Leserinnen und Leser von Landtag Intern kennen die Rubrik "Standpunkte". Abgeordnete aller fünf Fraktionen beziehen dort Stellung zu einem
Schwerpunktthema und ergänzen Satzanfänge. In der Jubiläumsausgabe sind die Fraktionsvorsitzenden an der Reihe. Ihre Beiträge beginnen mit
den Worten "Vor 75 Jahren", "Heute" und "In 75 Jahren".
Bodo Löttgen, Vorsitzender der CDU-Fraktion
Vor 75 Jahren
konnten die Verhältnisse, in denen
sich der Landtag konstituierte, weder politisch noch
sozial oder ökonomisch als normal bezeichnet werden.
Die 200 von den Briten ernannten Abgeordneten haben
sich - vermutlich trotz gehöriger Zweifel, ob das
überhaupt Erfolg verspricht - der Aufgabe gestellt,
aus den Trümmern der nationalsozialistischen Diktatur
heraus einen deutschen Staat als Parlamentarische
Demokratie zu entwickeln und zu etablieren. Eine der
ermutigendsten Erfahrungen unserer Geschichte.
Heute
teilen wir eine wichtige Erfahrung als Ergebnis
dieser 75 Jahre währenden Parlamentarischen Demokratie
in unserem Land: das Glück, in Frieden und
Freiheit zu leben. Nichts davon ist selbstverständlich,
auch wenn die meisten von uns nie etwas anderes kennengelernt haben. Umso mehr ist gerade heute Wertschätzung
gefragt für den Streit mit Regeln, die Bereitschaft,
das Gegenüber zu achten, und den Kompromiss,
der in demokratischen Verfahren zustandekommt, als
Bedingung für tragfähige Mehrheitsentscheidungen.
In 75 Jahren
werden manche Träume wahr geworden
und viele Vorhersagen geplatzt sein. Ich will mich
daher auf das beschränken, was Antoine de Saint-Exupéry
in seinem 1951 erschienenen Werk "Citadelle"
schrieb: "Unsere Aufgabe ist es nicht, die Zukunft vorherzusehen,
sondern sie zu ermöglichen." Es ist Hoffnung
und Wunsch zugleich, dass dieses Ermöglichen
auch weiterhin in einer repräsentativen, einer Parlamentarischen
Demokratie im Landtag Nordrhein-Westfalen stattfindet.
Thomas Kutschaty, Vorsitzender der SPD-Fraktion
Vor 75 Jahren
hofften die Menschen auf eine
bessere Zukunft. Damals traf die britische Militärregierung
die Entscheidung, die Regierungsbezirke
Aachen, Düsseldorf und Köln mit der Provinz
Westfalen und dem nördlichen Teil der preußischen
Rheinprovinz zusammenzuführen. Auf dieser grünen
Wiese, ursprünglich ein Teil von Preußen, bauten
die Briten ein stabiles, intaktes Haus - das Bundesland
Nordrhein-Westfalen. Dafür gebührt ihnen die
höchste Anerkennung. Sie haben die Hoffnungen der
Menschen erfüllt und ein demokratisches Fundament
geschaffen.
Heute
bröckelt die Fassade dieses Hauses Nordrhein-
Westfalen. Die Gefahr von Rechts ist präsenter denn je
- selbst im Parlament. Rassismus und rechte Straftaten
sind ein landesweites Problem: Die Zahl der vom Verfassungsschutz
NRW identifizierten Rechtsextremisten
und Reichsbürger hat 2019 ihren Höchststand
erreicht. Das ist erschreckend. Wir müssen dringend
handeln. Deshalb hat die SPD-Fraktion im vergangenen
Jahr einen Masterplan gegen Rechtsextremismus
vorgelegt, der insgesamt 55 Maßnahmen aus nahezu
allen Bereichen enthält.
In 75Jahren
haben wir die Risse im Putz des
Hauses Nordrhein-Westfalen gekittet. Unsere Kinder
und Enkel stehen wieder fest und sicher auf einem
demokratischen Fundament, weil wir die Gefahr
von Rechts effektiv angegangen sind. Auch Chancengleichheit
ist dann keine Utopie mehr, sondern
gelebte Wirklichkeit. Jedes Kind kann werden, was
seinen Talenten, Fähigkeiten und Neigungen entspricht.
Und jeder Mensch in unserem Bundesland
hat mehr Perspektiven auf Wohlstand und Lebensqualität.
Christof Rasche, Vorsitzender der FDP-Fraktion
Vor 75 Jahren
lag Europa in Trümmern und die
Menschen mussten wieder bei null anfangen. Nach den
schrecklichen Kriegsjahren wurden aus Gegnern erst
Helfer und später Freunde. Die britischen Alliierten
schafften mit einer neuen Verwaltung Stabilität, Kontinuität
und eine starke parlamentarische Demokratie.
Die Operation Marriage war keine Liebesheirat. Aber
das neue Land Nordrhein-Westfalen, das 1946 aus dem
Nordteil der Rheinprovinz und der Provinz Westfalen
gegründet und ein Jahr später mit Lippe vervollständigt
wurde, entwickelte sich zum Motor der deutschen Industrie
und machte das Wirtschaftswunder mit Wohlstand
für fast alle erst möglich.
Heute
zeichnet sich unser schönes Bundesland durch
Vielfalt aus. Wir haben die Metropolregion Rhein-Ruhr
und das ländliche Westfalen, wir lieben den rheinischen
Karneval und die Schützenfeste in Westfalen und Lippe.
Zuwanderer aus allen Teilen der Erde haben hier ihre Heimat
gefunden. Man kann uns unterscheiden in Altbier-,
Pils- und Kölschtrinker und jedes Fußballherz schlägt für
einen anderen Verein. Bei allen Unterschieden vereint uns
18 Millionen Nordrhein-Westfalen die Verbundenheit zu
unserem Bundesland. Die Corona-Pandemie hat unser
Land vor eine der größten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Herausforderungen seit der Gründung gestellt.
Die Menschen haben dabei die Tugenden bewiesen,
die unser Land so stark machen: Verantwortungsbewusstsein
und Zusammenhalt. Ich bin zuversichtlich, dass wir
gestärkt aus der Pandemie hervorgehen können.
In 75 Jahren
wird Nordrhein-Westfalen weiterhin
bunt und weltoffen im Herzen von Europa strahlen. Die
unterschiedlichsten Koalitionen werden im Landtag die
Politik gestaltet haben. Unser Land wird das 150-jährige
Bestehen feiern - hoffentlich wieder mit großem Fest.
Josefine Paul und Verena Schäffer, Vorsitzende der Grünen-Fraktion
Vor 75
Jahren wurde mit der Vereinigung der Provinzen
Rheinland und Westfalen der Grundstein für
die demokratischen Strukturen unseres Landes gelegt.
NRW blickt seitdem auf eine bewegte Geschichte zurück
und hat als bevölkerungsstärkstes Land aus der
Vielfalt eine Einheit gemacht. Dieses demokratische
Versprechen von Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit
müssen wir ganz besonders jetzt weiter verteidigen.
Heute
steht Nordrhein-Westfalen als industrieller
Motor der Bundesrepublik vor enormen Herausforderungen.
Unsere Industrie ist seit Jahrzehnten Garant
für wirtschaftlichen Erfolg, sichere Beschäftigung
und Innovation. Um die Klimakrise einzudämmen,
international wettbewerbsfähig zu bleiben und gute
Arbeitsplätze zu schaffen, müssen wir die Wirtschaft
modernisieren: nachhaltig, umweltfreundlich, klimaschützend. Während der aktuellen Krise hat sich Nordrhein-Westfalen solidarisch und innovativ gezeigt. Mit
diesem Potenzial und der Erfahrung unseres Landes
und seiner Menschen bei Wandel und Veränderung
wollen wir unseren Wohlstand und eine gute Zukunft
sichern.
In 75 Jahren
leben wir in Nordrhein-Westfalen in
einer vielfältigen, klimaneutralen und sozial gerechten
Gesellschaft. Statt Kohle, Gas und Öl nutzen wir Sonnen-
und Windenergie, statt fossiler Verbrennungsmotoren
E-Autos, Bahn und Fahrrad und Carsharing.
Ob Stadt oder Land, ob Bildung oder Wohnen: Unser
Ziel sind gleiche Chancen für alle - unabhängig von
Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und Religion. In
75 Jahren bietet unser Land noch mehr Lebensqualität,
den Schutz unserer Lebensgrundlagen und neue
Arbeitsplätze.
Markus Wagner, Vorsitzender der AfD-Fraktion
Vor 75 Jahren
übernahm dieses Land als Rechtsnachfolger
des Freistaats Preußen ein großes Erbe. Bei
seiner Gründung lag es fast zerstört und in Trümmern
danieder; doch es wurde in atemberaubend kurzer Zeit
wieder von Menschen aufgebaut, die zupacken konnten
und an die Zukunft glaubten. Obwohl dieses Land
vor allem durch das Ruhrgebiet als starker Motor der
Wirtschaft, über Bonn als langjährige Bundeshauptstadt
und durch diverse Kulturmetropolen geprägt war und
somit beste Voraussetzungen bot, waren die jeweiligen
Landesregierungen leider nicht ausreichend dazu in der
Lage, Wohlstand flächendeckend zu etablieren und das
Land zukunftsorientiert zu regieren.
Heute
müssen wir mit Sorge feststellen, dass NRW zu
lange nicht mehr als Maßstab für Innovation und Zukunftsfähigkeit
gilt. In zu vielen Bereichen stehen wir
auf den hinteren Plätzen. Wir sehen uns mit einer Vielzahl großer Herausforderungen konfrontiert, ausgelöst
durch Globalisierung, Migrationsdruck, den rasanten
Entwicklungen in Technik, Arbeitsleben, Wirtschaft und
Gesellschaft. Diese gilt es durch eine ambitionierte und
zielgerichtete Politik zu meistern, um so das Vertrauen
der Bürger in die Vertreter der Politik wiederherzustellen
und dem Land zu neuem Aufschwung zu verhelfen.
In 75 Jahren
werden wir hoffentlich auf sieben Jahrzehnte
zurückblicken, die durch Mut gekennzeichnet
waren und den Willen, dieses Land politisch und wirtschaftlich
an die Spitze zu führen. Wir als Landespolitiker
müssen bereits heute dafür sorgen, dass die Menschen
in NRW auch am Ende dieses Jahrhunderts in
Frieden, Freiheit und Wohlstand leben dürfen. So liegt
es in unserer Verantwortung, die Grundsteine für eine
Zukunft zu legen, die NRW eine freudvolle und lebensbejahende
Zukunft ermöglichen.
Beiträge in alleiniger Verantwortung der Fraktionen
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