sauerland seien die am stärksten vom Sturm betroffene Region Europas. Schwierig sei, dass es bei den Rettungsdiensten, bei Feuerwehr und Katastrophenschutz verschiedene gesetzliche Zuständigkeiten von Regierungspräsidenten, Kreisen und Kommunen nebeneinander gebe (Engels: "Durcheinander"). An der Verbesserung des Standards bei Vernetzung und Kommunikation müsse weiter gearbeitet werden. Bei einem Unglücksfall werde der Katastrophenschutz auf kommunaler Ebene organisiert. Rettungsdienst und Katastrophenschutz seien Sache der Kreise. Feuerschutz sei Angelegenheit der Kommunen, und die Einbindung der Polizei laufe eigenständig nebenher. Die Reibungsverluste sollten mit einer neuen Sicherheitsarchitektur beseitigt werden. Engel: "Das haben wir bereits an anderer Stelle thematisiert. Daran arbeiten wir."
    Dr. Karsten Rudolph (SPD) sprach ein Thema an, das den Einsatz der Helferinnen und Helfer bei Feuerwehr und Hilfsorganisationen berührt. Ihm sei zu Ohren gekommen, "dass es große Probleme beim Vollzug der gesetzlichen Regelungen für Feuerwehrleute und andere Helfer im Ehrenamt gibt, weil zu viele Arbeitgeber in unserem Land ihre Mitarbeiter für ihre ehrenamtliche Tätigkeiten nicht oder nicht mehr freistellen". Nach pausenlosen Tag- und Nachteinsätzen hätten viele am nächsten Tag wieder zur Arbeit erscheinen müssen und seien nicht auf das Verständnis des Arbeitgebers gestoßen, "das man eigentlich hätte erwarten dürfen". Die Regierungspräsidien hätten sich beim Orkan als "Bündelungsbehörden" bewährt.
    Monika Düker (GRÜNE) folgerte, der Katastrophenschutz habe funktioniert - nicht wegen, sondern trotz der Politik von CDU und FDP. "Die Landesregierung macht es dem Katastrophenschutz nicht leicht, sie sorgt für Ärger und Irritationen", sagte sie und nannte als Beispiel die neue Arbeitszeitregelung bei der Feuerwehr. Die Landesregierung habe noch nicht zu sagen vermocht, wie die neue Arbeitszeitverordnung der EU bei der Feuerwehr umgesetzt werde und wie sie diese neue Ordnung vor Ort realisieren wolle.
    Innenminister Dr. Ingo Wolf (FDP) berichtete von über 40.000 Einsätzen von Feuerwehr und Katastrophenschutz; 43.000 haupt- und ehrenamtlich Kräfte seien dabei unterwegs gewesen. Ihnen allen spreche er seinen persönlichen und den Dank der Landesregierung aus. Auf den Straßen habe es nach Angaben der Straßenmeistereien Schäden an 300 Lichtzeichenanlagen und 10.000 Verkehrszeichen gegeben. "Die im Zusammenhang mit den Orkanschäden landesweit getroffenen Maßnahmen der Gefahrenabwehr waren lageangepasst, angemessen und erfolgreich", sagte der Minister rückblickend. "Die Kommunikation zwischen den Leitstellen der Kreise und kreisfreien Städte, den Bezirksregierungen und dem Innenministerium funktionierte nahezu reibungslos." Anschließend gab der Innenminister einen Ausblick: "Zur Zeit arbeitet mein Haus an einer ressortübergreifenden landesweiten Gefährdungsanalyse. Einen ersten Entwurf dieser Gefährdungsanalyse hat das Kabinett am Dienstag beraten."
    Johannes Remmel (GRÜNE) sagte, man lebe in "verrückten" Zeiten: heißester Juli im Jahr 2006, kältester August, wärmster Dezember. Das ordneten die Menschen zusammen mit dem Orkan in einen größeren Zusammenhang ein, "nämlich in den Klimawandel". Es gehe nicht mehr darum, ob Klimaschutz und Klimawechsel stattfänden und ob Klimaschutz sich lohne: "Wir diskutieren nur noch über das Wie. Das ist der entscheidende Punkt der Wende dieser Debatte."
    Svenja Schulze (SPD) wollte von der Landesregierung wissen, was sie beim Klimaschutz zu tun gedenke. Seit der Regierungsübernahme sei viel zu wenig passiert: "In 582 Tagen haben Sie es nicht geschafft, wenigstens Grundideen und Leitlinien für Ihre Klimaschutzpolitik vorzulegen." Das seien 582 verlorene Tage. Bei einem Koalitionspartner wie der FDP, die von Menschen verursachte Effekte immer noch nicht wahrhaben wolle, sei das auch schwierig. Dabei könnte die Regierung einfach die Arbeit fortschreiben, die Rot-Grün auf diesem Gebiet geleistet habe.
    Monika Brunert-Jetter (CDU) erläuterte als Abgeordnete aus dem Sauer- und Siegerland die Schäden, die der Orkan im Wald ihrer Heimat verursacht habe: "Das ganze Landschaftsbild hat sich verändert und ist zu großen Teilen einfach verschwunden." Schätzungsweise seien 50.000 Hektar entwaldet worden. Nach der Katastrophe habe die Landesregierung umgehend ein Krisenmanagement eingesetzt. Ihr besonderer Dank gelte dem Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landesbetriebs Wald und Holz. Deren persönlicher Einsatz werde auch durch die Forstreform nicht behindert, zeigte sie sich überzeugt.
    Holger Ellerbrock (FDP) räumte ein, es gebe unterschiedliche Auffassungen über den menschlich bedingten Einfluss auf das Klima. In der Diskussion gehe es nicht nur um Kohlendioxid, es gebe auch andere Einflüsse. Darüber müsse man wissenschaftlich diskutieren. Orkantiefs seien im Winter nicht ungewöhnlich. Darum sehe er keinen Anlass, mit der "Angst der Menschen Politik zu machen". Schon gar kein Zusammenhang bestehe zwischen Orkan und Forstreform, zumal der Revierförster als Ansprechpartner der Waldbesitzer in der Fläche vor Ort verbleibe. Ellerbrock: "Wir werden die Reform durchführen." Der Landsbetrieb habe professionell gehandelt. Es sei aber zu überlegen, ob der Landesbetrieb seine Holzvermarktung zugunsten der betroffenen Privatwaldbesitzer zurückführt. Da habe die öffentliche Hand eine Vorbild- und Schutzfunktion, fand der Abgeordnete.
    Umweltminister Eckhard Uhlenberg (CDU) betonte, jetzt sei unbürokratische Hilfe erforderlich: "Ich habe veranlasst, dass wir den Waldbesitzern, Arbeitskräften und Kunden unsere satellitengestützte elektronische Absicherung der Waldarbeit zur Verfügung stellen. Wir haben unverzüglich die Voraussetzungen geschaffen, um so schnell wie möglich die Wege frei zu räumen, die Flächen aufzuarbeiten und das Holz vor Beginn des Borkenkäfer-Flugs ins Lager zu bringen. Zu den Maßnahmen zählt die Möglichkeit, Holz auch am Sonntag und mit erhöhten Lasten abzufahren."
    In Arnsberg habe der Landesbetrieb Wald und Holz ein Zentrum für Information, Kommunikation und Logistik errichtet, eine Hotline gebe dort Auskunft zu allen Fragen der Bürger in Zusammenhang mit den Waldschäden. "In den Hauptschadensgebieten liegt oft das gesamte Vermögen der Forstbetriebe am Boden. Wir wollen daher mit steuerlichen Maßnahmen, mit entsprechenden Förderprogrammen und gegebenenfalls mit Landesbürgschaften den betroffenen Waldbesitzern auch finanziell unter die Arme greifen", sagte Uhlenberg. "Die Waldbesitzer haben mir versichert, dass sie keine Almosen haben wollen. Dort allerdings, wo sie es ohne staatliche Hilfe nicht schaffen, steht die Landesregierung bereit. Und es gibt ja auch ein Glück im Unglück in dieser Katastrophe: Der Holzmarkt boomt." Der Minister empfahl, bei der Neuanpflanzung Baumarten zu wählen, die an Stürme angepasster seien als andere. Die Waldbau-Experten der Landesforstverwaltung würden hierzu Tipps geben.
    Zu einem Stopp der geplanten Forstreform, wie er von Sprechern der Grünen und der SPD gefordert worden war, meinte Uhlenberg: "Wir werden die Forstreform umsetzen. Diese Reform ist richtig und notwendig und wird unsere Forstverwaltung noch leistungsfähiger machen. Wir werden Verwaltungskosten einsparen - selbstverständlich ziehen wir keine Leute aus dem Wald ab. Die Förster bleiben in ihren Revieren und in der Fläche vertreten. Weil das so ist und bleibt, hat der Waldbauernverband die Pläne der Landesregierung zur Forstreform unterstützt."

    ID: LIN02835

  • Das blinde Wüten des Wetters.
    Die Menschen in NRW rücken im Orkan zusammen und ziehen Bilanz.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 6 in Ausgabe 2 - 07.02.2007

    Er war einer der schlimmsten Stürme, die in den letzten vier Jahrzehnten über das Land hereingebrochen sind. Die verheerende Bilanz für Nordrhein-Westfalen: Sechs Tote (darunter zwei Feuerwehrleute), 150 Verletzte, 25 Millionen geknickte Bäume, alles in allem ein Milliarden-Schaden.
    Der Orkan Kyrill zog eine Spur der Verwüstung, legte stundenlang den Straßenverkehr und tagelang den Schienenverkehr lahm, hielt Flugzeuge am Boden fest, führte zu Überschwemmungen, unterbrach Telefonverbindungen, deckte Dächer ab, zerriss Stromleitungen, zermalmte Autos und trieb die Menschen in sichere Räume, in Münster sogar in den alten Luftschutzbunker unter dem Hauptbahnhof. Orkanböen rasten mit bis zu 144 Stundenkilometern durch Düsseldorf. Kinder wurden frühzeitig aus den Schulen und Tagesstätten nach Hause geschickt. Bedienstete bekamen vorzeitig frei. Der Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein rief für seinen Bereich Katastrophenalarm aus.

    Chronologie

    Donnerstag, 18. Januar 2007. Das Sturmtief Kyrill nähert sich NRW. Um 17.40 Uhr ruht landesweit der Bahnverkehr. 20 Minuten später bleiben im gesamten Norden und Westen die Züge stehen. Kurz nach 19 Uhr geht bundesweit nichts mehr auf der Schiene. 4.000 Reisende stranden in nordrhein-westfälischen Bahnhöfen und müssen sich auf eine ungemütliche Nacht einrichten. In der Landeshauptstadt öffnet die Bundespolizei am Bahnhof ihre Schulungsräume. In Köln werden in den Räumen des Bahnpersonals ein Aufenthaltsraum und ein Schlafsaal für 200 Personen eingerichtet. Hier ertönen zur Beruhigung Kölsche Karnevalslieder aus den Lautsprechern.
    Als am Katastrophenabend das ganze Ausmaß klar wird, läuft die Hilfsmaschinerie an. Die Helfer von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Rotem Kreuz und anderen Organisationen sind pausenlos vor Ort. Zusammen mit der Polizei fahren sie 55.000 Einsätze. Freiwillige und Privatleute helfen, wo sie können. Notbetten, Decken, Verpflegung werden herangeschafft. Wer ein Hotelzimmer oder Unterkunft in einer Jugendherberge erwischt, kann sich glücklich schätzen. An den Taxiständen bilden sich spontane Fahrgemeinschaften.
    Am Freitagmorgen entspannt sich zunehmend die Situation, einige Fernstrecken der Bahn nehmen ihren Betrieb wieder auf, die Aufräumarbeiten gehen weiter, erste Bilanzen werden gezogen. Am Freitag schätzt das Lagezentrum beim NRW-Innenministerium den landesweiten Schaden auf 29 Millionen Euro - zu optimistisch, wie sich später zeigen sollte. Die Landesforstverwaltung beziffert nach einer ersten Übersicht die Zahl der vom Sturm umgeworfenen Bäume auf rund 25 Millionen - die größten Waldschäden in der Geschichte des Landes. Besonders betroffen: das Sauerland, das Siegerland, der Teutoburger Wald. In Südwestfalen entstehen 80 Prozent der Verluste. Aber auch die Eifel und die Wälder am Niederrhein kommen nicht ungeschoren davon.

    Aufräumarbeiten

    Manchem Waldbesitzer treibt der Anblick der verwüsteten Wälder die Tränen in die Augen. Sie sehen sich jetzt vor die Existenzfrage gestellt und sind auf Hilfe angewiesen. Das Land denkt darum über Landesbürgschaften nach und will mit dem Bund über Steuererleichterungen für betroffene Forstbesitzer reden. Sie und die Waldarbeiter müssen sich sputen, in ihren Wäldern Ordnung zu schaffen, sonst besteht bei wärmer werdendem Wetter die Gefahr einer Borkenkäferplage. Alle anderen dürfen vorläufig zur eigenen Sicherheit die Wälder nicht betreten.
    Das blinde Wüten der Elemente führte auch zu ein paar ungewöhnlichen Vorkommnissen und Folgen. Zäune wurden niedergerissen, zwei Luchse büxten aus ihrem Dortmunder Gehege in die Freiheit aus. Anders die Bären von Isselburg. Sie blieben in ihren Höhlen, obwohl auch sie das Weite hätten suchen können. Der Wind ließ in Köln Bohlen auf das weltberühmte Dionysos- Mosaik prasseln: Erst Tage später konnten die Schäden genauer abgeschätzt werden. Die Versicherungen rechnen damit, dass sie die Prämien erhöhen müssen. Und die Eigner von Baumärkten bereiten sich auf einen Ansturm der Kunden vor, die Bäume zersägen und Haus und Garten in Ordnung bringen wollen.
    JK

    ID: LIN02836

  • Die Menschen für Europa gewinnen.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 1 - 24.01.2007

    Nordrhein-Westfalen will die deutsche Ratspräsidentschaft in der EU aktiv unterstützen. Wie bitte? Ein Bundesland begibt sich auf europäisches Parkett? Eine Region greift sozusagen nach den Sternen?
    Warum nicht? Im Kampf gegen die Europaskepsis in den Mitgliedsstaaten - nicht nur in denen, wo die Bevölkerung gegen die Europäische Verfassung gestimmt hat - kann die deutsche Bundeskanzlerin nicht genug Bundesgenossen haben. Und Nordrhein-Westfalen ist nicht irgendein Land. Unser Land liegt im Herzen Europas. Es hat mehr Einwohner als mancher EU-Staat. Seine Wirtschaftskraft ist stark.
    Die Begeisterung für Europa, die in dieser deutschen Ratspräsidentschaft wieder geweckt werden soll, kann man von oben zu entfachen versuchen. Aber der Kampf um Hirne und Herzen der Menschen wird vor Ort, auf der Ebene der Länder, ausgetragen. Erfolge werden hier erzielt.

    Initiativen

    Landtag und Landesregierung sind sich dessen bewusst. In diesen Tagen debattiert das nordrhein-westfälische Parlament über den ehrgeizigen Versuch, die deutsche Ratspräsidentschaft als Motor für ein handlungsfähiges, bürgernahes und zukunftsfestes Europa zu nutzen. Daraus werden weitere parlamentarische Aktionen erwachsen.
    Die Landesregierung ihrerseits plant vielfältige Aktivitäten und hat ein umfassendes Informationsangebot aufgelegt. Wer im Internet die Seite www.nrw2007.eu aufruft, dem öffnet sich ein Portal voller Nachrichten, Erläuterungen, Hintergründe, Verweise und Downloadmöglichkeiten, vielseitig und interaktiv.
    Vor 50 Jahren, im März 1957, wurden die Römischen Verträge geschlossen. Das war der Anfang des Weges zum vereinten Europa. Ein halbes Jahrhundert auf diesem Weg - gibt es schon die Vereinigten Staaten von Europa, eine gemeinsame Außenpolitik? Ist der Wirtschaftsriese Europa schon ein weltpolitisches Schwergewicht? Noch nicht, aber Ansätze dazu sind vorhanden.
    Zu wenig für 50 Jahre? Das mag der eine oder die andere so sehen. Aber um Berge zu erklimmen, muss man erst einmal die Mühen der Ebene bewältigt haben. Wer wüsste das besser als die Menschen in Nordrhein-Westfalen. Sie machen sich in die Zukunft auf, die europäischer ist als je zuvor.
    JK

    ID: LIN02744

  • Boeselager, Ilka von (CDU); Kuschke, Wolfram (SPD); Löhrmann, Sylvia (Grüne); Brockes, Dietmar (FDP)
    "Die europäische Idee braucht neue Leidenschaft".
    Interviews mit den europapolitischen Sprechern der Fraktionen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-13 in Ausgabe 1 - 24.01.2007

    Die Herausforderungen sind vielfältig, die Erwartungen hoch: Anfang des Jahres hat Deutschland für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen. Der Fortgang des europäischen Integrations- und Verfassungsprozesses sowie die gerade vollzogene EU-Erweiterung liegen dabei im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ist die europäische Energie- und Klimaschutzpolitik insbesondere für den Wirtschaftsstandort NRW von großer Bedeutung. Welche Möglichkeiten und Chancen sich aus der EU-Ratspräsidentschaft für Deutschland und NRW ergeben könnten, dazu befragte "Landtag intern" Ilka von Boeselager (CDU), Wolfram Kuschke (SPD), Sylvia Löhrmann (GRÜNE) und Dietmar Brockes (FDP).

    Was erwarten Sie von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007?

    Von Boeselager: Aus Sicht der nordrhein-westfälischen CDU-Landtagsfraktion muss die deutsche EU-Ratspräsidentschaft Motor für ein handlungsfähiges, bürgernahes und zukunftsfestes Europa sein. Wir erwarten vor allem neue Impulse für die Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrags. Der Verfassungsvertrag ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer institutionell reformierten und politisch handlungsfähigen EU, für die wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten einer Medaille sind. Wir begrüßen auch das Vorantreiben der Initiativen zur besseren Rechtsetzung, zum Bürokratieabbau und zum "Lissabon-Prozess". Wichtig ist darüber hinaus eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen regionaler, nationaler und europäischer Ebene. Jede zukünftige Erweiterung muss die Fähigkeit der EU berücksichtigen, neue Mitglieder zu integrieren. Sollte die Türkei dauerhaft nicht in der Lage sein, ihre mit Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union zu erfüllen, müssen die ergebnisoffenen Beitrittsverhandlungen in vollem Umfang ausgesetzt werden.
    Kuschke: Die Erwartungen an eine halbjährige Präsidentschaft dürfen nicht zu hoch angesetzt werden. Daher ist es gut und realistisch, dass die Grundlage des Programms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein Achtzehnmonatsprogramm der drei Präsidentschaften Deutschland, Portugal und Slowenien ist. Gleichwohl: in zwei Bereichen habe ich wie viele Bürgerinnen und Bürger hohe Erwartungen: Da ist zum einen die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft, die ganz wesentlich vom Fortgang des europäischen Verfassungsprozesses abhängt. Wie jeder Nationalstaat braucht gerade auch Europa eine Verfassung, die Rechte, Kompetenzen und Werte benennt. Zum anderen benötigen wir nach dem erfolgreichen Friedensprozess in Europa als Ergänzung und Weiterentwicklung klarere Vorstellungen von einem europäischen Sozial- und Gesellschaftsmodell. Es ist gut, dass eine Ministerkonferenz sich daher mit der Wechselwirkung der drei Politikbereiche Wirtschaft, Beschäftigung und Soziales beschäftigen wird.
    Löhrmann: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht vor großen Herausforderungen und gleichzeitig in einer besonderen Verantwortung: Die EU muss fit gemacht werden für die Herausforderungen des neuen Jahrhunderts. Aus Sicht der Grünen beinhaltet dies insbesondere die Schaffung und Weiterentwicklung eines sozialen und ökologischen Gesellschaftsmodells, die gerechte Gestaltung der Globalisierung, den Schutz unseres bürgerrechtlichen Fundaments und die Herausbildung einer europäischen Demokratie. Konkret bedeutet dies neben den Schwerpunkt- Themen Verfassung, Energie und Klimaschutz auch ein offensives Eintreten für eine einheitlichere Außen- und Sicherheitspolitik, damit Europa seiner Verantwortung als zivile Friedensmacht gerecht werden kann, etwa durch die Wiederbelebung einer Friedensperspektive für den Nahen Osten. Nach innen muss die Europäisierung der Asyl- und Migrationspolitik endlich auf die Tagesordnung, denn nicht zuletzt die humanitäre Katastrophe an den südeuropäischen Grenzen zeigt die Dringlichkeit des Engagements der deutschen Präsidentschaft für ein gemeinsames europäisches Vorgehen.
    Brockes: Es muss gelingen, die vor dem Hintergrund der politischen Herausforderungen an Deutschland gestellten hohen Erwartungen zu erfüllen. Diese herausragende Chance muss ehrgeizig und mit leidenschaftlichem Einsatz für Europa genutzt werden. Das Projekt EU-Verfassung muss mit neuem Schwung in Gang gesetzt, der Lissabon-Prozess stärker vorangetrieben und an der Vision eines bürgernahen und transparenten Europas mit Nachdruck gearbeitet werden. Daneben ist die Energiedebatte für NRW eine der zentralen Herausforderungen. Und transparente Information der Bürger setzt aus Sicht der FDP voraus, dass EU-Dokumente auch in deutscher Sprache verfügbar sind.

    Mit welchen Beiträgen kann NRW den erhofften Erfolg unterstützen?

    Von Boeselager: Wir stellen für die aktive nordrheinwestfälische Begleitung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Haushalt eigens 170.000 Euro zur Verfügung. NRW begleitet die Ratspräsidentschaft zudem mit einem speziell hierfür eingerichteten Internetauftritt (www. nrw2007.eu) und einer Vielzahl von Veranstaltungen und Aktivitäten. Wir haben uns als CDU-Landtagsfraktion mit einer parlamentarischen Initiative zur Europafähigkeit der Schulen erst jüngst in einem zentralen europäischen Politikfeld positioniert.
    Kuschke: Ich rate hier zu einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten eines Bundeslandes. Wir sollten einige Themen des Präsidentschaftsprogramms wie bessere Rechtsetzung, demographischer Wandel, Stärkung der Städte und Regionen sowie des ländlichen Raums und Teilhabe am Arbeitsmarkt im Rahmen der Möglichkeiten von Landespolitik aufgreifen. Dies wäre eine sinnvolle Ergänzung nationaler und europäischer Bemühungen und würde vor allem eins verdeutlichen: ein föderales System wie die Bundesrepublik Deutschland mit Regionen mit Gesetzgebungskompetenz (Bundesländern) fördert starke Regionen in einem handlungsfähigen Europa.
    Löhrmann: Wir in NRW sind näher dran an den Bürgerinnen und Bürgern als die Bundespolitik. Deshalb liegt unsere Aufgabe meiner Meinung nach vor allem in der Vermittlung der Bedeutung und der Chancen Europas für unsere Bevölkerung. Die europäische Idee braucht neue Leidenschaft, auch und gerade für junge Menschen. Mehr Engagement erhoffen wir uns für die Einrichtung einer Grundrechte-Agentur sowie für die Herstellung von mehr Öffentlichkeit im Rat und einen transparenteren Umgang mit den Finanzen der EU.
    Brockes: NRW profitiert als Wirtschaftsstandort insbesondere durch die Gewinnung ausländischer Investoren, die Erschließung neuer Märkte und die Intensivierung des Wissens- und Kulturaustausches vom Erfolg des europäischen Integrationsprozesses. Meine Vision ist ein Europa der Bürger. Europäischer Geist lässt sich nicht von oben verordnen. Die Ratspräsidentschaft muss genutzt werden, Europa vor Ort für die Bürger erlebbar zu machen. Sie müssen nachvollziehen können, dass die europäische Integration ein politisches, soziales und wirtschaftliches Erfolgsmodell ist. Vielfältige Aktivitäten und Infoveranstaltungen der Landesregierung sowie eine Begleitung durch den Landtag sind geplant. Als Vertreter des Landtags werde ich mich im Ausschuss der Regionen der EU mit aller Kraft dafür einsetzen, die Interessen des Landes in den europäischen Einigungsprozess einzubringen.

    Wie wirkt sich die neue gemeinsame Energiepolitik der EU auf unser Bundesland aus?

    Von Boeselager: Aus Sicht von NRW als europäischer Energieregion Nr. 1 muss im Zuge der deutschen EURatspräsidentschaft klargemacht werden, dass keine bestehende Möglichkeit für eine sichere, wirtschaftliche, ökologisch vernünftige und ausreichende Energieversorgung vernachlässigt werden sollte. In der Europäischen Union sind eine stärkere Vernetzung von nationaler und europäischer Energiepolitik und die Harmonisierung der Rahmenbedingungen und Standards notwendig. Hierbei muss NRW seine Interessen als Energiestandort einbringen und vor allem im Bereich der Energieforschung Impulse zu einer stärkeren Zusammenarbeit geben.
    Kuschke: Der Maßnahmenplan der Europäischen Kommission bietet die Chance zur strategischen Überprüfung der Energiepolitik, wir sollten uns daher nicht voreilig in kleinteiligen Diskussionen verlieren. Dabei begrüßen wir den Ansatz der Kommission, Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit der Energieversorgung und die Bewältigung des Klimawandels gemeinsam zu denken. Aber auch zukünftig wird es im Rahmen einer europäischen Energiepolitik differenzierte nationale Wege geben. Für uns gehört dazu auch - wie zunehmend in anderen europäischen Ländern - ein Sockelbergbau im Bereich der Steinkohle.
    Löhrmann: NRW hätte als "die" Energieregion in Europa jetzt die Chance, entscheidende Weichen richtig zu stellen. Doch die Realität sieht anders aus. Die Klimaschutzpolitik wurde beendet, die erneuerbaren Energien werden aus ideologischen Gründen bekämpft, und der Ministerpräsident verkündet, dass er an der marktbeherrschenden Stellung der Stromkonzerne nicht rütteln will. So wird NRW Bremser statt Motor auf EU-Ebene sein. Stattdessen träumt die Landesregierung von einer Renaissance des Hochtemperaturreaktors, wo doch unsere Kinder für die Folgekosten früherer Atom-Abenteuer in NRW werden zahlen müssen.
    Brockes: Wir erwarten von der EU-Kommission ein klares Votum für einen breiten Energiemix ohne Diskriminierung einzelner Energieträger. Nur so ist aus Sicht der FDP eine preisgünstige, versorgungssichere und umweltverträgliche Energieversorgung möglich. Die Kommission hat der Kernenergie erst kürzlich eine unverzichtbare Rolle zur Erreichung der europäischen Klimaschutzziele beigemessen. Die Bundesregierung sollte dieser Empfehlung folgen. Für alle Erzeugungstechnologien sollte gleichermaßen gelten, dass sie sich ohne Subventionen am Markt durchsetzen müssen. Deshalb muss aus unserer Sicht die Überförderung einzelner regenerativer Energien kritisch überprüft werden und der Ausstieg aus dem deutschen Subventionsbergbau erfolgen.

    Die Fragen stellten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN02743

  • Rückblick und Ausblick.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 14 - 20.12.2006

    Ein Jahr geht zu Ende - und was für ein Jahr! Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger sind bei schönstem Wetter nach Düsseldorf geströmt, um hier, am Sitz von Landtag und Landesregierung, 60 Jahre Nordrhein-Westfalen zu feiern. Dann gab es noch den würdigen Festakt zum Landesjubiläum in der Tonhalle.
    In der Tonhalle hatte man sich auch Anfang des Jahres versammelt, um Abschied von Johannes Rau zu nehmen. Er, der seine bergischen und nordrhein-westfälischen Wurzeln auch als Bundespräsident nie verleugnet hat, war fast 41 Jahre Mitglied des Landtags und hat 20 Jahre als Ministerpräsident dieses Land geprägt. Sein Politikmodell, mit Dialog und Konsens im Zentrum, ist aktuell wie ehedem.
    Ein Moment der Besinnung und des Atemholens, dann ging das politische Geschäft weiter: Die Auseinandersetzung um die Steinkohlesubventionen, die Umgestaltung der Hochschullandschaft, die Konsequenzen, die die Landesregierung aus der Pisa-Studie für Schulen und Unterricht zieht, das Ringen um Ausgabendisziplin und Haushaltssanierung und die schwierige Arbeit der Verwaltungsmodernisierung und des Bürokratieabbaus - riesige Aufgaben und immer wieder Anlass, die Klingen in lebhafter Landtagsdebatte zu kreuzen.
    NRW und die Welt
    Übrigens auch gute Gelegenheiten, die neue Rollenverteilung zwischen Opposition und Regierungslager einzuüben und - in der vom Wechsel lebenden Demokratie nicht ungewöhnlich - eines Tages vielleicht wieder umzukehren. Die nächste Landtagswahl ist zwar erst 2010, aber es ist spannend zu sehen, wie schon jetzt Parteien, Personal und Positionen in Stellung gebracht werden. Aber Nordrhein-Westfalen dreht sich nicht nur um sich selbst. Unser exportstarkes Land im Herzen Europas knüpft die Verbindungen nach draußen enger. Der Landtag hat inzwischen sechs Parlamentariergruppen. Botschafter nicht nur der europäischen Nachbarstaaten nehmen gern die Gelegenheit zu Gesprächen mit Landtag und Landtagspräsidentin Regina van Dinther wahr. Holländische Parlamentarier haben jüngst an einer Sitzung des Hauptausschusses teilgenommen. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vor kurzem der niederländischen Königin Beatrix in gut nachbarlicher Weise seine Aufwartung gemacht.
    Nordrhein-Westfalen wurde soeben 60 - aber das merkt man dem Land nicht an, vital und zukunftgerichtet wie es ist.
    JK

    ID: LIN02578

  • Stahl, Helmut (CDU); Kraft, Hannelore (SPD); Löhrmann, Sylvia (Grüne); Dr. Papke, Gerhard (FDP)
    Politik will attraktiver werden – aber wie?
    Interviews mit den Vorsitzenden aller vier Landtagsfraktionen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10-11 in Ausgabe 14 - 20.12.2006

    Bei aller Berichterstattung über die Festlichkeiten anlässlich des 60. Geburtstags von Land und Landtag mochte manch kritischer Politikbeobachter den Eindruck gewinnen, Parlamentsarbeit habe in erster Linie etwas mit Ausgelassenheit und Feierlaune zu tun. Weit gefehlt, denn mit dem Jahr 2006 geht ein überaus arbeits- und ereignisreiches Jahr zu Ende. Das Landesparlament blickt auf 31 Plenarsitzungen, 341 Ausschusssitzungen und 41 Anhörungen zurück. Zudem wurden insgesamt 35 Gesetze verabschiedet. Eine Arbeitsbilanz, die sich sehen lassen kann. In der letzten Ausgabe des Jahres bat "Landtag intern" die Fraktionsspitzen – Helmut Stahl (CDU), Hannelore Kraft (SPD), Sylvia Löhrmann (GRÜNE) und Dr. Gerhard Papke (FDP) – um eine persönliche Rückschau sowie um einen landespolitischen Ausblick.

    In 60 Jahren war NRW Motor der Entwicklung in Deutschland. Ist dieser Motor ins Stottern geraten? Wenn ja, wie gewinnt er seine alte Zugkraft zurück?

    Stahl: Ja, zweifellos war der Motor ins Stocken geraten. Seit Mitte 2005 ist meine Fraktion in der Regierungsverantwortung, und wir machen den Motor wieder flott: Mit Reformen in Bildung und Wissenschaft, der Landesverwaltung oder beispielsweise bei der Ladenöffnung. Die Wirkungen sind spürbar, für alle: Die Wirtschaft belebt sich, die Steuereinnahmen wachsen, die Arbeitslosigkeit geht zurück, um nur wenige Beispiele zu nennen. NRW gewinnt wieder an Schwung.
    Kraft: Die Menschen in Nordrhein-Westfalen haben in den vergangenen sechs Jahrzehnten sehr viel erreicht und auch schwierige Situationen mit Herz und Verstand, durch ein großes Engagement und ein solidarisches Miteinander gemeistert. Das "Wir in NRW" hat eine Ausstrahlung weit über die Grenzen unseres Landes hinaus. Auch heute schaut man auf NRW, um zu sehen, wie die Menschen hier die Probleme, die aus zunehmender Globalisierung und demographischen Veränderungen resultieren, gelöst werden. Das ist nicht einfach. Vor allem die immer noch steigende Zahl der Langzeitarbeitslosen bereitet mir große Sorgen. Hier muss viel mehr getan werden. Außerdem gilt es, neue Potenziale zu erschließen. Entscheidend ist hierfür eine bessere Verzahnung von Wissenschaft und Forschung mit der Wirtschaft vor Ort.
    Löhrmann: Wenn NRW auf Zukunftstechnologien setzt, etwa auf erneuerbare Energien, dann kann das Land als Weltmarktführer für nachhaltige Innovationen wieder zum deutschen Wirtschaftsmotor aufsteigen. Dazu bedarf es keines Kohlesockels, sondern einer Orientierung an der Zukunft. Zu dieser Zukunft gehören auch die Dienstleistungen, die in NRW einen immer breiteren Raum einnehmen werden. Voraussetzung für den Erfolg ist zudem die erfolgreiche Integration von allen, die hier leben. Die Vielfalt war schon immer eine Stärke an Rhein und Ruhr – auf die ich stolz bin und die über die Zukunft unseres Landes entscheidet.
    Dr. Papke: NRW war und ist ein Land mit enormen Potenzialen. Doch zehn Jahre Rot-Grün haben den Motor unseres Landes nicht nur zum Stottern gebracht, sondern einen regelrechten Motorschaden verursacht. Ein Schuldenberg von 113 Milliarden Euro, Massenarbeitslosigkeit und die größte Pleitewelle, die unser Land je erlebt hat – das ist die Schadensbilanz nach einem Jahrzehnt Rot-Grün. Die schwarzgelbe Koalition hat unser Land in einem denkbar schlechten Zustand übernommen. Aber mit unserer konsequenten Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung haben wir zu einer Aufholjagd angesetzt, um im Wettbewerb der Bundesländer wieder Spitzenpositionen zu belegen. FDP und CDU investieren in die Zukunft, in Bildung, Innovation und Forschung. Unser Reformkurs wird NRW wieder zu einem Land des Aufbruchs und der neuen Chancen machen.

    Hunderttausende haben beim Bürgerfest im August ihre Verbundenheit mit dem Land gezeigt. Andererseits gehen immer weniger Bürger zu den Wahlen. Welchen Ausweg sehen Sie aus diesem Dilemma?

    Stahl: "Den" Ausweg gibt es leider nicht. Demokratie lernen und erleben fängt zu Hause an und in unseren Schulen. Nicht allein die Politik ist gefragt, sondern auch Eltern und Erzieherinnen und Erzieher. Jedoch muss die Politik wieder attraktiver werden. Nicht alles muss so kompliziert diskutiert werden, wie es ist. Wir als Politikerinnen und Politiker in unseren Gemeinderäten bis ins Europäische Parlament sollten öfter die Menschen spüren lassen, dass Politik gestalten Freude macht.
    Kraft: Sinkende Wahlbeteiligungen sind ein Warnsignal. Alle Parteien sind gefordert, ihre Strukturen und Organisationsformen weiterzuentwickeln, damit sie attraktiver werden und sich wieder mehr Menschen dort engagieren. Die Politik insgesamt wird ihren Handlungswillen und ihre Handlungsfähigkeit deutlicher herausstellen und Verlässlichkeit beweisen müssen. Außerdem wäre es gut, mehr in die politische Bildung zu investieren und nicht weniger. Fatal ist in diesem Zusammenhang die angedachte Abschaffung von Stichwahlen.
    Löhrmann: Wir brauchen mehr Glaubwürdigkeit und Authentizität. Die Menschen erkennen genau den Unterschied, ob es einer Politikerin oder einem Politiker um die gute Sache im Interesse der Menschen geht oder nur um das eigene Image und die Karriere. Außerdem wählen Menschen nur, wenn sie glauben, dass sich etwas verbessern kann. Deshalb sind die Parteien gefordert, Lösungen und Visionen für die Zukunftsfragen unserer Zeit aufzuzeigen: Klimawandel, demographische Entwicklung, Gestaltung der Wissensgesellschaft in Zeiten der Globalisierung. Dabei müssen die Sicherungssysteme so gestaltet werden, dass die Menschen wissen und spüren, dass sie vor den Lebensrisiken Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut geschützt sind.
    Dr. Papke: Die Koalition aus FDP und CDU steht für verlässliche Politik. Wir setzen in der Regierungsverantwortung das um, was wir vor der Wahl angekündigt haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem Politikstil, der sich maßgeblich von Rot-Grün unterscheidet, wieder für mehr Vertrauen in die Politik sorgen und die Menschen sich wieder stärker in die Gestaltung unseres Landes einbringen wollen – auch bei Wahlen. Zudem wird die von der schwarz-gelben Koalition eingeleitete Reform des Wahlrechts zu mehr Wahlbeteiligung führen. Die Menschen erhalten durch die Einführung des Zweistimmenwahlrechts die Chance, ihrem politischen Willen gezielter Ausdruck zu verleihen. Sie haben mehr Einflussmöglichkeit und die werden sie auch nutzen.

    Ein politisch ereignisreiches Jahr geht zu Ende. Welche landespolitische Entscheidung hat für Sie die größte Tragweite für die Zukunft von Nordrhein- Westfalen?

    Stahl: Da kann ich nicht nur eine Entscheidung, da muss ich mehrere nennen. Von großer Tragweite sind das neue Schul- und das neue Hochschulrecht. Das wird unser Land Nordrhein-Westfalen verändern – ich bin sicher, zum Guten. Der Unterrichtsausfall an den Schulen konnte fast halbiert werden, und wir haben den Einstieg in den Ausstieg aus der Schuldenspirale geschafft. Erstmals seit Jahren gibt es in 2007 wieder einen Haushalt, wie ihn unsere Verfassung vorschreibt. Das ist ein großartiger Erfolg.
    Kraft: Ich bin der festen Überzeugung, dass die schwarzgelbe Koalition in diesem Jahr insbesondere in dem Bereich Bildung und Erziehung Entscheidungen getroffen hat, die nachhaltige negative Auswirkungen haben werden. Höhere Elternbeiträge für die Kindertagesstätten, weniger Chancengerechtigkeit (Schulgesetz) und die Einführung von Studiengebühren weisen in die falsche Richtung. Anstatt junge Menschen zu fördern und ihnen die größtmöglichen Chancen zu eröffnen, werden Bildungschancen verbaut. Das "Jahr des Kindes" bot eine große Möglichkeit; leider wurde diese nicht genutzt.
    Löhrmann: Mit Schulgesetz und Studiengebühren hat die Landesregierung die soziale Gerechtigkeit in NRW langfristig geschädigt. Gerade in Zeiten, in denen der Staat nicht in allen Lebenslagen den Erhalt des einmal erworbenen Lebensstandards garantieren kann, ist Chancengleichheit – und damit Bildung – die entscheidende soziale Gerechtigkeitsfrage. Diese Chancengleichheit hat Jürgen Rüttgers in diesem Jahr ruiniert: 1. Mit der Aufhebung der Schulbezirke sorgt er für eine Zwei- oder Dreiklassengesellschaft zwischen den Schulen. 2. Mit der nur für das Gymnasium geltenden Schulzeitverkürzung und mit der Stärkung der Hauptschulen auf Kosten der Gesamtschulen zementiert er trotz der PISA-Erkenntnisse ein Schubladen-Schulsystem der Vergangenheit, das Kinder schon mit neun und zehn Jahren aussortiert und Durchlässigkeit systematisch behindert. 3. Mit den Studiengebühren hat er für weniger Studienanfänger gesorgt. Dabei braucht NRW als Land im Strukturwandel mehr Hochqualifizierte. Leidtragende sind die Leistungsfähigen, die keine finanzstarke Familie im Hintergrund haben. Die Landesregierung forciert mit Schulgesetz und Studiengebühren die soziale Spaltung.
    Dr. Papke: Die Erneuerung unseres Landes ist von FDP und CDU erkennbar vorangebracht worden. Wir haben eine Vielzahl von Reformen umgesetzt. Das neue Schul-, das Studienbeitrags- und das Hochschulfreiheitsgesetz sind verabschiedet. Die Ladenöffnungszeiten sind freigegeben, 3.230 zusätzliche Lehrerstellen geschaffen, der Unterrichtsausfall ist drastisch reduziert worden und die Konsolidierung der Landesfinanzen kommt gut voran. Wichtig ist, dass wir den eingeschlagenen Reformkurs weiter konsequent verfolgen, um unser Land zu modernisieren. Eines der bedeutendsten Projekte müssen wir jetzt schultern: das verbindliche Ende des Subventionsbergbaus. Wir wollen in die Zukunft investieren, in Bildung, Forschung und neue Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen, statt weiter Steuermilliarden zu verschwenden.

    Die Fragen stellten Jürgen Knepper und Axel Bäumer.

    ID: LIN02384

  • Mit Toleranz und Lebensart.
    Südliche Rheinregion feiert im Düsseldorfer Parlament.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 15 in Ausgabe 14 - 20.12.2006

    In Westfalen geht das Gerücht, Kölner und Bonner könnten nicht mit den Düsseldorfern. Was der gemeine Nicht-Rheinländer dabei zu übersehen scheint, ist - neben der gemeinsamen Leidenschaft für Karneval - das die Rheinseiten übergreifende Motto "läwe un läwe losse". Auf Hochdeutsch bedeutet das in etwa "Toleranz und Lebensart" - und so war er denn auch überschrieben, der siebte und letzte Regionalabend im Jahr des 60. Landesgeburtstags.
    Es war eine bunte Mischung aus Kulturund kulinarischem Programm, aber auch eine Menge Informationen über die Region des Mittelrheins. "Diese Region ist eine der stärksten Wirtschaftsregionen in Europa", stellte Leverkusens Oberbürgermeister Ernst Küchler stolz fest und verwies auf die 21 Hochschulen und 1,3 Millionen Arbeitsplätze, an denen ein Fünftel des Brutto-Inlandsprodukts von NRW erwirtschaftet wird. Eine Region, in der drei Millionen Menschen ihre Heimat haben.
    "Nicht wenige von ihnen sind Immis, zu deutsch Zugezogene, die es beruflich in diese liebenswerte Region verschlagen hat", wusste Landtagspräsidentin Regina van Dinther als Gastgeberin zu berichten. Als bekennende Westfälin skizzierte sie die Region zwischen Bergheim und Siegburg, Leverkusen und Königswinter als Landstrich "voll wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, wissenschaftlicher Innovationskraft, Kultur vom Feinsten, Spuren römischer Geschichte und landschaftlicher Reize". Sachkenntnis, die nicht nur Ernst Küchler freute: "Die Landtagsabgeordneten haben viel zu entscheiden. Da ist es einfach wichtig, dass alle Abgeordneten alle Regionen dieses Landes kennen." Der Vorsitzende der Region Köln-Bonn e.V. hält die Idee der parlamentarischen Regionalabende für "geradezu genial". Schaffe man doch eine Atmosphäre für entspannte Gespräche und Information.
    Apropos Information: Davon gab es in der Wandelhalle reichlich. Neben dem Sponsor Sparkasse präsentierten sich hier der UNOStandort Bonn, das Max-Ernst-Museum aus Brühl mit seiner neuen Paul-Klee-Ausstellung, sowie Cologne-Bonn-Business und der Verein Region Köln-Bonn. Am Stand der Rheinland- Kultur konnte man eintauchen in die römische Vergangenheit der Region - auch wenn der Niederdollendorfer Reliefstein nur aus Plastik war. Das Original steht übrigens im Rheinischen Landesmuseum in Bonn. Ein Besuch lohnt sich ganz sicher.

    Brauchtum

    Nur ein paar Meter weiter gab es dann Aufklärung über all die Jäger, schwarzen und roten Husaren sowie Marinekameraden, die sich unter die 700 Gäste gemischt hatten. Die St. Sebastianus-Schützen aus Königshoven mit ihren verschiedenen Kompanien waren der beste Beweis dafür, wie sehr man am Rhein doch im Brauchtum verwurzelt ist. "Seltsamerweise haben wir nach der Umsiedlung des Dorfes in Folge des Braunkohleabbaus einen echten Boom zu verzeichnen", berichteten Karl-Heinz Borsch und seine Mitstreiter den Abgeordneten. Die politischen Entscheidungen zum Braunkohle-Tagebau hätten den Alltag ganzer Dörfer verändert. Auch das ist die Region Köln-Bonn.
    Mit dem Bundestambourkorps von 1911 setzten die Königshovener dann auch den ersten musikalischen Paukenschlag des Abends. Auftakt für ein Programm der musikalischen Extraklasse. Von den besinnlichen Klängen des Bonner-Saxophon-Ensembles über Jazz vom Feinsten, dargeboten vom Sebastian Sternal Trio, den virtuosen Gitarrenklängen von Maurice Peter und Romano Franz bis hin zur optisch und akustisch begeisternden Show des Percussion-Ensembles "Notausstieg" - was man mit alten Chemiefässern und Spachteln nicht alles machen kann! Nicht zu vergessen das Kölner Original Linus: Der Entertainer führte nicht nur durchs Programm, sondern begeisterte auch mit Parodie-Einlagen von Sinatra bis zu den Bee Gees. Da blieb dem Nikolaus samt Engelchen nur eine Nebenrolle.
    Es war der gelungene Abschluss eines Jubiläumsjahres. Und für Landtagspräsidentin Regina van Dinther auch Anlass, Danke zu sagen - an die Abgeordneten aus den Regionen, aber auch an über 400 Partner in den Regionen, die die sieben ganz unterschiedlichen Abende erst möglich gemacht haben. "Sie haben eindrucksvoll gezeigt, wie bunt und vielfältig unser Land ist." Obwohl: So ganz vorbei ist es noch nicht. Erst die Region das Bergisches Land wird den Reigen Anfang nächsten Jahres komplettieren.
    vok

    Bildunterschriften:
    Pianist und Bassist des Sebastian Sternal Trios
    Die Präsidentin (r.) und ihre Gäste (v.l.): OB Fritz Schramma (Köln), OB Bärbel Dieckmann (Bonn) und OB Ernst Küchler (Leverkusen).
    Brauchtum in prächtigen Uniformen: Abordnung rheinischer Vereine auf dem Regionalabend.

    ID: LIN02580

  • Die Vielfalt des Niederrheins.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 13 - 06.12.2006

    Nordrhein-Westfalen in den Schlagzeilen: Amoklauf in Emsdetten, Häftlingstod in Siegburg. Landesweit angesichts des Grauens die ratlose Frage: Wie können junge Leute ihren Mitmenschen so etwas antun?
    Von hier aus den Bogen zum Schwerpunkt dieses Heftes zu schlagen, die friedfertige und schöne Landschaft des Niederrheins, kann nicht mit der Behauptung geschehen, "so etwas" käme hier auf keinen Fall vor. Darum nehmen wir einmal an, der bekannte Poet, der den Niederrhein so treffend geschildert und der die Menschen so gut gekannt hat, wäre im letzten Jahr nicht gestorben. Hanns Dieter Hüsch sitzt also auf der Bühne und spult sein Programm wegen Emsdetten und Siegburg eben nicht wie gewohnt ab. Er, der Mann der eher leisen Töne, würde in die Tasten seiner Tischorgel hauen und donnernd die Stimme erheben. Da wäre er wieder, der alte Kämpfer gegen Ungerechtigkeit, Borniertheit und Intoleranz. Die Orgel jault ein letztes Mal auf und Hüsch, der wegen der Heimsuchung seiner schweren Krankheit zuletzt in engem Zwiegespräch "mit dem da oben" stand, würde - was wohl? - die Täter nicht verdammen, sondern den lieben Gott um Verzeihung bitten.
    Premiere
    So kann er sein, der Mensch vom Niederrhein. Das Schicksal mag es nicht immer gut mit ihm meinen, aber sieht immer einen Neuanfang - und wenn der manchmal nur darin besteht, einfach so weiter zu machen wie zuvor. Davon war beim letzten Regionalabend keine Rede; er setzte ganz neue Akzente. Die Textilregion Niederrhein präsentierte sich mit einer Modenschau. Und weil die Hälfte der Models aus dem Parlament kam, vertrug sich diese Premiere prima mit der Würde des Hohen Hauses. Die kulinarische Landschaft Niederrhein war durch einen bekannten Fernsehkoch vertreten. Wem dessen Eintopf zu unverdaulich schien, der konnte sich gleich Rat holen bei der Herstellerin des niederrheinischen Underbergs.
    Die Niederrheiner können auch "ernst". Ihre mittelständisch geprägte Wirtschaft hat sich in lukrativen Nischen eingerichtet und exportiert in aller Herren Länder. Der Niederrhein ist auf dem besten Weg, zum europäischen Logistikzentrum zu werden. Landschaft und Natur beflügeln einen sanften Tourismus. Seine Kulturschätze locken immer mehr Besucher an. Wie sagte noch Hüsch: "Sach ma nix und kumma hier, wie schön dat is!"
    JK

    ID: LIN02532

  • Die in sich ruhende Drehscheibe.
    Eine besondere Region als Gastgeber eines Regionalabends.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 11 in Ausgabe 13 - 06.12.2006

    Von Rommerskirchen bis Emmerich, von Brüggen bis Düsseldorf. Moment, welches Düsseldorf: Düsseldorf-Oberkassel oder Düsseldorf-Erkrath? Wo bitte genau liegt der Niederrhein? Was für eine Frage! Wer so einen leichten und lustigen Abend hinlegen kann, wie das die Region am 15. November in Landtag geschafft hat, der braucht kein fest umrissenes Territorium mit Grenzmarken und Schlagbäumen.
    Niederrheiner ist man durch Geburt oder man wird es durch Einstellung. Fleißig sein, aber auch genau wissen, wann es genug ist. Philosophieren und dabei mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben. Ein unverkrampftes Verhältnis mit den höheren Mächten pflegen. Gut essen und trinken und den eigenen Garten hegen, um die Kraft zu haben, in sich selbst zu ruhen. Mit Humor den Widrigkeiten des Lebens den Stachel nehmen. Sich nicht über Gebühr wichtig nehmen. Man ahnt schon: Wir sollten alle mehr auf den Niederrheiner in uns hören.
    Um so mehr nach der Lektion, die der Landtag am Regionalabend erlebte und die ihn (wer weiß?) vielleicht ein wenig niederrheinischer gemacht hat. Kompliment, ihr Niederrheiner, eine große Vorstellung war das!
    Da liefen echte Models mit Landtagsabgeordneten über den Laufsteg. Feine Pullis, dezente Krawatten, schneeweiße Hemden, elegante Blusen, modische Hosen und Röcke - alles aus der Moderegion Niederrhein. Schick! Riesenbeifall für die Amateure aus der Politik und die Profis aus der Mode.
    Da haderte ein bekannter Fernsehkoch mit seinem Schicksal, weil er aus Sicherheitsgründen auf seinen gewohnten, mit Gas befeuerten Kochherd verzichten musste. Aber wie er das tat - das trieb den Zuschauerinnen und Zuschauern die Lachtränen in die Augen. Der Niederrhein als Hort guten Essens und als Heimat des Humors - guten Appetit!
    Was für eine vielseitige Region! Da kamen Sportler zu Wort und ein Unternehmer, der dem Sport auf die Sprünge hilft. Und ein Sportler, der zum Unternehmer geworden ist. Ferner eine Unternehmerin, die gar nicht daran denkt, trotz verlockender Offerten das von der Familie streng gehütete Rezept für einen bekannten Magenbitter irgendeinem anonymen Großkonzern in den Rachen zu werfen.
    Verbundenheit mit der Region muss nicht provinzielle Selbstbeschränkung bedeuten. Mittelstand ist nicht gleich mittelmäßig. Maschinen, Materialien und Produkte vom Niederrhein wandern in die Welt und haben dort einen guten Ruf, auch wenn sie etwas mehr kosten. Sie sind ihr Geld wert, das weiß man draußen.
    Der Rhein trägt sie davon. Er bringt die Güter der Welt zur Drehscheibe am Niederrhein. Sie werden in Rotterdam angelandet. Per Schiff, Lkw oder auf der Schiene gelangen sie zur weiteren Verteilung zum Logistikstandort Duisburg. Auch der belgische Seehafen Antwerpen ist angebunden. Der "Eiserne Rhein" sucht nur noch sein neues Bett.
    Die vom Wasser geprägte niederrheinische Landschaft ist reich an Naturschönheiten. Kanu und Fahrrad sind die Hauptverkehrsmittel eines schonenden und lohnenden Tourismus. Auch die Wildgänse aus Sibirien und Skandinavien fühlen sich hier wohl und machen Rast für den Winter. In der Gegend haben Römer, Spanier, Holländer, Franzosen und jüngst die Briten mit dem Hauptquartier der "Rhine Army" in Rheindahlen ihre Spuren hinterlassen.
    Vielfalt
    Kunst- und Kulturschätze von herausragender Bedeutung ziehen Menschen aus nah und fern an. Schloss Moyland mit den Werken von Joseph Beuys, der Archäologische Park Xanten, der Altar von Kalkar, das Museum Abteiberg in Mönchengladbach, die Museumsinsel Hombroich, das Europäische Übersetzerkolleg in Straelen. Das Energiezentrum mit seinen Braunkohlevorkommen und Braunkohlekraftwerken, der Steinkohlenbergbau im Raum Dinslaken, die Chemie in Dormagen und Uerdingen. Das Medikamentenhilfswerk "action medeor" hat seinen Sitz in Tönisvorst. Es gibt Gegenden, die haben weniger aufzuweisen.
    Der Niederrhein ist mehr als eine Wirtschaftsregion. Er ist ein Zustand, eine Befindlichkeit. "Überall ist Niederrhein", pflegte der vor einem Jahr verstorbene Poet des Niederrheins, Hanns Dieter Hüsch, zu sagen. Spätestens seit diesem Abend ist der Niederrhein im Hohen Hause angekommen.
    JK

    Bildunterschriften:
    Norbert Killewald (SPD) und Profimodel Simone auf dem Laufsteg.
    Er sprach das Geleitwort sozusagen von oben herab - der verstorbene niederrheinische Kabarettist Hanns Dieter Hüsch grüßte: "Tach zusammen".
    Im Gespräch mit Moderator Bernd Müller (r.): Die Unternehmerin Christiane Underberg und Rolf Königs, Präsident von Borussia Mönchengladbach.

    ID: LIN02533

  • Fasse, Marie-Luise (CDU); Körfges, Hans-Willi (SPD); Keymis, Oliver (Grüne); Brockes, Dietmar (FDP)
    "Wir haben einen niedrigen Schwerpunkt".
    Interviews mit Abgeordneten aus der Region Niederrhein.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-13 in Ausgabe 13 - 06.12.2006

    Der Niederrhein gehört bis heute zu den oftmals unterschätzten Regionen in NRW: Ein "Niemandsland" zwischen Holland und dem Ruhrgebiet? Diesem Vorurteil wollte "Landtag intern" auf den Grund gehen und sprach daher mit Abgeordneten aus der Region, nämlich Marie-Luise Fasse (CDU), Hans-Willi Körfges (SPD), Oliver Keymis (GRÜNE) und Dietmar Brockes (FDP).
    Der Niederrhein zwischen Holland und den Ballungszentren an Rhein und Ruhr – wo hat die Region ihren Platz und wo liegen ihre Entwicklungschancen?
    Fasse: Einer mythischen Überlieferung zufolge soll am Niederrhein vor grauer Urzeit einmal der Garten Eden gewesen sein – irgendwo zwischen den Flüssen Rhein und Maas. Ein landschaftlich etwas monotones und karges Paradies, aber eben auch eine Gegend, die sich ihre Ruhe nicht nehmen ließ. Ruhe ist aber nicht gleichbedeutend mit Stillstand, auch wenn das manch Außenstehender dem Niederrheiner nachsagt. Der Niederrhein liegt in einem zentralen europäischen Entwicklungsraum zwischen der Ruhr, den Niederlanden, Belgien sowie dem Großraum Köln. Er liegt im Schnittpunkt europäischer Verkehrsachsen. Diese Brückenfunktion muss genutzt werden durch die Ansiedlung von Wirtschafts- und Technologieparks und die Förderung von Gewerbegebieten im deutsch-niederländischen Grenzgebiet. Das geht nicht ohne Ausbau der Straßen- und Schienenverkehrsinfrastruktur.
    Gerade der Kontrast zwischen ländlichem Raum und Großstädten macht den Niederrhein attraktiv für Wirtschaft und Wissenschaft. Touristisch hat er eine enorme Vielfalt zu bieten – hier lassen sich Kultur und sportliche Aktivitäten zum Beispiel durchs Radfahren wunderbar verbinden. Diese Stärke und die damit verbundenen Vorteile müssen wir ausbauen und bekanntmachen. Im Kreis Wesel, aus dem ich komme, geht es darüber hinaus darum, den Spagat zu schaffen zwischen dem eher ländlich geprägten Norden und den im Süden ansässigen Industriezentren. Noch immer ist die Agrarwirtschaft im Kreis das Rückgrat des ländlichen Raumes. Damit das so bleibt und den Landwirten ein zweites Standbein das Wirtschaften erleichtert, fördern wir unter anderem die Direkt- und Regionalvermarktung.
    Körfges: Durch die geographische Lage im Herzen Europas kommt der Region eine besondere Bedeutung zu: Man merkt das an der Vielzahl der Verkehrsverbindungen, die wir haben, oder auch nicht haben.
    Ich denke zum Beispiel an den Güterverkehr. Hier haben wir noch erheblichen Nachholbedarf. Jeder, der schon mal zur Hauptverkehrszeit die Strecke von Holland nach Düsseldorf zurücklegen musste, weiß, wovon ich rede. Abgesehen davon ist der Niederrhein eine Region, die sich Wettbewerb und Innovation auf überaus vielfältige Weise stellt: Wurde sie früher nahezu ausschließlich mit der Textil- und Maschinenbauindustrie in Verbindung gebracht, so beherbergt sie heute viele unterschiedliche, hoch spezialisierte und insbesondere mittelständische Industriebetriebe, zum Beispiel im Elektronikbereich. Hier ist weiterhin Mut und Innovationskraft gefragt. Deshalb sind solche dramatischen Entwicklungen wie im Fall BenQ/Siemens Rückschläge, die kaum zu verdauen sind. Weitere Stärken des Niederrheins liegen im touristisch-kulturellen Bereich, ohne dass er zu den klassischen Tourismusregionen zählt. Auch dieser Zweig ist ausbaufähig.
    Keymis: Die Region Niederrhein ist so chancenreich, da sie zwischen den agilen und handelsfreudigen Holländern und dem im Bereich Industrie und Dienstleistung hoch entwickeltem Ruhrgebiet liegt. Zudem befindet sich der Niederrhein im Herzen Nordwesteuropas. Die Region läuft jedoch Gefahr, als reines Transitgebiet wahrgenommen zu werden. Die gesamte Diskussion über die Verkehrsinfrastruktur am Niederrhein – Stichwort Eiserner Rhein oder Betuwe-Linie – macht dies deutlich. Hier besteht tatsächlich noch erheblicher Nachholbedarf. Die Region hat jedoch wesentlich mehr zu bieten: Sie ist aus nordrheinwestfälischer Sicht unmittelbares Bindeglied zu Belgien und Holland. Daraus ergeben sich insbesondere auch Entwicklungschancen bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und im Austausch mit unseren europäischen Nachbarn. Konkret geht es immer darum, voneinander zu lernen. Dabei kommt den Niederrheinern ihre historisch gewachsene Weltoffenheit, Toleranz und Friedfertigkeit zugute.
    Brockes: Der Niederrhein nimmt eine zentrale Mittlerposition zwischen den Ballungszentren Niederlande und Ruhrgebiet ein. Daraus ergibt sich eine Vielzahl an Entwicklungschancen, beispielsweise im Bereich Logistik. Wo wir stärker werden müssen, ist der Bereich der Forschung und Entwicklung. Zwar haben wir mit der Hochschule Niederrhein und der Uni Duisburg-Essen schon die Grundvoraussetzung gegeben. Trotzdem brauchen wir eine stärkere Cluster-Bildung. Überall dort, wo Wirtschaftszweige bereits stark sind, müssen wir auch den dazu gehörigen Forschungsbereich ausbauen. Konkret geht es um die Bereiche Nanotechnologie, Maschinenbau, Agro-Business und mobile Kommunikation, auch wenn BenQ nicht die Erfolgsgeschichte geschrieben hat, die wir uns gewünscht haben. Es gibt jedoch Gegenbeispiele wie die IMST GmbH, die als Entwicklungshaus für Funksysteme und Mikroelektronik im Bereich Kamp-Lintfort ein gut funktionierendes Netzwerk aufgebaut hat. Wünschenswert wäre es, eine Hochschuldependance für den Agrobereich zum Beispiel in Straelen anzusiedeln.
    Vom Niederrhein in die ganze Welt. Braucht die Region die Flughäfen in Weeze und Mönchengladbach?
    Fasse: Die Flughäfen steigern die Wirtschaftskraft der Region. Im Flächenland NRW profitieren alle Regionen und Wirtschaftszweige von kurzen Wegen zum Flughafen und von den damit verbundenen Standortvorteilen. Kooperationen bieten hier die Möglichkeit der Stärkung im Wettbewerb. Der Landtag hat sich auf Antrag von CDU und FDP für den Fortbestand des Flughafens Weeze ausgesprochen. Er zählt mit 589.000 Passagieren in 2005 zu den größten Regionalflughäfen in Deutschland und bietet mehr als 250 Menschen Arbeit. Der Flughafen Mönchengladbach wird weiterhin im arbeitsteiligen Flughafensystem in NRW eine Rolle einnehmen. Seine Bedeutung hängt dabei wesentlich davon ab, inwieweit Kooperationen entwickelt werden können.
    Körfges: Mönchengladbach war zunächst ein Verkehrslandeplatz, der vorwiegend privaten Verkehrsinteressen gedient hat. Erst später rückte die Idee einer Zusammenarbeit mit dem Flughafen Düsseldorf in die politische Diskussion. Ziel dieser Überlegungen war es, den regionalen Flugverkehr auf den Standort Mönchengladbach zu konzentrieren, um neue Kapazitäten für Düsseldorf zu schaffen. Dieses Vorhaben halte ich nach wie vor für sinnvoll. Für den Flughafen Weeze stellt sich die Situation wieder anders dar: Hier geht es darum, mit den Low-Cost-Airlines ein ganz anderes Marktsegment zu bedienen. Es geht also weder in Mönchengladbach noch in Weeze darum, mit dem Standort Düsseldorf in Konkurrenz zu treten. Insbesondere Mönchengladbach soll der Entlastung des Düsseldorfer Flughafens dienen. Die Leistungsfähigkeit des Düsseldorfer Flughafens ist wichtig für ganz Nordrhein-Westfalen. Beide Flughäfen am Niederrhein haben also ihre Berechtigung.
    Keymis: Den Flughafen in Mönchengladbach brauchen wir definitiv nicht! Den Airport in Weeze im Grunde genommen auch nicht. Mit Düsseldorf haben wir den drittgrößten Flughafen Deutschlands, der allerdings jetzt schon an Kapazitätsgrenzen stößt und auch nicht beliebig erweitert werden kann. Hier wird immer wieder Weeze als möglicher Ausweichflughafen ins Gespräch gebracht. Aus Sicht der Grünen verbieten sich diese Überlegungen allein schon aus Gründen der Dramatik des globalen Klimawandels. Ich bin darüber hinaus der Überzeugung, dass der Flugverkehr entgegen den Prognosen vieler Experten in Zukunft nicht mehr so stark zunehmen wird. Wir werden im Gegenteil gezwungen sein, den Luftverkehr wieder zurückzufahren, weil es uns sonst irgendwann zu warm werden wird. Zudem werden die Energiereserven knapper, der Preis für Kerosin wird steigen und spätestens dann wird sich die Frage, ob kleinere Flughäfen sinnvoll sind, erneut stellen. Weeze und Mönchengladbach werden spätestens dann keine Chance mehr haben, Düsseldorf hingegen, mit Rücksicht auf die Nachtruhe, schon.
    Brockes: Mit Düsseldorf hat der Niederrhein einen großen Flughafen in unmittelbarer Nachbarschaft. Gleichwohl hat Weeze enormes Entwicklungspotenzial. Insbesondere für Low-Cost-Fluglinien passt Weeze sehr gut ins Portfolio. Mit Ryanair haben wir ja bereits einen starken Anbieter vor Ort. Darüber hinaus sehe ich auch Entwicklungschancen im Frachtflugverkehr – ein Standbein, dass in Düsseldorf relativ schwach entwickelt ist. Derzeit gilt es jedoch rechtliche Hürden zu überwinden: Das Oberverwaltungsgericht in Münster hat Anfang des Jahres die Genehmigung für die zivile Nutzung in Weeze aufgehoben. Diese Entscheidung ist mittlerweile vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gelandet. Ich hoffe, dass diese Entscheidung gekippt wird und wir am Ende eine bestandsfeste Genehmigung für Weeze haben. Beim Flughafen Mönchengladbach hingegen bleibt die Frage des Bedarfs zu klären. Hier müssen wir den Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung abwarten.
    Spätestens seit Hanns Dieter Hüsch gilt der Niederrheiner als Original. Wie lässt sich die Lebensphilosophie "des Niederrheiners" in wenigen Sätzen beschreiben?
    Fasse: Langmut, Melancholie, Spitzbübigkeit und Sturheit – und noch vieles mehr – halten den Niederrheiner am Leben.
    Körfges: Sich auf wenige Sätze zu beschränken, fällt dem Niederrheiner schon schwer. Ansonsten haben wir einen relativ niedrigen Schwerpunkt, sind also schwer aus der Bahn zu werfen. Darüber hinaus haben wir so etwas wie Mutterwitz, sind weltoffen und trotzdem mit der Region eng verbunden. Der Rheinländer gilt ja aus Sicht der Westfalen als nicht sonderlich zuverlässig. Wir Niederrheiner empfinden uns da als die große Ausnahme.
    Keymis: "Leben und leben lassen" – dieser Satz bringt die Lebensphilosophie der Niederrheiner, glaube ich, am besten auf den Punkt. "Jeder Doll ist anders", ebenfalls ein typisch niederrheinischer Spruch, beschreibt das gleiche tolerante Lebensgefühl. Auf den politischen Bereich bezogen ergibt sich daraus eine ganz andere Streitkultur. Dabei sind die Grenzen zwischen Toleranz und einem gewissen Maß an Gleichgültigkeit fließend. Aber wie "sacht" man am Niederrhein: "Et hätt noch immer joot jejange."
    Brockes: Um mit Hüsch zu antworten: "Der Niederrheiner weiß nichts, kann aber alles erklären." Aber Scherz beiseite: Die Vorzüge des Niederrheiners liegen sicherlich in seiner Toleranz und Weltoffenheit. Gleichzeitig ist er aber auch heimatverbunden. Ich persönlich fühle mich am Niederrhein pudelwohl. Mich hat es daher auch nie in die Ferne gezogen. Das Weiteste war Düsseldorf, wo ich während meiner Ausbildung anderthalb Jahre gelebt habe.
    Die Interviews führten Jürgen Knepper und Axel Bäumer

    ID: LIN02534

  • Ein würdiger Festakt zum 60. Jubiläum.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    Bunte Flaggen, roter Teppich, festlich gekleidete und freudig gestimmte Ehrengäste, die an einer britischen Militärkapelle vorbeidefilierten, die Düsseldorfer Symphoniker, ein fröhlicher Kinderchor. Landtag und Landesregierung hatten zum Festakt in die Düsseldorfer Tonhalle gerufen und viele kamen: Bundeskanzlerin Angela Merkel, Ihre Königliche Hoheit, die Herzogin von Gloucester, Bundesfinanzminister Peer Steinbrück. Prominente und Normalbürger, Abgeordnete und Minister, Bürgermeister und Landräte.
    60 Jahre Nordrhein-Westfalen. Rückblick und Ausblick. Ein demokratisches Gemeinwesen hält kurz inne, um sich seiner selbst zu vergewissern. Mit durchaus gemischten Gefühlen: Stolz auf das in sechs Jahrzehnten Erreichte und ein wenig Unsicherheit darüber, wie es weiter geht.
    Sicher, die Leistungen der Vergangenheit waren enorm. Wiederaufbau der politischen und wirtschaftlichen Strukturen, Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, Vollbeschäftigung. Millionen Menschen haben daran mitgearbeitet, voller Einsatz und voller Zuversicht, dass es aufwärts geht.
    Zuversicht
    Die Festtagsgeigen sind verstummt, die feierlichen Reden verhallt. Der Alltag hat uns wieder. Die Probleme, für einen Abend fast vergessen, kehren zurück. Die Reform der Sozialsysteme, die Folgen der demographischen Entwicklung, Arbeitsmarkt und Globalisierung, Innere Sicherheit und die Integration von Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen - nicht eben klein die aktuelle Agenda politischen und gesellschaftlichen Handelns.
    Aber ist das Anlass zum Jammern und Verzweifeln? Ein Blick zurück muss doch zeigen, dass damals vor sechs Jahrzehnten die Frauen und Männer im Land und im Landesparlament vor einem viel höheren Berg an Herausforderungen standen und dabei nicht wussten, wann sie das nächste Mal wieder satt sein würden. Haben sie resigniert? Nein, sie haben die Dinge angepackt, eins nach dem anderen, zäh, beharrlich und erfolgreich.
    So sind sie für heute Vorbild. Wenn dieser Festakt in der Tonhalle ein wenig von dieser Einstellung auf die Menschen übertragen hat, dann war es ein gelungenes Fest. Musik und Reden sind vorbei, aber die Zuversicht ist ein wenig gestiegen: Glück auf, Nordrhein-Westfalen!
    JK

    ID: LIN02463

  • Mut, Zuversicht, Gottes Segen.
    Landtagspräsidentin kündigt zum Jubiläum Stipendien-Programm an.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 8 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    In einer ebenso feierlichen wie auch fröhlichen Veranstaltung hat der Landtag zusammen mit der Landesregierung an seine Wurzeln erinnert. Die Düsseldorfer Tonhalle war Ort des Festakts unter dem Motto "60 Jahre Nordrhein-Westfalen". 1.200 Gäste aus der Politik – darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel – und dem öffentlichen Leben waren an diesem Oktoberabend gekommen. Eine Einladung hatten auch 100 Bürgerinnen und Bürger erhalten, die am 23. August, dem offiziellen Gründungstag des Landes NRW, Geburtstag haben.
    Landtagspräsidentin Regina van Dinther begrüßte die Gäste. Sie freue sich, sagte sie, dass Repräsentanten aus Rechtsprechung, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der konsularischen Vertretungen und unserer Partnerprovinzen und nicht zuletzt von Bund und Ländern ihrer und Ministerpräsident Rüttgers‘ Einladung gefolgt seien. Unter dem Applaus der Zuhörer fuhr sie fort: "Stellvertretend für alle Gäste heiße ich Bundeskanzlerin Angela Merkel zu unserem Festakt willkommen. Ich freue mich sehr, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie bei uns sind."
    60 Jahre Land und Landtag NRW, das sei den Bürgerinnen und Bürgern zu verdanken, die sich seit sechs Jahrzehnten für unser Land stark machten, "die Vertrauen in die Zukunft unseres Zusammenlebens setzen und heute durch die Bürgermeister und Landräte symbolisch vertreten werden".
    Mit Blick auf den Neuanfang nach der Nazidiktatur erinnerte sie an "unsere engen Freunde aus Großbritannien, die uns den Weg in eine weltoffene und tolerante Gesellschaft geebnet haben. Sie haben uns bei unseren ersten Schritten in die Demokratie fest an der Hand gehalten und uns den Weg schließlich eigenständig weitergehen lassen." Als Vertreterin des britischen Königshauses begrüßte die Parlamentspräsidentin die Herzogin von Gloucester: "Königliche Hoheit, Sie sind uns herzlich willkommen!"
    Über 1.500 Männer und Frauen hätten bisher im Parlament unserer Demokratie gedient, fuhr sie fort und wandte sich an die ehemaligen Abgeordneten, die in die Tonhalle gekommen waren: Sie hätten durch ihre Arbeit die politische Kultur des Landes geprägt. Das geschah anfangs unter erschwerten Bedingungen: Auf Klappstühlen hätten sie bis 1949 in den Düsseldorfer Henkelwerken getagt. Die Hoffnung auf bessere und friedlichere Zeiten sei groß gewesen. "Diese Hoffnung verband die Landespolitiker der ersten Stunde mit den Menschen an Rhein, Ruhr und Weser."
    60 Jahre Freiheit, Vielfalt und Verantwortung – mit diesen drei Worten charakterisierte Regina van Dinther ihren Rückblick. Diese drei Stärken des Landes hätten den Wandel ermöglicht und verliehen auch jetzt in einer globalisierten Welt Mut und Zuversicht zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen. Freiheit gehöre mit zu den wichtigsten Gütern. Die reiche Vielfalt des Landes habe man vor kurzem noch beim Bürgerfest zum Landesjubiläum erleben können. Die Verantwortung zeige sich im Füreinandereinstehen und in der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. "Sie prägen unser Leben mehr als alles andere. Nordrhein-Westfalen ist das Land, in dem Freiheit und Solidarität auch im Lebensgefühl der Menschen untrennbar zusammengehören."
    Dabei sei die Mitarbeit der jungen Generation besonders wichtig. Um der jungen Generation in den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas die parlamentarische Demokratie näher zu bringen, kündigte die Landtagspräsidentin ein vom Landtag finanziertes Stipendien- Programm in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf an. Es werde den Namen eines Politiker tragen, der 40 Jahre Abgeordneter war und den Landtag stets als zentralen Ort seines politischen Wirkens bezeichnet habe: Johannes Rau. An seine Witwe gewandt sagte van Dinther: "Verehrte Frau Christina Rau, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihr Einverständnis zu diesem Stipendien-Programm. Es wird damit bleibend und gestaltend an Johannes Rau erinnern."
    Die Landtagspräsidentin schloss mit den Worten: "Lassen Sie uns weiterhin mit Freude das Zusammenleben in Nordrhein-Westfalen gestalten! Hierzu wünsche ich allen Mut, Zuversicht und Gottes Segen!"

    ID: LIN02471

  • Nichts ererbt, alles erarbeitet.
    "Liebeserklärung" des Ministerpräsidenten an Nordrhein-Westfalen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    Was ist das Besondere an Nordrhein-Westfalen? Ministerpräsident Jürgen Rüttgers begab sich in seiner Festrede auf die Suche nach Antworten auf diese Frage – und wurde dutzendfach fündig.
    "Zum 60. Geburtstag fallen Liebeserklärungen nicht mehr so pathetisch und stürmisch aus wie in jüngeren Jahren", stellte Rüttgers fest. Und trotzdem gab er seine "persönliche Liebeserklärung" an das Land Nordrhein-Westfalen und seine Bürgerinnen und Bürger ab: "Ich mag die Menschen mit ihrer direkten, schnörkellosen Art, mit ihrer Bereitschaft für alles Neue, mit ihrem Sinn für das Schöne im Leben, mit ihrem wachen Geist, mit ihren weiten Herzen und mit ihren festen Händen, mit ihren Ideen, mit ihrem Geist und ihrem Witz, mit ihren Fähigkeiten und Talenten, mit ihrer Zuversicht, ihrem Gottvertrauen und ihrer Bescheidenheit, mit ihrer Beharrlichkeit und mit ihrem Willen zum Aufstieg, mit ihrem gesunden Empfinden für Gerechtigkeit und Fairness und mit ihrer Offenheit für die Zukunft, die uns aus den Gesichtern unserer Kinder entgegenstrahlt."
    Weiter lobte er das Zusammengehörigkeitsgefühl und das "Landesbewusstsein" in NRW: "Wir bleiben Rheinländer, Westfalen und Lipper – aber wir sind gleichzeitig Nordrhein- Westfalen, Deutsche und Europäer." Möglich mache dies die Haltung der Menschen – "weltoffen und zugleich heimatverbunden". Nordrhein-Westfalen sei nur scheinbar ein beiläufig entstandenes Stück Weltgeschichte. "Hier, in den Städten am Rhein und in Westfalen, entfaltete sich der Geist des freien Bürgertums, der Geist von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung." Die Ablehnung von Obrigkeitsstaat und Zentralismus und das Bekenntnis zur Freiheit habe hierzulande eine lange Tradition. Rüttgers: "Unsere Identität gründete zu keiner Zeit auf mehr Geld, mehr Macht und mehr Waffen, sondern sie gründete auf einem Mehr an Menschlichkeit."
    Mit seinen 18 Millionen Menschen gehöre NRW heute zu den wirtschaftlich stärksten Ländern in Europa. Innerhalb Deutschlands nehme das Land als Standort für Dienstleistungen, Medien, Energie, Chemie, Versicherungen und als Sportland zudem eine Führungsposition ein. "Aber obwohl wir aufgestiegen sind, sind wir doch nicht abgehoben", sagte Rüttgers. In Zukunft gehe es nun darum, auch noch "Innovationsland Nr. 1" zu werden.
    Gleichzeitig hob Rüttgers den Stellenwert Nordrhein-Westfalens als eine der "größten und bedeutendsten Kulturregionen der Welt" hervor. Allein das Ruhrgebiet mit seinen mehr als 200 Museen, 100 Kulturzentren, 100 Konzerthäusern, 120 Theatern, 250 Festivals und Festen sowie 3.500 Industriedenkmalen spiele "in derselben Liga wie London und Paris". Dabei sei NRW nie "ein Land der Schlösser, der Dynastien, der Junker und Großgrundbesitzer" sondern ein Land der Arbeiter und Bürger gewesen. "Wir haben nichts ererbt, sondern alles erarbeitet", konstatierte Rüttgers.
    Ins Zentrum seiner Rede stellte Rüttgers die Integrationskraft des Landes: Beweis dafür sei die Integration von vier Millionen Menschen, die allein zwischen 1870 und 1950 ins Ruhrgebiet eingewandert sind. "Wir grenzen nicht aus – wir reichen die Hände; wir machen aus Fremden Freunde – weil sie dann nicht mehr fremd sind", so der Ministerpräsident.
    Darüber hinaus erfülle es ihn mit Stolz, dass trotz der traumatischen Erfahrungen zu Zeiten der Nazi-Barbarei heutzutage jüdische Zuwanderer aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion wieder verstärkt in Nordrhein- Westfalen eine Heimat fänden. Wegbereiter für diese Wiederannäherung und die Aussöhnung mit Israel seien Johannes Rau und Paul Spiegel gewesen, deren Engagement er ausdrücklich lobte. Diese Tradition wolle man fortführen: In Kürze werde NRW daher einen neuen Staatsvertrag mit den jüdischen Landesverbänden unterzeichnen und die finanziellen Leistungen für die 19 jüdischen Gemeinden erhöhen.
    Gleichzeitig mahnte Rüttgers, das integrative Engagement auch künftig nicht abebben zu lassen: "Integration ist eine unserer großen Zukunftsaufgaben." Das gelte für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ebenso wie für Langzeitarbeitslose, "die man jetzt ‚'Unterschicht' nennt", und vor allem für Kinder, die in Armut aufwachsen. "Wir dürfen die Spaltung unserer Gesellschaft nicht zulassen."
    Rüttgers schloss mit dem Appell: "Tun wir alles, damit Nordrhein-Westfalen auch künftig das Land von Freiheit und Gerechtigkeit, von Aufstieg und Sicherheit, von Miteinander und Füreinander ist. Glück auf!"

    ID: LIN02472

  • Wohl gefühlt in NRW.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel rühmt die Rolle des Landes.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 10 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    Begrüßt am roten Teppich von Landtagspräsidentin Regina van Dinther, entstieg die Bundeskanzlerin gut gelaunt ihrem Wagen. Unter Beifall betrat sie die Tonhalle am Rheinufer und nahm in der ersten Reihe Platz, zwischen Regierungschef Jürgen Rüttgers und Regina van Dinther. Sie brachte an diesem Festabend nicht nur gute Laune, sondern auch Humor mit. Angela Merkel gelang es in ihrer Rede den Bogen vom "Wunder von Bern" zum Wirtschaftswunder zu schlagen – an beiden Wundern hatte Nordrhein-Westfalen, wie die Kanzlerin ausführte, erheblichen Anteil.
    Sie in Nordrhein-Westfalen, Sie sind ein starkes Stück Deutschland!" Mit diesem Kompliment beendete Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Rede. Soll man sagen: vor vertrauter Kulisse? Immerhin hat die politisch mächtigste Frau Deutschlands fast neun Jahre als Ministerin in Bonn gearbeitet. Diese Zeit hat ihre Spuren hinterlassen: "Mich verbindet mehr mit diesem Land, als ich mir erträumt habe", bekannte sie am Rednerpult in der Düsseldorfer Tonhalle. Und setzte noch eins drauf: "Ich habe mich hier immer wohl gefühlt." Um im Rest der Republik keinen Neid aufkommen zu lassen, beeilte sie sich hinzuzufügen, dass sie den anderen 60 Millionen Deutschen gratuliere, "die es auch noch gibt".
    Nordrhein-Westfalen sei wirtschaftlich und politisch eine Erfolgsgeschichte. "Hier schlägt das Herz der Republik, sagen manche", fuhr sie fort. NRW und der Bund waren und seien in Zukunft eng verknüpft. Das Land sei ein Beispiel für starke und selbstbewusste Bundesländer, die eine wichtige Rolle als Impulsgeber für die Entwicklung Deutschlands spielten. Sie verweilte noch ein wenig beim Föderalismusgedanken, dem sie das Verdienst zusprach, zur demokratischen Stabilität in Deutschland beigetragen zu haben. Sie sei überzeugt, dass "die Akzeptanz von politischen Entscheidungen in den vergangenen 60 Jahren ohne die Existenz der Länder nicht denkbar ist". Mit der Föderalismusreform hätten die Bundesländer wieder wichtige Entscheidungsmöglichkeiten zurückbekommen. Nun müssten in einem zweiten Schritt die Finanzbeziehungen klarer geregelt werden. Zentralistischen Tendenzen erteilte Merkel eine Absage: Entscheidungen müssten so nah wie möglich bei den Menschen bleiben.
    Eine Erfolgsgeschichte sei Nordrhein-Westfalen auch personell. Es gebe maßgeblichen Einfluss vieler Persönlichkeiten aus NRW auf die Bundspolitik. Allein vier Bundespräsidenten stammten aus dem Land: Lübke, Heinmann, Scheel und Rau. Augenzwinkernd: "Und Helmut Rahn, der 1954 mit dem 3:2 das Wunder von Bern besiegelte, kam aus Essen!" Die Halle applaudierte enthusiastisch.
    Dann wandte sich die Kanzlerin der Rolle Großbritanniens zu. Die Gründung Nordrhein- Westfalens sei eine weitsichtige Entscheidung der britischen Militärverwaltung gewesen. Sie blickte dabei in Richtung der Herzogin von Gloucester, die in der ersten Reihe saß: "Herzlichen Dank für die Gründung des Landes und die Partnerschaft."
    "Nordrhein-Westfalen ist ein Land der Vielfalt im besten Sinne." Integration sei neben der Fähigkeit zum Wandel eine der herausragenden Eigenschaften, der "Aktionsplan Integration" sei ein wichtiger Schritt zum Integrationskonzept für ganz Deutschland, sagte die Bundeskanzlerin: "Integration kommt auf die Tagesordnung", kündigte sie an. NRW beweise immer wieder, wie viel Integrationskraft in diesem Land stecke.
    Nach ihrer Rede hatte Angela Merkel noch Zeit, für einen Fototermin mit den Journalisten. Junge Leute aus Hattingen, Ratingen und Solingen, die im Chor zusammen mit Bariton Sebastian Klein und den Düsseldorfer Symphonikern das NRW-Lied ("Oh, du schönes Nordrhein- Westfalen") gesungen hatten, nahmen zum Erinnerungsbild die Kanzlerin in ihre Mitte.

    ID: LIN02473

  • Glück auf, Glückwunsch, alles Gute!
    Finanzminister Steinbrück würdigt das Land und seine Menschen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 11 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    Wer den respektvollen Umgang der beiden miteinander am Tag des Wechsels miterlebt, wer die Geste gesehen hat, wie der neue dem alten Ministerpräsidenten dankte und ihm zum Amtswechsel einen Blumenstrauß überreichte, der vermochte nachzuvollziehen, wer beim Festakt auch das Wort ergreifen würde: Peer Steinbrück (SPD), Finanzminister der Großen Koalition in Berlin, als NRW-Regierungschef, Vorgänger des jetzigen Amtsinhabers Jürgen Rüttgers (CDU).
    Der aus Norddeutschland stammende Steinbrück stimmte ebenfalls das Loblied auf die Menschen im Land an. Wenn man ihn frage, "was für mich Nordrhein-Westfalen ausmacht, dann lautet meine erste Antwort: Das sind die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes". Sie hätten in dem "Bindestrich- Land" ein immer stärkeres Wir-in-Nordrhein- Westfalen-Gefühl entwickelt: "Wir in Nordrhein- Westfalen leben gern hier, weil unser Land lebenswert ist, ohne Muff und ohne Mief, tolerant und weltoffen." Die Menschen gingen auf direkte Art miteinander um, "ohne viel Aufhebens, aber mit beinahe selbstverständlicher Solidarität".
    Das Land habe mit gewichtigen Problemen zu kämpfen – Steinbrück nannte aus letzter Zeit die in Schwierigkeiten geratenen BenQStandorte Bocholt und Kamp-Lintfort. Die Schwierigkeiten und der daraus erwachsende Anpassungsdruck führten zu Verlierer- und Verlustängsten. Aber NRW sei auch ein Land, "das Dank seiner Menschen Herausforderungen in einer Dimension und Tiefe bewältigt hat, die kaum ein anderes Land in Europa, kaum eine vergleichbare andere klassische Industrieregion bewältigen muss oder bereits gut bewältigt hat". Beim Strukturwandel im Ruhrgebiet sei sicher nicht alles, aber doch vieles gelungen: "Und daran haben viele Menschen ihren ganz besonderen Anteil. Sie haben dazu beigetragen, dass in diesem Land soziale Zerreißproben und Erschütterungen vermieden werden konnten."
    Bei seinen Reisen durchs Land und bei seinen Gesprächen mit den Menschen habe er, Steinbrück, eine Kombination aus Verantwortungsbewusstsein für das Ganze und aus persönlicher Integrität kennen gelernt, "die sprichwörtlich für dieses Land Nordrhein-Westfalen ist und aus der es bis heute viel Kraft bezieht. Es ist dieses Gemeinschaftsgefühl, diese Mischung aus Realismus und Veränderungsbereitschaft, Zupacken und Lebensfreude, Lokalpatriotismus und Toleranz, die Nordrhein-Westfalen für mich ausmacht."
    Aber es seien auch die "sozialen Fliehkräfte" anzusprechen, etwa zwischen Einheimischen und Zugewanderten oder zwischen Menschen, die Arbeit haben und Erwerbslosen. Da stelle sich die Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Politik müsse sich stark engagieren, aber sie könne nicht alles bewirken. Sie brauche eine Zivilgesellschaft, die soziale Verantwortung übernimmt, "also Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich ehrenamtlich engagieren" – und so ihren persönlichen Beitrag zum Zusammenhalt des Landes leisteten.
    NRW sei schon lange vor seiner Gründung ein Einwanderungsland gewesen. Seit 150 Jahren finde hier Integration statt, mit ihren Chancen und Spannungen. "Auch in der Frage, wie erfolgreiche Integration gelingen kann, hat Nordrhein-Westfalen anderen Ländern wichtige Erfahrungen und wichtige politische Schritte voraus", betonte Steinbrück und erinnerte an das Politikverständnis von Johannes Rau, miteinander ins Gespräch zu kommen und gemeinsam zu handeln aus gemeinsamer Verantwortung. So habe das Land eine gute Zukunft.
    "Es kommt auf die Menschen an, und wir wissen: Es kommt viel auf sie zu, was mit den Stichworten Globalisierung, Modernisierung oder Reformen nur unzureichend, vielleicht missverständlich und mit einem für viele doch eher bedrohlichen Unterton beschrieben wäre", blickte der Gastredner voraus: "Alle, denen die Zukunft Nordrhein-Westfalens am Herzen liegt – Staat und Politik voran –, stehen in der Verantwortung, die Menschen in die Lage zu versetzen, Neues nicht nur zu erdulden, sondern sie zu befähigen, die Chancen der Veränderung zu nutzen, so schwierig das oft ist."
    Damit das gelingen könne, gebe es zwei Schlüsselbegriffe: Bildung und Solidarität. Bildung für alle sei ein Ziel, für das sich alle Mühe Lohne. Solidarität schließlich habe in NRW viele Formen und Gesichter. "Solidarität hat bei uns in Nordrhein-Westfalen Tradition. Und mehr als das: Sie ist Wirklichkeit." Der Minister: "Glück auf, herzlichen Glückwunsch und alles Gute, Nordrhein-Westfalen!"

    ID: LIN02474

  • Die Queen ließ Grüße ausrichten.
    Herzogin von Gloucester: Enge Bande zwischen England und NRW.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    Die Cousine überbrachte die Glückwünsche: Birgitte Herzogin von Gloucester grüßte im Namen der englischen Queen Elizabeth II. und richtete die guten Wünsche der Königin zur Zukunft des Landes aus. Es sei ihr ein "großes Vergnügen und eine hohe Ehre", das Vereinigte Königreich bei diesem besonderen Jubiläum zu repräsentieren, begann Her Royal Highness die Rede.
    Die Herzogin dankte für die Worte von "Chancellor Merkel" zur Rolle der Briten bei der Gründung von Nordrhein- Westfalen. Das Vereinigte Königreich habe eine besonders enge Verbindung mit diesem Teil Deutschlands gehabt, sagte die Herzogin und erinnerte an den Beitrag britischer Ingenieure an der frühen Entwicklung des Ruhrgebiets. Dieser gegenseitige Austausch von Technik und Wissen bestimme noch heute die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich, Nordrhein- Westfalen und ganz Deutschland.
    Nach dem Krieg waren in der britischen Zone in Deutschland zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen. Es gab die schwersten Kriegszerstörungen und das wiederum stellte das Nachkriegsbritannien finanziell vor eine riesige Herausforderung, bekannte die Herzogin. Aber es sei in beiderseitigem Interesse gewesen, aus diesen Zonen so schnell wie möglich demokratische und wirtschaftlich prosperierende Regionen zu bilden.
    Mit Erfolg: "North Rhine-Westphalia soon became the powerhouse of the German economic miracle." Bis heute leiste das Land den größten Beitrag zum deutschen Bruttoinlandsprodukt. Die persönlichen Beziehungen seien eng, es gebe derzeit rund 140 nordrhein-westfälisch- britische Städtepartnerschaften. In der Stadt Köln stellten die Briten die größte ausländische Besuchergruppe. Es seien noch immer 20.000 britische Soldaten stationiert. 300 britische Firmen investierten hier und hätten damit an die 50.000 Arbeitsplätze geschaffen.
    Der Besuch der Königin vor zwei Jahren sei der deutlichste Beweis für die engen Beziehungen. Auf Deutsch schloss die Herzogin: "Dankeschön und alles Gute in der Zukunft!"

    Bildunterschrift:
    Musikalischer Salut vor Königlicher Hoheit: Herzogin von Gloucester (l.).

    ID: LIN02475

  • Per Aktennotiz zur Hauptstadt geworden.
    OB Erwin: Stadt und Land feiern heute Diamantene Hochzeit.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12 in Ausgabe 12 - 15.11.2006

    Als oberster Repräsentant der Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger (sowie als Hausherr der Tonhalle) unternahm es Oberbürgermeister Joachim Erwin, die Rolle Düsseldorfs als Landeshauptstadt zu beleuchten ("Zug- und Paradepferd des Landes") und zugleich des größten Sohns der Stadt, des "Querdenkers" Heinrich Heine, zu gedenken. Das Land ist in diesen Wochen 60 geworden, der Dichter vor 150 Jahren im fernen Paris gestorben.
    Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön. Ich bin dort geboren und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehen" – dieses Zitat aus den Reisebildern Heines wertete der OB als Beweis für die Selbstgewissheit des Poeten. Erwin weiter: "Ganz im Gestus des großen Sohnes der Stadt wuchs Düsseldorf in schwierigen Zeiten ungemein schnell und selbstsicher in seine Rolle als Landeshauptstadt hinein."
    Heute sei Düsseldorf wirtschaftlich stark und kulturell auf höchsten Niveau; die ganze Welt fühle sich in der traditionsgebunden Stadt am Rhein wohl. All das schaffe die Stadt "mit einer Leichtigkeit, der man die Anstrengung nicht ansieht".
    Dabei seien die Anfänge alles andere als leicht und vielversprechend gewesen: "Per Dekret hatte die britische Regierung einebunte Mischung von Landsmannschaften zusammengepackt, als sie das neue Land NRW aus der Taufe hob." Diese Operation habe den sprechenden Namen "Marriage" (Hochzeit) geführt. Erwin: "Unterdessen ist aus der unromantisch herbeigeführten Verbindung eine liebenswerte und leistungsstarke Familie geworden."
    Per Aktennotiz sei Düsseldorf "en passant" zur Landeshauptstadt gemacht worden. "Beschlossen und gut geheißen", beschied der Redner, um gleich an ein altes Versäumnis zu erinnern: "Offiziell wurde die Stadt nie von ihrer Ernennung zur Landeshauptstadt unterrichtet".
    Damit ließ es der Oberbürgermeister am End seiner Ansprache aber nicht bewenden. Ein wenig schien er sich zu wundern: "Wer hätte das gedacht – Stadt und Land feiern heute stolz und froh Diamantene Hochzeit! Herzlichen Glückwunsch!"

    Bildunterschrift:
    Gastgeber, Gast und Hausherr: Bundeskanzlerin Merkel, Präsidentin van Dinther, Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und OB Joachim Erwin (v.r.).

    ID: LIN02476

  • Nordrhein-Westfalen und die Welt.
    Editorial / Kommentar / Blickpunkt;
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 2 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    und die Welt Nordrhein-Westfalen ist 60 Jahre alt. Ein junges Land also mit einer kurzen Geschichte? Irrtum! Der Name NRW mag neu sein, aber die Region hat in 21 Jahrhunderten mehr als einmal die Welt bewegt.
    Kurz nach Christi Geburt verhinderte im Teutoburger Wald ein Cherusker, dass Germanien restlos römisch wurde. 800 Jahre später wurde unter Karl dem Großen mit seiner Residenz in Aachen ansatzweise so etwas wie eine deutsche Nation sichtbar. Später kam der Westfälische Frieden von Münster, der ein europäischer Vertrag war. In Bonn wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik ausgearbeitet. Mit dabei der "Alte aus Rhöndorf", Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik aus Nordrhein-Westfalen.
    Von geistigen Leistungen aus der Region ganz zu schweigen. Wer kennt nicht die anrührenden Lieder eines Grafen von Spee und seinen Kampf gegen die Verirrung der Hexenprozesse. Peter Paul Rubens hat die ersten Jahre nach seiner Geburt in Siegen verbracht. Heinrich Heine, der im französischen Exil gestorbene Patriot, wurde in Düsseldorf geboren. Bonn war die Heimatstadt Beethovens. Der Entdecker der Röntgenstrahlung stammt aus Remscheid.
    Miteinander
    All das schwingt mit, wenn es um Nordrhein- Westfalen geht. Und um das Miteinander seiner Menschen, der (alphabetisch geordnet) Lipper, Rheinländer und Westfalen. "Es ist furchtbar, aber es geht", meinen die Kabarettisten. Was ist daran furchtbar, dass der Westfale hält, was der Rheinländer verspricht? Und dass nebenbei der sparsame Lipper den Draht erfindet, weil er jeden Pfennig, bevor er ihn ausgibt, so lange zwischen den Fingern dreht?
    Schauen wir in den Spiegel: Das Kleid NRW passt uns doch perfekt. Den Schnittmusterbogen haben die Briten geliefert. Die Politiker im Landtag haben daraus in sechs Jahrzehnten ein Gewand geschneidert. Das saß nach dem Krieg wie angegossen, warf höchstens ein paar Falten und war von schlanker Silhouette. Dann kam das Wirtschaftswunder und die Nähte mussten herausgelassen werden. Jetzt sind, nachdem wir nicht mehr so aus dem Vollen schöpfen können, wieder ein paar Abnäher angesagt. Aber Stoff und Muster sind frisch wie ehedem: Demokratie ist keine Modeerscheinung, sondern ein Dauerzustand, um den man zu ringen hat und den es zu bewahren gilt.
    JK

    ID: LIN01294

  • Dinther, Regina van (Landtagspräsidentin)
    Ein Land in Bewegung.
    Sonderausgabe zum Landtagsjubiläum.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 7-8 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Auf 60 Jahre blicken das Land Nordrhein-Westfalen und sein Landtag zurück. Diese Sonderausgabe ist diesem Jubiläum gewidmet. In den sechs Jahrzehnten von 1946 bis 2006 haben 1.527 Abgeordnete die Menschen aus Nordrhein-Westfalen im Landtag in Düsseldorf vertreten, um Probleme der Gegenwart zu lösen und Entscheidungen für die Zukunft des Landes zu treffen. Die erste Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen fand am 2. Oktober 1946 im Düsseldorfer Opernhaus statt. Die damaligen Abgeordneten waren nicht gewählt, sondern von der britischen Besatzungsmacht ernannt. Und doch war dieser Tag der demokratische Neubeginn für das neue Land Nordrhein-Westfalen. Heute können wir feststellen, dass das zunächst "künstliche" Land Nordrhein-Westfalen längst zu einer organischen Einheit geworden ist, in dem sich die Menschen wohlfühlen. Mittlerweile wurden die Abgeordneten 14 Mal von den wahlberechtigten Nordrhein-Westfalen in das Landesparlament in Düsseldorf gewählt. Die Abgeordneten sind die Repräsentanten der Bevölkerung und die Ansprechpartner für die Bürgerinnen und Bürger. Sie vertreten nicht nur ihre Wahlkreise, sondern heute 18 Millionen Menschen in unserem Land. Sie sind gewählt und nicht erwählt. Dabei hat eines die nordrhein-westfälischen Volksvertreter immer verbunden, gleichgültig ob Rheinländer, Westfalen oder Lipper. Nämlich der gemeinsame Wille, das Land Nordrhein-Westfalen nach vorne zu bringen und in eine gute Zukunft zu führen. Das ist der Grundkonsens, der selbst bei harter Auseinandersetzung in der Sache über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg dafür sorgt, dass die Interessen des Landes NRW im Mittelpunkt stehen. Die heutigen Abgeordneten müssen beweisen, dass sie fähig sind zu Reformen. Es gilt, in Zeiten der Globalisierung zeitgemäße Antworten zu finden und die Interessen des Landes NRW und seiner Menschen im Konzert der Länder, im Miteinander mit der Bundespolitik im Europa der Regionen zu wahren.

    Bildunterschrift:
    Gemälde der Landtagspräsidenten aus der Wandelhalle des Landtags

    ID: LIN02150

  • Zwischen gestern und morgen.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 9-11 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Der nahezu 80-jährige Alterspräsident der Gründerversammlung, Peter Zimmer, musste unmittelbar vor der Geburtsstunde des ersten, gleichwohl nicht frei gewählten Landtags Rede und Antwort stehen, – dem von der KPD entsandten und durch die Militär-Regierung genehmigten Vertreter Karl Schabrod. Der ab 1934 bis 1945 in Hitlers Gefängnissen misshandelte Edel-Kommunist wollte von Zimmer nur wissen: "Warum Coriolan und nicht Fidelio?" Beethovens Ouvertüre Coriolan, zur Eröffnung des Landtags doch angemessen, wie Zimmer bedeutete, gelte dem Gleichnis eines Mannes, der seine Vaterlandsliebe mit dem Leben bezahlen musste, so in der Oper. Tischler und Journalist Schabrod ließ Galgenhumor aufblitzen: "Da habe ich ja wohl noch Glück gehabt."
    Die Gründerversammlung von Englands Gnaden fasste an jenem grauen Oktobertag 1946 die verschiedensten Gruppen und Charaktere zusammen: Kriegs-Invaliden, KZ-Überlebende, NS-Mitläufer, Vertriebene und auch NS-Nutznießer. Umso empörter Parteifreunde des Sozialdemokraten Carl Severing: Die Militär- Regierung sperrte ihn aus, weil er 1932 als Innenminister von Preußen dem Putsch der Demokratie-Feinde auswich: "Ich weiche nur der Gewalt!" Genugtuung empfand Severing jedoch 1947, als der Prominente in seinem Bielefeld mit großer Mehrheit in den nun frei zu wählenden Landtag entsandt wurde, ebenso wie sein Gerechtigkeits-Kämpfer, der Zeitungsverleger Emil Groß.
    Konrad Adenauer und Carl Severing, zwei Parteien, zwei Welten, und doch gemeinsam ihr Schicksal der Verdammten in verfluchten NS-Zeiten. Aber Adenauer (CDU) wollte keine Große Koalition, er wollte die Macht allein und schon gar nicht mit seinem gewerkschaftsnahen Karl Arnold teilen. Adenauer-Urteile über ihn bedrückend, beleidigend. Frontal ging der Machtmensch gegen die Zentrumspartei (DZP) vor, gegen Parteifreunde aus der Weimarer Zeit. Amelunxens Signal, seine Parteilosigkeit aufzugeben und den bedrängten Katholiken das politische Überleben zu ermöglichen, erfreute den Klerus, doch der Landtag überließ das eigentümliche Schisma der Gleichgültigkeit. Millionen rangen ums nackte Überleben, der Gesetzgeber musste Ordnung schaffen, Ernährung, Unterkunft und soziale Gerechtigkeit organisieren, den Staatsaufbau nicht nur in den Mund, sondern in die Hand nehmen.
    Die Ruhr-Angst
    Der Landtag in diesem Katastrophen-Jahrhundert "quälte" sich, so der kernige Kölner Robert Görlinger. Das Parlament darbte mit, die Tagesration: zwei Scheiben Graubrot, 20 Gramm Fett, ein Löffel Marmelade, zwei Tassen Muckefuck. Erik Nölting jedoch fahndete nur nach Schreibpapier, der Paderborner Johannes Gronowski, einstmals Oberpräsident, freute sich über einen Bleistift. Heinrich Lübke besaß eine Aktentasche und musste den falschen Verdacht ertragen, Butterbrote aus dem Sauerland mitzubringen. Tabak-Krümel in einer aus Zeitungspapier gedrehten Zigarette, "ein Hochgenuss", wie Karl Matull allen Ernstes meinte. Die Abgeordneten-Diät: 200 Reichsmark!
    Aus dem Ruhrgebiet indes Töne neuen Erschreckens, die Fritz Henßler in der zerschundenen Region analysierte: Sowjetunion und Frankreich strebten nach restloser Ausbeutung sowie territorialen Veränderungen. Der Landtag einig in der Abwehr, nur die KPD abseits.
    Schneller als gedacht entwickelte sich lebensnotwendige Vernunft mit der britischen Siegermacht, nachdem die ersten drei Landtagspräsidenten Ernst Gnoß, Robert Lehr sowie Josef Gockeln die Besatzer fortwährend beschworen. 75 Millionen Pfund spendeten die Engländer, die erste Rate noch vor dem dollarschweren Marshall-Plan.
    Im Landtag jagten sich die Konferenzen Tag und Nacht, aufopfernd die wahren Volksvertreter, zwölfstündiges Anreisen, zehn Stunden andauernde Sitzungen. Da fragte doch einmal ein Pastor Emil Marx, ob er denn gar nicht in die Bibelstunde käme. Der fromme Christ: "Erst kommt’s Fressen, dann der Choral!" Der Abgeordnete hungerte nicht allein. Amelunxen indes stieß sich an Manieren einiger Offiziers- Gäste. Die Herren legten gern ihre Füße auf den Tisch, tadelte Amelunxen: "Kommiss-Köppe!" Feiner hingegen hohe Zivilbeamte aus London, Mitglieder der CONTROL-Kommission. Einer von ihnen Michael Thomas; er visitierte Franz Blücher und berichtete seinem Chef General Templer in Bad Oeynhausen: Der FDP-Politiker sei "eitel, stieselig, ein Buchhalter".
    Blücher und Freund Friedrich Middelhauve haben jedenfalls die FDP-Krise nicht erkannt. Über Nacht verhaftete die Militär-Polizei in Düsseldorfs Umgebung Goebbels’ ehemaligen Staatssekretär Naumann und Hintermänner. Secret Service konstatierte "Unterwanderungen" bei den Liberalen, zumal ihr Landtagsabgeordneter Ernst Achenbach, Ribbentrops Gesandter in Paris, gleich nach 1945 wie Phönix aus der Asche herumflog. Umtriebe am Rand schadeten auch Unbescholtenen wie Willi Weyer. Dieser Hüne von Gestalt sollte angeblich SS-Mann gewesen sein, sein wirklicher Rang: Unteroffizier der Flakartillerie. Er wurde stellvertretender Ministerpräsident an Fritz Steinhoffs Seite, jener Mann mit zerfurchtem Bergmanns- Antlitz und dem Leibspruch: "Butter bei die Fische!"
    Der traurige Sieg
    Die erste SPD/FDP-Koalition hatte nach Karl Arnolds Sturz keinen Bestand, das Schicksal schlug unbarmherzig zu. Arnold erlag im Wahlkampf dem Herztod, und seine CDU errang die absolute Mehrheit. Es kam Franz Meyers, kein Reformator, wohl aber ein exzellenter Administrator mit Witterungen für Zeitströmungen. Als erster und einziger CDU-Prominenter forderte er die Aufhebung des KPD-Verbots. Josef Hermann Dufhues griff ihn scharf an. Meyers revanchierte sich: "Zeit meines Lebens hat er nicht vergessen und mir nicht verziehen, dass er bei der Wahl zum Ministerpräsidenten unterlegen war." Und noch eines wusste Meyers genau: Käme der Rivale Heinz Kühn erst an die Macht, würden die Sozis mindestens 30 Jahre regieren... Warum, wieso? Die parlamentarische Fachelite von Christine Teusch bis Fritz Holthoff, von Josef Hofmann bis Heinz Kühn, von Paul Mikat bis Johannes Rau, von Wilhelm Lenz bis Wolfgang Brüggemann verstrickte sich in leidenschaftliche Gegensätze und Glaubenskämpfe um 2.000 Zwergschulen sowie um das überfällige Ende staatlicher Konfessionsschulen. Den Knoten durchhaute Wilhelm Lenz, wohl wissend, wie viele dagegen standen. Kirchliche Geistheiler haben es ihm nie verziehen. Dass fast 20 Jahre Lenz und John van Nes Ziegler abwechselnd ab 1966 bis 1985 Landtagspräsidenten waren, mutet wie ein Kuriosum an, zumal der SPD- und der CDU-Repräsentant ihre Wahlkreise in Köln hatten, "Nes" Vorgänger und Nachfolger von "Bobby", die Spitznamen der beiden, merkwürdige Zufälle.
    Die grosse Einigkeit
    Turbulente Jahre, epochale Entscheidungen im Landtag, so die Schul- und Bildungsreform, 20 Fachhochschulen auf einen Schlag Anfang der 70er Jahre und schließlich die Gebietsreform, Opposition und Regierungsparteien nach stürmischen Phasen Hand in Hand: Aus 2.334 Kommunen wurden 396! Das hohe Lied des Hohen Hauses stimmte aber keiner an, kein Präludium, kein Tedeum, obschon doch eine historische Umwälzung in den Regionen.
    Das Parlament konnte auch schweigsam sein. Nach Hin und Her rief der amtierende Präsident Alfred Dobbert den hoch angesehenen Erklärer Josef Hofmann auf: "Sie wollen berichten..." Doch der verzichtet. Also ruft Dobbert den Kollegen Köllen auf, aber der winkt ab. Ersatzweise soll jetzt "Herr von Ameln das Wort haben". Wiederum Absage, Dobbert hartnäckig: "Dann Kollege Schmelter..." Der Präsident, von der Stirne heiß, rinnen muss der Schweiß, macht noch einen letzten Versuch bei "Herrn Schmiedel". Wiederum Nein, da bricht Dobbert die Sitzung ab und verabschiedet sich mit einem "Dankeschön".
    Es ging schon mal lustiger in der Landtagsrunde zu. Christine Teusch: "Für meinen Herrgott springe ich über jede Mauer." Kühns Zwischenruf: "Ihr konfessioneller Hochsprung!" Größter Lacherfolg durch Unikum Walter Möller: "Ja, diese großen Politiker sehen alles durch die Große-Weite-Welt-Brille, und wir in Hausberge gucken durchs herzige Guckloch in der Klo-Tür!" Der Welt-Reisende, Landesvater Kühn, war gemeint, den Katharina Focke in Redepausen labte mit Schokolade, zart-bitter. Heinrich Köppler, ein rhetorischer Genuss allzeit, musste Burkhard Hirsch verknusen, denn der spottete, es müsse Nacht werden, "wenn Köpplers Sterne strahlen sollen".
    Der plötzliche Herztod des Oppositionsführers Köppler 1980 wiederholte das Karl-Arnold- Drama von 1958. Damals wie jetzt nicht nur ein erschreckender Verlust der CDU, sondern für den Landtag insgesamt. Selbst Nachfolger Kurt Biedenkopf konnte das Unglück kaum verkleinern, auch Bernhard Worms nicht. Abwanderungen verstärkten das Defizit.
    Der intellektuelle Reichtum des Parlaments schmolz dahin wie die Kassenbestände. Friedel Neuber, einst Finanzexperte im Landtag, warnte vor "Ewigkeits-Schulden" durch rücksichtslose Kreditaufnahmen. Finanzminister Diether Posser jedoch setzte sich ans Klavier und spielte "Ich brauche keine Millionen, mir fehlt kein Pfennig zum Glück...". Der integere Mann machtlos, und der Sieger-Meister Rau in allen Wahlen bis 1995 winkte ab, wenn Helmut Linssen "Schulden-Johannes" rief.
    Das letzte Jahrzehnt im letzten Jahrhundert stand im Glanze der deutschen Einheit. NRW übernahm die Patenschaft für Brandenburg, generös der Landtag, auf eigene Faust Herbert Schnoor und Bodo Hombach. Lieferungen wurden organisiert, von der Büroklammer bis zur Apfelsine, und Friedrich Halstenberg baute die Brandenburger Verwaltung auf. Der energische Präsident Karl Josef Denzer half mit Delegierungen, bevor er sein Amt freudig an Ingeborg Friebe übergab, ein außergewöhnliches Ereignis! Erstmals eine Frau Landtagspräsidentin, die aus ihrer Bescheidenheit kein Hehl machte: "Das liebste Amt ist mir das Bürgermeisteramt in Monheim..."
    Neue Farben
    Dass die Grünen mit Sitz und Verstimmungen dem Landtag nicht schadeten, war ihrem versierten Politikus zu verdanken, nämlich Michael Vesper, der zuvor in Bonn Joschka Fischer half. Das Erscheinungsbild des Hohen Hauses allerdings mit einer exorbitanten Darbietung in jeder Plenarsitzung: Bajazzohaft gekleidet defilierte der grüne Roland Appel im Plenarsaal. Leise weinend nahm es der Landtag hin. Ausweichend Patriarch Hans Ulrich Klose: "Kein Blödmann"! Und Ulrich Schmidt nickte.
    Die durch Rau vorgelebte Harmonie verwehte im Wind des Werte-Wandels. Ob Kalkar oder Garzweiler, ob Kohle oder Kalk, mehr Dispute statt Debatten zum Umweltschutz. Friedhelm Farthmann warnte vor "emotionalen Unterwanderungen", die Grünen in der Offensive, Klaus Matthiesen im Streit um Meinungsmacht. Balance-Politik bröckelte im Steinbruch der Kompromisse, Unmut und Unruhe. Edgar Moron: "Die Kohle ist unser Schicksal!" Händeringend die Experten im Landtag, die in den 50er, in den 60er, in den 70er, in den 80er und in den 90er Jahren und in der jetzt laufenden 14. Wahlperiode fortdauernd um Absatz und Existenz der Kohle ringen. Hunderte Anträge, Entschließungen, Richtlinien, Gesetze und Resolutionen in knapp 60 Jahren haben den Niedergang im Bergbau nicht verhindert. SPD, CDU, FDP, einst vereint in der so genannten "Kohle-Fraktion", sind schon lange uneins. Den Grünen gefällt dies.
    Sozusagen im Nebenlicht der Kontroversen die mustergültige Haushaltskontrolle des Abgeordneten Franz Riehemann, doch nur zuständig für die Richtigkeit der Rechnungen, nicht ob ihrer Notwendigkeit. So konnte es geschehen, dass die Regierung noch nach 1990 für die Bonner Landesvertretung viele Millionen zum Aus- und Umbau vergeudete. Dass der ungewollte Umzug von Bonn nach Berlin sich um zehn Jahre verspätete, verdoppelte die Kosten...
    Eine neue Zeit brach an, ein neuer Mann in der Arena: Bundesminister a.D. Jürgen Rüttgers. Raus Nachfolger Clement und Steinbrück haben ihn unterschätzt. Perfekt die Überraschung, als Regina van Dinther den Präsidentenstuhl im Landtag einnehmen konnte, es war seit 1980 das erste Mal für die CDU und das erste Mal für die SPD seit 1966, dass sie die Opposition einnehmen musste. Staatsministerin a. D. Hannelore Kraft die Vorsitzende, – unvergesslich der sozialdemokratische Oppositionsführer von 1962 bis 1966, "der CICERO", wie Freunde Heinz Kühn wegen seiner brillanten Redekunst apostrophierten.
    Der Landtag im 60. Lebensjahr arbeitet schon wieder auf Hochtouren: 29 Gesetze beschlossen! Zuviel des Guten? An Danksagungen fehlt es nicht, aber übersehen werden die Spezialisten der Staatsverwaltung, "Nicht-Politiker" wie Rietdorf, Rombach, Röver und andere. Dank ihres administrativen Sachverstandes haben sie in vielen Jahren viele Gesetze des Gesetzgebers vorbestimmt.
    Horst-Werner Hartelt

    ID: LIN02152

  • Eine kleine Zeitreise.
    Geschichte in Bildern.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 12-13 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Einen weiten Bogen spannen die Ereignisse der Landespolitik in den zurück liegenden 60 Jahren. Anfangs ging es darum, die Grundlagen für das demokratische Zusammenleben und um die Sicherung der Existenz der Menschen in einem vom Krieg verwüsteten Land zu legen. Später galt es, wichtige Entscheidungen zur Ausgestaltung und Modernisierung des Staates zu treffen. Die Politik sah sich zudem mit wirtschaftlichen Krisen und der Hoffnung der Menschen auf Sicherheit und Arbeit konfrontiert. Stichworte wie Wiederaufbau, Strukturwandel, Bildungsreform und Hochschulausbau, Verkehr, Energie, Umweltschutz, Staatsfinanzen, innere Sicherheit, Integration und demografische Entwicklung umreißen die Handlungsfelder, der sich Politiker im Land wie im Bund zu stellen haben. Kein Wunder, dass es da zwischen Land und Bund vielfältige gegenseitige Beziehungen, Einflüsse und Konfrontationen gibt und gegeben hat.

    Bildunterschriften:
    Nach dem Krieg haben die Menschen andere Sorgen als die Politik: Sie brauchen ein festes Dach über dem Kopf, genug zu essen und Arbeit. Damit ist es nicht gut bestellt, darum kommt es zu zahlreichen Unmutsäußerungen - hier die Hungerdemonstration im Düsseldorfer Hofgarten Ende März 1947.

    Er prägt das Wort von NRW als dem sozialen Gewissen der Bundesrepublik, der CDU-Nachkriegspolitiker Karl Arnold (Bildmitte vorn). Hier im Juli 1947 bei seiner Wahl zum Ministerpräsidenten des Landes. Das Amt bekleidet er bis 1956.

    Erst Kölner Oberbürgermeister, dann von den Nazis aus dem Amt gejagt, zum Schluss langjähriger Kanzler der Bundesrepublik Deutschland: Konrad Adenauer (1876-1967). Bevor er in die Bundespolitik geht, ist er NRW-Landtagsabgeordneter der ersten Stunde und gehört dem Parlament von 1946 bis 1950 an.

    Stramm gestanden - Bundespräsident Heinrich Lübke, von 1947 bis 1952 CDU-Ernährungsminister des Landes NRW, schreitet 1960 zusammen mit Ministerpräsident Franz Meyers (CDU, l.) und Landtagspräsident Wilhelm Johnen (r.) die Ehrenformation der Polizei ab.

    Wetterleuchten mit glühender Zigarre: 1966 verabreden Heinz Kühn (SPD, l.) und Willi Weyer (FDP, r.) die sozialliberale Koalition für Düsseldorf - später Modell für die Bundesregierung in Bonn.

    Nach Lübke zweiter Bundespräsident aus NRW: Gustav Heinemann (SPD), Landtagsabgeordneter von 1946 bis 1950, Landesjustizminister in den Jahren 1947 und 1948, tritt 1969 das höchste Amt an.

    Wieder ein Bundespräsident aus dem bevölkerungsreichsten Land: Walter Scheel (FDP) wird 1974 gewählt und amtiert bis 1979. Mitglied des NRW-Landtags war Scheel von 1950 bis 1954.

    Zwei, die sich kennen und schätzen: Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD, r.) und Oppositionsführer Heinrich Köppler (CDU, l.) tauschen 1977 während einer Pause im Plenum ihre Meinungen aus.

    Nach 15 Jahren Alleinregierung der SPD kommt ein Bündnispartner ins Boot, die GRÜNEN. Hier 1995 das Kabinett Rau mit den grünen Ministern Bärbel Höhn (Umwelt) und Michael Vesper (Bauen und Wohnen).

    1999 wird Johannes Rau Bundespräsident und bekleidet dieses Amt bis 2004. Zuvor war Rau 41 Jahre lang NRW-Landtagsabgeordneter. Zwei Jahrzehnte wirkte er in diesem Land als Ministerpräsident, zuvor acht Jahre lang als Wissenschaftsminister an Rhein und Ruhr.

    Die Queen gibt sich mit Prinz Philip die Ehre. Im November 2004 besucht sie das Land Nordrhein-Westfalen, das seine Gründung der britischen Besatzungsmacht nach dem Krieg verdankt. Großer Empfang im Landtag.

    Wechsel nach 39 Jahren sozialdemokratisch geführten Regierungen: Der neue Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU, l.), Chef der schwarz-gelben Regierungskoalition im Land, leistet vor Landtagspräsidentin Regina van Dinther (r.) den Amtseid.

    ID: LIN02153

  • Die Mühen haben sich gelohnt.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 14-15 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Es war eine lange und schwierige Geburt, das Zustandekommen des "Grundgesetzes" für das Land NRW. Im Oktober 1946 gab es erste Bemühungen und im Januar 1947 legte der Innenminister im zweiten Kabinett Amelunxen, Dr. Walter Menzel (SPD), dem ernannten Landtag einen Entwurf vor, der in sechs Abschnitten und 28 Artikeln eine "vorläufige Ordnung der Landesgewalt" schaffen sollte. Nach der Landtagswahl Ende April 1947, nicht zuletzt auf Drängen der Briten, wurden die Beratungen intensiviert. Die Besatzungsmacht hatte ein Auge auf die Arbeiten, nahm Einfluss und drängte zur Eile.
    Der erste Menzel-Entwurf für ein "vorläufiges Landesgrundgesetz" war lediglich ein Organisationsstatut mit wenigen Bestimmungen über die Landesgewalt, den Landtag, die Landesregierung, die Gesetzgebung, das Finanzwesen sowie die Kommunalverbände. Erst ein gewählter Landtag sollte die endgültige Verfassung verabschieden, und diese sollte nach Auffassung des Verfassungsministers weder die Grundrechte noch Fragen der Religion, der Erziehung und des Unterrichts behandeln. Diese sollten in einer einheitlichen Reichsverfassung geregelt werden. Mit dieser Minimalregelung waren allerdings weder die Briten noch die stärkste Fraktion, die CDU, zufrieden.
    Die eigentlichen Verfassungsberatungen liefen allerdings erst an, nachdem am 20. April 1947 erstmals ein Landtag gewählt worden war. Innenminister Menzel legte nun einen wesentlich umfassenderen Entwurf vor, der auch die Punkte enthielt, die in den Folgejahren immer wieder zu heftigen Kontroversen führten. So stieß die "Christliche Gemeinschaftsschule" bei CDU und Zentrum auf erbitterten Widerstand, man wollte die unbedingte Wahrung des Elternrechts und die Bekenntnisschule durchsetzen. Kontrovers auch die Errichtung einer Zweiten Kammer. Dem "Staatsrat" wollten als einer Art Notstandsgremium Konrad Adenauer und Karl Arnold von der CDU eine herausragende Rolle zwischen Landtag und Landesregierung einräumen. Der Abgeordnete Carl Severing (SPD), früherer Preußischer Innenminister, dazu knapp: "Überflüssig und schädlich." Die KPD, damals im Landtag vertreten, sah in ihm den Versuch, die Rechte des Landtags einzuschränken. Friedrich Middelhauve von der FDP vermisste das "letzte Durchdenken" des Vorschlags.
    Alles währte letztlich länger, nämlich bis Mitte 1950. Das lag zum einen an den langwierigen und oft kontroversen Beratungen in den verschiedenen Gremien des Landtags, wo die Aufregung zwischen den Fraktionen von CDU, SPD, Zentrum, FDP und KPD oft hin und her ging. Deshalb war es allen Seiten recht, dass die Beratungen ausgesetzt wurden, als der Parlamentarische Rat in Bonn mit den Beratungen zum Grundgesetz begann. Kaum war das verabschiedet, beauftragten Verfassungsausschuss und Landtag im Juli 1949 die NRWLandesregierung, bis zum 1. Oktober einen neuen Verfassungsentwurf unter Berücksichtigung des am 8. Mai 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes vorzulegen.
    Auch das klappte nicht fristgemäß. Das Landeskabinett war in der Schulfrage tief zerstritten. Es hagelte Kritik aus den eigenen Reihen am CDU-Ministerpräsident Karl Arnold. Der trat die Flucht nach vorne an, ließ im Hintergrund ihm vertraute Fachleute über einem eigenen Entwurf brüten und präsentierte das Papier Anfang November dem Innenministerium. Die SPD war entrüstet und hielt das Ganze für eine Zumutung. Innenminister Menzel: "Was uns hier zugemutet wird, lässt auch nicht die Spur einer vernünftigen Einstellung gegenüber den Forderungen der SPD als Regierungspartner erkennen."
    In der Frage der Sozialisierung von Bergbau und Großindustrie war man sich noch einig. Hier wirkte deutlich die Erinnerung nach, wie sehr die Ruhrbarone Hitler den Steigbügel gehalten hatten. Wenn der KPD-Abgeordnete Willi Agatz deklamierte, die Verstaatlichung des Bergbaus sei ein "lebensnotwendiger Schritt für unser Volk", dann klang das beim CDU-Abgeordneten Konrad Adenauer so: "Wir sind der Überzeugung, dass zunächst eine solche Neuordnung nur durch die Überführung des Bergbaus, der Schwer-, Eisen- und Stahlindustrie in eine Gemeinwirtschaft möglich ist, während sich die übrige Wirtschaft auf der Grundlage eines geregelten Wettbewerbs entfalten soll." Adenauer war Politiker genug, um bei der Gelegenheit gegen die britische Besatzungsmacht einen Pfeil abzuschießen, indem er anfügte: "Die Überführung der vorgenannten Wirtschaftszweige in eine Gemeinwirtschaft setzt aber voraus, dass dem deutschen Volke das volle Verfügungsrecht über die Betriebe zurückgegeben wird."
    Als Apologet eines "absoluten Elternrechts als eines persönlichen, naturhaft-begründeten Freiheitsrechts" gab sich der Zentrums-Abgeordnete Johannes Brockmann in der Schulfrage zu erkennen. Er sang ein Loblied auf die einzügige Volksschule, die er gegen die Versuche der SPD in Schutz nahm, sie als "Zwergschule" und als nicht leistungsfähigen Schulbetrieb zu diskreditieren.
    Der FDP-Abgeordnete Middelhauve bekannte, "dass ich ein starker und beharrlicher und leidenschaftlicher Verfechter und Vertreter der Gemeinschaftsschule bin und immer bleiben werde". Der Abgeordnete fügte hinzu, dass er diese Schule als "Christliche Gemeinschaftsschule" verstehe, "in der christlicher Geist ohne irgendwelche Trübungen und Beeinträchtigungen gestaltet und in die Seele des Kindes hineingelegt werden kann".
    Ohne Verständnis für die einklassige Schule (das gehe nur, wenn jeder Lehrer "ein Pestalozzi wäre") als geordnetem Schulbetrieb zeigte sich die SPD: "Das ist vielleicht ein Mangel unseres Intellekts", meinte ihr Sprecher Severing. Klar bezog sein Fraktionskollege Fritz Henßler Stellung. Er stellte "mit aller Eindringlichkeit" fest: "Wenn Sie versuchen, die einklassige Schule als Verpflichtung in der Verfassung zu verankern, wo mehrklassige sein könnten, wenn Sie versuchen, der politischen Einheit ein gebührendes Mitwirkungsrecht an den Schulen zu verweigern, dann steht unser "Nein" zu diesen Beschlüssen fest."
    Streit gab es auch zur Präambel mit ihrem Gottesbezug. Die Verfassung sei nicht der Ort, um theologische Grundsätze an den Mann zu bringen - dies meinte der SPD-Abgeordnete Severing. Anders Georg Jöstingmeier von der CDU: "Der Umstand, dass der Herrgott so ganz zum Schluss, hinter eine Vielzahl von Faktoren, auch noch zum Vorschein kommt, verletzt uns am meisten." Darum schlage seine Fraktion die Formulierung vor, dass die Verantwortung vor Gott "Urgrund des Rechts und der staatlichen Ordnung" sei. Kühl meinte der SPD-Abgeordnete Heinz Kühn, die religiöse Erziehung sei Angelegenheit und Pflicht des Elternhauses und der Kirche. "In der Schule sollte die Wissensvermittlung allem voran stehen."
    Kulturhoheit sei nun einmal die ureigene Domäne der Länder, flocht Kultusministerin Christine Teusch (CDU) ein. Darum solle man der kulturellen Seite das Gesicht geben, "das der, ich möchte fast sagen: einmütigen Willensbildung in unserem Lande, das sich zu über 95 Prozent, sicher zwischen 97 und 98 Prozent zum Christentum bekennt, auch Ausdruck gibt".
    Die mühsamen Beratungen über die Verfassung des Landes stellten Weichen und klärten Mehrheitsverhältnisse. Das sich über Jahre hinziehende zähe Ringen war viel Kampf, manchmal auch Krampf: Der KPD-Abgeordnete Hugo Paul meinte allen Ernstes, "das werktätige Volk in Westdeutschland stehe dieser Verfassungsmacherei zum Teil apathisch und ablehnend gegenüber". Für erneute, lebhafte Zwischenrufe sorgte laut Protokoll sein Vorschlag: "Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik ist auch der Ausgangspunkt für eine wahrhaft demokratische Landesverfassung."
    Am 6. Juni 1950 fand die Schlussabstimmung nach dritter Lesung im Landtag statt. 110 Mitglieder von CDU und Zentrum stimmten für den Entwurf, 97 aus SPD, FDP und KPD dagegen. Am 18. Juni 1950 sprach der Souverän, die Wählerinnen und Wähler des Landes, das letzte Wort. 3,62 Millionen sagten Ja, 2,24 versagten ihre Zustimmung. Damit war die Landesverfassung für das Land Nordrhein-Westfalen gebilligt.
    Seitdem ist sie 19-mal geändert worden. Das kann man auslegen, wie man will: Knapp 20 Änderungen in 56 Jahren - das zeigt die Güte der Arbeit, die die Väter und Mütter der Verfassung in ihrer Arbeit an den Tag gelegt haben, meinen viele. Noch immer finde sich im Wortlaut der Verfassung der Satz, wonach die Großbetriebe der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum zu überführen sind oder dass das Kleingartenwesen zu fördern ist. Für andere sind das Gründe, eine "Modernisierung" der Verfassung zu verlangen. Aber der Grat ist schmal zwischen Neuerungen, die der Aktualität geschuldet sind, und Festlegungen, die ein gutes halbes Jahrhundert zu überdauern imstande sind.
    Jürgen Knepper

    Bildunterschrift:
    Zaungäste bei der Eröffnung des ernannten Landtags NRW am 2. Oktober 1946 im Düsseldorfer Opernhaus. Im Hintergrund die zerstörte Kunsthalle. - Links ein Flugblatt der FDP gegen die Landesverfassung vom Juni 1950.

    ID: LIN02154

  • "Wie Katz' und Hund".
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 15-16 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Nordrhein-Westfalen, nicht das flächenmäßig größte aber bevölkerungsreichste Bundesland, schreibt seit mehr als 50 Jahren Bundesgeschichte. Durch seine Bodenschätze hat sich das Land zum industriellen Herz und zum Energiezentrum der Republik entwickelt. Seine Exportkraft und seine Innovationsbereitschaft sind permanente Aktivposten. Der Wirtschaft steht die Politik nicht nach. Allein vier deutsche Bundespräsidenten stammen von Rhein und Ruhr.
    Es gibt weitere Bezüge. Das erste konstruktive Misstrauensvotum der noch jungen Bundesrepublik gab es in NRW. 1956 wurde Ministerpräsident Karl Arnold von der CDU gestürzt und durch den SPD-Mann Fritz Steinhoff ersetzt. Es waren die Liberalen des Landes, die eine vom CDU-Bundeskanzler Adenauer betriebene Änderung des Wahlrechts auf die Barrikaden trieb. Der Bonner Regierungschef zog zwar das Gesetz, das auf Bundesebene das Aus für die FDP bedeutet hätte, zurück, aber das nützte Arnold nichts mehr. Der mochte zwar mit Recht in der denkwürdigen Landtagsdebatte am 16. Februar 1956 festhalten: "Ich finde keine echten landespolitischen Gründe dafür, dass Sie dieser Regierung das Misstrauen aussprechen wollen." So habe er den Eindruck, "dass hier die Schlacht in einem falschen Saal geführt wird". Man sei hier nicht in Bonn, sondern in Düsseldorf, darauf machte er – vergeblich – den Antragsteller Hermann Kohlhase von der FDP aufmerksam.
    Der hatte zuvor an den Beschluss seiner Partei erinnert, "die CDU-Wahlrechtsaktion mit dem Kampfmittel der Koalitionsaufkündigung zu beantworten". Dem Ministerpräsidenten, mit dem "wir im bisherigen Teil der Legislaturperiode in einer Zusammenarbeit standen, deren praktische Leistungen wir wahrhaftig nicht verkleinern wollen", hege man keine Animositäten gegenüber. Aber er müsse sich seitens der Liberalen den Vorwurf gefallen lassen, dass er versäumt habe, die seit Monaten erkennbaren Absichten seiner Partei zu bekämpfen und zu Fall zu bringen.
    Der andere Antragsteller, der Abgeordnete Karl Siemsen von der SPD, präsentierte Arnold eine alte Rechnung. Obwohl in früheren Kabinetten SPD-Mitglieder ihre Aufgaben als Minister "auf das beste" erfüllt hätten, seien Sozialdemokraten 1950 aus der Regierung ausgebootet und durch Arnold auch im Jahr 1954 nicht wieder in die Regierung aufgenommen worden. Siemsen wörtlich: "Sie haben diese Entscheidung damals, Herr Ministerpräsident, wahrscheinlich gegen Ihren eigenen Willen getroffen, gegen Ihre eigene Überzeugung. Sie haben sich dem Wunsche von Bonn gefügt." Ihm, Siemsen, komme es nun wie ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit vor, "dass, wenn Sie uns damals aus der Koalition entsprechend dem Wunsche von Bonn herausbugsiert haben, sich jetzt der Wunsch auf Ihre Abberufung auch wieder auf die Verhältnisse in Bonn stützt".
    Der neue Ministerpräsident Fritz Steinhoff regierte dann eine sozialliberale Koalition, die nur zwei Jahre Bestand hatte und nichts an der CDU-Dominanz im Land zu ändern vermochte. So ergriff 1958 wieder ein CDU-Ministerpräsident mit absoluter Mehrheit das Ruder: Franz Meyers regierte acht Jahre lang. Dann war es wieder die FDP im Land, die einem anderen auf den Chefsessel verhalf, diesmal Heinz Kühn (SPD), der zusammen mit Willi Weyer (FDP) die zweite sozialliberale Koalition in Düsseldorf schmiedete.
    Im Wahlkampf 1966 hatte Meyers orakelt, Nordrhein- Westfalen könne bei einem sozialdemokratischen Wahlsieg sich auf "30 Jahre Schweden" gefasst machen. Er meinte, die jahrzehntelange Vorherrschaft der Sozialdemokraten in diesem skandinavischen Land könnte die Menschen an Rhein und Ruhr veranlassen, nicht ihm, sondern der SPD ihre Stimme zu geben. Der Rheinländer Meyers hatte Beachtliches in seiner Bilanz vorzuweisen, etwa die Ansiedlung des Opel-Werks gegen den Widerstand der Ruhrbarone und die Gründung der ersten Ruhrgebiets-Universität, beides in Bochum.
    Politisch hatte er weniger Fortüne. War es ihm 1958 gelungen, die absolute Mehrheit für seine Partei zu holen, so reichte es 1966 nur noch knapp für die Fortsetzung der Regierung mit der FDP. Andere in der CDU, an der Spitze Fraktionschef Wilhelm Lenz, bevorzugten analog zu Bestrebungen auf Bundesebene ein, wie er glaubte, stabileres Bündnis mit der SPD in Düsseldorf. Die FDP bekam von den dahin gehenden Verhandlungen Wind und führte ihrerseits Gespräche mit den Sozialdemokraten. Ergebnis: Die zweite Koalition unter sozialdemokratischer Führung, diesmal wesentlich dauerhafter als die erste. 1969 folgte mit der Regierung Brandt/Scheel die sozialliberale Koalition auf Bundesebene.
    Bei der Landtagswahl 1995 war die Zeit der absoluten Mehrheiten und einer 15-jährigen Alleinregierung für die SPD vorbei. Um am Ruder zu bleiben, musste sie sich einen Koalitionspartner suchen. Das waren, weil die FDP den Sprung in den Landtag knapp verfehlt hatte, die Grünen. Es war für Johannes Rau keine Liebesheirat; ihm wird das Bonmot nachgesagt, er habe "lieber ein Haus im Grünen, als einen Grünen im Haus". Neben Liebes- gibt es ja auch ein Pflichtgefühl. Und das verlangte, diese Koalition auf ihre Tauglichkeit für die Bundespolitik zu prüfen. Die erste rot-grüne Koalition hatte es zwar in Hessen gegeben und dort hatte ein grüner Minister in Turnschuhen seinen Amtseid geleistet, aber das Labor für den Bund lag wieder in Düsseldorf. Die Bundes-SPD unterstützte mit Blick auf die Bundestagswahl 1998 das Experiment Rot- Grün am Rhein.
    In Berlin kam in der Folge nicht nur Freude beim Blick in die Provinz auf. Immer wieder gab es Reibereien zwischen den Koalitionspartnern in Düsseldorf: Garzweiler II, Transrapid, Dortmunder Flughafen, Autobahnspange bei Bochum, Besetzung eines Verwaltungsratspostens bei der WestLB. Auf Rau folgte Clement, auf Clement folgte Steinbrück. Die Namen der Ministerpräsidenten änderten sich, die Schwierigkeiten in der Koalition blieben.
    Als ein grüner Abgeordneter zusammen mit der CDU im Verkehrsausschuss des Landtags gegen ein Projekt der Landesregierung stimmte, wurde in der NRW-SPD nicht mehr hinter vorgehaltener Hand, sondern offen vom Ende der rot-grünen Koalition gesprochen. Die Nerven lagen so blank, dass Steinbrück entschlossen schien, nicht mehr unbedingt Rücksicht auf die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder/ Fischer zu nehmen. In Berlin schrillten die Alarmglocken, die Drähte nach Düsseldorf glühten. Steinbrück kam den Grünen entgegen und Rote und Grüne vertrugen sich wieder. Für den Rest der Regierungszeit verabredeten sie das "Düsseldorfer Signal".
    Offenbar war das Bild dieser Koalition für die Wählerinnen und Wähler nicht so verlockend, als es im Mai 2005 zu neuen Landtagswahlen ging. Diese NRW-Wahl galt als Testwahl für den Bund: Entweder Bestätigung für Rot-Grün – dann könnte Rot-Grün auch in Berlin weiter machen – oder die Abwahl. Was dann? Wäre das Votum des nordrheinwestfälischen Souveräns ein Fingerzeig für die künftigen Machtverhältnisse im Bund? Alle Spekulationen waren Makulatur, als SPD-Parteichef Franz Müntefering am Wahlabend des 22. Mai 2005 unter dem Eindruck der nordrheinwestfälischen Wahl Bundestagsneuwahlen für den Herbst ankündigte. Viele erwarteten nach dem Düsseldorfer Ergebnis eine christlich-liberale Koalition auch für Berlin. Wie bekannt, entzogen sich die deutschen Wählerinnen und Wähler diesem Kalkül und sorgten für die (zweite) Große Koalition auf Bundesebene.
    Im Rückblick lässt sich sagen: Zwischen Düsseldorf und Bonn (später Berlin) kann von einem simplen Kommandoverhältnis von oben (Bund) nach unten (Land) nicht die Rede sein. Die politische Interdependenz ist komplexer. Mal lösen bundespolitische Entwicklungen den Reflex im Land aus, mal ist NRW Labor – mit dem Risiko, dass der Versuch fehlschlägt – für Koalitionen und Entwicklungen, die auf den Bund ausgreifen.
    Aber es gibt keine einfachen Gesetzmäßigkeiten. Da erscheint ein viel gebrauchtes geflügeltes Wort wie "Bund und Land, Hand in Hand" wie Lyrik. Viel zutreffender sei ein anderes Bild, das der Politologe Ulrich von Alemann so formuliert: "Land und Bund – wie Katz und Hund". Auf neue Kapitel in diesem "Bestiarium Politicum" darf man gespannt sein.
    JK

    ID: LIN02441

  • Das "Höllenfeuer" wurde nicht entfacht.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 17 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Es war wie das Perpetuum mobile der Energieerzeugung und schien die Lösung aller Versorgungsprobleme zu sein – der SNR 300, der Schnelle Brüter, der ab 1973 unter Federführung der Siemens-Tochter Interatom und unter Beteiligung der Niederlande und Belgiens bei Kalkar am Niederrhein entstand.
    Seine Väter sagten ihm nach, dass er mehr Brennstoff produzieren würde als er verbraucht. Die hohen Temperaturen beim Brutvorgang waren nur mithilfe von Tonnen flüssigem Natriums im Zaum zu halten. Dieses flüssige Natrium als Kühlmittel war äußerst aggressiv und stellte hohe Anforderungen an die Leitungen, durch die es floss. Kurz: Die Technologie dieser Brutmaschine war höchst komplex, Plutonium war als hoch radioaktiver Stoff bekannt. Aber die Aussicht, hier die "Energie der Zukunft" zu gewinnen, bestärkte die Befürworter. Mit Optimismus und dem für die damalige Zeit typischen Fortschrittsglauben ging man davon aus, dass in den Wiesen am Niederrhein alles beherrschbar bleiben würde.
    Und so wurden für das gefeierte Jahrhundertprojekt im Lauf der Jahre 3,5 Milliarden Euro – in D-Mark das Doppelte – verbaut (anfangs waren die Baukosten mit 780 Millionen DM angegeben worden). Dieses Geld wurde durch deutsche, niederländische und belgische Forschungsmittel sowie Beiträge deutscher Energieversorgungsunternehmen und Kraftwerksbetreiber aufgebracht. Das Bundesland NRW war an der Finanzierung nicht beteiligt. Aber bei der Regierung des Landes lag die Federführung des atomrechtlichen Verfahrens.
    1985 war die Anlage fertig gestellt und betriebsbereit. Ohne dass der Brüter eine Kilowattstunde Strom produzierte, verschlang er in jedem Monat seines Wartestands ungefähr fünf Millionen an Betriebskosten. Um den Brüter herum verstärkte sich der Protest von Atomkraftgegnern und Anwohnern.
    Unbeeindruckt vom Widerstand wurde das Genehmigungsverfahren vorangetrieben, es gab schließlich internationale Verträge. Nur ein einziger Tag veränderte die Lage von Grund auf. Am 26. April 1986 explodierte der Reaktor von Tschernobyl und verstrahlte europaweit Menschen, Tiere, Pflanzen, Luft und Boden. Ein Umdenken setzte ein, das Bevölkerung und Politik erfasste.
    Wer konnte und wollte da noch die Verantwortung für einen Stoff (Plutonium) übernehmen, der eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren hat? Die Kernenergie sei eine Technik, die sich schlechthin kein Versagen leisten könne, meinte der Redner in der Plenardebatte des NRW-Landtags am 4. Juni 1986, wenige Wochen nach Tschernobyl, und fuhr fort: "Dann muss man aber doch die Frage stellen, ob eine Technik, die sich kein Versagen leisten kann, überhaupt verantwortbar ist". Der Abgeordnete Friedhelm Farthmann, damals Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion und zuvor Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, signalisierte mit seinen Worten die Wende der SPD in der (Kern-)Energiepolitik: Ablehnung des SNR 300 und einer Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstoffe: "Das Risiko dabei ist viel zu groß". Das Atomgesetz des Bundes müsse geändert werden.
    Farthmann hatte zuvor als Sozialminister zwölf von insgesamt 16 Teilerrichtungsgenehmigungen ausgesprochen, aber die Frage der endgültigen Betriebsgenehmigung immer offen gehalten. Es kam der Sinneswandel: "Man fasst sich heute an den Kopf", erklärte er seinerzeit, wenn man die Gründe höre, die Anfang der 70-er Jahre zum Bau des SNR 300 geführt hätten. Nach Störfällen im Natriumkühlsystem gebe es überhaupt keinen vernünftigen Grund mehr, "dieses Höllenfeuer zu entfachen". So Farthmann vor der Presse nach der Kabinettssitzung in Bielefeld vom 12. Februar 1985. Ein "verheerendes" Gutachten seines Hauses machte ihm klar, dass der Brüter nie in Betrieb gehen würde. NRW distanzierte sich vom Projekt ab und setzte den Bund unter Zugzwang, der für immerhin 60 Prozent der Baukosten geradestehen musste. Für die Landesregierung klappte Minister Reimut Jochimsen (SPD), der den SNR 300 als "Irrtum" ansah, die Akte "Schneller Brüter" endgültig zu. Gegen sein Nein zur Einlagerung der Brennelemente hätte die Bundesregierung in einem jahrelangen Rechtstreit klagen können – und damit das Aus für den Kalkar-Brüter nur umso sicherer herbeigeführt. Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) zog die Konsequenz und verzichtete am 21. März 1991 endgültig auf das Vorhaben.
    CDU und FDP im Düsseldorfer Landtag kritisierten, die Landesregierung habe "politische Entscheidungen über Recht und Gesetz gestellt" und den Brüter "tot geprüft". Die Landesregierung wies das zurück: Es seien allein nach dem Atomgesetz technische Mängel und Risiken für das Verdikt ausschlaggebend gewesen. Mochte die kleinere Oppositionsfraktion FDP auch monieren, dass ein Wort wie "Höllenfeuer" für eine "solide" Betrachtungsweise nicht ausreiche, als raffiniert einfaches und einprägsames Schlagwort hatte es Wirkung erzielt und die öffentliche Erörterung – damit indirekt auch die politische Entscheidung – in die gewünschte Richtung gedrängt.
    Die Schlachten um den Schnellen Brüter sind Geschichte. Welche Lehren daraus zu ziehen sind, darüber machen sich heute die Besucher auf dem Gelände des ehemaligen Schnellen Brüters keine Gedanken. Sie amüsieren sich im "Kernwasser- Wunderland" des Holländers Henny van der Most, der den Komplex Ende 1995 gekauft und die Atomruine zum Freizeitpark umgebaut hat. Vom nicht entfachten "Höllenfeuer" zum Vergnügungspark an Rheinkilometer 842 – ein ganz spezieller Fall von Konversion, über den die Meinungen geteilt sein dürften.
    JK

    ID: LIN02442

  • "Wir in Nordrhein-Westfalen".
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 18 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    "Wir in Nordrhein-Westfalen haben viel erreicht. Wir in Nordrhein-Westfalen werden noch viel erreichen. Nordrhein-Westfalen kommt wieder. Dessen bin ich mir ganz sicher". Mit diesen Worten beendete am 13. Juli 2005 der frisch gewählte Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) seine Regierungserklärung vor dem Landtag.
    Wir in Nordrhein-Westfalen" – diese Floskel kam vielen bekannt vor. Kein Wunder, denn sie ist 20 Jahre alt. Am 10. Juni 1985 hatte sie in seiner Regierungserklärung der damalige Ministerpräsident Johannes Rau (SPD) ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehämmert. Er sagte: "Wir in Nordrhein-Westfalen wissen: Wir leben in einem schönen und starken Land. Wir sind fast 17 Millionen Menschen. Unsere Herkunft ist unterschiedlich, unsere Zukunft ist gemeinsam. Wir leben gerne hier. Vielfalt ist unsere Stärke. Wir sind stolz auf unsere Heimat." Die vier Worte verwendete Rau in dieser Rede nicht weniger als sechsmal. Wie ein roter Faden zogen sie sich durch seine Regierungserklärung.
    Es war ein höchst emotionaler Appell. Er fiel auf fruchtbaren Boden: Tausende von Bürgerinnen und Bürgern pappten den von der Staatskanzlei zu einem Aufkleber verarbeiteten Slogan zusammen mit dem Wappenzeichen stolz an die Kofferraumklappen ihrer Autos. Davon waren nicht alle im Lande begeistert. Die Opposition zum Beispiel sah in Raus Sentenz eine seiner typischen Verharmlosungen und Versuche, die allfälligen Konflikte und Probleme des Landes mit der Soße der Harmonie zu überzuckern. Mit einem Wort: Bloße Parteipolitik. Zugegeben geschickt erfunden von Raus Berater, dem SPD-Parteimanager Bodo Hombach, und von Rau im Landtagswahlkampf virtuos eingesetzt.
    Public Relations für ein Land sei wahrscheinlich aus einer Staatskanzlei "nie wirksam zu organisieren", befand Ministerpräsident Jürgen Rüttgers vor kurzem in einem Zeitungsinterview. Das belegen mannigfache Versuche, dem nordrhein-westfälischen Landesbewusstsein auf die Beine zu helfen und es ähnlich robust und nach Möglichkeit ebenso anfechtungsfrei werden zu lassen wie das bayerische. Jüngst bei den öffentlichen Feiern zum 60-jährigen Jubiläum des Landes wurde auf dem Burgplatz in Düsseldorf unter viel Tam-Tam eine neue NRW-Hymne aus der Taufe gehoben – sie ist noch kein Hit geworden. Ähnlich erfolglos endete der Vorschlag des CDU-Ministerpräsidenten Franz Meyers in den 1960-er Jahren, eine Landeshymne komponieren zu lassen.
    Meyers, den die Suche nach der Identität des Landes umtrieb, probierte es mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen. 1963: Preisausschreiben für einen neuen Namen anstelle der ungeliebten Bezeichnung "Nordrhein-Westfalen". Ergebnis: Kurios, die Einsender machten Vorschläge wie "Montana" oder "Sachsofrankonien". Da war das von den Briten erfundene Nordrhein- Westfalen, Kurzformel NRW, immer noch besser. Projekt Landesorden NRW: Meyers erntete Spott auf breiter Ebene. Das Vorhaben wurde fallen gelassen und erst viel später von Johannes Rau wieder aufgegriffen. Heute ist der Landesorden eine angesehene und gern genommene Auszeichnung. "Papa Meyers", wie der populäre Ministerpräsident gern genannt wurde, war doch nicht so erfolglos, wie es den Anschein hatte.
    Ein Indiz für den wachsenden Zusammenhalt im Land ist nicht zuletzt, dass sich zu dieser Zeit nach zähem Ringen die beiden getrennten und in herzlicher Animosität zugeneigten Landesverbände der NRW-CDU, Rheinland und Westfalen, zum Zusammenschluss durchgerungen haben. "Schuld" sind aber auch die Medien, etwa die großen Zeitungen im Land und die vielen lokal verbreiteten Blätter. Sie berichten intensiv aus ihrem näheren und weiteren Umfeld. Auch der Rundfunk des Landes, der WDR, ist mit seinen örtlichen Studios, Regionalprogrammen und einer Sendung wie "Westpol" einer der anerkannten Förderer von NRW-Bewusstsein.
    Und wie immer sind in diesem Zusammenhang auch Personen zu nennen, neben Franz Meyers Johannes Rau, über den Ministerpräsident Jürgen Rüttgers urteilt: "Johannes Rau hat uns das Vermächtnis hinterlassen, dass es eines starken ,Wir-Gefühls‘ bedarf, um gemeinsam Erfolg zu haben. Wenn er in seinen Reden und Ansprachen immer wieder von ,Wir in Nordrhein- Westfalen‘ sprach, dann war das nicht nur ein Slogan, sondern ein Lebensgefühl. Aus ihm sprachen ruhige Kraft und Selbstvertrauen, nicht Überheblichkeit. Johannes Rau festigte ein Landesbewusstsein, das nicht auf Ausgrenzung setzte, sondern zur Gemeinsamkeit einlud."
    In dieser Tradition sieht sich Rüttgers. Er hat das Landesbewusstsein, nachdem es unter seinen Vorgängern Steinbrück und Clement eher nachrangig behandelt wurde, wieder auf die Agenda gesetzt. Ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident des Landes hatte er Gelegenheit, zusammen mit Landtagspräsidentin Regina van Dinther die Feiern zum 60- jährigen Jubiläum des Landes auszurichten. Ein großer Erfolg, die Bürgerinnen und Bürger des Landes strömten Ende August nach Düsseldorf. Dabei will man es nicht bewenden lassen: Künftig soll jedes Jahr der Geburtstag des Landes begangen werden – reihum im Land, damit sich niemand ausgeschlossen und jeder einbezogen fühlt.
    JK

    ID: LIN02443

  • Dr. Rüttgers, Jürgen (Ministerpräsident); Dr. Pinkwart, Andreas (FDP); Kraft, Hannelore (SPD); Löhrmann, Sylvia (Grüne)
    Die Zukunft im Blick.
    Titelthema / Schwerpunkt
    S. 19-21 in Ausgabe 11 - 25.10.2006

    Von Helmut Breuer

    Rheinländer und Westfalen haben den 60. Geburtstag ihres großen Bundeslandes fröhlich gefeiert; Landesregierung und jetzt auch das Landesparlament haben dieses markante Datum feierlich gewürdigt. Doch wie bei Jubiläen dieser Art üblich, weckt das Fest Gedanken an die Zukunft, und die wirft die Frage auf, wie sich Nordrhein-Westfalen in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird.
    Der neue CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers sieht sich vor besondere Herausforderungen gestellt: Die dramatische Haushaltslage, die immer noch signifikant hohe Arbeitslosigkeit, das durch die PISA-Studien dokumentierte schwache Schulsystem und das gerade erst durch die Wahl der ersten drei Elite-Universitäten im Süden Deutschlands sichtbar gewordene niedrigere Niveau der zahlreichen Hochschulen an Rhein und Ruhr sind große Aufgaben für die Zukunft.
    Was lag näher, als die vier wichtigsten Politiker des Landes zu bitten, ihre Zukunftsperspektive vorzustellen. Der Ministerpräsident und CDU-Landesvorsitzende Jürgen Rüttgers, sein Kabinetts-Stellvertreter und FDP-Landesvorsitzende Andreas Pinkwart, die SPD-Oppositionsführerin Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann, Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN, wagen an dieser Stelle einen Blick in die Zukunft.

    Rüttgers: Land der neuen Chancen

    "Wir wollen NRW zum Land der neuen Chancen machen. Unser Ziel ist die Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft und die Rückbesinnung auf unser Wertefundament, das ihr zugrunde liegt. Deshalb wollen wir gemeinsam die Proportionen wieder zurechtrücken, die aus dem Lot geraten sind. Wir müssen die Wirklichkeit wieder so zur Kenntnis nehmen, wie sie ist. Verteilt werden kann nur das, was vorher erwirtschaftet wird. Das weiß jeder Privatmann. Und auch der Staat muss das wieder beherzigen.
    Deshalb sanieren wir die Landesfinanzen, um neue Spielräume für Investitionen in Infrastrukturen, Innovation und Bildung zu gewinnen. Wir müssen Schulden abbauen und unser Land gleichzeitig für die Zukunft fit machen. Wir haben keinen leichten Weg eingeschlagen. Wir wollen, dass der Landeshaushalt 2010 wieder verfassungsfest ist, das heißt, dass die Summe der Investitionen größer ist als die Neuverschuldung.
    Aber die Sanierung des Haushaltes ist kein Patentrezept, um Zukunft zu gestalten. Deshalb setzt die Landesregierung gezielte Schwerpunkte: Vor allem in der Wirtschaftspolitik. Wir stehen für die Wiederbelebung der Sozialen Marktwirtschaft. Wir setzen auf mehr Selbstbestimmung und Selbstverantwortung und schaffen einen verlässlichen Ordnungsrahmen. Daraus folgt zum Beispiel, dass wir Investitionen in Infrastrukturen ermöglichen, die das Industrieland NRW nach vorne bringen. Wir bauen Bürokratie wirksam ab. Zudem konzentrieren wir die Landesförderung stärker als bisher auf Mittelständler, Existenzgründer und Forschung und Entwicklung. Wir sind "Aufsteiger Nr. 1" in Deutschland. Das sagen nicht wir - das sagen die Wirtschaftsexperten von Ernst & Young, die alle Bundesländer genau unter die Lupe genommen haben.
    Ich will ein Land, in dem Kinder alle Chancen haben. Der Schlüssel dazu liegt in der Bildung. Kinder, die heute geboren werden, machen künftig schnellere und bessere Schulabschlüsse. Und sie werden Universitäten und Berufskollegs besuchen, die international ganz vorne mitspielen. Mit einer umfassenden Schulreform schaffen wir in NRW ein modernes Bildungssystem. Dabei setzen wir auf mehr Selbstbestimmung, mehr Leistung und mehr soziale Gerechtigkeit. Im Mittelpunkt steht die bessere individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Dazu gehört dann auch, dass wir zusätzliche Lehrerstellen gegen den Unterrichtsausfall schaffen.
    Mit dem Hochschulfreiheitsgesetz und dem Studienbeitragsgesetz geben wir unseren Hochschulen endlich die Möglichkeit, starke Profile in Forschung und Lehre zu entwickeln. Zudem setzen wir uns gemeinsam mit der Wirtschaft für zusätzliche außeruniversitäre Forschungskapazitäten ein, damit NRW Innovationsland Nr. 1 wird. Wir wollen NRW zu einem kinderfreundlichen Land machen. Die Familien haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen helfen, Kinder und Beruf zu vereinbaren. Und unsere Kinder haben einen Anspruch darauf, dass wir sie so früh wie möglich so gut wie möglich fördern. Deshalb stellen wir in diesem Jahr für Kinder, Jugend und Bildung über eine viertel Milliarde Euro mehr zur Verfügung als noch im vergangenen Jahr. Deshalb schaffen wir ein flächendeckendes Netz von Familienzentren, die Kinderbetreuung, frühkindliche Bildung und Familienberatung bündeln. Und deshalb verstärken wir die frühkindliche Sprachförderung.
    In Zeiten gravierender Veränderungen helfen Kunst und Kultur, neue Entwicklungen zu verstehen. Daher setzen wir einen besonderen Schwerpunkt auf die Förderung der Kultur. Denn Kunst und Kultur sind ebenfalls Motoren für die Innovationsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie zeigen, was Menschen durch ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Identität erreichen können. Die erfolgreiche Bewerbung Essens und des Ruhrgebiets um die Kulturhauptstadt 2010 ist dafür ein herausragender Beweis.
    Gesunde Finanzen, moderne Industrien, bessere Schulen und Universitäten, kinderfreundliche Angebote für Mütter, Väter und Kinder, ein Herz für Kunst und Kultur: Damit machen wir unser schönes Land fit für die Zukunft. Mit neuen Chancen für alle."

    Andreas Pinkwart: Ein riesiger Kraftakt

    "Das Land Nordrhein-Westfalen steht vor immensen Herausforderungen. Der Landeshaushalt ist nicht verfassungskonform, die Arbeitslosenquote liegt bei über elf Prozent, die Pisa-Studie attestiert den Kindern schlechtere Bildungschancen als andernorts, wir haben zwar die dichteste, aber leider - Stichwort Exzellenzinitiative - noch lange nicht die beste Hochschullandschaft, Schlüsseltechnologien und zukunftsträchtige Forschungsbereiche wurden jahrelang aus ideologischen Motiven ausgebremst. Besonders dramatisch: Bei den Investitionen in Forschung und Entwicklung (F+E) liegt Nordrhein-Westfalen nicht nur weit hinter dem Lissabon-Ziel von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, sondern auch mit großem Abstand hinter dem Bundesdurchschnitt. Bund und Land haben hier in NRW in den vergangenen Jahren genau die gleiche Summe in die Subventionierung der Steinkohle investiert wie in Forschung und Entwicklung.
    Dem gegenüber steht ein enormes Potenzial: NRW stünde als eigenes Land auf Platz 14 der wirtschaftsstärksten Staaten in der Welt, jeder vierte Student in Deutschland wird an unseren Hochschulen ausgebildet. Wir haben starke Unternehmen und exzellente Forschungseinrichtungen - nur eben noch nicht genug. Warum ich die Zukunft Nordrhein- Westfalens trotzdem optimistisch beurteile und warum wir als neue Landesregierung große Chancen sehen, unsere ambitionierten Ziele zu erreichen? Weil die Menschen in unserem Land auf einen klaren, zukunftsweisenden Kurs der Politik gewartet haben. Sie wollen den Mentalitätswechsel mittragen, sich beteiligen, ihre neue Gestaltungsfreiheit nutzen und Verantwortung übernehmen.
    Zum Beispiel in der Bildungspolitik. Wir brauchen einen grundsätzlichen Mentalitätswechsel. Nicht Mittelmaß darf der Maßstab sein, sondern Wettbewerb und Exzellenz. Das neue Schulgesetz, Studienbeitragsgesetz und Hochschulfreiheitsgesetz werden viel bewirken: Mehr individuelle Förderung für die Schüler, bessere Studienbedingungen, mehr Gestaltungsspielräume und Leistungsanreize für Schulen und Hochschulen. Zum Beispiel in der Innovationspolitik. Unsere Innovationsstrategie folgt einem klaren Grundsatz: Kreativität freisetzen und Kräfte bündeln. Dazu erhöhen wir die Landesmittel für Wissenschaft und Technologie, und wir werben bei Partnern gezielt für die Stärken unseres Landes.
    Wir haben uns zum Ziel gesetzt, 2015 Innovationsland Nr. 1 in Deutschland zu sein. Dies können wir erreichen, aber wir werden riesige Anstrengungen unternehmen müssen. Dazu gehört, einen ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen, damit wieder Gestaltungsspielräume entstehen. Wir müssen so schnell wie möglich raus aus den Steinkohle-Subventionen und das Geld stattdessen in Forschung und Entwicklung investieren. Wir müssen Bürokratielasten abbauen, ideologische Barrieren in der Energie-, Stammzell- und Genforschung aufgeben. Wir müssen strategisch bedeutende Projekte bei der Verkehrsinfrastruktur vorantreiben, auch in der Flughafenpolitik.
    Angesichts der Ausgangslage, die wir nach Jahren der Stillstandspolitik in NRW vorgefunden haben, wird diese Aufholjagd ein riesiger Kraftakt. Wir brauchen einen klaren Kurs, Tatkraft und Begeisterung - und wir brauchen vor allem Partner, die anpacken und gemeinsam etwas bewegen wollen. Die CDU/FDPLandesregierung hat in ihrem ersten Jahr viele wichtige Weichen gestellt, Unternehmen fassen wieder Vertrauen in den Standort. Menschen finden wieder Rahmenbedingungen, die ermutigen. Die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft kann gelingen - aber Zeit hat unser Land nicht mehr zu verlieren."

    Hannelore Kraft: Land mit Kraft und Gewicht

    "Nordrhein-Westfalen, ein Bundesland mit Kraft und Gewicht: Das industrielle Herz Deutschlands, der wichtigste Wirtschaftsstandort, mit 18 Millionen Einwohnern im Zentrum der EU größer als alle seine Nachbarn, die dichteste Hochschullandschaft Europas. . . Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Aber wirklich mit Stolz erfüllt mich, dass die traditionelle Weltoffenheit und Toleranz seiner Menschen Nordrhein-Westfalen in den vergangenen 60 Jahren zu einer sympathischen und dynamischen europäischen Region gemacht haben.
    Doch NRW ist auch ein Bundesland, das große Herausforderungen zu meistern hat: Der Strukturwandel, Arbeitslosigkeit, Wandel zur Wissensgesellschaft - es gibt viel zu tun. Deshalb ist es wichtig, nach vorne zu schauen. Mir liegt das "Unternehmen Zukunft NRW" am Herzen.
    Viele Menschen bedrücken Sorgen. Auf der einen Seite ist das Sicherheitsgefühl früherer Jahre auf vielen Ebenen verloren gegangen. Auf der anderen Seite vermittelt die Zukunft vielen Menschen zu wenig Zuversicht. Das schürt Zukunftsängste. Deshalb erwarten die Bürgerinnen und Bürger Orientierung.
    Wo soll NRW in 20, 40, 60 Jahren stehen?
    Wir müssen dafür arbeiten, dass NRW dann ein Bildungsland ist: Das Wissen in den Köpfen unserer jungen Menschen ist der wichtigste "Rohstoff" für unsere Zukunft. Chancengerechtigkeit ist deshalb eines der obersten Ziele. Wir können es uns schlicht nicht leisten, Talente am Wegesrand zurück zu lassen.
    Die heute viel zu frühe Aufteilung von Jungen und Mädchen nach der Klasse 4 ist in einigen Jahren längst in die schulpolitische Abstellkammer ausrangiert. Schulische Karriere ist allein Ergebnis persönlicher Leistungsfähigkeit jeden einzelnen Kindes - unabhängig von sozialem Hintergrund und Leistungsfähigkeit des Elternhauses. Die Kinder lernen länger gemeinsam, werden gezielt individuell gefördert. Nachhilfeschulen werden nicht mehr gebraucht. Die in den vergangenen Jahren eingeleiteten Schritte zum Ausbau der Ganztagsbetreuung sind inzwischen umfassend umgesetzt. NRW ist nicht mehr Schlusslicht bei den Krippenplätzen, sondern Spitzenreiter.
    Die Wirtschaft hat mit Hilfe des Landes die Fehler der Vergangenheit korrigiert und Ausbildung als Investition in die eigene Zukunft erkannt und angenommen. Die Verbesserung des Bildungssystems hat Früchte getragen. Die Unternehmen konkurrieren um die jungen Menschen als ihr Zukunftskapital schlechthin. Ausbildungslücke ist ein Unwort früherer Zeiten.
    Wir in NRW vergeuden kein Talent. Im Gegenteil, die besten jungen Wissenschaftler aus aller Welt machen NRW zusammen mit exzellenten Hochschulen und international bedeutenden Forschungseinrichtungen zu einer Region mit weltweit beachteten Spitzenleistungen in Zukunftsfeldern der Entwicklung und Forschung. Die Wirtschaft hat dieses innovative Umfeld für sich entdeckt und verstärkt die Forschungsleistungen mit überdurchschnittlichen eigenen Investitionen in diesen Bereich.
    Die Folgen einer konsequent auf Familie und Kinder ausgerichteten Politik sind für das Land erfreulich: Die Anfang des Jahrhunderts noch stark sinkende Geburtenquote steigt wieder deutlich an.
    Essen als Kulturhauptstadt Europas 2010 hat seine Strahlkraft entfaltet. Das Ruhrgebiet wird als international bedeutsame, lebendige Kulturregion wahrgenommen. Insgesamt hat NRW einen guten Namen in der globalen Kulturszene.
    Zu guter Letzt noch mein Wunsch als sportbegeisterte Bürgerin: Das Jahr 2006 hat der internationalen Sportwelt gezeigt, dass NRW ein hervorragender Gastgeber gewesen ist. Die fantastischen Fans haben ihren Beitrag dazu geleistet. So gibt NRW auch im Sport den Ton unter den Bundesländern an - als Gastgeber Olympischer Spiele."

    Sylvia Löhrmann: Die Zukunft ist grün

    "NRW ist ein tolles, attraktives und grünes Land. Die Grünen sind die Garanten dafür, dass das so bleibt. Mit diesem Selbstbewusstsein stellen wir uns den entscheidenden Zukunftsfeldern: Demographischer Wandel, Globalisierung, Übergang zur Wissensgesellschaft sowie die drohende Klimakatastrophe und die Ressourcenverknappung. In all diesen Feldern braucht unser Land Lösungsansätze mit dem sich durchziehenden grünen Faden der Nachhaltigkeit.
    Es kommt darauf an, den sozialen Zusammenhalt zu stärken: In der Gesellschaft, innerhalb einer Generation und zwischen Generationen, zwischen den Metropolen und den ländlichen Regionen, zwischen alten Mehrheiten und neuen Minderheiten. Wir müssen alles dafür tun, die natürlichen Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Kindeskinder zu schützen.
    Die Globalisierung löst Ängste aus. Umso dringlicher benötigen wir weiterentwickelte soziale Schutzmechanismen und neues wirtschaftliches Denken. Dazu braucht es Identität stiftende Visionen und ein nachhaltig wirksames, langfristig angelegtes Konzept. Grüne Marktwirtschaft verbindet Solidarität mit Zukunftschancen in innovativen Technologie- und Wirtschaftsfeldern. Grüne Marktwirtschaft ist soziale Marktwirtschaft plus Nachhaltigkeit und plus Innovation.
    Das grüne Kernthema bleibt die Ökologie. Gesundes Essen, weniger Staub und Lärm, mehr Verbraucherrechte: Essentials, für die wir neue Zustimmung gewinnen wollen.
    Angesichts des dramatischen weltweiten Klimawandels steht derzeit gerade für unser Energieland NRW die Energiepolitik im Focus. Wir müssen weg vom Öl - im Sinne einer volkswirtschaftlichen Gesamtstrategie. Das ist unabdingbar mit Blick auf die kommenden Generationen und mit Blick auf den weltweiten Energiebedarf und die Energiepreise. Diese Strategie - "weg vom Öl", hin zu erneuerbaren Energien - löst eine neue wirtschaftliche Entwicklung aus mit einem enormen Potenzial an zukunftsfähigen Arbeitsplätzen. Dazu gehört auch der Ausstieg aus den Milliardensubventionen für die Kohle. Es gibt Wichtigeres, wofür das Land Geld ausgeben muss: Kinder statt Kohle.
    Der Dauerbrenner PISA legt immer wieder den Finger in die offene Wunde: NRW schafft es nicht, die Bildungspotenziale seiner Menschen zu entwickeln. Der Zugang für alle Kinder und Jugendlichen zu einer qualifizierten Bildung ist die wichtigste Ressource der Zukunft. Bessere Leistungen in der Spitze wie in der Breite, darauf kommt es an. Das kann nur gelingen, wenn Vielfalt und individuelle Förderung zusammen kommen, und nicht, wenn Kinder schon mit neun bis zehn Jahren in "Schulform-Schubladen" gesteckt werden. Nur Menschen mit guter Bildung und dem Willen zur Leistung können auf ein hohes Einkommen hoffen - nur ein Land mit sehr gut qualifizierter Bevölkerung und dem politischen Willen zur Spitze kann auf Dauer seinen Menschen ein gutes Auskommen sichern! Nur wenn auch den Migrantinnen und Migranten eine sehr gute Bildung ermöglicht wird, kann die Integration weiter Teile der Bevölkerung gelingen."

    ID: LIN02444

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Die Fraktionen im Landtag NRW