Parlamentsgespräch Antisemitismus

18.02.2019 - "Gibt es einen neuen deutschen Antisemitismus?" - diese Frage stand im Mittelpunkt eines Parlamentsgesprächs, zu dem der Präsident des Landtags, André Kuper, für den 12. Februar 2019 eingeladen hatte. Unter den Expertinnen und Experten waren u. a. die Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus, die frühere Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, und der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer.

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Parlamentsgespräch „Gibt es einen neuen deutschen Antisemitismus?“

Off-Stimme:

„Gibt es einen neuen deutschen Antisemitismus?“ Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Parlamentsgesprächs, zu dem der Präsident des Landtags, André Kuper, eingeladen hatte.

Der Präsident führte in das Thema ein und hob dessen Bedeutung hervor. Er sagte:

André Kuper, Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen:

„Antisemitismus ist kein Thema der Vergangenheit. Es ist ein aktuelles Thema. Leider auch immer noch und schon wieder in unserem Land. Und damit werden wir uns nicht abfinden.“

Off-Stimme:

Der deutsch-israelische Autor Arye Shalicar las aus seinem Buch „Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden heute zu Deutschland?“ Eindringlich schilderte er darin, wie er bereits als Schüler in Berlin Opfer von Antisemitismus wurde.

Arye Shalicar, Buchautor:

„Gegen wachsenden Antisemitismus in Deutschland, der aus der rechtsradikalen, der linksradikalen, der muslimischen Ecke kommt, muss man mehr tun. Mehr tun heißt jetzt nicht: noch mehr Gedenkveranstaltungen der Vergangenheit halber, sondern man muss gucken, dass man das Problem, das heute entsteht, beim Namen nennt. Der Jude, der heute hier in Deutschland lebt, der wird oft gleichgesetzt mit dem Staats Israel. Daran haben die Medien auch Mitschuld, wenn das Israelbild verzerrt ist. Wenn dann der Jude hier auf der Straße Angst um sein Leben haben muss, weil Menschen mit Aggressivitäten unterwegs sind. Die Jugend muss abgeholt werden. Und man muss da mehr Jugendarbeit machen.“

Off-Stimme:

Auch die Beauftragte gegen Antisemitismus der nordrhein-westfälischen Landesregierung, die frühere Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, warnte in ihrem Impulsreferat vor wachsender Judenfeindlichkeit in Deutschland.

Sabine Leutheusser-Scharrenberger, Beauftragte gegen Antisemitismus der nordrhein-westfälischen Landesregierung:

„Das über 70 Prozent der in Deutschland lebenden Juden Angst haben, dass sie bedroht werden, dass sie in Gefahrensituationen kommen, von denen sie nicht wissen, ob sie sie beherrschen können, und dass die Überlegung, Deutschland vielleicht zu verlassen, wieder eine ist, die angestellt wird. Und ich glaube, wir hatten genau ein anderes Selbstverständnis mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland, dass genau das nie wieder eintreten darf. Und deshalb ist das der Hintergrund, auf dem die Einrichtung, die Ernennung Antisemitismusbeauftragter auf Bundesebene und inzwischen in acht Bundesländern erfolgt ist. Denn es ist notwendig aufzuklären, es ist notwendig gegenzuhalten.“

Off-Stimme:

Und der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, mahnte:

Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:

„Es gibt Menschen, die uns Juden in Deutschland eine Form von Alarmismus vorwerfen. Manche sagen, der Antisemitismus habe in den vergangenen Jahren überhaupt nicht zugenommen, jedenfalls nicht messbar. Mich würde es freuen, wenn diese Leute Recht hätten. Doch leider liegen sie vollkommen falsch. Beginnen wir mit der Kriminalstatistik der Polizei. Sie weist für 2017 insgesamt 1.504 antisemitische Straftaten aus, eine Steigerung um 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zum ersten Mal sind laut Bundesinnenminister Seehofer auch die sogenannten importierten antisemitischen Straftaten wieder angestiegen. Also die Straftaten von Menschen, die nicht in Deutschland geboren sind. Doch es gibt viele Vorfälle, die in dieser Statistik gar nicht erfasst werden. Das kann etwa eine jüdische Patientin sein, die von ihrem Arzt gefragt wird: Haben Sie einen typisch jüdischen Vornamen, Judennamen?. Oder ein jüdischer Student, der sich bei einer Sitzung des AstA für die Politik von Benjamin Netanjahu rechtfertigen muss, obwohl er ihn noch nie gewählt hat. Oder ein jüdischer Schüler, der von seinen Mitschülern gemobbt wird und mit „Du Jude“ oder „Du Opfer“ beschimpft wird. Wir wissen von unseren Gemeindemitgliedern: Alle drei Betroffenen werden oder würden wahrscheinlich keine Anzeige erstatten. Aus diesem Grund unterstützen wir die Arbeit von RIAS, dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus in Berlin. Damit wollen wir das wahre Ausmaß des Antisemitismus sichtbarer machen. Bei RIAS können sich Betroffene seit Anfang des Monats aus dem gesamten Bundesgebiet online oder telefonisch melden und ihre Erfahrungen schildern. Und natürlich führt RIAS einen Verifizierungsprozess durch. Denn wir wollen nicht einfach blind Panik schüren, sondern Informationen sammeln und aufklären. Dazu haben wir leider allen Grund. Wir müssen in der letzten Zeit feststellen, dass der Respekt der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland uns Juden gegenüber abnimmt.“

Off-Stimme:

In der Diskussion, durch die Moderatorin Anne Gesthuysen führte, waren sich die Teilnehmer einig: Im Kampf gegen Antisemitismus müsse die Gesellschaft insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ansetzen.

Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:

Einen 50-, 60-Jährigen werden sie nicht mehr bekehren, aber einen 15-, 16-Jährigen, den können sie bekehren.

Off-Stimme:

Der Präsident des Landtags freute sich über die engagierte Debatte.

André Kuper, Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen:

„Mit unserem Parlamentsgespräch heute wollten wir deutlich machen: Wir dulden keinen Antisemitismus. Und dass Antisemitismus wieder ein Thema ist, das konnten wir hier und heute Abend in dieser Podiumsdiskussion ganz deutlich vernehmen. Es gab vielfältige Beispiele. Und deshalb fordere ich alle Demokratinnen und alle Demokraten auf: Lassen sie uns in dieser demokratischen Gesellschaft dafür kämpfen und gemeinsam einstehen, dass Antisemitismus, Gewalt und Hass in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Wir sollten da ein deutliches Zeichen geben.“

 

Die Fraktionen im Landtag NRW