Der Abgeordnete Siegfried Martsch, den fast alle "Siggi" nennen, ist kein typischer Vertreter der Grünen: Kein Akademiker, sondern gelernter Kfz-Schlosser, kein Wehrdienstverweigerer, sondern Soldat für 15 Monate, kein Pazifist, sondern jemand, der offen sagt: "Wenn man mich angreift, wehre ich mich, das gilt nicht nur für den persönlichen Bereich."
Der 37 jährige ist in Bochum geboren, seit vielen Jahren lebt er mit Ehefrau und drei Söhnen (elf, neun und sechs Jahre) auf einem gepachteten Sechs-Hektar-Hof in Borken als Nebenerwerbs-Bauer. Im Hauptberuf ist Martsch seit Mai Landtagsabgeordneter. Ein kurzer Ausflug in die Selbständigkeit Anfang der 80er ist mißlungen. Schlimmer noch: Der Versuch des Bauunternehmers Martsch endete mit einer siebenmonatigen Strafe auf Bewährung wegen Konkursvergehens. Offen räumt er ein, dies sei nun einmal Bestandteil seiner Biographie, nicht gerade eine Auszeichnung, aber,das ist halt so".
Zur Partei der Grünen findet der schwergewichtige Mann im Januar 1984. Ab 1983 war er zu Grünen-Versammlungen gegangen. Dann habe er nicht mehr nur dabei sein wollen. "Mitmachen" lautete seine Parole. Und schnell stieg er auf, allerdings nicht als "Überflieger", sondern, wie er sagt, "auf der Ochsentour", also über die Kommunalpolitik in Borken. Zwei Jahre war der Agrarexperte der Grünen-Landtagsfraktion auch Sprecher des Landesvorstandes der Partei in NRW.
In einer Zechensiedlung in Bochum und später in Lippstadt wurde Siegfried Martsch groß: Neun Jahre Volksschule, Kfz-Schlosser-Lehre, Wehrdienst, Fernfahrer (viel in Italien) das sind weitere Stationen auf seinem Lebensweg. Er wollte ganz bewußt zur Bundeswehr, weil er dort, wo die meisten männlichen Altersgenossen waren, politisch argumentieren wollte. "Ich traute es mir zu, in der Bundeswehr zu diskutieren." Im "Bau" sei er nie gelandet. Auch heute akzeptiere er die Soldaten, habe keinerlei Vorurteile.
Erste politische Aktivitäten gab es im CVJM, dann folgte Engagement in der linken Lehrlingsbewegung, in den Republikanischen Clubs, später bei der Evangelischen Studentengemeinde (ESG). Vier Jahre wirkte Martsch als Nicht-Akademiker im Vorstand der ESG. Solidarität mit Palästina und Afrika war für ihn ein großes Thema damals. Ein Höchstmaß an Sympathie mit Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 wich zunehmender Irritation über die Siedlungspolitik der Israelis: "Für mich war es nicht verständlich, daß die Juden, die selbst soviel Unbegreifliches erlitten haben, nun gegenüber Palästinensern zu menschenverachtenden Mitteln griffen."
Das heutige Vorgehen der USA am Golf nennt Martsch ein "überflüssiges und gefährliches Spiel". Der Westen habe gegenüber Saddam jahrelang alles andere als glaubwürdige Politik betrieben. Mit solchen Leuten hätte man eben keine Geschäfte treiben dürfen. Statt zum Krieg, würde er zu "schärfsten politischen und wirtschaftlichen Sanktionen" gegen Irak raten.
Martsch, der sich nicht eindeutig den Flügeln in der GRÜNEN-Fraktion zuordnen läßt, sagt, er nabe viele wertkonservative Züge. Hat er Probleme mit der Haltung seiner Partei zur Abtreibung? Martsch zögert einen Moment. Dann erzählt er von heftigen Diskussionen daheim mit seiner Frau. Er möchte, daß keine Frau in diesem Land meint, abtreiben zu müssen. Das sei seine gesellschaftliche Utopie. Solange diese nicht Wirklichkeit werde, müsse man wohl jeder Frau zubilligen, selbst darüber zu befinden, ob sie das Kind austragen soll oder nicht. Martsch: "Deshalb bin ich dafür, den Paragraph 218 abzuschaffen, er löst das Problem nicht."
Wie steht es um das Verhältnis des Grünen Martsch zum Auto? Schließlich war er einmal Kfz-Schlosser und Lastwagenfahrer. Das gleichsam erotische Verhältnis zum Auto sei längst passé. Heute empfindet der Diesel-Fahrer (demnächst soll ein Kat-Fahrzeug angeschafft werden) Autofahren als Last und als Streß. 90 Prozent seiner Wege lege er mit der Bahn zurück. Ein schlimmer Unfall zu Jahresbeginn hat ihm das Autofahren zusätzlich vermiest. Damals, am 10. Januar, sei er verletzt aus seinem Autowrack gekrabbelt. Er zeigt ein Foto, das belegt, daß Siegfried Martsch unwahrscheinliches Glück gehabt hat: Das Überleben sei wie ein zweiter Geburtstag gewesen, meint er rückblickend.
Untypisch für einen Grünen ist auch Martschs Haltung zur deutschen Einheit. Stets sei er dafür gewesen, mit dem Wegfall der Mauer sei von sehr vielen Menschen eine schwere Last genommen worden. Zu Silvester 1989 ist er mit seiner Familie zu einer Tante nach Dresden aufgebrochen: "Ich war erheblich gerührt." Jetzt ärgert er sich darüber, daß seiner Meinung nach der Kanzler den Leuten drüben "das Blaue vom Himmel" verspricht, daß fortschrittliche Politik-Konzepte der revolutionären Bewegung vom vergangenen Herbst keine Chancen mehr haben.
Martsch bezeichnet sich als einen Politiker, der zwar für Visionen offen, aber doch eher praktisch orientiert ist. 30 oder 40 Jahre am Schraubstock zu arbeiten und mit den Kollegen über Politik reden, um sie zu überzeugen, erscheine ihm viel heldenhafter als fünf Minuten etwas Spektakuläres zu veranstalten. Noch eine Abweichung von anderen Grünen: Mansch sagt, er sei ungebrochen optimistisch, glaube an die gute Substanz in jedem Menschen. Dafür werde er in der Partei oft belächelt.
Reinhold Michels
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