Grete Thiele (1913-1993)

Grete Thieles Leben war reich an Entbehrungen. Als Arbeiterkind erfuhr sie bittere Armut und als Erwachsene aufgrund ihrer kommunistischen Überzeugungen Verfolgung, Anfeindung und Haft.

Margarethe Thiele wurde am 16. Dezember 1913 in Bottrop geboren. Sie wuchs in einem proletarischen und sozialdemokratischen Elternhaus auf. Ihr Vater war nach dem Krieg Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates, Gewerkschaftsvorsitzender in Bottrop und für die SPD im Stadtrat aktiv. Als Bergmann verunglückte er im Alter von 46 Jahren tödlich. Ihre Mutter, die als Weberin arbeitete, verlor vier von sechs Kindern, was vor allem auf die permanente Unterernährung zurückzuführen war. Sie zog nach dem Tod ihres Ehemanns nach Wuppertal. Grete Thiele wurde nach dem Besuch der Volks- und Handelsschule Kontoristin. Mit 14 Jahren war sie der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) beigetreten. 1932 wurde sie in der sozialdemokratischen Jugendorganisation die Wuppertaler Vorsitzende sowie Mitglied des SAJ-Unterbezirksvorstands. Im gleichen Jahr trat sie auch der SPD bei, obwohl sie mit der defensiven Politik der Partei angesichts der schweren Wirtschaftskrise und des erstarkenden Nationalsozialismus mehr und mehr haderte.1

Grete Thiele kritisierte, dass die SPD 1933 nicht zum Widerstand gegen die NS-Diktatur aufrief. Sie wandte sich von der Sozialdemokratie ab und nahm Kontakt zu radikaleren kommunistischen Gruppierungen auf. Darüber hinaus versuchte sie durch das illegale Verteilung von linken Schriften das NS-Regime zu bekämpfen. Bereits im Dezember 1933 wurde sie für einige Tage verhaftet. 1936 wurde sie abermals gefasst, immer wieder verhört und über eine Woche in Dunkelarrest gehalten.2 Nach ihren Erinnerungen hatte der Dunkelarrest schwere körperliche Leiden zur Folge: „Dort mußte ich dann mit der Bahre rausgetragen werden, weil ich eine schlimme Nierenbeckenentzündung bekommen hatte, da ich ohne Decke auf dem Steinfußboden liegen mußte. Davon habe ich bis heute eine chronisch eiternde Nierenentzündung zurückbehalten.“3 Grete Thiele wurde schließlich wegen „Hochverrats“ zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Die hygienischen Zustände in den Zuchthäusern waren z.T. katastrophal. In ihrer Erinnerung an das Zuchthaus Lauffen äußerte sie Folgendes: „Die Wäsche wurde höchstens alle 6 Wochen gewechselt, manchmal 8 oder 10 Wochen. […] Zeitweilig funktionierte die Wasserleitung nicht. Wir haben 6 Wochen mal gehabt, da haben wir jeder nur am Tag einen Becher Wasser gehabt, zum Waschen und zum Trinken.“4 Im Zuchthaus Ziegelhain traf sie auch die spätere KPD-Landtagsabgeordnete Johanna Melzer, die aufgrund ihrer Standhaftigkeit bei den Gestapoverhören den Beinamen „Eiserne Johanna“ verliehen bekam. Die Geschichten über ihren Widerstandswillen waren bis zu Grete Thiele gedrungen und hatten diese stark beeindruckt. Auch Thiele wurde durch die Haftzeit nicht gebrochen. Nach der Entlassung fand sie eine Stelle als Buchhalterin. Daneben beteiligte sie sich, etwa durch das Verteilen von Schriften, abermals am kommunistischen Widerstand.5

Nach dem Krieg trat Thiele der KPD bei, übernahm die Leitung der Ortsgruppe und wurde Mitglied der ernannten Stadtvertretung in Wuppertal sowie Vorsitzende des städtischen Frauenausschusses in Wuppertal. Über diese Zeit schrieb sie: „Ich erinnere mich noch an das erste Stadtparlament in Wuppertal. Ich war nach dem Krieg ja noch jung, und im Parlament wurden dann die Personalien genannt, und dann ging das: Dr. sowieso, Prof. sowieso, Direktor sowieso und und und. Da hab ich im ersten Moment gedacht: ‚Um Gottes Willen, was haben die alle für eine Ausbildung. Du bist gerade Kontoristin gewesen und hast lediglich Volksschule und zwei Jahre Handelsschule!‘ Eine Sekunde habe ich mich gefragt, wie ich bei all denen bloß bestehen soll? Das war aber nur einen Moment lang. Dann habe ich mir gedacht, daß das, wofür ich mich einsetzen wollte, für Millionen arbeitende Menschen ist, und da ich dieses Leben kenne, weil ich ja eine von ihnen bin, ich schon das Richtige finden würde.“6 Sie war bestrebt, ganz unmittelbar das Leben der Menschen zu verbessern, auch im nordrhein-westfälischen Landtag, in den sie 1947 einzog. So warb sie im Landtag für einen freien bezahlten Hausarbeitstag, der berufstätigte Frauen im Haushalt und bei der Kindererziehung entlasten sollte. Da ein derartiger Gesetzesvorschlag von Gewerkschafterinnen und Betriebsarbeiterinnen unterstützt wurde und die anderen Landtagsfraktionen bei dem Vorhaben miteingebunden werden konnten, wurde das Gesetz schließlich angenommen. Grete Thiele wusste selbst, wie herausfordernd es war, Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen. Seit 1941 war sie verheiratet und hatte 1949 einen Sohn bekommen. Das Paar ließ sich jedoch später wieder scheiden.7

1949 schied sie aus dem Landtag aus und wurde Mitglied des neu gegründeten Deutschen Bundestags. Sie war mit ihren 36 Jahren die jüngste weibliche Abgeordnete und innerhalb der 15-köpfigen KPD-Fraktion anfangs die einzige Frau. Nachdem die Kommunistin Gertrud Strohbach nachgerückt war, wies die KPD von allen Fraktionen mit gerade einmal 13% den größten Anteil an weiblichen Abgeordneten auf! Neben ihrem Einsatz für die Emanzipation engagierte sich Thiele vornehmlich im Bereich Gesundheitsversorgung, gegen die Wiederbewaffnung und für die Belange der Jugend. So beantragte sie beispielsweise das Wahlrecht bereits für 18-Jährige.8 Begründet hatte sie ihre Haltung im Plenum folgendermaßen: „Die Folgen von Krieg und Nachkriegszeit, die elenden Lebensverhältnisse der Jugend haben diese jungen Menschen schon früh reif gemacht […] Viele Jungen und Mädel in diesem Alter sind heute schon Ernährer ihrer Familie; viele Jungen und Mädel sind heute schon gezwungen, dort, wo der Vater fehlt, auch die Fürsorge für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Nach dem EVG-Vertrag, nach den Absichten der Adenauer-Regierung und auch nach den Absichten der amerikanischen Rüstungs- und Finanzkräfte wird die Jugend dann als mündig angesehen, wenn es darum geht, daß sie die Soldaten stellen soll, wenn es darum geht, daß sie die Uniform anziehen soll, daß sie in die Kasernen geht, ja wenn es darum geht, daß sie in einem neuen Krieg noch einmal ihr Leben lassen soll. Wenn diese Jugend aber über diese ihre eigenen Lebensfragen selbst bestimmen will, indem sie Vertreter wählt, die ihre Interessen vertreten, indem sie Vertreter wählt, die eine andere Politik festlegen, dann soll sie auf einmal nicht mündig sein.“9 Der KPD-Antrag wurde abgelehnt; erst 1970 wurde das Wahlalter von 21 Jahren auf 18 Jahre verringert.

Grete Thiele, die Mitglied der KPD-Landesleitung und des -Parteivorstands war, bekam die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes am eigenen Leib zu spüren. 1952, noch während ihrer Zeit als Abgeordnete, wurde ein Haftbefehl gegen sie erlassen, der allerdings nie vollstreckt wurde. Man warf ihr u.a. die Teilnahme in einer hochverräterischen Organisation vor. Zudem entfernte die Stadt Wuppertal sie von der Einwohnerliste – damit war sie faktisch ausgebürgert. Sie fürchtete viele Jahre lang Verhaftung und Repression, zumal die KPD bei der Bundestagswahl 1953 nicht mehr die Fünf-Prozent-Hürde erreicht und Thiele ihre Abgeordnetenimmunität verloren hatte. Aus diesem Grund hielt sich Thiele eine Zeitlang in der DDR und in Süddeutschland auf. Erst Ende der 1960er Jahre wurde der Haftbefehl gegen sie aufgehoben. Da die KPD seit 1956 verboten worden war, beteiligte sich Thiele Ende der 1960er Jahre an der Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Bei der DKP wurde sie u.a. Mitglied des Parteivorstands. Grete Thiele war bis ins hohe Alter politisch aktiv. Sie starb am 29. Dezember 1993 in Solingen.10

Endnoten
1 Vgl. Thiele, Grete: Stillhalten oder kämpfen?, in: Laudowicz, Edith / Pollmann, Dorlies (Hrsg.): Weil ich das Leben liebe. Persönliches und Politisches aus dem Leben engagierter Frauen, Köln 1981, S. 69-85, hier S. 69; Schuh, Brigitta: Grete Thiele, in: Frauen im Landtag, hrsg. von der Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1992, S. 51-57 hier S. 60; o.V.: Zum 65. Geburtstag von Grete Thiele, in: Unsere Zeit vom 16.12.1978 sowie o.V.: Grete Thiele, in: Freies Volk vom 02.08.1949.
2 Vgl. Schuh: Grete Thiele, S. 60-61; Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 459 sowie o.V.: Zum 65. Geburtstag von Grete Thiele in: Unsere Zeit vom 16.12.1978.
3 Thiele: Stillhalten oder kämpfen?, S. 73.
4 Zitat Grete Thiele, in: Runge, Erika: Frauen. Versuche zur Emanzipation, Frankfurt am Main 1969, S. 211.
5 Vgl. ebd., S. 212-213; Thiele, Grete: Hanna Melzer, in: Zörner, Guste: Sie kämpften auch für uns, Leipzig 1967, S. 91-98, hier S. 91; Schuh: Grete Thiele, S. 61; Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 459; o.V.: Zum 65. Geburtstag von Grete Thiele, in: Unsere Zeit vom 16.12.1978 sowie o.V.: Thiele, Grete, in: Deutscher Pressedienst vom 27.08.1949.
6 Thiele: Stillhalten oder kämpfen?, S. 77.
7 Sie war bereits zuvor im Krieg schwanger geworden. Kurz vor der Kapitulation hatte sie – während andauernder Bombenangriffe – eine Totgeburt erlitten. Vgl. ebd., S. 69-83; Runge: Frauen, S. 214; Schuh: Grete Thiele, S. 59-61 sowie o.V.: Thiele, Grete, in: Deutscher Pressedienst vom 27.08.1949.
8 Vgl. Thiele: Stillhalten oder kämpfen?, S. 77, 81; o.V.: Grete Thiele: „Jugend muß mit 18 Jahren wählen können!“, in: Norddeutsches Echo vom 26.06.1953; o.V.: Frau Grete Thiele, in: Welt der Arbeit vom 03.02.1950 sowie Jahn, Bruno u.a.: Thiele, Margarethe (Grete), in: Vierhaus, Rudolf / Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, 3. Bde., Bd. 2, München 2002, S. 874.
9 Plenarprotokoll der 272. Sitzung des Deutschen Bundestags vom 17. Juni 1953, S. 13454.
10 Vgl. Thiele: Stillhalten oder kämpfen?, S. 79-80; Vertrauliche Aktennotiz für d. Gen. Ollenhauer und Heine vom 30.01.1953; o.V.: Bundestagsabgeordnete Thiele in Hochverratsverdacht verwickelt, in: dpa vom 06.02.1953; o.V.: Zum 65. Geburtstag von Grete Thiele, in: Unsere Zeit vom 16.12.1978; Schuh: Grete Thiele, S. 62-63; Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 459 sowie Klocksin, Jens Ulrich: Kommunisten im Parlament. Die KPD in Regierungen und Parlamenten der westdeutschen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland (1945-1956), Bonn 1993, S. 298.

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