Wilhelm Bitter (1886-1964)

Wilhelm Bitter war nach dem Zweiten Weltkrieg Oberbürgermeister von Recklinghausen. Vor allem war er aber ein fest im katholischen Milieu verwurzelter Verleger, der im „Dritten Reich“ manchen Konflikt mit den Nationalsozialisten riskierte.

Wilhelm Bitter wurde am 13. Dezember 1886 in eine kinderreiche katholische Familie in Köln-Höhenberg geboren. Ab 1893 besuchte er die Volksschulen in Köln-Deutz und Köln-Kalk. Da die finanzielle Situation der Familie angespannt war, musste er bereits neben der Schule das elterliche Einkommen durch verschiedene Arbeiten aufbessern. Nach dem Ende seiner Schulzeit fand Wilhelm zuerst eine Stelle bei den Siemens-Schuckert-Werken und dann bei der Reichspost in Köln, wo er anfangs als Telegrammbesteller arbeitete. Die Anstellung sicherte der Familie das Überleben, denn sein Vater, der als Hammerführer tätig war, verunglückte bereits mit 46 Jahren. Als ältestem Kind oblag Wilhelm die Verantwortung für seine Mutter und seine 11 Geschwister.1 Doch nicht nur in seiner eigenen Familie, auch in seiner unmittelbaren Umgebung waren Armut und Not allgegenwärtig. Wilhelm Bitter schrieb diesbezüglich: „Als Briefträger in dem Industrievorort Köln-Kalk sah ich besonders die soziale Problematik meiner Mitbürger sozusagen in ihrer ganzen Nacktheit.“2 Aufgrund seiner Erfahrungen begann er sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. „Ich trat in den katholischen Jünglingsverein meiner Heimatpfarrei ein, übernahm dort neben dem geistlichen Präses den Vorsitz und wuchs so in das kirchlich-soziale Vereinsleben von frühester Jugend an hinein.“3 Mit 19 Jahren wurde Bitter zweiter Vorsitzender des Windthorstbunds in Köln. 1911 besuchte er dann einen Fortbildungskurs des „Volksvereins für das katholische Deutschland“ in M.Gladbach (heute Mönchengladbach). Nach Abschluss des Kurses wurde er als Sekretär des Volksvereins eingestellt und im darauffolgende Jahr Sekretär der Deutschen Zentrumspartei für den Reichstagswahlkreis Recklinghausen-Borken.4

Mit Beginn des Krieges 1914 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und später verwundet. Zudem heiratete er während der Kriegsjahre. Mit seiner Frau bekam er sechs Kinder, wobei eins seiner Kinder früh verstarb. Nach der Kriegsniederlage begann Bitter sein politisches Engagement voranzutreiben. So wurde er 1919 Stadtverordneter in Recklinghausen und 1921 Mitglied des westfälischen Provinziallandtags. Ein Jahr später übernahm er den Vorstandsvorsitz der „Vestischen Druckerei und Verlags AG“ (Vedruvag) in Recklinghausen. Der Verlag, den Bitter massiv modernisierte, gab neben einigen Büchern die zentrumsnahe „Recklinghäuser Volks-Zeitung“ (RVZ) heraus sowie sieben weitere katholische Tageszeitungen für die unmittelbaren Nachbarstädte. Darüber hinaus gründete Bitter die „Kirchenzeitung“, deren Abonnentenzahl im Laufe weniger Jahre auf beinahe 100.000 anwuchs. Im Mai 1923 starb allerdings unerwartet seine Frau. Im Dezember des gleichen Jahres heiratete er dann erneut. Mit seiner neuen Frau bekam er zwei weitere Kinder.5

Bitter versuchte, durch Reden, Artikel oder die Herausgabe von NS-kritischen Schriften den erstarkenden Nationalsozialisten Paroli zu bieten. Vor allem die Recklinghäuser Volkszeitung warnte vor Wahlerfolgen der NSDAP.6 „Das trug mir naturgemäß den Haß und die Verfolgung der neuen Männer ein.“7 Da sich Bitter nach Beginn des „Dritten Reichs“ zudem weigerte, kontrafaktische Pflichtmeldungen der Nationalsozialisten zu drucken, wurde er 1934 zweimal verhaftet und verhört. Im Gefängnis zermürbten ihn vor allem die Schreie der Kommunisten, die in den Nächten brutal gefoltert wurden. Bitter nutze seinen Verlag, um im Rahmen seiner Möglichkeiten Opfern des NS-Regime beizustehen. So stellte er beispielsweise einen jüdischen Mitbürger ein, der seine Stelle infolge der nationalsozialistischen Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäfte verloren hatte. Auch veröffentlichte die Recklinghäuser Volkszeitung noch relativ lange Inserate von jüdischen Unternehmen. Nachdem 1939 das „Jugendhaus Düsseldorf“ – die Reichszentrale der katholischen Jugend – von der Gestapo geschlossen wurde, übernahm Bitter zudem einige Mitarbeiter.8 Nach eigenen Worten hat er „mit diesen religiöses Schrifttum in Millionen Exemplaren verbotenerweise verteilt und damit der katholischen Jugend die Möglichkeit der illegalen Weiterarbeit während der Nazi-Zeit gegeben.“9

Gleichzeitig erhöhte das NS-Regime den Druck auf Verlag und Zeitung. Die Recklinghäuser Volkszeitung verlor Abonnenten und durfte ab 1935 keine Pressemitteilungen und amtlichen Bekanntmachungen der Stadt drucken. 1936 wurde er dann gezwungen, die RVZ an die Vera-Verlagsanstalt GmbH zu verkaufen – allerdings durfte die neu gegründete Bitter & Co. KG die Verlagsrechte pachten. Auch konnte seine Frau mit einem Sohn später die Paulus Verlag K.Bitter KG ins Leben rufen. 1940 wurde die Recklinghäuser Volkszeitung allerdings endgültig enteignet. Zudem wurde das 1934 gegründete offizielle Bistumsblatt „Unser Kirchenblatt“ mit einer Auflage von 90.000 Stück 1937 verboten. Selbst das Dekanatsblatt mit einer deutlich kleineren Auflage musste 1941 eingestellt werden. Hinzu kam die Beschlagnahmung von zahlreichen Büchern und Schriften. Auch persönlich hatte die Familie Bitter Diskriminierungen zu erdulden. Sohn Georg wurde des Gymnasiums verwiesen und konnte sein Abitur nicht ablegen. Bitter stand als Verleger jedoch nicht permanent in Opposition zum NS-Regime. Beispielsweise ließ er für den Staat Lebensmittelkarten drucken. Auch war er zeitweise Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), der Reichsschrifttumskammer, der Reichspressekammer sowie des Reichsluftschutzbunds. Ämter in diesen Organisationen hatte er allerdings nicht übernommen. Aufgrund einer Denunziation wurde er 1944 abermals von der Gestapo verhaftet. Zudem wurde er aus Recklinghausen ausgewiesen. Anfang 1945 kehrte er jedoch verbotenerweise nach Recklinghausen zurück und versteckte sich bis zum Einmarsch der amerikanischen Soldaten in seinem Verlagskeller.10

Von Seiten der Alliierten wurden ihm die Ämter des Oberbürgermeisters und Landrats angeboten, doch Bitter lehnte ab und wurde stattdessen Dezernent des Wirtschafts-, Ernährungs- und Straßenverkehrsamtes für den Stadt- und Landkreis Recklinghausen. Darüber hinaus wurde er am 27. Februar 1946 zum unbesoldeten Stadtrat gewählt. Die Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung und der Wiederaufbau hatten für Bitter oberste Priorität. Daher lehnte er es auch ab, Beamte zu entlassen, die Mitglieder der NSDAP gewesen waren.11 Er war der Meinung, „daß direkte verbrecherische Elemente unter dieser Beamtenschaft nicht zu finden seien.“12 Des Weiteren fügte er hinzu: „Dieses Kapitel, nämlich die Entnazifizierung der Deutschen, gehört zu dem Schlimmsten, was damals geschah.“13 Allerdings versuchte Bitter selbst Jahre später einen Verlagskonkurrenten mit dem Verweis auf dessen NS-Vergangenheit wirtschaftlich zu schädigen.14

Bitter gehörte zu den Mitbegründern der CDU in Recklinghausen und übernahm von 1946 bis 1948 den CDU-Vorsitz des Kreisverbands Recklinghausen Stadt. In der gleichen Zeit übte er schließlich doch noch das Amt des Oberbürgermeisters aus. Als Oberbürgermeister trieb er die Gründung der Ruhrfestspiele mit voran und von 1947 bis 1961 saß er im Aufsichtsrat der Ruhrfestspiel GmbH. Zudem wurde er nach der Kommunalwahl 1946 Stadtverordneter. Abgesehen von den Jahren 1952 und 1956 gehörte Bitter bis 1961 ununterbrochen dem Rat der Stadt an. Zwischenzeitlich war er auch Vorsitzender der CDU-Fraktion. Von 1946 bis 1947 war Bitter des Weiteren Mitglied des ernannten Landtags von Nordrhein-Westfalen. Dort brachte er sich im Ernährungs- sowie im Verkehrsausschuss ein. 1947 war er außerdem Gründungsmitglied der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU in Nordrhein-Westfalen und von 1948 bis 1964 erster Bundesvorsitzender der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU Deutschlands. Ein wichtiges Betätigungsfeld blieb jedoch das Verlagswesen, in dem er nach dem Krieg besonders erfolgreich agierte. Durch seine zahlreichen, in verschiedenen Verlagen herausgebrachten Zeitungen, Schriften und Bücher konnte das Unternehmen mit ca. 350 Angestellten in den 1960er Jahren Umsätze in Millionenhöhe erzielen. Wilhelm Bitter erhielt 1953 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und acht Jahre später das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Zudem war er Träger der päpstlichen Auszeichnung „Pro Ecclesia et Pontifice“ sowie Ritter des Sylvester-Ordens. Wilhelm Bitter starb am 9. Juni 1964 in Ittenbach im Siebengebirge. Er wurde in Recklinghausen beigesetzt. Dort erinnert der Wilhelm-Bitter-Platz an sein Wirken.15

Endnoten
1 Vgl. Bitter, Wilhelm: Fragebogen der Militärregierung, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1045-AD-1276); ders.: Anlage III. Lebenslauf vom 14.05.1946, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1045-AD-1276); Gauger, Jörg-Dieter: Wilhelm Bitter (1886-1964). Vorsitzender der Kommunalpolitischen Vereinigung, in: Buchstab, Günter / Kaff, Brigitte / Kleinmann, Hans-Otto (Hrsg.): Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union, Freiburg / Basel / Wien 2004, S. 94-99, hier S. 94 sowie Möllers, Georg: Wilhelm Bitter, in: Gedenkbuch Opfer und Stätten der Herrschaft, Verfolgung und des Widerstandes in Recklinghausen 1933-1945, URL: https://eservice2.gkd-re.de/selfdbinter320/DokumentServlet?dokumentenname=545-726fieldDokument1.pdf (abgerufen am 13.3.2023).
2 Bitter: Anlage III. Lebenslauf vom 14.05.1946.
3 Ebd.
4 Vgl. ebd.; Möllers: Wilhelm Bitter sowie Gauger: Wilhelm Bitter (1886-1964), S. 94-95.
5 Vgl. Nachruf Wilhelm Bitter vom Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor vom 09.06.1964, in: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen. Bestand Personalakten (Sig.: 110/212); Liste der Ämter Wilhelm Bitters vom 09.06.1964, in: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen. Bestand Personalakten (Sig.: 110/212); Bitter: Anlage III. Lebenslauf vom 14.05.1946; Bitter, Georg: Über die Verfolgung meines Vaters und des Betriebs im Dritten Reich. Kurzfassung, in: ACDP. Nachlass Wilhelm Bitter (Sig.: 01-732-001-2); Möllers: Wilhelm Bitter; Gauger: Wilhelm Bitter (1886-1964), S. 94-95 sowie Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 70.
6 Vgl. Bitter, Wilhelm: Anlage II des Fragebogens, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1045-AD-1276) sowie Bitter: Über die Verfolgung meines Vaters.
7 Bitter: Anlage III. Lebenslauf vom 14.05.1946.
8 Vgl. ebd.; Bitter, Georg: Von der Besatzung an die Verwaltungsspitze berufen: Wilhelm Bitter, in: Pohl, Jürgen (Hrsg.): Alltag zwischen Befreiung und Neubeginn. Recklinghausen 1945-1948, Essen 1996, S. 44-45, hier S. 44-45; Möllers, Georg: „Verlagsdirektor Bitter ist ein Staatsfeind“, in: Geck, Helmut / Möllers, Georg / Pohl, Jürgen (Hrsg.): Wo du gehst und stehst… Stätten der Herrschaft, der Verfolgung und des Widerstandes in Recklinghausen 1933 bis 1945, Recklinghausen 2002, S. 60-61, hier S. 60-61; Möllers: Wilhelm Bitter sowie Gauger: Wilhelm Bitter (1886-1964), S. 95-96.
9 Bitter: Anlage II des Fragebogens.
10 Vgl. ebd.; ders.: Fragebogen der Militärregierung; ders.: Anlage III. Lebenslauf vom 14.05.1946; Brief Stadtdirektor an den Regierungspräsidenten in Münster vom 19.03.1946, in: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen. Bestand Personalakten (Sig.: 110/212); Möllers: Wilhelm Bitter; ders.: „Verlagsdirektor Bitter ist ein Staatsfeind“, S. 61; Bitter: Über die Verfolgung meines Vaters, S. 2-8; ders.: Von der Besatzung an die Verwaltungsspitze berufen, S. 44; Gauger: Wilhelm Bitter (1886-1964), S. 95-96; o.V.: Verleger Wilhelm Bitter 70 Jahre alt, in: Deutsche Presse Agentur vom 12.12.1956 sowie o.V.: Der Stadt in der Not gedient. Verleger Wilhelm Bitter starb im 78. Lebensjahr, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 10.06.1964.
11 Vgl. Brief Stadtdirektor an den Regierungspräsidenten in Münster vom 19.03.1946; Liste der Ämter Wilhelm Bitters vom 09.06.1964; Bitter, Wilhelm: Anlage III. Lebenslauf vom 14.05.1946; ders.: Der große Schicksalstag der Stadt, in: Pohl, Jürgen (Hrsg.): Alltag zwischen Befreiung und Neubeginn. Recklinghausen 1945-1948, Essen 1996, S. 46-62, hier S. 49-52 sowie Gauger: Wilhelm Bitter (1886-1964), S. 96.
12 Bitter: Der große Schicksalstag der Stadt, S. 49.
13 Ebd., S. 58.
14 Vgl. Eddinghaas, Wolfgang: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst… Die Affäre um den christdemokratischen Druckereibesitzer Wilhelm Bitter. Wie steht es um die Ethik in der Recklinghauser CDU? – Der „Alte“ aus Rhöndorf griff ein, in: Hamburger Echo vom 19.01.1961 sowie o.V.: Das Parteiwohl geht vor. CDU-Ratsfraktion vor der Auflösung – Anlaß und private Geschäftsinteressen, in: Vorwärts vom 20.01.1961.
15 Vgl. Liste der Ämter Wilhelm Bitters vom 09.06.1964; Mitteilung über die Bestätigung der Wahl des ehrenamtlichen Oberbürgermeisters vom 17.09.1946, in: Stadt- und Vestisches Archiv Recklinghausen. Bestand Personalakten (Sig.: 110/212); Brief Chef der Staatskanzlei an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen vom 29.12.1952, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Ordensakten (Sig.: NW O-635); Nachruf Wilhelm Bitter vom Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor vom 09.06.1964; Gauger: Wilhelm Bitter (1886-1964), S. 97-98 o.V.: Der Stadt in der Not gedient; o.V.: Aus der Stadtvertretersitzung. „Harmonische Zusammenarbeit“ zwischen SPD und CDU vorbei – Weiblicher Bürgermeister in Recklinghausen, in: Volksecho vom 20.01.1948; o.V.: Dossier Wilhelm Bitter, in: Telegraf vom 04.06.1963 sowie Bohn, H.: Wilhelm Bitters letzter Weg. Viele Vertreter des gesamten öffentlichen Lebens erwiesen dem toten Verleger und Buchdruckereibesitzer die letzte Ehrung – Ein Leben im Dienste der Gemeinschaft, in: Ruhr-Nachrichten vom 15.06.1964.

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