Emil Gross (1904-1967)

Emil Gross war ein überaus aktiver Landespolitiker der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dabei gehörte er trotz seines Fleißes, seiner Kontaktfreudigkeit und seinem taktischen Gespür nicht zu den unmittelbaren Spitzenpolitikern, die auf Landesebene die höchsten Ämter bekleideten. Vielmehr wirkte Gross im Hintergrund beim Wiederaufbau der SPD auf kommunaler, Kreis- und Bezirksebene sowie durch seine Tätigkeit als Verleger der Bielefelder Zeitung „Freie Presse“.1

Emil Gross wurde als Sohn eines Eisendrehers am 6. August 1904 in Bielefeld geboren. Er hatte zwei jüngere Brüder; eine vor ihm geborene Schwester war bereits ein halbes Jahr nach ihrer Geburt gestorben. Emil Gross wurde evangelisch getauft. Nach dem Besuch der Bürgerschule trat er mit 14 Jahren eine kaufmännische Lehre bei einer Bielefelder Firma an. In der Weimarer Republik begann er dann sich politisch zu engagieren, zuerst als Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Jugend (SAJ) und später als SAJ-Vorsitzender in Bielefeld. 1924 wurde er in den SAJ-Bezirksvorstand Ostwestfalen und 1926 sogar zum Bezirksvorsitzenden gewählt. Auch in der SPD engagierte er sich seit seiner Mitgliedschaft 1922. So war er von 1924 bis 1930 Parteiangestellter für die SPD in Bielefeld. Parallel hierzu schien sich bei ihm der Wunsch nach Weiterbildung zu verfestigen. So besuchte er 1928 für ein halbes Jahr die Heimvolkshochschule Tinz in Thüringen, um sich dort auf ein Studium vorzubereiten. Ende 1929 legte er dann im Alter von 25 Jahren die Hochbegabtenprüfung ab. Eine solche Prüfung war vom preußischen Kultusminister eingerichtet worden, um begabten Volksschülern auch ohne Reifezeugnis ein Hochschulstudium zu ermöglichen.2

Von 1930 bis 1933 studierte Gross Staatswissenschaften in Berlin. Ein Student aus einer Arbeiterfamilie war selbst in der Hauptstadt eine absolute Ausnahme. 1932 besaßen gerade einmal 45 von 13.000 Studierenden der Berliner Hochschule einen proletarischen Hintergrund. Ohne die finanzielle Unterstützung der Studienstiftung des deutschen Volkes wäre Gross der Besuch der Universität nicht möglich gewesen. Einen Zuverdienst erarbeitete er sich als Werkstudent im Zeitungsausschnittbüro der Werbeabteilung des SPD-Parteivorstandes. Über diese Tätigkeit hinaus blieb Gross politisch aktiv. 1931 wurde er nämlich Vorsitzender der Sozialistischen Studentenschaft aller Berliner Hochschulen sowie Mitglied der Republikschutzorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.3

Emil Gross konnte sein Studium 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, nicht mehr abschließen. Er wurde verhaftet, jedoch auf Betreiben seines Rektors wieder entlassen. Nach seiner Freilassung entschloss er sich, das Land zu verlassen und nach Amsterdam zu fliehen. Dort gab er die Emigrationszeitung „Freie Presse“ heraus, die illegal nach Deutschland geschmuggelt wurde. Zudem arbeitete er zeitweise als Buchhändler und Geschäftsführer eines Handelsunternehmens. 1937 wurde ihm dann die deutsche Reichszugehörigkeit aberkannt. Nach der deutschen Besetzung Hollands versuchte Gross nach Großbritannien zu fliehen. Er tauchte unter, wurde jedoch am 2. April 1941 von der Gestapo entdeckt, verhaftet und über das Stadtgefängnis in Amsterdam ins Gefängnis Emmerich in Deutschland überstellt. Von dort kam er in die berüchtigte Dortmunder Steinwache, in der u.a. auch Fritz Henßler eingesessen hatte. Im September 1941 wurde Gross vor dem Oberlandesgericht in Hamm wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus – ohne Anrechnung der Untersuchungshaft – verurteilt. Er wurde in das Strafgefangenlager Oberems gebracht und von dort in das Arbeitslager Senne Süd überwiesen. 1943 fand er dann eine Anstellung als Betriebsassistent. Während dieser Zeit wurde er nach eigenen Angaben Zwangsmitglied der Deutschen Arbeitsfront (DAF).4

Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes heiratete Gross seine Lebensgefährtin Maria Schmidt, die sich wie er am sozialdemokratischen Widerstand beteiligte hatte und deswegen über neun Jahre in Zuchthaus und KZ gefangen war. Emil Gross betätigte sich wieder politisch, aber auch am Wiederaufbau der freiheitlichen Presse. In Politik und Medien sah er keine getrennten Hemisphären, vielmehr gelang es ihm, beide Tätigkeitsbereiche zum gegenseitigen Vorteil miteinander zu verknüpfen. So wurde er nicht nur Verlagsleiter des Verlags Phönix GmbH, sondern auch Lizenzträger der „Freien Presse“ in Bielefeld. Chefredakteur war anfangs der frühere preußische Innenminister und „edler statesman“ Carl Severing, der großen Einfluss auf Gross ausübte und die inhaltliche Ausrichtung des Blattes maßgeblich bestimmte. Im Laufe seiner Nachkriegskarriere wurde Gross zudem Mitglied des Präsidiums des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger und des Aufsichtsrates der Deutschen Presseagentur (dpa). Seit 1961 gehörte er auch dem Vorstand des Internationalen Zeitungsverleger-Verbandes an. Selbst im Rundfunkrat des WDR Köln und später im Fernsehrat des ZDF in Mainz war er vertreten.5

Auch innerhalb der SPD erlebte Gross einen Aufstieg. So war er von 1946 bis 1948 stellvertretender Bezirksvorsitzender in Ostwestfalen und seit 1954 Vorsitzender des Bezirks Ostwestfalen-Lippe. Seit 1946 war er auch Mitglied des SPD-Parteivorstandes. Des Weiteren war er Ratsmitglied der Stadt Bielefeld und Mitglied des westfälischen Provinzialrates. Gross gehörte zu den ersten Landtagsabgeordneten des Landes Nordrhein-Westfalen und nahm dementsprechend an der konstituierenden Sitzung des Landtags am 2. Oktober 1946 im Düsseldorfer Opernhaus teil. Direkt am darauffolgenden Tag plante er für den anstehenden Landtagswahlkampf und machte sich Gedanken darüber, wie man diesen in allen vier SPD-Bezirken koordinieren könne. Abgeordneter des nordrhein-westfälischen Landtags blieb Gross bis 1967. Im Plenum war die Zahl seiner Redebeiträge, trotz rhetorischer Begabung, überschaubar – er äußerte sich, seiner Expertise entsprechend, vor allem zu medienpolitischen Sachverhalten. Daneben war er im Laufe seiner Parlamentarierzeit in einer Vielzahl von Ausschüssen tätig, vor allem im Ältestenrat, im Ausschuss für Wiedergutmachung und im Hauptausschuss. In letzteren beiden übte er zeitweise die Funktion des Vorsitzenden aus. Von 1956 bis 1958 führte er sogar als Fraktionsvorsitzender die SPD-Fraktion. Davor und danach war er stellvertretender Vorsitzender der Fraktion.6

1961 kandidierte Gross erneut für den SPD-Fraktionsvorsitz im Landtag, doch unterlag er seinem Gegenkandidaten Fritz Kassmann mit 52 zu 22 Stimmen. Als Gross im Jahr darauf zudem nicht mehr in den SPD-Parteivorstand gewählt wurde, fühlte er sich persönlich schwer getroffen. Die SPD befand sich nach dem Godesberger Parteitag 1959 in einer Phase der rapiden Modernisierung und Emil Gross war in den Augen vieler ein Vertreter der traditionellen Parteiprogrammatik. Dabei verkennt man, dass Gross bei all seiner Loyalität zu den alten SPD-Spitzenpolitikern auch gute Kontakte zu den jungen Reformern pflegte. Er war sich bewusst, dass eine Partei sich immer wieder generationell erneuern müsse. Dementsprechend hatte er die Gründung der sozialistischen Jugendorganisation „Die Falken“ vorangetrieben und sich am Ende seines Lebens leidenschaftlich für die Realisierung der Jugendbildungsstätte „Haus Neuland“ eingesetzt. Emil Gross starb am 19. Februar 1967 in Bielefeld an den Folgen eines Schlaganfalls. Er wurde 62 Jahre alt. Zweieinhalb Jahre davor hatte er das Große Bundesverdienstkreuz erhalten. Zudem erinnert der Emil-Gross-Platz in Bielefeld an sein Wirken.7

Endnoten
1 Vgl. Düding, Dieter: Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966, Bonn 1995, S. 38; Pörtner, Michael: Emil Gross und die „Freie Presse“. Die Biographie eines sozialdemokratischen Politikers und Zeitungsverlegers 1904-1967. Magisterarbeit, Bielefeld 1992, S. 64 sowie Arnold, Tim: Erinnerungen an einen beispielhaften Sozialdemokraten. Emil Gross starb vor 20 Jahren, in: Neue Westfälische vom 19.2.1987.
2 Vgl. Gross, Emil: Mitgliedsbuch des Verbands der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/211); Düding, Dieter: Zwischen Tradition und Innovation. Die sozialdemokratische Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946-1966, Bonn 1995, S. 37, 170; Pörtner: Emil Gross und die „Freie Presse“, S. 9-15 sowie o.V.: Emil Groß, in: Sopade Informationsdienst vom 03.03.1947.
3 Vgl. Die politische Arbeit der Sozialistischen Studentenschaft Berlin vom 01.10.1932, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/212); Gross, Emil: Mitgliedsbuch Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/211); Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 37; Högl, Günther / Bilitzky, Karl / Knippschild, Dieter: Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 – 1945. Katalog zur ständigen Ausstellung des Stadtarchivs Dortmund in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, 2. überarbeitete Aufl., Dortmund 2002, S. 172 sowie Pörtner: Emil Gross und die „Freie Presse“, S. 15.
4 Vgl. Gross, Emil: Mitgliedsbuch der Deutschen Arbeiterfront, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/211); ders.: Lebenslauf vom 02.06.1945, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/147); ders.: Entnazifizierungsakte, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Entnazifizierungsakten (Sig.: NW 1057-344); Brief ders. an die Polizeiverwaltung vom 30.01.1946, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/217); Brief Geheimes Staatspolizeiamt an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister des Innern vom 03.03.1937, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts. Bestand Referat D/Abteilung Inland (Sig.: RZ 214-099663); Personalbogen der Geheimen Staatspolizei für Emil Groß vom 14.01.1942, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Gestapoakten (Sig.: RW 0058-11239); Urteil des Oberlandesgerichts in Hamm vom 23.09.1941, in: Bundesarchiv. Bestand Handakten des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof (Sig.: R/3017/2752); Brief Oberstaatsanwalt an den Herrn Minister der Justiz vom 12.04.1943, in: Bundesarchiv. Bestand Akten des Reichsjustizministeriums (Sig.: R/3018/6763); Brief Vertriebenenamt und Amt für Wiedergutmachung an den Regierungspräsidenten vom 21.06.1961, in: Stadtarchiv Bielefeld. Bestand Amt für Wiedergutmachung Stadt (Sig.: 109,3/A 82); Wickert, Christl: Der Freiheit verpflichtet. Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert, hrsg. vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Marburg 2000, S. 122; Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 37; Högl / Bilitzky / Knippschild: Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 – 1945, S. 172; Pörtner: Emil Gross und die „Freie Presse“, S. 17, 46-47; Egginger-Gonzalez, Dennis: Der Rote Stoßtrupp. Eine frühe linkssozialistische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2018, S. 50, 415; Haunfelder, Bernd: Nordrhein-Westfalen. Land und Leute 1946-2006. Ein biographisches Handbuch, Münster 2006, S. 175; o.V.: Regiefehler am 12. November: Hitlers Wahlerfolge im Konzentrationslager, in: Freie Presse vom 18.11.1933; o.V.: Emil Groß, in: Sopade Informationsdienst; Strutz, Georg: Verlagsleiter Emil Gross 60 Jahre. Ein Leben für die Demokratie, in: Freie Presse vom 6.8.1964 sowie o.V.: Emil Gross †, in: Westfälische Rundschau vom 20.02.1967.
5 Vgl. Biographischer Kurzüberblick zu Maria Groß, geb. Schmidt, in: Stadtarchiv Bielefeld. Nachlass Emil und Maria Gross (Sig.: 200,27/202); Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 38; Högl / Bilitzky / Knippschild: Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933 – 1945, S. 172; Pörtner: Emil Gross und die „Freie Presse“, S. 51, 70-72;  Strutz, Georg: Politiker und Verleger mit dynamischer Kraft. Sein Herz schlug für die Freiheit. Zum Tode von Emil Gross, in: Freie Presse, vom 20.02.1967; o.V.: Emil Gross – 60 Jahre, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, vom 31.07.1964, S. 4; Kühne, Hans-Jörg: Die SPD in Ostwestfalen-Lippe nach 1945: Der Sieg der Traditionalisten, Regensburg 1995, S. 52-56; Severing, Carl: Mein Lebensweg. 2 Bde., Bd. 2, Köln 1950, S. 445, 455 sowie o.V.: Emil Gross †.
6 Vgl. Brief Emil Groß an Fritz Heine vom 3.10.1946, in: AdsD. Bestand SPD-Parteivorstand. Sekretariat Fritz Heine (Sig.: 2/PVAJ0000035); Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 37-38, 127; Pörtner: Emil Gross und die „Freie Presse“, S. 58-62 sowie o.V.: Emil Gross †.
7 Vgl. Brief Chef des Bundespräsidialamtes an den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen vom 14.07.1964, in: Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland). Bestand Ordensakten (Sig.: NW O 5846); Pörtner: Emil Gross und die „Freie Presse“, S. 13, 62-69; Düding: Zwischen Tradition und Innovation, S. 170; Arnold: Erinnerungen an einen beispielhaften Sozialdemokraten; Strutz: Politiker und Verleger; ders.: Zum Tode von Emil Gross. Politiker und Verleger mit dynamischer Kraft, in: Vorwärts. Sozialdemokratische Monatsschrift für NRW, 17 (1967), S. 5; Düding, Dieter: Parlamentarismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1980. Vom Fünfparteien- zum Zweiparteienlandtag, Düsseldorf 2008, S. 464; o.V.: Emil Gross † sowie o.V.: grosses verdienstkreuz fuer verleger emil gross, in: dpa vom 06.08.1964.

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