Luise Albertz (1901-1979)

Luise Albertz war in ihrer politischen Arbeit enorm pflichtbewusst. Zugleich waren ihr Ehrungen, die sie für ihre persönlichen Leistungen erhalten sollte, unangenehm. Selbst das Bundesverdienstkreuz, das ihr zweimal verliehen werden sollte, nahm sie nicht an. Ihr Anliegen war es vielmehr, das alltägliche Leben der Oberhausener Bevölkerung zu verbessen. Als Oberhausener Oberbürgermeisterin setzte sie sich 25 Jahre für die Belange ihrer Wahlheimat ein.1 Aus diesem Grund gab ihr der spätere Ministerpräsident Heinz Kühn auch den Namen „Mutter Courage des Ruhrgebiets“.2

Luise Albertz wurde am 22. Juni 1901 in Duisburg geboren. Ihr Vater Hermann Albertz, ein gelernter Schreiner, war aktiver Sozialdemokrat in Oberhausen. Zwischen 1930 und 1932 war er Mitglied des Preußischen Landtags. So durchlief auch Luise eine typisch sozialdemokratische Sozialisation. Mit 14 Jahren trat sie der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) bei und mit 18 Jahren der SPD. Zudem besuchte sie die Volksschule, die Handelsschule und absolvierte eine Buchhalterlehre bei der Stadtverwaltung Oberhausen. Sie begann dann als Buchhalterin bei dem Zeitungsverlag „Neuesten Nachrichten“ zu arbeiten. Mit Beginn des „Dritten Reichs“ verlor Albertz ihre Stelle und blieb ein Jahr arbeitslos. Von 1934 bis 1939 war sie als Devisenbuchhalterin in einer Agentur tätig. Albertz war nicht Mitglied der NSDAP, lediglich Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Mit Beginn des Krieges wurde sie dienstverpflichtet und schließlich stellvertretende Leiterin des Wohlfahrtsamts bei der Stadtverwaltung Oberhausen. Albertz musste während der NS-Zeit polizeiliche Überwachung, Hausdurchsuchungen und Gestapo-Verhöre über sich ergehen lassen. Ein besonders tragisches Ereignis erlebte sie 1944, als ihr Vater – infolge des versuchten Attentats auf Hitler am 20. Juli – von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht wurde. Er starb kurz vor Ende des „Dritten Reichs“ – mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er im KZ Bergen-Belsen von den Nationalsozialisten ermordet. Für Luise war der Verlust ihres Vaters besonders schmerzlich. Hermann Albertz war ihr stets Vorbild gewesen – so teilten beide denselben Leitspruch:3 „Das moralisch Richtige kann niemals das politisch Falsche sein.“4

Unmittelbar nach dem Krieg engagierte sich Luise Albertz beim Wiederaufbau der SPD. Zudem wurde sie Sekretärin des neu eingesetzten Oberbürgermeisters. Bei den Kommunalwahlen 1946 wurde die SPD in Oberhausen stärkste Partei. Albertz stand nur auf der Reserveliste, rückte aber dann in den Rat nach. Völlig überraschend nominierte sie die SPD-Fraktion zur Oberbürgermeisterin. Bei der Entscheidung dürfte der Name ihres Vaters eine gewichtige Rolle gespielt haben, denn weder verfügte sie über ausgeprägtes rhetorisches Talent noch über eine vorzeigbare politische Karriere. Erfahrungen in der Verwaltung konnte sie aber aus ihrer Tätigkeit als Sekretärin des Oberbürgermeisters vorweisen.5

Luise Albertz wurde die erste Oberbürgermeisterin einer deutschen Großstadt.6 Zunächst regierte sie bis Ende Oktober 1948.7 Aufgrund der Kooperation von CDU und Zentrum hatten sich nämlich in Oberhausen die Mehrheitsverhältnisse geändert. 1956 wurde Albertz dann aber wieder zur Oberbürgermeisterin gewählt, diesmal sogar mit den Stimmen der CDU. Das Amt behielt sie bis zu ihrem Tod 1979. Während dieser Zeit war sie immer wieder mit geschlechterspezifischen Vorbehalten konfrontiert.8 So schrieb 1957 „Die Zeit“: „Die Zügel sind hier ebenso straff wie anderswo. Nur die Hände, die sie halten, sind sanft und weiblich.“9 Luise Albertz selbst äußerte sich selten hinsichtlich der Gleichstellung von Männern und Frauen.10 Doch sie konnte durchaus deutliche Worte finden: „Der Kampf wird wohl nie ganz zu Ende gehen […] Sobald die Frau zur ernsthaften Konkurrentin wird, lässt die ‚Ritterlichkeit‘ der Männer nach und artet in ironische Höflichkeit oder offene Feindseligkeit aus.“11

Ob bewusst oder unbewusst, auch sie pflegte gängige Geschlechterdiskurse. Da sie nie heiratete (ihr Verlobter war kurz vor der Rückkehr aus der Emigration gestorben12), stilisierte sie sich als „Kümmerin“ und „Mutter“ der Oberhausener Bevölkerung. Sie selbst äußerte einmal: „Die ganze Stadt, das ist meine Familie.“13 Beispiele ihrer fürsorgenden Art gibt es zuhauf: Bereits kurz nach Ende des Krieges ließ sie Kartoffeln für die notleidende Oberhausener Bevölkerung beschaffen. Auch wenn die Aktion illegal war, war Albertz von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt.14 Des Weiteren förderte sie die Kultur und den Wohnungsbau und setzte sich besonders für die Alten- und Kinderbetreuung ein, dazu zählte die Bereitstellung von Kinderspielgeräten genauso wie die Schaffung von Kindergärten und Kindertagesstätten. Sie war eine bürgernahe Oberbürgermeisterin, trank mit den „Kumpels“ der Oberhausener Montanindustrie zuweilen Korn und wurde von diesen liebevoll „Kumpelinchen“ genannt.15

Der Strukturwandel im Ruhrgebiet traf die Stadt Oberhausen mit voller Härte. 1967 wurde bekannt, dass die Schachtanlagen der Concordia-Bergbau AG in Oberhausen geschlossen werden sollten. Zusammen mit 4.000 Bergleuten demonstrierte sie gegen die Stilllegung.16 Auf politischer Ebene setzte sie sich ebenso ein, auch wenn sie die Schließung nicht verhindern konnte. Eindringlich appellierte sie bei der anstehenden Ministerpräsidentenkonferenz in Oberhausen an die politischen Entscheidungsträger: „Tun wir miteinander alles, damit das Ruhrgebiet nicht zum Krankenherd der deutschen Demokratie wird.“17 Ihrem Einsatz wurde Respekt gezollt und von den Bergleuten honoriert. Aus diesem Grund war sie auch in der Lage, während der Kohlekrise mäßigend auf 15.000 aufgebrachte Demonstranten in Dortmund-Huckarde einzuwirken, die in den Auseinandersetzungen um die Bewältigung des Strukturwandels immer wieder „Kühn und Schiller Zechenkiller“ skandierten.18

Neben ihrem Oberbürgermeisteramt war sie auch als Parlamentarierin tätig. Von 1947 bis 1950 saß sie im nordrhein-westfälischen Landtag und von 1949 bis 1969 im Deutschen Bundestag. Als Abgeordnete nahm sie ebenfalls die Nöte der Bürger ernst. Ihr Engagement zeigte sie im Landtag u.a. im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und im Bundestag im kommunalpolitischen Ausschuss sowie als Vorsitzende des Petitionsausschusses, durch den sie tiefe Einblicke in die Sorgen der Menschen gewann. Dass sie im Landtag keine einzige Rede hielt und in ihrer 20-jährigen Abgeordnetenzeit im Bundestag lediglich vier Redebeiträge vorweisen konnte, war kein Anzeichen mangelnder Einsatzbereitschaft. Ihr Amtsverständnis unterschied sich von anderen Abgeordneten dadurch, dass sie auch in der alltäglichen Parlamentsarbeit konkrete Probleme vor Ort lösen wollte.19

Luise Albertz war mit einer Vielzahl zusätzlicher Aufgaben und Ämtern betraut, von denen die wichtigsten kurz aufgezählt werden sollen: So war sie innerhalb der SPD von 1950 bis 1962 Mitglied des Parteivorstands und des Ausschusses für Frauenfragen sowie zudem Schriftführerin des Präsidiums und Mitglied des SPD-Fraktionsvorstands im Bundestag. Des Weiteren war sie Vorstandsmitglied des DGBs im Kreis Oberhausen und Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Oberhausen. Auch war sie Mitglied des Deutschen Rats der Europäischen Bewegung und saß im Rundfunkrat des WDR sowie im Aufsichtsrat der Hüttenwerke Oberhausen-AG. Ferner gründete sie die Hermann-Albertz-Stiftung für betagte und betreuungsbedürftige Oberhausener. Ihre Parteiämter im SPD-Unterbezirk Oberhausen gab sie 1970 allerdings überraschend auf. Grund hierfür waren aufbrechende Konflikte mit den Jusos der 68er-Generation, die ihre pragmatische Politik kritisierten und stattdessen weitreichende Forderungen nach politischen Veränderungen stellten.20

1977, zum Gedenken des 100. Geburtstags ihres Vaters, stiftete die AWO Oberhausen eine Plakette, auf der ihr Vater und sie zu sehen sind. Sie wird an engagierte Bürger Oberhausens verliehen. Bis zu ihrem Tod am 1. Februar 1979 war sie das dienstälteste bundesdeutsche Stadtoberhaupt. Die Stadthalle in Oberhausen trägt mittlerweile den Namen „Luise-Albertz-Halle“.21

Endnoten
1 Vgl. Brief Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen an den Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen vom 19.07.1961, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Ordensakten (Sig.: NW O-5007) sowie Horn, Ulrich: Luise Albertz, in: Frauen im Landtag, hrsg. von der Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1992, S. 47-50, hier S. 49-50.
2 Ansprache Heinz Kühn anlässlich der Enthüllung der Luise-Albertz-Gedenktafel, in: Luise Albertz 1901-1979. 25 Jahre Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen, hrsg. von der Stadt Oberhausen, Oberhausen 1981. 
3 Vgl. ebd., S. 48; Albertz, Luise: Entnazifizierungsakte, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1015-9302); Notz, Gisela: Frauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 bis 1957, Bonn 2003, S. 112-113, 115; Brusis, Ilse / Wettig-Danielmeier, Inge (Hrsg.): „Wir haben etwas bewegt“. Der Seniorenrat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 110 Lebensläufe von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Berlin 2008, S. 17-18; Vierhaus, Rudolf / Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, 3 Bde., Bd. 1, München 2002, S. 10 sowie Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 38-39.
4 Luise Albertz nach ihrer Wahl zur Oberbürgermeisterin am 05.11.1946, in: Politik für den Menschen. Eine Dokumentation zur Erinnerung an Luise Albertz, hrsg. von der SPD-Fraktion des Rates der Stadt Oberhausen, Oberhausen 1979, S. 8.
5 Vgl. Horn: Luise Albertz, S. 48-49 sowie Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 114.
6 Vgl. Dertinger, Antje: Luise Albertz – Mutter Courage des Reviers, in: Demokratische Gemeinde, 5 (1994), S. 40.
7 Vgl. Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 115-116.
8 Vgl. Horn: Luise Albertz, S. 49 sowie Dertinger: Luise Albertz, S. 40.
9 Ebert, Wolfgang: „Weiberwirtschaft“ in Oberhausen. Deutschlands einziger weiblicher Oberbürgermeister: Luise Albertz, in: Die Zeit, 3 (1957), vom 17.01.1957, S. 17.
10 Vgl. Horn: Luise Albertz, S. 50.
11 Zitiert nach Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 114-115.
12 Vgl. Horn: Luise Albertz, S. 49.
13 Zitiert nach Horn: Luise Albertz, S. 49.
14 Vgl. Brief Luise Albertz an Fritz Henßler vom 29.9.1947, in: AdsD. Bestand Fritz Henßler (Sig.: 1/FHAC000014) sowie Düding, Dieter: Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966, Bonn 1995, S. 70, 298-299.
15 Vgl. Horn: Luise Albertz, S. 49 sowie Notz: Frauen in der Mannschaft, S.116, 119.
16 Vgl. Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 118 sowie Düding, Dieter: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, S. 573.
17 Luise Albertz: Rede zur Ministerpräsidentenkonferenz in Oberhausen 1967, in: Biografische Kompendien des Landtags von Nordrhein-Westfalen (Sig.: A0208/0010), S. 1-13, hier S. 12.
18 Vgl. Kühn, Heinz: Mutter Courage des Reviers, in: Luise Albertz. Zum Gedenken am 10. Todestag 1. Februar 1989, hrsg. vom SPD Unterbezirk Oberhausen und der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Oberhausen, Oberhausen 1989 sowie Horn: Luise Albertz, S. 47.
19 Vgl. Horn: Luise Albertz, S. 50; Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 121-125 sowie Brusis / Wettig-Danielmeier (Hrsg.): „Wir haben etwas bewegt“, S. 18.
20 Vgl. Notz: Frauen in der Mannschaft, S.120-121, 124; Brusis / Wettig-Danielmeier (Hrsg.): „Wir haben etwas bewegt“, S. 18-19; Dertinger: Luise Albertz, S. 40 sowie Haunfelder: Nordrhein-Westfalen, S. 39.
21 Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die 10. ordentliche Sitzung des Rates der Stadt Oberhausen am 25.08.1980, in: Luise Albertz 1901-1979. 25 Jahre Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen, hrsg. von der Stadt Oberhausen, Oberhausen 1981.

Die Fraktionen im Landtag NRW