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Kurt Lichtenstein (1911-1961)

Kurt Lichtenstein hatte ein überaus ereignisreiches Leben. Er war NS-Widerständler, Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg und abtrünniger Kommunist in der Bundesrepublik. Allerdings wurde er nicht wegen seiner persönlichen Erlebnisse über Deutschlands Grenzen hinweg bekannt, sondern wegen der Umstände seines Todes.

Kurt Lichtenstein wurde am 1. Dezember 1911 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren. Seine Kindheit verbrachte er in einem Arbeiterviertel am Prenzlauer Berg – zusammen mit seiner Schwester wuchs er in eher kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Sein Vater, der u.a. als Angestellter, Kaufmann und selbstständiger Schumacher tätig war, ließ sich 1924 scheiden, weshalb seine Mutter gezwungen war, eine Stelle als Gartenarbeiterin auf einem jüdischen Friedhof anzunehmen. Kurt besuchte die Volksschule sowie die Realschule und absolvierte danach eine Lehre als Werkzeugmacher. Anfang der 1930er Jahre wurde er arbeitslos. Er begann daraufhin Kurse an der Deutschen Hochschule für Politik zu besuchen. Bereits seit Mitte der 1920er Jahre war er politisch aktiv, etwa bei der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) und als Mitglied der Freien Deutschen Gewerkschaftsjugend. Ab Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre fand er dann in den kommunistischen Organisationen eine neue politische Heimat. So wurde er Mitglied im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD), in der KPD und in der Revolutionäre Gewerkschafts-Opposition (RGO), wo er 1932 sogar in den Bezirksausschuss kam.1

Als Kommunist und Jude floh Lichtenstein 1933 in die Sowjetunion und besuchte in Moskau eine Kaderschmiede der Partei. Von dort wurde er 1934 ins Saarland entsandt, um als „Instrukteur“ für die KJVD-Bezirksleitung tätig zu sein. Lichtenstein, der unter dem Namen „Herbert“ lebte, lernte hier auch seine spätere Frau Gertrud Klapputh kennen. Nach der Wiedereingliederung des Saarlands ins Deutsche Reich erhielt Lichtenstein den Auftrag, nach Paris überzusiedeln und von dort aus politische Arbeit im Sinne der Partei zu leisten. Zwischenzeitlich war er auch in Straßburg eingesetzt, von wo aus er die illegalen Aktionen kommunistischer Jugendlicher in Baden, in der Pfalz und in der Schweiz zu koordinieren hatte. Bei einer unerlaubten Überquerung der französisch-schweizerischen Grenze wurde er von den schweizerischen Behörden festgenommen und zu einem Monat Gefängnis verurteilt.2

Nach Beginn des Spanischen Bürgerkrieges beteiligte er sich auf Seiten der Internationalen Brigaden am Kampf gegen die faschistischen Putschisten um Francisco Franco. Bei den Interbrigaden war er in unterschiedlichen Funktionen aktiv, als Politkommissar, Herausgeber, Redakteur sowie Korrespondent verschiedener Zeitungen, aber auch an vorderster Front als Teil einer Maschinengewehrkompanie. Nach der Niederlage der Republikaner und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Lichtenstein zusammen mit anderen Interbrigadisten in französische Lager deportiert. Insgesamt verbrachte er 26 Monate im Lager, wo er u.a. aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen bleibenden gesundheitlichen Schaden nahm. Nach dem Waffenstillstand zwischen Marschall Pétain und Hitler gelang Lichtenstein die Flucht aus dem Lager und er schloss sich der französischen Widerstandsbewegung an. Im April 1944 reiste er schließlich im Auftrag der Kommunistischen Partei zurück nach Deutschland. Unter dem Namen „Jules Bardier“ wurde er als französischer Fremdarbeiter in einem Rüstungsunternehmen im thüringischen Suhl eingesetzt. Dort arbeitete er als Werkzeugmacher. Diese Aktion war nicht nur ungemein leichtsinnig und gefährlich – schließlich galt er als jüdisch-kommunistischer „Landesverräter“ –, sondern letztlich auch sinn- bzw. erfolglos. Er sollte nämlich die 600 Arbeiterinnen und Arbeiter aus verschiedenen Ländern vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus überzeugen. Doch die Arbeiterschaft war verständlicherweise aus Angst vor den Konsequenzen nicht zu einem organisierten Zusammenschluss zu überzeugen.3

Nach der Befreiung durch die Amerikaner wurde Lichtenstein wieder nach Frankreich gebracht und dort interniert. Nachdem die Behörden seine unglaubliche Geschichte überprüft hatten, wurde er freigelassen. Zurück in Deutschland musste er feststellen, dass er als einziger seiner Familie den Krieg überlebt hatte – seine Eltern und seine Schwester wurden wahrscheinlich in Auschwitz ermordet. Auch seine Lebensgefährtin hatte viel erdulden müssen. Sie war von 1940 bis zum Kriegsende in Haft, u.a. im KZ Ravensbrück. Das Paar heiratete 1946 und bekam zwei Kinder. Lichtenstein fand eine neue Heimat im Ruhrgebiet und erlebte innerhalb der KPD einen rasanten Aufstieg. So wurde er 3. Vorsitzender der KPD in der britischen Zone, Mitglied des westfälischen Provinzialrats und 1947, bei den ersten freien Wahlen, Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags. Dort engagierte er sich vornehmlich im Entnazifizierungs- und im Kulturausschuss. Zudem wurde er stellvertretender Chefredakteur des „Westdeutschen Volks-Echos“ sowie Chefredakteur der Zeitung „Freiheit“ und der „Neuen Volks-Zeitung“.4

Lichtenstein blieb in diesen Positionen nur wenige Jahre. Im Zuge innerparteilicher Säuberungen innerhalb der kommunistischen Partei wurde Lichtenstein Anfang der 1950er Jahre von seinem Chefredakteursposten enthoben und aus der KPD ausgeschlossen. Auch sein Abgeordnetenmandat verlor er bereits nach der Landtagswahl von 1950. Lichtenstein hatte vergeblich versucht, seinen Parteiausschluss zu verhindern und seine Treue zur kommunistischen Partei unter Beweis zu stellen (u.a. indem er einen ehemals befreundeten Parteigenossen denunzierte und aus der Jüdischen Gemeinde Dortmund austrat). In den folgenden Jahren musste er seine Familie und sich mit Gelegenheitsarbeiten wie dem Verkauf von Waschmaschinen durchbringen. 1954 bewarb er sich um die Mitgliedschaft in der SPD und 1958 konnte er sogar wieder in den journalistischen Beruf zurückkehren. In diesem Jahr erhielt er nämlich eine Festanstellung als Redakteur bei der Westfälischen Rundschau. In deren Auftrag unternahm Lichtenstein im Oktober 1961 eine journalistische Reise anlässlich des Baus der Mauer. Am 12. Oktober erreichte er das Dorf Zicherie in Niedersachen. Er versuchte mit ostdeutschen Landarbeitern, die an der Grenze ihre Arbeit verrichteten, ins Gespräch zu kommen und wurde, nach der Überquerung des Grenzgrabens, von DDR-Soldaten erschossen.5

Viele Fragen, die mit seinem Tod zusammenhängen, sind bis heute ungeklärt: Gab es im Vorfeld einen Warnschuss? Handelte es sich um eine gezielte Liquidierung des unliebsamen Ex-Kommunisten? Gesichert ist, dass Lichtenstein nach den Treffern noch am Leben war. Er wurde an den nahen Waldrand gebracht und nach ein bis zwei Stunden in ein DDR-Krankenhaus gefahren. Dort verstarb er schließlich. Wohl um eine Obduktion zu verhindern, wurde der Leichnam verbrannt und in einer Urne zu seiner Frau nach Westdeutschland geschickt. 1997 wurde der Fall vor Gericht verhandelt. Der Prozess endete mit einem Freispruch der Grenzsoldaten vom Vorwurf des Todschlags. Milde Urteile hatte Kurt Lichtenstein selbst selten erfahren. Zeit seines Lebens sah er sich Anfeindungen, Vorbehalten und dem Druck ausgesetzt, sein Handeln und seine Überzeugungen zu rechtfertigen. 1960 wurden ihm und seiner Frau sogar die NS-Entschädigungsansprüche verweigert, da sie als Kommunisten die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ bekämpft hätten.6 Kurt Lichtenstein war der erste von mehreren hundert „Mauertoten“. Er wurde in Dortmund beigesetzt.

Endnoten
1 Vgl. Lichtenstein, Kurt: Lebenslauf vom 02.05.1950, in: Bundesarchiv. Bestand KPD-Kaderakten (Sig.: BY 1/680); Zunder, Rainer: Erschossen in Zicherie. Vom Leben und Sterben des Journalisten Kurt Lichtenstein, Berlin 1994, S. 8, 20-21, 185-190.
2 Vgl. Lichtenstein, Kurt: Lebenslauf vom 15.05.1946, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1005-ED-740); Zunder: Erschossen in Zicherie, S. 23-25; Weber, Hermann / Herbst, Andreas: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945, 2. überarb. und erw. Auflage, Berlin 2008, S.548 sowie Heck, Felix: „Lasst mich nicht sterben“. Der erste Mensch, der nach dem Mauerbau an der innerdeutschen Grenze erschossen wurde, war kein DDR-Bürger, sondern ein westdeutscher Kommunist und Journalist. Bis heute ranken sich Mythen um Kurt Lichtenstein, in: Zeit für Sachsen vom 14.10.2021.
3 Vgl. Lichtenstein, Kurt: Bericht über meinen Aufenthalt in Deutschland April 1944 bis April 1945, in: Bundesarchiv. Bestand KPD-Kaderakten (Sig.: BY 1/680); ders.: Entnazifizierungsakte, in: Bundesarchiv. Bestand KPD-Kaderakten (Sig.: BY 1/680); ders.: Lebenslauf vom 02.05.1950; Hoffmann, Volkmar: Ein Mann im Stacheldraht unserer Zeit. Der tragische Lebensweg des von der Volkspolizei erschossenen Reporters Kurt Lichtenstein, in: Frankfurter Rundschau vom 27.10.1961; Zunder: Erschossen in Zicherie, S. 26-36 sowie Röder, Werner / Strauss, Herbert A..: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. 3. Bde., Bd. 1, München u.a. 1980, S. 443.
4 Vgl. Lichtenstein, Kurt: Bericht vom 24.10.1950, in: Bundesarchiv. Bestand KPD-Kaderakten (Sig.: BY 1/680); Fricke, Karl Wilhelm: Brudermord an der Zonengrenze, in: Rheinischer Merkur vom 20.10.1961; Heck: „Lasst mich nicht sterben“; Schädel, Gudrun: Die Kommunistische Partei Deutschlands in Nordrhein-Westfalen von 1945-1956, Bochum 1973, S. 86; Zunder: Erschossen in Zicherie, S. 8, 33-40, 167-179; Weber / Herbst: Deutsche Kommunisten, S.549 sowie Röder / Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 443.
5 Vgl. Brief Kurt Lichtenstein an das Sekretariat des P.V. der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 19.06.1952, in: Bundesarchiv. Bestand KPD-Kaderakten (Sig.: BY 1/680); Brief Kurt Lichtenstein an den Vorstand der Jüdischen Gemeinde Groß-Dortmund von 15.01.1953, in: Bundesarchiv. Bestand KPD-Kaderakten (Sig.: BY 1/680); Lichtenstein, Kurt: Entwurf politische Stellungnahme zu dem Antrag auf Mitgliedschaft in der SPD vom 21.10.1954, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Nachlass Kurt Lichtenstein (Sig.: RWN 0239-04); ders.: Warum der Rubel rollt. Entwicklungshilfe der Sowjetunion für 14 Länder Afrikas und Asiens, in: Westfälische Rundschau vom 21.07.1961; Klocksin, Jens Ulrich: Kommunisten im Parlament. Die KPD in Regierungen und Parlamenten der westdeutschen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland (1945-1956), Bonn 1993, S. 242; Winter, Jens: Kurt Lichtenstein: † 12.10.1961. Tragischer Tod eines Grenzgängers, Brome 2011, S. 19-22; Zunder: Erschossen in Zicherie, S. 8, 41-131 sowie Heck: „Lasst mich nicht sterben“.
6 1962, nach seinem Tod, einigten Witwe und Entschädigungsamt auf einen Vergleich in Höhe von 12.900 DM. Vgl. Vogel, Paul Otto: Nach dem Mord die Lüge, in: Westfälische Rundschau vom 18.10.1961; o.V.: Sechs Tage nach dem Mord: Kurt Lichtensteins Leichnam ohne Zustimmung verbrannt. Gefühlsrohes Telegramm aus der Zone: Asche kommt per Post, in: Westfälische Rundschau vom 19.10.1961; Zunder: Erschossen in Zicherie, S. 106-137; Winter: Kurt Lichtenstein, S. 18 sowie Heck: „Lasst mich nicht sterben“.

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