Als der Krieg zu Ende ging, war er
gerade neunzehn Jahre alt. Als
Soldat ging er für ein Jahr in Gefangenschaft.
Den meisten seiner
Altersgenossen mochte die deutsche
Kapitulation zugleich den Zusammenbruch
ihrer bisherigen
Glaubensinhalte bedeutet haben;
für Wolf gang Brüggemann war sie,
umgekehrt, deren Bestätigung.
Herkunft und eigenes Nachdenken
hatten ihn davor bewahrt, der Anziehungskraft
des Nationalsozialismus
zu erliegen. Von der auf Hitler
eingeschworenen Staatsjugend hatte
er sich fernhalten können; in
der illegalen "Kathofischen Jugend"
fand er eine andere, oppositionelle
Solidarität.
Frühe Erfahrungen. Aber sie wirken
fort und leisten bereits einen
Beitrag zum politischen Credo des
jetzigen CDU-Parlamentariers: Hier
Konfliktbereitschaft Brüggemann
zitiert gern Dahrendorfs Wort "Konflikt
ist Freiheit" , dort ein verbindliches,
grundlegendes Wertsystem,
das des Christentums.
Und es wirken fort: die langen
Jahre eines, nach heutigen Begriffen,
keineswegs auf direkte "Effektivität"
ausgerichteten Studiums,
das Brüggemann in einer existenziell
dialektischen Situation absolviert.
Hier, in Münster, die Aneignung
theoretischen Wissens; dort,
in der Vaterstadt Bochum, als
Werkstudent im Pütt und im Bochumer
Verein, der direkte Kontakt zu
den sozialen Wirklichkeiten. Solidaritäts-
und Konflikterfahrungen
doppelter Natur in ihrer zweiten
Phase.
Die Studieninteressen sind breit
angelegt. Was bewegt die Welt und
was hält sie zusammen, die Frage
steht hinter ihnen. Geschichte und
Philosophie, Germanistik und nun
nicht, wie Faust: leider, sondern
mit innerer Logik auch Theologie.
Zieht man, etwas verwegen,
eine imaginäre Quersumme aus
dem, wofür die Namen seiner akademischen
Lehrer stehen, so läßt
sich behaupten, der Student Brüggemann
habe seinerzeit im Studium
geistiger Prozesse der Vergangenheit
hauptsächlich nach deren Anwendbarkeit
auf die Gegenwart gesucht.
Dem jetzigen Bischof von
Mainz, Hermann Volk, der damals
systematische Theologie in Münster
lehrte, über "Politik als Aufgabe"
schrieb und von dem aus
sich Verbindungslinien zu Karl
Barth ziehen lassen, weiß Brüggemann
sich ebenso verbunden, wie
seinem Doktorvater Herbert Grundmann,
dem nachmaligen, kürzlich
verstorbenen Präsidenten der Monumenta
Germaniae historica. Weitere
Lehrer: Der Sozial- und Wirtschaftsgeschichtler
Werner Conze,
die Historiker Hans Stier und Kurt
von Raumer, der Germanist Benno
von Wiese. Nicht zu vergessen der
schwedische Theologe Nügren, damals
Professor, jetzt Bischof in
Lund.
Theorie und Praxis. Das zerstörte
Deutschland im Kopf und vor
Augen, vollzog Brüggemann schon
1946 seinen Beitritt zur CDU. Es
war die Partei, die sich auf das
1947 verkündete Ahlener Programm
hinbewegte. Praxis und Theorie:
Man muß Erlerntes und Erfahrenes
weitergeben und miteinander verbinden.
So wird Brüggemann zum
Pädagogen. Lehrer, Fachleiter, endlich
Professor an der Pädagogischen
Hochschule Ruhr in Dortmund
mit dem Lehrauftrag politische
Bildung und Didaktik der Geschichte.
Gleichzeitig aber auch
Stadtverordneter in Bochum, dann
Fraktionsvorsitzender im Stadtrat,
endlich Bürgermeister von Bochum:
Der Jugendtraum, es darin dem
Großvater gleich zu tun, hat sich
erfüllt.
Seit 1966 gehört der ehemalige
Bundesvorsitzende des RCDS dem
Landtag an. Er ist der hochschulpolitische
Sprecher seiner Partei.
Er ist Parlamentarier aus dem Gefühl
einer Verpflichtung, und wie
er stets und überall in der komplementären
Dialektik von Wissen
und Handeln, von "Unterscheidung
und Harmonie" den Ansatz für
realistische Perspektiven erblickt
hat, so faßt er seine Aufgabe im
Landtag auf: Solidarisch mit der
Fraktion, verpflichtet aber dem
Ganzen. Es ist seine dritte Phase
eigenster und generationsgebundener
Erfahrungen. Sie haben ihn
im historischen Rückblick skeptisch
werden lassen. Ob es gelingt, das
Wohl des sozialen Ganzen in der
legitimerweise von Interessen
und Konflikten bestimmten Gesellschaft
der modernen Demokratie
zu sichern, ist seine Sorge.
Hans Schwab-Felisch
ID: LI713403