Willi Eichler (1896-1971)

Willi Eichler war ethischer Sozialist. Er war überzeugt von der Notwendigkeit einer wertegeleiteten Politik. Aus dieser Haltung heraus lässt sich sowohl sein Widerstand gegen den Nationalsozialismus als auch seine Rolle als „Vater des Godesberger Programms“ der SPD erklären.

Willi Eichler wurde am 7. Januar 1896 in Berlin geboren. Dort wuchs er in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf – sein Vater war Postbeamter, und seine Mutter hatte als Dienstmädchen gearbeitet. Willi wurde evangelisch getauft, war jedoch nach eigenen Angaben nicht religiös. Er war das dritte von sechs Kindern der Familie, wobei einer seiner Brüder im Säuglingsalter an Diphterie gestorben war und eine Schwester (womöglich infolge einer fehlerhaften Operation) an einer geistigen Behinderung litt, die es ihr verunmöglichte, eine Sprache zu sprechen. Sie starb im Alter von 17 Jahren. Auch wenn die Familie durch das regelmäßige Einkommen nicht in dem Maße Not litt, wie eine Vielzahl an Proletarierfamilien dieser Zeit, war die wirtschaftliche Situation der Eichlers durchaus angespannt.1 Willi Eichler schrieb diesbezüglich: „Ich lernte recht früh das Elend eines ärmlichen Haushalts kennen und die Sorgen um Geld und Brot. Ich musste deshalb auch sobald wie möglich, noch als Schuljunge, helfen, Geld zu verdienen.“2

Bis zu seinem 14. Lebensjahr besuchte Eichler die Volksschule in Berlin. Danach begann er eine Lehre in der Finanzbuchhaltung eines Berliner Konfektionsgeschäft,3 wo er nach eigenen Angaben „in der üblichen Weise ausgenutzt“4 wurde. Diese ungerechten, kapitalistischen Verhältnisse ließen in ihm den Wunsch entstehen, einer selbstständigen Arbeit nachzugehen. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchkreuzte das Vorhaben einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Von 1915 bis 1918 wurde er als Soldat in Russland und Frankreich eingesetzt und erhielt für seine Dienste das Eiserne Kreuz II. Klasse.5

Nach dem Krieg wurde er Kalkulator für eine Berliner Elektrofirma. Allerdings hatte ihn die Revolution politisiert. Auch wenn er zuweilen Kritik am Verlauf der Novemberrevolution übte, war er von einigen Entwicklungen durchaus angetan.6 So schrieb er: „[E]ins blieb unauflöslich haften in der Erinnerung: Dass man Regierungen nicht als gegeben hinzunehmen braucht, sondern dass man darauf hinarbeiten kann, eine bestimmte Regierung ans Ruder zu bringen.“7 Anfang der 1920er Jahre stieß Willi Eichler dann zum „Internationalen Jugendbund“ (IJB), der von dem Göttinger Mathematiker und Philosophen Leonard Nelson gegründet worden war. Der Bund wandte sich gegen einen historisch-ökonomischen Determinismus und proklamierte vielmehr einen ethisch-kulturellen Grundwertesozialismus. Allerdings wurde das demokratische Mehrheitsprinzip abgelehnt und stattdessen ein Führerprinzip, wie es in der Weimarer Republik populär war, befürwortet. Es ist somit nicht verwunderlich, dass der Bund einem Orden glich und sehr hierarchisch strukturiert war. Innerhalb des Bundes wurde sogar das Zölibat praktiziert.8

Eichler, der mittlerweile auch der SPD beigetreten war, machte innerhalb des Bundes rasch Karriere. Er beteiligte sich beim Aufbau des Landerziehungsheims Walkemühle und wurde 1924 Nelsons Sekretär. 1925 wurde innerhalb der SPD ein Unvereinbarkeitsbeschluss gefasst, nachdem eine zeitgleiche Mitgliedschaft in der SPD sowie im IJB verboten wurde. Die Anhänger des IJB nahmen dies zum Anlass, um kurzerhand die Partei „Internationaler Sozialistischer Kampfbund“ (ISK) zu gründen. Aber auch in der neuen Struktur war der Bund mehr Orden als Partei. Vielfach wurden Prinzipien und Regeln noch strenger aufgefasst. Es verwundert nicht, dass der Bund in seinen besten Zeiten kaum mehr als 300 aktive Anhänger aufweisen konnte. Nachdem Leonard Nelson 1927 gestorben war, übernahm Willi Eichler die neue Führung. Nebenbei war er immer wieder journalistisch tätig und wurde Anfang der 1930er Jahre Chefredakteur der Berliner Tageszeitung „Der Funke“. Dort schrieb Eichler engagiert gegen die immer populärer werdenden Nationalsozialisten an.9

Bereits Anfang 1933 ging Eichler in den Untergrund. Noch im gleichen Jahr emigrierte er nach Frankreich, wo er zahlreiche Schriften verfasste, die illegal nach Deutschland gebracht wurden. Eichler koordinierte vom Exil aus die Widerstandsaktivitäten des ISK. Ende der 1930er Jahre ging Eichler dann nach London. Dort wurde er Mitarbeiter der BBC und gab mehrere Zeitschriften heraus, u.a. den Informationsdienst „Europe Speaks“. In London kam es schließlich zu einer Annäherung von ISK und dem Exilvorstand der SPD, der sich ebenfalls in der britischen Hauptstadt befand. Diese Kooperation führte schließlich zur „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“, in deren Vorstand Eichler berufen wurde. Darüber hinaus lernte Eichler in London seine spätere Lebensgefährtin Susanne Miller kennen, die ebenfalls vor den Nationalsozialisten hatte fliehen müssen und nachfolgend in der Bundesrepublik als Historikerin u.a. Vorsitzende der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand wurde.10

1942 wurde Eicher von den Nationalsozialisten ausgebürgert. Mit Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte er dann allerdings wieder nach Deutschland zurück und ließ sich in Köln nieder.11 Enttäuscht war er von der Uneinsichtigkeit eines Großteils der Deutschen. „Die Selbstkritik der Deutschen, wobei ich hier immer die Minderheit ausnehme, die seit Jahren eigene Gedanken über die deutsche Politik gehabt hat, ist heute so wenig entwickelt, dass man Beschwerden und Klagen über alles und jeden hören kann, nur nicht über die eigene Unzulänglichkeit.“12 Noch im Jahr 1945 löste Eichler den ISK auf und organisierte die Eingliederung des Bundes in die SPD. Die ISK-Mitglieder, die wie Eichler in die SPD übergetreten waren, mussten sich bei diesem Schritt von ihren demokratiekritischen Positionen verabschieden. Eichler selbst wurde 1946 in den SPD-Parteivorstand gewählt. Im Jahr darauf übernahm er den Vorsitz des Bezirks Obere Rheinprovinz, der 1948 in Bezirk Mittelrhein umbenannt wurde. Von 1946 bis 1948 war er zudem Mitglied des neu gegründeten Landtags von Nordrhein-Westfalen. Dort engagierte er sich vor allem im Verfassungsausschuss, im Wahlrechts- bzw. Wahlprüfungsausschuss sowie im Kulturausschuss. Von 1947 bis 1948 war er stellvertretendes Mitglied des Beirates der britischen Besatzungszone, von 1948 bis 1949 Mitglied des Frankfurter Wirtschaftsrats und von 1949 bis 1953 Mitglied des ersten Deutschen Bundestags. Auch publizistisch engagierte sich Eichler weiter. Bereits 1946 übernahm er die Leitung der SPD nahen „Rheinischen Zeitung“, die er allerdings 1951 wieder verließ. Von 1946 bis zu seinem Tod brachte er außerdem die Zeitschrift „Geist und Tat“ heraus.13

Eichler war kein Politiker, der in der parlamentarischen Arbeit aufging. Mitglied des Landtags und des Bundestags war er jeweils nur wenige Jahre. Stets hat sich Eichler intellektuell mit politischen und philosophischen Themen befasst. Politik müsse immer an ethische Grundwerte geknüpft sein – dies war seine zentrale Überzeugung. 1954 wurde er aufgrund dieser Einstellungen sowie seiner Expertise von dem SPD-Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer damit beauftragt, ein neues Grundsatzprogramm für die SPD auszuarbeiten.14 Die Zielsetzung für seine Aufgabe als Vorsitzender der Programmkommission beschrieb Eichler mit folgenden Worten: „Das Grundsatzprogramm soll auch unmittelbar dazu beitragen, Unklarheiten und Missverständnisse über die Haltung der SPD zu grundsätzlichen Fragen philosophischer und religiöser Natur zu beseitigen. Es soll zeigen, welche Traditionsbestände der SPD weitergeführt, welche revidiert worden sind, es soll die ethische Grundhaltung der Partei dokumentieren und ihren Platz in den geistigen Auseinandersetzungen unserer Zeit – die ihren Niederschlag auch immer im Politischen wiederfinden – erkennen lassen.“15 Das berühmte „Godesberger Programm“ von 1959, in der die SPD ihr Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft verankert, trägt unmittelbar Eichlers Handschrift. Deutlich herauslesen lässt sich das ethische Fundament, die hohe Wertschätzung für die Bildungspolitik sowie die Kritik am historischen Materialismus und Marxismus. Darüber hinaus zeigt sich das Programm tolerant für eine Vielzahl an Weltanschauungen. Eichler selbst entdeckte in der Auseinandersetzung mit der katholischen Soziallehre diverse Gemeinsamkeiten von christlicher Nächstenliebe und sozialdemokratischem Gedankengut.16

Bis 1968 blieb Eichler Mitglied des SPD-Parteivorstandes. Danach wurde er hauptamtliches Vorstandsmitglied der SPD nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Eicher war zudem Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Mitglied der Deutschen Delegation im Europarat, der deutsch-israelischen Gesellschaft, der deutsch-englischen Gesellschaft sowie der deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Im Laufe seines Lebens hat er zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Er starb am 17. Oktober 1971 im Alter von 75 Jahren in Bonn.17

Endnoten
1 Vgl. Harder, Ernesto: Vordenker der „ethischen Revolution“. Willi Eichler und das Godesberger Programm der SPD, Bonn 2013, S. 19-20; Meyer, Thomas: Willi Eichler – Politiker, Programmatiker, Publizist, in: ders. / Minzenbach, Josef (Hrsg.): Willi Eichler zum 100. Geburtstag. Politische Programme in der Kommunikationsgesellschaft – Aussichten für die Sozialdemokratie, Bonn 1996, S. 11-19, hier S. 12-13; Krell, Christian: Willi Eichler – Vater des Godesberger Programms, in: ders. (Hrsg.): Vordenkerinnen und Vordenker der Sozialen Demokratie. 49 Portraits, Bonn 2015, S. 98-104, hier S. 98 sowie Lemke, Müller, Sabine: Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988, S. 41.
2 Eichler, Willi: Lebenslauf und Lebensplan vom 01.01.1925, in: AdsD. Bestand ISB/ISK (Sig.: 4/ISB_ISK0061).
3 Vgl. Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 20 sowie Krell: Willi Eichler, S. 98.
4 Eichler: Lebenslauf und Lebensplan vom 1.1.1925.
5 Vgl. Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 21 sowie Krell: Willi Eichler, S. 99.
6 Vgl. Brief Willi Eichler an die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Obere Rheinprovinz vom 26.04.1946, in: Historisches Archiv der Stadt Köln. Bestand 905 Görlinger, Robert (Sig.: 905-A 77); Eichler: Lebenslauf und Lebensplan vom 1.1.1925 sowie Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 22.
7 Eichler: Lebenslauf und Lebensplan vom 1.1.1925.
8 Vgl. Düding, Dieter: Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966, Bonn 1995, S. 54-55; Krell: Willi Eichler, S. 99 sowie Kloke, Martin: Zwischen Kaderschmiede und Volkspartei. Der Nelsonianer Willi Eichler und die Sozialdemokratie, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, 3 (2014), S. 49-53, hier S. 50.
9 Vgl. Eichler, Willi: Lebenslauf o.D., in: AdsD. Bestand Willi Eichler (Sig.: 1/WEAA000305); Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 23, 39-42; Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 54-55; Krell: Willi Eichler, S. 99; Kloke: Zwischen Kaderschmiede und Volkspartei, S. 49-50 sowie Meyer: Willi Eichler – Politiker, Programmatiker, Publizist, S. 14.
10 Vgl. Eichler: Lebenslauf o.D.; Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 59, 67-86; Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 55; Krell: Willi Eichler, S. 100; Kloke: Zwischen Kaderschmiede und Volkspartei, S. 51; Röder, Werner / Strauss, Herbert A..: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. 3. Bde., Bd. 1, München u.a. 1980, S. 148 sowie Meyer: Willi Eichler – Politiker, Programmatiker, Publizist, S. 15.
11 Vgl. Brief Auswärtiges Amt an das Reichsministerium des Innern vom 25.06.1942 bzgl. der Ausbürgerung Willi Eichlers, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts. Ausbürgerungslisten (Sig.: PAAA_RZ214_099938_119); Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 134.
12 Eichler, Willi: Die Lage in Deutschland. Bericht vom 22.10.1945, in: AdsD. Bestand Willi Eichler (1/WEAA000305),
13 Vgl. Eichler: Lebenslauf o.D.; Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 90, 99-106; Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 55; Krell: Willi Eichler, S. 100; Kloke: Zwischen Kaderschmiede und Volkspartei, S. 51; Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 134 sowie Meyer: Willi Eichler – Politiker, Programmatiker, Publizist, S. 16.
14 Vgl. Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 7, 106, 111; Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 62, 166; Krell: Willi Eichler, S. 100 sowie Meyer: Willi Eichler – Politiker, Programmatiker, Publizist, S. 16-17.
15 So Willi Eichler in: Markscheffel, Günter: Das Grundgesetz der deutschen Sozialdemokratie. Interview mit Willi Eichler, Mitglied des Parteivorstandes der SPD, in: Sozialdemokratischer Pressedienst vom 4.9.1958, S. 5-7.
16 Vgl. Eichler, Willi: Einleitung, in: Bundessekretariat der Jungsozialisten (Hrsg.): Programme der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 9-25, hier S. 24; Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 160, 169; Düding, Dieter: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, S. 276 sowie Kloke: Zwischen Kaderschmiede und Volkspartei, S. 52.
17 Vgl. Harder: Vordenker der „ethischen Revolution“, S. 106 sowie Krell: Willi Eichler, S. 102-103.

Die Fraktionen im Landtag NRW