Erziehung und Bildung von Kindern, ihr geistiges und körperliches Wohl liegt im Interesse der Gesamtgesellschaft. Diese Auffassung vertraten Redner beider Fraktionen bei der Debatte über den Landes-Kinderbericht (Drs. 9/930) am Donnerstag vergangener Woche. Die parlamentarische Auseinandersetzung stand im Zeichen schmaler werdender öffentlicher Kassen und damit verringerter Möglichkeiten, Kindern in Kindergärten und Heimen ein kindgerechtes Angebot zu schaffen. Die aktuelle Meldung von vermehrten Selbstmorden unter Kindern aufgreifend, forderte der CDU- Abgeordnete Antonius Rüsenberg, Kindern mehr Liebe zuzuwenden. Auch bei geringeren Mitteln müsse die Jugend- und Familienpolitik ein Schwerpunkt bleiben, betonte der SPD-Abgeordnete Helmut Hellwig.
Heinz-Josef Nüchel (CDU) sagte: "Wir alle können dankbar dafür sein - ausgehend von der Tatsache, daß es einen so umfassenden Kinderbericht, wie er uns, dem Landtag Nordrhein-Westfalen, vorliegt, bis jetzt noch nicht gegeben hat, auch nicht in anderen Bundesländern, daß jetzt erstmalig die Erkenntnisse der an der Kinderforschung beteiligten Wissenschaften für die zukünftigen politischen Entscheidungen aufbereitet worden sind." Nüchel übermittelte seinen Dank an alle Kommissionsmitglieder, die an der Erstellung des Berichtes beteiligt waren. Es sei der Initiative der CDU-Fraktion zu verdanken, daß wohl erstmalig in der Bundesrepublik Deutschland die politischen Probleme der Kinder von null bis zu vierzehn Jahren ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt worden seien, meinte Nüchel. Im letzten Jahrzehnt seien die Kinder allzu häufig fragwürdigen Erziehungsexperimenten ausgesetzt gewesen. "Wir brauchen eine Politik, die die Familien ideell und materiell wieder stärkt", sagte Nüchel. Er wies darauf hin, daß der Landes-Kinderbericht aus zwei Teilen bestehe, dem Bericht der Kommission und der Stellungnahme der Landesregierung.
Erich Heckelmann (SPD) stellte für die Mitglieder des Ausschusses für Jugend, Familie und politische Bildung fest, die Empfehlungen seien in der weitaus überwiegenden Zahl nicht nur wünschenswert, sondern sie sollten auch, die finanziellen Sachzwänge beachtend, übernommen werden. Anzuerkennen sei, daß der Gesamtzusammenhang der Kulturarbeit für Kinder durch Maßnahmen der Landesregierung, zum Beispiel in Kindergärten, offenen und teiloffenen Türen, in Horten bereits ein Teilerfolg im Sinne des Berichtes sei. Anzuerkennen sei ferner, daß kinderfreundliche Politik und kinderfreundliche Gestaltung im Lande NRW unter Einbeziehung der Gesamtheit der Betroffenen stattfinde. Die in den Empfehlungen ausgesprochenen konkreten Schritte müßten getan werden, um den Kindern das Kindsein in Frieden und in Zufriedenheit zu ermöglichen. Der Abgeordnete betonte: "Kinder sind die Zukunft einer Gesellschaft. In ihnen wachsen die Überzeugungen und Fähigkeiten von morgen. Erziehung und Bildung von Kindern, verbunden mit der Sorge um körperliches und soziales Wohl, liegt im Interesse der Gesellschaft." Der Abgeordnete wies darauf hin, daß die Tatsache der zunehmenden Zahl von Kinderselbstmorden in makabrer Weise gefährdete Kindheit begründe, die vielschichtige Ursachen habe.
Antonius Rüsenberg (CDU) betonte, Wohnungsbaupolitiker, Verkehrsexperten, kommunale Planungsbehörden, Architektenkammern und Wohnungsbaugesellschaften seien aufgefordert, sich der Empfehlungen zum Thema Wohnungsbau und Wohnumfeld anzunehmen, um die praktische Umsetzung der Aussagen des Berichtes zu vollziehen. Der Abgeordnete richtete ferner die Aufforderung an die politischen Vertreter, an Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen in den Rundfunkgremien sowie an Redakteure von Rundfunk, Fernsehen und Presse, sich in verstärktem Maße kinder- und jugendpolitischen Aspekten zuzuwenden und dem Anliegen der Kinder selbst ausreichenden Raum in der Berichterstattung zu sichern. "Sind es nicht oft die Gedankenlosigkeit, die Bequemlichkeit, die Ichbezogenheit und damit ein Stück Egoismus, die Phantasielosigkeit, führen diese Merkmale nicht dazu, daß Kinder teilweise nicht den Stellenwert bekommen, den sie in unserer Gesellschaft haben müßten?" fragte der Abgeordnete. Rüsenberg ging auch auf die aktuelle Mitteilung ein, wonach die Selbstmordhäufigkeit bei Kindern im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren im Vergleich zu dem vorangegangenen Zehnjahreszeitraum um ein Viertel zugenommen habe. "Selbstmordversuch ist der verzweifelte Schrei eines jungen Menschen nach nicht vorhandener Liebe", sagte der Politiker. Es sei sicherlich ein wichtiger Schritt, auch durch politische Einstellungen die Lebensbereiche der Kinder sachlich optimal auszugestalten. Ein gleichwertiger Schritt sei es jedoch, alles zu tun, diese Lebensbereiche wie Familie, wie Kindergarten, Schule und Freizeiteinrichtungen, in denen sich die Kinder aufhielten, wo sie mit Erwachsenen zusammenkämen, so auszugestalten, daß sie dort Liebe empfänden, Zärtlichkeit erführen, Geborgenheit und Zuwendung erlebten, daß man Zeit für sie habe, daß auch in diesen Lebensbereichen eine Atmosphäre des Nehmens, aber auch des Gebens bestehe, meinte der Abgeordnete.
Heinz Hunger (SPD) unterstrich die Bedeutung der Wohnung und des Wohnumfeldes für die Entwicklung des Kindes. Eine Gesellschaft und eine Politik, die die Situation der Kinder nur unter materiellen und funktionellen Gesichtspunkten betrachteten, müßten langfristig scheitern, erklärte der SPD-Abgeordnete, "weil sie jener Generation, die nach uns Verantwortung tragen muß, keine Perspektive vermittelt". Er begrüße es, sagte Hunger weiter, daß die Landesregierung schon vor der Vorlage des Kinderberichts erkannt habe, eine sichere soziale Stellung der Familie und eine intakte Umwelt seien "ganz wichtige Säulen für die Entwicklung unserer Kinder". Die Kritik der Opposition müsse er zurückweisen; die Landesregierung und die SPD hätten sich "intensiv mit der Situation der Kinder beschäftigt und die Situation der Kinder in diesem Land Schritt für Schritt und Jahr für Jahr verbessert". Beispielsweise sei die Zahl der Lehrer von 1970 bis 1980 in Nordrhein-Westfalen von 50000 auf 150000 erhöht worden. Außerdem sei es gelungen, allen Eltern, die es wünschten, einen Kindergartenplatz anzubieten. Zudem seien die Kindergärten aus dem Stadium einer Kinderbewahranstalt herausgeführt und zu einer sinnvollen pädagogischen Einrichtung entwickelt worden.
Sozialminister Professor Dr. Friedhelm Farthmann (SPD) beurteilte den Bericht der unabhängigen Expertenkommission als "einen sehr erfreulichen und positiven Diskussionsbeitrag zur Situation des Kindes nicht nur in unserem Land, sondern auch in der Bundesrepublik insgesamt". Die Landesregierung sei der Meinung, daß sich "zahlreiche darin enthaltene Analysen und Empfehlungen auch mit ihren Auffassungen decken". Allerdings könne niemand damit rechnen, daß die Kommission zu allen Teilbereichen eine sämtliche fachlichen und wissenschaftlichen Aspekte umfassende Analyse vorlegen würde, die zu abschließenden unstreitigen Ergebnissen führe. Die Stellungnahme der Landesregierung zum Bericht der Kommission dürfe nicht als "Besserwisserei" angesehen werden, wie dies von der Opposition unterstellt worden sei; sie sei vielmehr die "aus der Kompetenz und dem Sachverstand der Landesregierung gebotene kritische Stellungnahme". Kritik äußerte der Minister an der Familienpolitik der Bundesregierung, insbesondere der "führenden Regierungspartei in Bonn". Die Bundesregierung sei gegenwärtig dabei, "vieles von dem zu demontieren, was wir als Mindestvoraussetzung für eine sinnvolle Kinderpolitik angesehen haben".
Hermann-Josef Arentz (CDU) warf Sozialminister Farthmann vor, die "sehr sachlich verlaufene Debatte zu polemischen Ausfällen benutzt" zu haben. Der Minister habe "mit dieser Polemik das Versagen der Landesregierung vertuschen" wollen. Tatsache sei, hob der CDU-Abgeordnete hervor, daß die Bundesregierung nicht nur eine Kürzung des Mutterschaftsgeldes um einen Monat vorgesehen, sondern zugleich festgelegt habe, "daß die schreiende Ungerechtigkeit, nur diejenigen Mütter in den Genuß des Mutterschaftsgeldes kommen zu lassen, die bis dahin gearbeitet haben, und die anderen leer ausgehen zu lassen, jetzt beseitigt werden soll". Ferner sei Tatsache, daß Sachverständige die Veränderungen im Jugendschutzgesetz "als erträglich und verträglich für die Jugend dargestellt" hätten. Er, Arentz, glaube, es sei besser, die Jugendlichen "nicht zu Tode zu schützen". Als unverzichtbaren Grundsatz christlich-demokratischer Politik bezeichnete der CDU-Abgeordnete den "Vorrang des elterlichen Erziehungsauftrags und des Erziehungsrechts vor dem Staat und seinen Einrichtungen". Er betone diesen Grundsatz so deutlich, weil er in den neuen Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschulen einen ähnlichen Gedankengang festgestellt habe, der bereits im Familienbericht der damaligen Koalitionsregierung von 1975 offenbar geworden sei, nämlich "daß die Eltern als Erziehungsagentur im Auftrag der Gesellschaft tätig seien". Dies lehne die Union ab.
Helmut Hellwig (SPD) erklärte unter Bezugnahme auf die vorangegangene Debatte über Verkehrssicherheit: "Wir waren alle erschrocken über die hohe Anzahl von Tötungen im Verkehr. Wir haben gehört, wie viele Kinder Unfälle erleiden. Dabei sind die besten Maßnahmen - neben der Rücksichtnahme durch die Verkehrsteilnehmer - Kindergärten, Horte, Jugendheime, verkehrsfreie Zonen, bessere und mehr Spielflächen und -platze in unseren Gemeinden." Wörtlich betonte der Politiker weiter: Wir klagen über Drogenprobleme. Wir klagen über Gewalt. Und wir klagen über hohe Selbstmordquoten bei Kindern und Jugendlichen. Wir bedauern die Perspektivelosigkeit vieler junger Leute, den Frust und die Gammelei, bedauern, daß arbeitslose Jugendliche auf der Straße herumlungern und stehen vor der Situation, daß wahrscheinlich im Herbst hier in Nordrhein- Westfalen vorhandene Einrichtungen ich meine die Häuser der offenen Tür - in Konkurs gehen müssen, wenn eine mögliche Haushaltssperre in diesem Jahr noch tatsächlich umgesetzt wird." Man rede von Integration der türkischen Mitbürger, fuhr der Abgeordnete fort, und gefährde durch die Haushaltspolitik die wenigen Möglichkeiten des Sichkennenlernens in der Weiterbildung, in der Familienerholung und in den Begegnungsstätten. Auch bei knapper werdenden Kassen müsse wie bisher in diesem Lande Jugend- und Familienpolitik ein Schwerpunkt bleiben, schloß der Politiker.
Bildunterschrift:
Auf der Regierungsbank: v.l. Wirtschafts- und Verkehrsminister Professor Dr. Reimut Jochimsen, Bundesratsminister Dr. Dieter Haak und Innenminister Dr. Herbert Schnoor (alle SPD).
Nahmen zur Situation des Kindes Stellung: v. I. Erich Heckelmann (SPD), Antonius Rüsenberg (CDU) und Heinz Hunger (SPD).
Anliegen der Kinder vertreten: v. I. Arbeits- und Sozialminister Professor Dr. Friedhelm Farthmann (SPD), Hermann-Josef Arentz (CDU) und Helmut Hellwig (SPD). Fotos: Knepper
Systematik: 5030 Kinder/Jugendliche
ID: LI830805