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Heinrich Jochem (1898-1978)

Heinrich Jochem gehörte seit Gründung des Landes im Jahr 1946 dem nordrhein-westfälischen Landtag an. Erst 1966 schied er aus. Seine langjährige und kontinuierliche Arbeit im Parlament war innerhalb der SPD-Fraktion eher untypisch, denn viele frühe sozialdemokratische Landtagsabgeordneten hatten sich entweder der Bundespolitik zugewandt oder waren durch ihre Erfahrungen von Haft und körperlicher Gewalt im „Dritten Reich“ früh verstorben. Heinrich Jochem konnte sich eines längeren Lebens erfreuen, doch auch er hatte im Nationalsozialismus stark unter Verfolgung gelitten.

Heinrich Jochem wurde am 21. Februar 1898 in Klein-Schardau in der Nähe der westpreußischen Kreisstadt Stuhm (heute Sztum) geboren. Von 1904 bis 1912 besuchte er die Volksschule.1 Er wurde in der darauffolgenden Zeit Mitglied der Landarbeitergewerkschaft und 1919 Mitglied der SPD. Im gleichen Jahr zog er von Westpreußen nach Gladbeck in Westfalen, wo er anfing, als Bergarbeiter zu arbeiten. Am 3. Oktober schrieb er in sein Tagebuch: „Heute bin ich zum ersten mal herunter gefahren in die Grube. Es war halb so schlimm[…].“2 Ebenfalls 1919 trat er dem Bergarbeiterverband bei und begann, sich vor allem in der sozialdemokratischen Jugendorganisation „Sozialistische Arbeiter-Jugend“ (SAJ) zu engagierten. 1926/1927 nutze er dann die Gelegenheit sich weiterzubilden, indem er die Staatliche Fachschule für Wirtschaft und Verwaltung in Düsseldorf besuchte. Anschließend nahm er für ein Semester an einem Lehrgang der Universität Münster zur Arbeitslosenversicherung teil. Ebenfalls 1927 folgte eine Anstellung als Volontär bei der Hauptverwaltung des Bergarbeiterverbands in Bochum. Im Juli 1928 wurde er Gewerkschaftssekretär und übernahm erst in Gießen die Geschäftsstelle des Verbandes für Oberhessen und Hessen-Nassau und dann 1932 in Oberhausen die Geschäftsstelle für Oberhausen, Duisburg und Mülheim an der Ruhr. Der Grund für die Versetzung war nach eigenen Angaben, mögliche Angriffe auf seine Person seitens der SA und SS. Er hatte sich nämlich in Gießen den Nationalsozialisten ausdrücklich zum Feind gemacht. In Oberhausen wurde er 1932 Vorsitzender der örtlichen SPD.3

Im Mai 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, wurde Jochem kurzzeitig festgesetzt. Außerdem wurde sein Haus durchsucht und er verlor seine Anstellung als Gewerkschaftssekretär. Bis zum Juni 1934 blieb er erwerbslos und war auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen. Ab Juli betrieb er dann einen Handel mit Seife. Zugleich beteiligte sich Jochem am sozialdemokratischen Widerstand. Er knüpfte Kontakte zu anderen Sozialdemokraten und Kommunisten, traf geflüchtete SPD-Politiker in den Niederlanden und verteilte im Ruhrgebiet illegale SPD-Schriften aus Amsterdam an andere Genossen. Doch mit der Zeit wurde die Gestapo auf die Aktionen aufmerksam und in der Nacht zum 7. November 1934 wurde Jochem, mittlerweile verheiratet und Vater dreier Kinder, aus seinem Schlafzimmer geholt und verhaftet.4 Noch am gleichen Tag wurde er verhört. Bei der Vernehmung erklärte Jochem: „Ich weise es entschieden zurück, daß ich irgendwelche Schritte unternommen habe, die zur Zusammenarbeit zwischen KPD und SPD führen sollten.“5 Die Gestapo verstand es jedoch, seinen Widerstand zu brechen. Das Vernehmungsprotokoll vom nachfolgenden Tag beginnt mit folgendem Satz: „Ich will jetzt die Wahrheit sagen.“6 Jochem wurde dem Anschein nach zwischen beiden Verhören nicht nur eingeschüchtert, sondern auch gefoltert. Er wurde am 29. Mai 1935 vom Oberlandesgericht Hamm wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Haftzeit verbrachte er u.a. in einem Konzentrationslager bei Papenburg im Emsland. Seine Frau führte während seiner Abwesenheit den Seifenhandel sowie die politische Arbeit fort. Am 7. November 1936 wurde Heinrich Jochem schließlich entlassen.7

Er war allerdings weiterhin ständiger Überwachung ausgesetzt. Selbst eine zeitweilige Postsperre wurde gegen ihn verhängt.8 Im Bericht der Gestapo heißt es: „Soweit festgestellt werden konnte, lebt er auch jetzt zurückgezogen und geht wenig aus. […] Irgendwelche Wahrnehmungen, dass er in seiner Wohnung eine Material-Anlaufstelle aus Amsterdam unterhält und mit ehemaligen Funktionären in Verbindung steht, wurden bisher nicht gemacht.“9 Die Gestapo kam daher zu folgendem Schluss: „Bei Jochem handelt es sich um einen alten marxistischen Funktionär, dem eine Umstellung zum Nationalsozialismus schwer fällt. Andererseits ist er so intelligent, daß er heute jede illegale Betätigung als sinnlos ansieht und sich davon fernhält.“10 Jochem begann sich mit dem Nationalsozialismus zu arrangieren. Bereits 1933 war er Mitglied der Deutschen Arbeitsfront geworden, 1938 trat er dann der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt bei. 1940 stellte er zudem ein erfolgreiches Gesuch auf „Wiedererlangung der Wehrwürdigkeit“. Dennoch nahm er nicht als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil, weil er schließlich als „untauglich“ eingestuft wurde. Er gab später an, seit 1937 als Vertreter und Geschäftsführer von Handelsunternehmen tätig gewesen zu sein.11

Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Jochem wieder mit der politischen und gewerkschaftlichen Arbeit. So engagierte er sich vor Ort bei der Wiedergründung der SPD, wurde Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Duisburg-Oberhausen-Wesel und übernahm die Leitung des DGB-Ortsausschusses Oberhausen.12 Die Herausforderungen, die ihm bei seinen Aufgaben begegneten, waren immens. So berichtete er etwa folgendes: „Als ich nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft an die Wiedereinrichtung der Parteiorganisation heranging, stellte ich fest, daß kaum ein Dutzend der früheren Parteifunktionäre zur Verfügung standen. Neben der physischen Zerstörung des Menschenmaterials durch die Naziherrschaft zeigte sich auch die geistige und ideologische Verwirrung.“13 Abschrecken ließ er sich von diesen Beobachtungen jedoch nicht – im Gegenteil, er übernahm noch mehr politisch/gewerkschaftliche Verantwortung. 1946 wurde er nämlich Zweiter Vorsitzender des SPD-Bezirks Niederrhein, Ratsmitglied der Stadt Oberhausen und dann SPD-Fraktionsvorsitzender sowie 1947 Mitglied des Hauptvorstandes der IG Bergbau und Energie. Ebenfalls 1946 wurde er Mitglied des ernannten Landtags von Nordrhein-Westfalen. Bis 1966 war er im Landtag in zahlreichen Ausschüssen vertreten. Zwei Politikfelder lagen ihm aber besonders am Herzen. Zum einen wurde er – auch aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen – zu einem Experten beim Thema Tagebau/Bergbau. Ende der 1950er Jahre leitete er etwa den „Unterausschuß zur Beratung des Gesetzes über die Gesamtplanung im Rheinischen Braunkohlegebiet“. Darüber hinaus versuchte er die Belange der Bergarbeiter im Ruhrgebiet zu vertreten, indem er u.a. die mangelnde Grubensicherheit anprangerte. Zudem hatte er sich in den ersten Jahren des Landes Nordrhein-Westfalen (wenn auch vergeblich) für die Sozialisation des Bergbaus eingesetzt.14

Zum anderen engagierte er sich angesichts der kriegszerstörten Städte sehr für den Wohnungsbau, um besonders sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten die Wohnungssuche zu erleichtern.15 Dem Thema Wiederaufbau widmete sich Jochem auch als Geschäftsführer einer Gemeinnützigen Wohnungs- und Siedlungsgenossenschaft und ab 1957 als Mitglied des Verwaltungsrats der Wohnungsbauförderungsanstalt des Landes Nordrhein-Westfalen. Für sein Engagement erhielt er 1964 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Heinrich Jochem beschrieb sich als „gottgläubig“,16 war aber keiner Konfession zugehörig. Er starb am 21. Mai 1978 in Oberhausen-Buschhausen. Ein Platz in Oberhausen erinnert an sein Wirken.

Endnoten
1 Vgl. Jochem, Heinrich: Entnazifizierungsakte, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1015-1749).
2 Ders.: Tagebucheintrag vom 03.10.1919, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Nachlass Jochem (Sig.: RW 202-179).
3 Vgl. ders.: Delegiertenanmeldung für den SPD-Parteitag 1946 in Hannover vom 29.04.1946, in: AdsD. Bestand SPD-PV (Sig.: 2/PVBK000114); o.V.: Lebensbilder der Zeit. Heinrich Jochem, in: Demokratischer Aufbau vom Februar 1957 sowie Gespräch mit Heinrich Jochem und seiner Frau vom 27.09.1975, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Nachlass Jochem (Sig.: RW 202-177).
4 Vgl. Bericht Heinrich Jochem an Ernst Schmidt vom 27.06.1951, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Nachlass Jochem (Sig.: RW 202-1); Gespräch mit Heinrich Jochem und seiner Frau vom 27.09.1975; Brief Geheimes Staatspolizeiamt Berlin an die Geheime Staatspolizeistelle Dortmund vom 24.04.1937, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-27281); Jochem: Entnazifizierungsakte; ders.: Delegiertenanmeldung sowie Hoynacki, Barbara: Flugblätter unter der Seife transportiert, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 17.03.2014.
5 Polizeiliche Vernehmung von Heinrich Jochem am 07.11.1934, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-47405).
6 Nochmalige polizeiliche Vernehmung von Heinrich Jochem am 08.11.1934, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-47405).
7 Vgl. Personalbogen der Geheimen Staatspolizei über Jochem, Heinrich, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-27281); Gespräch Peter Hüttenberger mit Heinrich Jochem vom 09.09.1968, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Sammlung Hüttenberger (Sig.: RWN 0139-2); Gespräch mit Heinrich Jochem und seiner Frau vom 27.09.1975 sowie Hoynacki: Flugblätter unter der Seife transportiert.
8 Vgl. Brief der Geheimen Staatspolizeistelle Düsseldorf, Außendienststelle Oberhausen an die Geheime Staatspolizeidienststelle Düsseldorf vom 03.05.1938, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-27281).
9 Brief der Geheimen Staatspolizeistelle Düsseldorf, Außendienststelle Oberhausen an die Geheime Staatspolizeidienststelle Düsseldorf vom 09.07.1937, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-27281).
10 Personalbogen der Geheimen Staatspolizei.
11 Vgl. Jochem: Entnazifizierungsakte sowie Brief der Geheimen Staatspolizeistelle Düsseldorf, Außendienststelle Oberhausen an die Geheime Staatspolizeidienststelle Düsseldorf vom 14.03.1940, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-27281).
12 Vgl. ders.: Delegiertenanmeldung sowie o.V.: Lebensbilder der Zeit.
13 Bericht Heinrich Jochem an Ernst Schmidt vom 27.06.1951.
14 Vgl. Jochem, Heinrich: Was erwarten die Bergarbeiter von dem neuen Landtag Nordrhein-Westfalen?, in: Demokratischer Aufbau vom Juni 1954, S. 4; ders.: An alle aktiven Kräfte des Sozialisierungsgedanken! Was wird aus dem Ruhrkohlebergbau? vom 10.05.1948, in: AdsD. Bestand Fritz Henßler (Sig.: 1/FHAC0000048); Düding, Dieter: Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966, Bonn 1995, S. 130 sowie Paul, Johann: Die nordrhein-westfälische Braunkohlenpolitik und der Übergang zum Tieftagebau in den 1950er Jahren, in: Geschichte im Westen, 12 (1997), S. 61-78, hier S. 69, 72-73.
15 Vgl. o.V.: Lebensbilder der Zeit.
16 Jochem: Entnazifizierungsakte.

Die Fraktionen im Landtag NRW