Frieda Nadig (1897-1970)

Frieda Nadig hatte im Laufe ihrer politischen Arbeit immer wieder gegen erhebliche Vorbehalte zu kämpfen. Selbst Parteikollegen zeigten Skepsis gegenüber Frauen in politischer Verantwortung. So äußerte sich der ostwestfälische SPD-Funktionär Erich Deppermann 1945 auf der ersten SPD-Frauenversammlung: „Die Sozialdemokratie war es, die die Gleichberechtigung der Frau im politischen Leben gefordert hat. Dafür bekamen wir aber keinen Dank. Stattdessen liefen die meisten Frauen den Nazis nach, die die Methode anwandten, an das Gefühl zu appellieren und nicht an den Verstand.“1 Der Vorwurf, Frauen seien unmündige Naziunterstützerinnen gewesen, war weit verbreitet, ist aber gesamtgesellschaftlich problematisch.2 Zudem beleidigt er die vielen demokratisch gesinnten Frauen, die – wie Frieda Nadig – im Nationalsozialismus erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt waren.

Friederike Charlotte Louise Nadig wurde am 11. Dezember 1897 in Herford geboren und dann evangelisch getauft. Ihre Mutter war Näherin und ihr Vater gelernter Tischler. Später wurde er Filialleiter des Herforder Konsumvereins und für die SPD Mitglied des preußischen Landtags. Frieda Nadig absolvierte nach der Volksschule eine Lehre als Verkäuferin im selben Konsumverein. Die Familie Nadig war fest im sozialdemokratischen Milieu beheimatet – daher trat Frieda mit 16 Jahren der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) bei und wenige Jahre später auch der SPD. 1914 wurde sie zudem Gewerkschaftsmitglied beim Zentralverband der Angestellten und engagierte sich ehrenamtlich bei der sozialdemokratisch-orientierten Arbeiterwohlfahrt (AWO). Von 1920 bis 1922 besuchte sie die Soziale Frauenschule in Berlin, die von Alice Salomon, eine der Vorreiterinnen der Frauenbewegung, gegründet wurde. Mit ihrem Abschluss erhielt sie das Staatsexamen als Wohlfahrtspflegerin im Hauptfach Jugendwohlfahrtspflege, mit dem sie eine Stelle als Jugendfürsorgerin im Bielefelder Wohlfahrtsamt fand.3 „Sie hat zunächst in der Abteilung Amtsvormundschaft, Krüppelfürsorge, Kinderentsendung, Kinderhorte, Kinderschulen, Säuglingsfürsorge, und seit dem 1. August 1923 in der Abteilung Jugendschutzaufsicht, Jugendgerichtshilfe, Fürsorgeerziehung, vormundschaftliche Aufgaben, gearbeitet“.4 1925 wurde ihr schließlich auch der Ausweis als staatlich anerkannte Wohlfahrtspflegerin ausgestellt.5

Von 1929 bis 1933 war Nadig Mitglied des westfälischen Provinziallandtags, wo sie sich geschlechterkonform in Fürsorge- und Wohlfahrtsausschüssen engagierte. Am 12. März 1933 wurde sie sogar wiedergewählt. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft verlor sie dann aber nicht nur ihr Abgeordnetenmandat, sondern auch – durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums – ihre Stelle als Jugendfürsorgerin. Gegen ihre Entlassung protestierte sie mehrfach, jedoch vergeblich. Es folgte eine mehrjährige Arbeitslosigkeit; erst 1936 erhielt sie eine Anstellung als Gesundheitspflegerin in Ahrweiler. Vorausgegangen war ein Schulungskurs in Kranken- und Säuglingspflege, der von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) organisiert worden war. 1935 trat sie zudem der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und 1936 der NS-Frauenschaft (NSF) bei. Wahrscheinlich war die Mitgliedschaft in beiden Organisationen Voraussetzung für den Stellenerhalt. Bereits 1933 war sie zwangsweise Mitglied der Deutschen Arbeitsfront geworden. Ämter in den Organisationen übernahm sie jedoch keine, auch der NSDAP trat sie nicht bei. In Widerstandsaktivitäten war sie allerdings ebenfalls nicht verwickelt.6

Unmittelbar nach dem Krieg stand sie vor der Frage, ob sie ihre alte Stelle als Jugendfürsorgerin in Bielefeld wieder annehmen, oder abermals politische Ambitionen verfolgen sollte. Sie entschied sich für letzteres, u.a. auch weil die SPD-Politiker Carl Severing und Emil Groß sie zur Rückkehr in die Politik überredeten. 1946 wurde sie hauptamtliche Bezirkssekretärin der AWO in Ostwestfalen und ein Jahr später Mitglied des Zonenbeirates für die Britische Zone, wo sie im Flüchtlingsausschuss aktiv wurde. Von 1947 bis 1950 war sie dann Mitglied des Landtags in Nordrhein-Westfalen. Dort engagierte sie sich im Flüchtlingsausschuss, im Sozialausschuss sowie im bevölkerungspolitischen Ausschuss – klassisch sozialpolitische Felder, in denen sich Frauen politisch einbringen durften. Des Weiteren beteiligte sie sich beim Wiederaufbau der SPD und wurde Beisitzerin des Bezirksvorstands der SPD in Ostwestfalen-Lippe. Als Expertin in sozialen Belangen wurde sie 1948 schließlich in den parlamentarischen Rat entsandt. Sie gehörte damit zu einer der vier „Müttern des Grundgesetzes“.7

Nadig kritisierte den geringen Frauenanteil im Parlamentarischen Rat, der prozentual sogar noch unter dem der Nationalversammlung von 1919 lag. Sie war der Meinung, dass Frauen für den Wiederaufbau Deutschlands gebraucht würden und demnach angemessen politisch repräsentiert sein müssten. Im Parlamentarischen Rat gehörte Nadig dem Ausschuss Grundsatzfragen an sowie dem Organisations- und Hauptausschuss. Mit ihrer SPD-Mitstreiterin Elisabeth Selbert setzte sie sich vehement dafür ein, den Passus „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz zu übernehmen. Es war Nadig, die den sozialdemokratischen Abänderungsantrag zur Gleichberechtigung in den Parlamentarischen Rat einbrachte, selbst wenn sie sich bei der anstehenden Diskussion zurückhielt. Der Antrag wurde schließlich angenommen – auch, weil viele Frauenvereine öffentlichen Druck ausgeübt hatten. Abgelehnt wurden allerdings zwei weitere Anträge, für die sich Nadig besonders einsetzte. Der eine sollte die Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern gesetzlich verankern und der andere forderte die rechtliche Gleichstellung von unehelichen und ehelichen Kindern.8 In Artikel 6 des Grundgesetzes wurde letztlich folgender Kompromiss festgehalten: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“9

Bei der Bundestagswahl 1949 gewann Nadig das Direktmandat für den Wahlkreis Bielefeld-Stadt. 1950 gab sie dann ihr Landtagsmandat auf, um sich ganz auf die Bundespolitik zu konzentrieren. Dort engagierte sie sich auch im Rechtsausschuss. Als glühende Rednerin trat sie allerdings selten hervor, sie bevorzugte vielmehr den persönlichen Kontakt. In ihrem Auftreten war sie bescheiden, doch zeichnete sie sich gegenüber ihren Mitmenschen durch Verantwortungsbereitschaft und Mitgefühl aus. 1961 beabsichtigte sie, ein weiteres Mal für den Bundestag zu kandidieren, aber ihr wurde seitens der Partei kein sicherer Listenplatz mehr zugestanden. Es vollzog sich ein Generationenwechsel – ihr Mandat übernahm Elfriede Eilers.10

Bei der AWO blieb sie bis 1966 Geschäftsführerin des Bezirksverbands in Ostwestfalen und Lippe. Bis zu ihrem Ausscheiden war die Anzahl ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf 200 Personen angewachsen. Auf ihre Initiative hin wurden zudem vier Altenwohnheime, zwei Pflegeheime und 34 Altenklubs gebaut. Eine ansehnliche Erfolgsgeschichte, gerade wenn man bedenkt, mit welcher Notsituation sie unmittelbar nach dem Krieg konfrontiert war.11 „Zunächst organisierte sie die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, verteilte Spenden und Pakete, die aus dem Ausland eintrafen, um die größte Not zu lindern, besorgte Nähmaschinen für die Einrichtung von Nähstuben und organisierte Erholungsaufenthalte für Kinder, Mütter und Kriegsheimkehrer.“12

1961, im Jahr ihres Ausscheidens aus dem Bundestag, erhielt sie das Große Bundesverdienstkreuz und 1970 wurde sie für ihr außerordentliches Engagement bei der AWO mit der Marie-Juchacz-Plakette ausgezeichnet. Im gleichen Jahr, am 14. August 1970, starb sie in Bad Oeynhausen. Sie blieb ihr Leben lang ledig. Testamentarisch verfügte sie, dass ihr Besitz in eine Stiftung übergehen sollte. Die Frieda-Nadig-Stiftung sollte Bewohnerinnen und Bewohnern der AWO-Altenheime die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen ermöglichen.13

Endnoten
1 Zitiert nach Kühne, Hans-Jörg: Die SPD in Ostwestfalen-Lippe nach 1945. Der Sieg der Traditionalisten, Regensburg 1995, S. 194.
2 Tatsächlich war der Anteil der NSDAP-Wählerinnen bis 1932 geringer, als der der Männer. Erst 1933 gab es in Gesamtdeutschland ein marginaler Frauenüberschuss bei den NSDAP-Stimmen. Vgl. Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler. München 1991, S. 136-146.
3 Vgl. Schul-Abgangs-Zeugnis der Volksschule Herford von Frieda Nadig vom 01.04.1912, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Sunderbrink, Bärbel: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Die SPD-Politikerin und Mitgestalterin des Grundgesetzes Frieda Nadig (1897-1970), in: dies. (Hrsg.): Frauen in der Bielefelder Geschichte, Bielefeld 2010, S. 222–231, hier S. 223-224; Notz, Gisela: Frauen in der Mannschaft. Sozialdemokratinnen im Parlamentarischen Rat und im Deutschen Bundestag 1948/49 bis 1957, Bonn 2003, S. 54-56 sowie Sitter, Carmen: Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Die vergessenen Mütter des Grundgesetzes, Münster 1995, S. 15.
4 Zeugnis der Stadt Bielefeld von Friederike Nadig vom 29.08.1934, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366).
5 Vgl. Ausweis Frieda Nadig für staatlich anerkannte Wohlfahrtspflegerinnen vom 04.02.1925, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366) sowie Lebenslauf Frieda Nadig o.D., in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366).
6 Vgl. dies.: Entnazifizierungsakte, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1063-2340); Brief dies. an den Magistrat der Stadt Bielefeld vom 25.04.1933, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Brief Frieda Nadig an den Magistrat der Stadt Bielefeld vom 10.05.1933, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Brief Magistrat der Stadt Bielefeld an Frieda Nadig vom 24.06.1933, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Brief Frieda Nadig an den Magistrat der Stadt Bielefeld vom 28.06.1933, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Brief Der Preußische Minister des Innern an Frieda Nadig vom 09.07.1934, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Schulungskurs Bescheinigung Frieda Nadig der Deutschen Arbeitsfront vom 16.11.1935, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Brief Bürgermeister der Stadt Ahrweiler an den Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld vom 08.03.1946, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Sunderbrink: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, S. 224-225 sowie Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 57-60.
7 Vgl. Brief Fieda Nadig an den Oberstadtdirektor in Bielefeld vom 19.06.1946, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Personalakten (Sig.: 103,4/ Nr. B 366); Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 54, 60-61; Sunderbrink: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, S. 226 sowie Sitter: Die Rolle der vier Frauen, S. 16.
8 Vgl. Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 62-66; Sunderbrink: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, S. 226-228; Kühne: Die SPD in Ostwestfalen-Lippe, S. 207; Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 333 sowie Fuchs, Christel Maria: Sie war mutig, entschlossen und „ein sehr menschlicher Mensch“. Das Leben der Frieda Nadig, in: Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford, 7 (1999), S. 73-87, S. 79-80.
9 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG), Artikel 6, Abs. 5.
10 Vgl. Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 68, 75, 78; Jahn, Bruno u.a.: Nadig, Friederike (Frieda), in: Vierhaus, Rudolf / Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, 3. Bde., Bd. 2, München 2002, S. 593; Sunderbrink: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, S. 228-229 sowie Fuchs: Sie war mutig, S. 73, 82.
11 Vgl. Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 75; Kühne: Die SPD in Ostwestfalen-Lippe, S. 205 sowie Fuchs: Sie war mutig, S. 82.
12 Notz: Frauen in der Mannschaft, S. 61.
13 Vgl. ebd., S. 61-62, 77-78; Sunderbrink: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, S. 229-230 sowie Fuchs: Sie war mutig, S. 78.

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