Einen bequemen Mann hat sich die SPD-Fraktion mit Dr. Fritz Kassmann nicht an ihre Spitze gesetzt. Der Mann, der mit Stolz vermerkt, daß er sich in seinem nunmehr 62-jährigen Leben in einem guten Dutzend Berufe bewährt hat, macht es weder sich selbst noch anderen leicht. Was er am meisten verabscheut, ist Mittelmäßigkeit.
Als er am 13. Juli 1970 zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde, gab er offen zu, daß es ihm nicht leichtgefallen sei, von seinem früheren Amt Abschied zu nehmen. Nachdem er sich aber entschlossen hatte, der Fraktion zur Verfügung zu stehen und von ihr ein überwältigendes Vertrauensvotum erhalten hatte, stand es für ihn fest, daß er sich mit der Note "ausreichend" ebensowenig begnügen wollte wie in seinen bisherigen Tätigkeiten als Rechtsanwalt, Direktor einer Industriebau-Gesellschaft,Präsident des Landesarbeitsgerichts, Ministerialrat im Arbeitsministerium, Amts- und Stadtdirektor in Marl, erster Landesrat des Landschaftsverbands Rheinland, Wiederaufbauminister, Vorstandsmitglied der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen, Bundesratsminister und Wirtschaftsminister.
Kassmann besitzt das gesunde Selbstvertrauen des Mannes, der mit seinen Erfolgen zufrieden sein kann. Sein Ehrgeiz richtet sich nicht danach, Beifall zu gewinnen, sondern dem gesteckten Ziel gerecht zu werden. Um das zu erreichen, arbeitet er hart. Nüchternheit und Sachlichkeit sind ihm dabei oberstes Gebot. Seine kühle Sachlichkeit, die ihm übrigens nicht angeboren ist, zu der er sich in der Hitze politischer Emotionen vielmehr oft genug zwingen muß, geht so weit, daß er selbst im täglichen Büroumgang seinen Wortschatz kontrolliert und nach Möglichkeit alle Floskeln vermeidet, die bei Überprüfung ihres Sinngehalts keinen Platz im Arbeitsleben haben sollten. Mit der landläufigen Vorstellung vom urwüchsigen, starrköpfigen Westfalen ist Kassmann nur schwer in Einklang zu bringen. Dennoch fühlt er sich als Westfale aus Überzeugung, wenngleich landsmannschaftliche Erwägung in der Politik ihm zweitrangig erscheinen.
Seine Erholung von der Arbeit findet Kassmann in ausgedehnten Wanderungen durch den Arnsberger Wald, den er wie seine Westentasche kennt und den er für eine der landschaftlich reizvollsten Gegenden Deutschlands hält. Den Hinweis, daß auch Oppositionschef Köppler Wandern zu seinen Hobbys zählt, quittiert er mit der Bemerkung: "wir beide würden wahrscheinlich ein paar ganz passable Wanderburschen abgeben." Das schließt nicht aus, daß er es vermutlich auch weiterhin vorzieht, sich auf seinen Spaziergängen von seinen Hunden begleiten zu lassen. Tierfreund Kassmann umgibt sich gern mit eigenwilligen Tieren. Während er früher Bernhardiner und Doggen züchtete, hält er zur Zeit einen Wolfsspitz, einen altdeutschen Schäferhund und einen Rottweiler. Bei Pferden schätzt er vor allem die zierlichen, aber zähen, blondmähnigen Haflinger. Kassmann, für den die Rechtswissenschaft nicht nur Brotstudium, sondern geistige Disziplin bedeutete, liest viel. Neben der beruflichen Pflichtlektüre Interessieren ihn alle Bereiche der Gesellschaftswissenschaften, zu denen er als Student den Eingang durch die Religionssoziologie von Max Weber gefunden hat.
Marianne Lohaus
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