Hermann Runge (1902-1975)

Hermann Runge war nicht nur Abgeordneter des nordrhein-westfälischen Landtags, sondern auch Mitglied des Parlamentarischen Rats und des Deutschen Bundestags. Vor allem war er aber während des „Dritten Reichs“ einer der exponierten sozialdemokratischen Widerständler.

Hermann Runge wurde am 28. Oktober 1902 in Konradsthal in Niederschlesien geboren. Sein Vater war Bergmann und verunglückte 1909 tödlich. Hermanns Mutter musste sich fortan allein um die vier Kinder kümmern. Er unterstützte die Familie, in dem er nachmittags auf den Feldern arbeiten ging. Ungerecht empfand er seine persönliche Situation wie auch die soziale Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Bereits in jungen Jahren brachte ihm seine Mutter das sozialdemokratische Gedankengut nahe. So besuchte sie mit ihm Veranstaltungen, auf denen August Bebel und Rosa Luxemburg auftraten.1

1913 zog die Familie von Schlesien an den Niederrhein nach Moers. Nach dem Besuch der Volksschule erlernte Hermann Runge von 1917 bis 1920 das Schlosserhandwerk. Daneben engagierte er sich politisch. 1919 wurde er Mitglied des Deutschen Metallarbeiter-Verbands und der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ). Ein Jahr später trat er der SPD bei. Von 1922 bis 1932 war er Kreisvorsitzender der SAJ. Bei der Jugendorganisation lernte er im Übrigen seine spätere Frau Wilhelmine Holtappels kennen. 1929 wurde Runge Mitglied des Gemeinderates von Repelen-Baerl sowie des Kreistages von Moers. Von 1931 bis 1933 wurde er zudem hauptamtlicher Parteisekretär der SPD in Moers. Daneben war er auch Kreisvorsitzender der Republikschutzorganisationen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold sowie Eiserne Front.2

Da 1933 die SPD verboten wurde, verlor er seine Stelle als Parteisekretär. Eine Anstellung als Schlosser bekam er unter dem nationalsozialistischen Regime nicht mehr – trotz Mitgliedschaft in der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Er blieb bis April 1934 arbeitslos und wurde dann Fahrer bei der Brotfabrik „Germania“ in Duisburg-Hamborn. Der Inhaber August Kordahs beschäftigte eine Reihe ehemals aktiver Sozialdemokraten. Zusammen mit diesen baute Hermann Runge ein beachtliches Widerstandsnetz auf. Aus Brüssel schmuggelte die Gruppe illegale sozialdemokratische Schriften. Zur Tarnung besaßen diese irreführende Titel wie „Die Kunst des Selbstrasierens“. Die Brotfahrer verteilten die Schriften bis nach Bonn, Aachen oder Bielefeld. Runge selbst musste äußerst vorsichtig agieren, denn er wurde überwacht und war darüber hinaus verpflichtet, sich jeden Morgen bei der örtlichen Polizei zu melden.3

Trotz aller Vorsicht wurde die Gestapo Anfang 1935 auf die Gruppe aufmerksam. Ende Mai kam es dann zu einer Reihe von Verhaftungen, auch Hermann Runge wurde gefasst. Er hatte zwar am Abend vorher einen Hinweis erhalten, dass vermutlich nach ihm gefahndet würde, doch für eine Flucht ins Exil war er zu unentschlossen. Runge wurde in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gebracht, dort verhört und geschlagen.4 Eindrücklich schilderte er im Nachhinein seine Erfahrungen: „Ich wurde nach unten gebracht, in einen Bunker – Eisenstäbe und eine Holzpritsche – hier habe ich drei Wochen mit Tag und Nacht auf dem Rücken gefesselten Händen zugebracht. Nur essen durfte ich ohne Handschellen.“5 Unverhoffte Unterstützung erhielt er allerdings von einem Polizisten, der ihm unerlaubterweise nachts die Handschellen öffnete. Nach drei Wochen wurde er schließlich ins Gefängnis nach Duisburg überführt. Bis ihm und anderen Genossen der Prozess vor dem Volksgerichtshof gemacht wurde, vergingen anderthalb Jahre Untersuchungshaft. Der Titel des Verfahrens lautete „Runge und andere“, wodurch seine herausgehobene Stellung innerhalb des Widerstandsnetzwerkes betont wurde. Runge musste während des Prozesses damit rechnen, zum Tode verurteilt zu werden, auch wenn die Staatsanwaltschaft 15 Jahre Zuchthaus gefordert hatte. Schließlich wurde er am 11. Dezember 1936 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.6

Runge wurde in die Strafanstalt Lüttringhausen bei Wuppertal verlegt. Dort war es seiner Frau endlich erlaubt, ihn wiederzusehen. Die Besuchszeit war jedoch streng eingeschränkt auf 20 Minuten pro Vierteljahr. Während seiner Gefangenschaft verlor er permanent an Gewicht – hatte er 1937 noch 76,8 kg gewogen, so wog er 1941 lediglich noch 64,5 kg und dies bei einer Körpergröße von 1,71 m. Im Krieg war er u.a. mit der lebensgefährlichen Aufgabe betraut, noch nicht detonierte Fliegerbomben freizulegen, um dadurch eine Entschärfung zu ermöglichen. Im Juni 1944 war Runges Haftzeit um. Die Gestapo versuchte jedoch, ihn in ein KZ zu verlegen, doch sein zuständiger Zuchthausdirektor war Runge gnädig gestimmt. Er vermittelte ihn an die Firma Vorwerk in Wuppertal, die ihn als Schlosser dringend gebrauchen konnte. Runge fühlte sich allerdings alles andere als in Sicherheit. Unmittelbar vor Ende des Krieges floh er in Richtung amerikanischer Truppen, aus Angst vor einer Gestapo-Racheaktion. Seine Sorge war nicht unbegründet: Die Gestapo hatte unmittelbar vor dem Einzug der Amerikaner 72 Gefangene aus dem Zuchthaus Lüttringhausen geholt und ermordet.7

Nach Ende des Krieges stürzte er sich unmittelbar wieder in die politische Arbeit, trotz des von den Alliierten noch geltenden Parteiverbots.8 Runge selbst beschrieb seine Arbeit folgendermaßen: „Zu Pfingsten im gleichen Jahr hatte ich schon alle Ortsvereine der SPD aufgebaut. Den letzten am Pfingstsamstag in Borth. Ich war mit einem geliehenen Fahrrad von Ort zu Ort gefahren. Als im September 1945 endlich die Genehmigung kam, die Parteien dürften wieder aufgebaut werden, stand bei uns schon alles. Wir konnten sofort mit der Arbeit beginnen.“9 Nach einer kurzen Phase als Angestellter bei der örtlichen Kreisverwaltung wurde Runge 1946 hauptamtlicher Bezirkssekretär im SPD-Bezirk Niederrhein. Diese Position behielt er bis 1966. Von 1946 bis 1948 war er Kreistagsabgeordneter und von 1945 bis 1946 Mitglied des beratenden Provinzialrats der Rheinprovinz. Zudem wurde er Abgeordneter des Ernannten und des freigewählten Landtags in Nordrhein-Westfalen. Von dort wurde er auch in den Parlamentarischen Rat entsandt. Im Parlamentarischen Rat war Runge Schriftführer im Ausschuss für die Organisation des Bundes und Ersatzmitglied im Ausschuss für Grundsatzfragen. Relevante Initiativen gingen von ihm allerdings nicht aus. Auch im Deutschen Bundestag, in dem er von 1949 bis 1957 als Abgeordneter vertreten war, fiel er kaum auf. Mitglied des Landtages war er über drei kurze Perioden, von 1946 bis 1947, von 1958 bis 1962 und von 1965 bis 1966. Dort saß er unter anderem im Unterausschuss für Entnazifizierungsfragen, im Ausschuss für Flüchtlings- und Vertriebenenfragen und im Ausschuss für Wiedergutmachung. Während dieser Zeit hielt sich Runge ebenso vornehmlich im parlamentarischen Hintergrund, auch wenn ihm das Thema Wiedergutmachung eine Herzensangelegenheit war, für die er sich nachdrücklich einsetzte. Sein Engagement war viel stärker auf die unmittelbare Parteiarbeit vor Ort gerichtet. 1969 erhielt Runge für seine Lebensleistungen das Große Bundesverdienstkreuz. Weil er darüber hinaus eine Frau vor einem ankommenden Zug gerettet hatte, erhielt er die Lebensrettungsmedaille. Er starb im Alter von 72 Jahren am 3. Mai 1975 in Düsseldorf an Herzversagen. Seit 1996 trägt in Moers eine Gesamtschule seinen Namen.10

Endnoten
1 Vgl. Schmidt, Bernhard: Hermann Runge. Vom mutigen Widerstand gegen die NS-Diktatur zur Erarbeitung der deutschen Verfassung, in: Jahrbuch Kreis Wesel, 31 (2010), S. 55-66, hier S. 57 sowie Eßer, Aletta: Hermann und Wilhelmine Runge, in: Schöfer, Erasmus (Hrsg.): Der rote Großvater erzählt. Berichte und Erzählungen von Veteranen der Arbeiterbewegung aus der Zeit von 1914 bis 1945, Frankfurt am Main 1974, S. 175-177, hier S. 175-176.
2 Vgl. Schmidt: Hermann Runge, S. 57-58; Köhler, Wolfram: Gnoß, Ernst: Widerstand und Wiederaufbau. Der erste Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1999, S. 19; Brusis, Ilse / Wettig-Danielmeier, Inge (Hrsg.): „Wir haben etwas bewegt“. Der Seniorenrat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 110 Lebensläufe von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Berlin 2008, S. 221 sowie Fischer, Ilse u.a.: Widerstand 1933-1945. Sozialdemokraten und Gewerkschafter gegen Hitler, Karlsruhe 1980, S. 125-126.
3 Vgl. Runge, Hermann: Fragebogen der Militärregierung, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1012-12917); Gestapo-Vernehmungsprotokoll mit Wilhelmine Runge vom 29.04.1943, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-4170); Schmidt, Bernhard / Burger, Fritz: Tatort Moers. Widerstand und Nationalsozialismus im südlichen Altkreis Moers, 2. Aufl., Moers 1995, S. 206; Dzudzek, Jürgen: Widerstand und Verfolgung 1933-1945, in: Pietsch, Hartmut / Scherschel, Horst (Hrsg.): „Ein schwerer Kampf ist's, den wir wagen“. 125 Jahre Sozialdemokratische Partei in Duisburg, Duisburg 1989, S. 158-171, hier S. 160-161 sowie Fischer: Widerstand 1933-1945, S. 131-133.
4 Vgl. Runge, Hermann / Runge Wilhelmine: Die Moerser SPD im Kampf gegen die Nazis, in: Schöfer, Erasmus (Hrsg.): Der rote Großvater erzählt. Berichte und Erzählungen von Veteranen der Arbeiterbewegung aus der Zeit von 1914 bis 1945, Frankfurt am Main 1974, S.177-191, hier S. 182 sowie o.V.: Sabotage der Betriebsgemeinschaft. Die Geheime Staatspolizei besetzt die Brotfabrik „Germania“, Hamborn, in: Der Ruhrarbeiter vom Juni 1935.
5 Runge: Die Moerser SPD, S. 182.
6 Vgl. ebd., S. 182-183; Urteil Volksgerichtshof vom 11.12.1936, in: Bundesarchiv. Akten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R 3017/6059); Fischer: Widerstand 1933-1945, S. 138-145; Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 886 sowie Schmidt, Bernhard: Widerstand und demokratischer Neubeginn im Altkreis Moers. Begleit- und Arbeitsheft zur Ausstellung, Moers 1995, S. 65.
7 Vgl. Bemerkungen über Person und Straftat Hermann Runges, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gefangenenpersonalakten (Sig.: Gerichte Rep. 163 Nr. 1196); Runge: Die Moerser SPD, S. 189; Köhler: Gnoß, Ernst, S. 19; Fischer: Widerstand 1933-1945, S. 145-153; Bogdal, Hermann u.a.: Begegnungen im Widerstand, in: Tappe, Rudolf / Tietz, Manfred (Hrsg.): Tatort Duisburg 1933-1945. Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus. 2. Bde., Bd. 2, Essen 1993, S. 470-498, hier S. 494 sowie Wickert, Christl: Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert, hrsg. vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Marburg 2000, S. 281.
8 Vgl. Runge: Die Moerser SPD, S. 191 sowie Schmidt: Hermann Runge, S. 57.
9 Runge: Die Moerser SPD, S. 191.
10 Vgl. Brief Chef des Bundespräsidialamtes an den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen vom 07.11.1969, in: Landearchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Ordensakten (Sig: NW O Nr. 9289); Schmidt: Hermann Runge, S. 58-64; Denzer, Karl Josef (Hrsg.): Nordrhein-Westfalen und die Entstehung des Grundgesetzes, Duisburg 1989, S. 175; Köhler: Gnoß, Ernst, S. 19-20; Jahn, Bruno u.a.: Runge, Hermann, in: Vierhaus, Rudolf / Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, 3. Bde., Bd. 2, München 2002, S. 712; Meyer-Wrekk, Heinz: Porträt der Woche: Hermann Runge (SPD), in: Landtag intern vom 24.11.1972, S. 2 sowie Brusis / Wettig-Danielmeier: „Wir haben etwas bewegt“, S. 222.

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