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Landtag

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Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/75

17. Wahlperiode

29.11.2019

 

75. Sitzung

Düsseldorf, Freitag, 29. November 2019

Mitteilungen des Präsidenten. 5

Vor Eintritt in die Tagesordnung. 5

Ergänzung der Tagesordnung. 5

1   Wahl und Vereidigung von Mitgliedern sowie Wahl einer Vizepräsidentin bzw. eines Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen

Wahlvorschlag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7917
Drucksache 17/7987. 5

Ergebnis. 6

2   Wahl eines Mitglieds des Landesrechnungshofs Nordrhein-Westfalen

Wahlvorschlag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7988. 7

Ergebnis. 7

3   Langer Atem und Konsequenz im Kampf gegen Clankriminalität

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7963. 8

Gregor Golland (CDU) 8

Marc Lürbke (FDP) 9

Hartmut Ganzke (SPD) 11

Verena Schäffer (GRÜNE) 13

Markus Wagner (AfD) 15

Minister Herbert Reul 16

Andreas Kossiski (SPD) 19

Angela Erwin (CDU) 20

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 21

Marc Lürbke (FDP) 22

Roger Beckamp (AfD) 23

Minister Herbert Reul 25

Gregor Golland (CDU) 26

Minister Dr. Joachim Stamp. 27

4   Gesetz zur qualitativen Weiterentwicklung der frühen Bildung

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/6726 – Neudruck

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend
Drucksache 17/7934 – Neudruck

dritte Lesung

Änderungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/8024

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7968

Entschließungsantrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7969. 27

Jens Kamieth (CDU) 28

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 29

Josefine Paul (GRÜNE) 31

Iris Dworeck-Danielowski (AfD) 32

Minister Dr. Joachim Stamp. 33

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 35

Ergebnis. 36

5   Taten statt Worte – nachhaltige Verwertung von Lebensmitteln statt Entsorgung in der Tonne

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7910

Entschließungsantrag
der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7989. 36

Jochen Klenner (CDU) 36

Ralf Witzel (FDP) 38

Annette Watermann-Krass (SPD) 39

Norwich Rüße (GRÜNE) 39

Christian Loose (AfD) 41

Ministerin Ursula Heinen-Esser 42

Ergebnis. 43

6   Pflegende entlasten – pflegebedürftigen Menschen ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen! Die Chancen der Digitalisierung in der Pflege flächendeckend und schneller nutzen!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7881. 43

Christina Weng (SPD) 44

Marco Schmitz (CDU) 45

Susanne Schneider (FDP) 47

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 49

Dr. Martin Vincentz (AfD) 50

Minister Karl-Josef Laumann. 51

Christina Weng (SPD) 53

Ergebnis. 54

7   Selbstbestimmung bei Intensivpflege achten – Reha‑ und Intensivpflege menschenrechtskonform gestalten

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7902. 54

Ergebnis. 54

8   Der Freiheit auf der Spur: Grüne Welle statt Stauspur und Tempo 30 – ideologiefreie Mobilität und Individualverkehr erhalten – Verkehrsexperimente zu Lasten der Pendler beenden

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7908. 54

Herbert Strotebeck (AfD) 54

Jörg Blöming (CDU) 55

Carsten Löcker (SPD) 56

Bodo Middeldorf (FDP) 57

Stefan Engstfeld (GRÜNE) 59

Minister Hendrik Wüst 60

Ergebnis. 61

9   Freie Berufe unterstützen: Qualität, Qualifikation, Verbraucherschutz und Transparenz stärken, EU-Dienstleistungspaket begleiten

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7909. 61

Oliver Krauß (CDU) 61

Ralph Bombis (FDP) 62

Sebastian Watermeier (SPD) 63

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 64

Sven Werner Tritschler (AfD) 65

Ministerin Ursula Heinen-Esser 65

Ergebnis. 66

10 Gesetz zur Errichtung der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7926

erste Lesung. 67

Minister Karl-Josef Laumann. 67

Ergebnis. 68

Entschuldigt waren:

 

Ministerpräsident Armin Laschet

Minister Peter Biesenbach

Minister Dr. Stephan Holthoff-Pförtner

Minister Karl-Josef Laumann

Minister Lutz Lienenkämper

Britta Altenkamp (SPD)
(bis 11:30 Uhr)

Christian Dahm (SPD)

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD)

Hannelore Kraft (SPD)

Josef Neumann (SPD)

Jochen Ott (SPD)

Sven Wolf (SPD)

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE)

Arndt Klocke (GRÜNE)

Johannes Remmel (GRÜNE)

Nic Peter Vogel (AfD)

 

 

Beginn: 10:02 Uhr

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen, 75. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich 13 Abgeordnete entschuldigt;

(Zurufe: Oh!)

ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Geburtstag feiern heute – und man kann sagen, aller guten Dinge sind drei – von der Fraktion der FDP Rainer Matheisen,

(Allgemeiner Beifall)

von der Fraktion der CDU Martin Sträßer

(Allgemeiner Beifall)

und von der SPD Rüdiger Weiß. Herzlichen Glückwunsch im Namen des Hohen Hauses!

(Allgemeiner Beifall)

Vor Eintritt in die Tagesordnung weise ich darauf hin, dass die Fraktionen von CDU und FDP mit Schreiben vom gestrigen Tag beantragt haben, vor Eintritt in die Tagesordnung der heutigen Plenarsitzung gemäß § 20 Abs. 3 Satz 1 unserer Geschäftsordnung zu beschließen, diese um einen Tagesordnungspunkt 4 zu ergänzen. Gegenstand des neuen Tagesordnungspunkts soll die dritte Lesung des Gesetzentwurfs der Landesregierung „Gesetz zur qualitativen Weiterentwicklung der frühen Bildung“ in der Drucksache 17/6726 – Neudruck – sein. Die Aussprache soll im Redezeitmodell Block I erfolgen.

Nach meinen Informationen gibt es eine Verständigung der Fraktionen, diesem Antrag zu entsprechen. – Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Dann haben wir die Tagesordnung entsprechend ergänzt.

Damit rufe ich auf:

1   Wahl und Vereidigung von Mitgliedern sowie Wahl einer Vizepräsidentin bzw. eines Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen

Wahlvorschlag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7917
Drucksache 17/7987

Zu diesem Tagesordnungspunkt darf ich die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, Frau Dr. Ricarda Brandts, und die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs, Frau Margarete Gräfin von Schwerin, sowie die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs herzlich begrüßen.

(Allgemeiner Beifall)

Mit Schreiben vom 16. September 2019 hat der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen mitgeteilt, dass die amtierende Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs, Frau Margarete Gräfin von Schwerin, mit Ablauf des 31. Dezember 2019 in den Ruhestand treten werde. Gleichzeitig scheide ihr Stellvertreter, Herr Peter Lichtenberg, als stellvertretendes Mitglied des Verfassungsgerichtshofs aus.

Gemäß § 4 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen werden der Präsident, der Vizepräsident, die weiteren Mitglieder sowie ihre Stellvertreter vom Landtag in geheimer Wahl ohne Aussprache mit Zweidrittelmehrheit auf die Dauer von zehn Jahren gewählt. Für jedes Mitglied ist ein bestimmter Vertreter zu wählen.

Mit Drucksache 17/7987 liegt Ihnen ein Wahlvorschlag vor, der zur Wahl als ordentliches Mitglied des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen Herrn Dr. Dirk Gilberg und als dessen Stellvertreter Herrn Peter Clemen vorsieht.

Mit Drucksache 17/7917 liegt Ihnen zudem ein Wahlvorschlag vor, der die Wahl des ordentlichen Mitglieds des Verfassungsgerichtshofs Herrn Professor Dr. Andreas Heusch zum Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs vorsieht.

Eine Aussprache ist nach dem Gesetz ausgeschlossen, sodass wir unmittelbar zur geheimen Wahl kommen. Wenn Sie keinen Widerspruch erheben, sollen die Wahlen als verbundene Einzelwahlen im Rahmen eines Wahlgangs durchgeführt werden. – Ich sehe, hiergegen gibt es keine Bedenken. Dann verfahren wir so.

Zu dem Wahlverfahren gebe ich noch folgende Hinweise: Die Ausgabe der Wahlunterlagen erfolgt an den hierfür vorgesehenen Tischen. Nach Aufruf Ihres Namens erhalten Sie dort zwei verschiedenfarbige Stimmzettel, auf denen Sie insgesamt drei Wahlentscheidungen zu treffen haben. Sie können jeweils mit Ja, Nein oder Enthaltung stimmen.

Für die Stimmabgabe benutzen Sie bitte die hinten links und rechts aufgestellten Wahlkabinen, die so platziert worden sind, dass die Durchführung einer geheimen Wahl sichergestellt ist. Bitte legen Sie die beiden Stimmzettel in einen Briefumschlag und werfen Sie diesen in eine der beiden Wahlurnen.

Beim Ausfüllen des Stimmzettels bitte ich Sie, nur die in den Wahlkabinen ausliegenden Dokumentenstifte zu benutzen. Eine anderweitige Kennzeichnung mit Tinte, Kugelschreiber oder Farbstift gewährleistet die Geheimhaltung der Wahl nicht, da in einem solchen Fall die Stimmabgabe dem Wahlberechtigten zugeordnet werden könnte. Derartig gekennzeichnete Stimmzettel müssen deshalb als ungültig gewertet werden.

Gibt es zum Wahlverfahren noch Fragen oder Anmerkungen? – Ich sehe, das ist nicht der Fall.

Dann bitte ich die eingeteilten Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Positionen an den Tischen zur Ausgabe der Wahlunterlagen und an den Wahlkabinen sowie an den Wahlurnen einzunehmen, damit wir mit der geheimen Wahl beginnen können.

Ich eröffne die Wahlhandlung und bitte, mit dem Namensaufruf zu beginnen.

(Der Namensaufruf erfolgt.)

Meine Damen und Herren, der Namensaufruf ist abgeschlossen. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Stimme abzugeben.

(Die Schriftführerinnen und Schriftführer geben ihre Stimme ab.)

Nachdem auch die Schriftführerinnen und Schriftführer gewählt haben, frage ich: Haben alle Abgeordneten ihre Stimme abgegeben? – Das ist offenbar der Fall.

Dann schließe ich die Wahlhandlung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Auszählung vorzunehmen. Während dieser Zeit ist die Sitzung bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses unterbrochen. Da die Auszählung nicht so lange dauern wird, möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen empfehlen, im Plenarsaal oder zumindest in erreichbarer Nähe zu bleiben.

(Die Plenarsitzung wird für die Dauer der Auszählung unterbrochen.)

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich gebe Ihnen die Ergebnisse der insgesamt drei Einzelwahlen bekannt.

Dem Landtag gehören 199 Abgeordnete an. An den Wahlen haben sich 176 Abgeordnete beteiligt.

Wir kommen a) zur Feststellung des Ergebnisses der Wahl des ordentlichen Mitglieds des Verfassungsgerichtshofs Herrn Dr. Dirk Gilberg: Gültige Stimmen gab es 176, ungültige Stimmen 0. Von den gültigen Stimmen entfielen 157 auf „Ja“, 12 auf „Nein“, Enthaltungen: 7.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem vorliegenden Ergebnis entfallen auf Herrn Dr. Dirk Gilberg mehr als zwei Drittel der Stimmen. Dies stelle ich ausdrücklich gemäß Art. 44 Abs. 2 der Landesverfassung in Verbindung mit § 46 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung fest. Damit ist Herr Dr. Dirk Gilberg zum ordentlichen Mitglied des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen gewählt.

(Allgemeiner Beifall)

Wir kommen b) zur Feststellung des Ergebnisses der Wahl des stellvertretenden Mitglieds des Verfassungsgerichtshofs Herrn Peter Clemen: Gültige Stimmen gab es 174, ungültige Stimmen 0. Von den gültigen Stimmen entfielen 157 auf „Ja“, 10 auf „Nein“, Enthaltungen: 7.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem vorliegenden Ergebnis entfallen auf Herrn Peter Clemen mehr als zwei Drittel der Stimmen. Dies stelle ich ausdrücklich gemäß Art. 44 Abs. 2 der Landesverfassung in Verbindung mit § 46 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung fest. Damit ist Herr Peter Clemen zum Stellvertreter von Herrn Dr. Dirk Gilberg gewählt.

(Allgemeiner Beifall)

Wir kommen c) zur Feststellung des Ergebnisses der Wahl des Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs Herrn Professor Dr. Andreas Heusch: Gültige Stimmen gab es 176, ungültige Stimmen 0. Von den gültigen Stimmen entfielen 157 auf „Ja“, 9 auf „Nein“, Enthaltungen: 10.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach dem vorliegenden Ergebnis entfallen auf Herrn Professor Dr. Andreas Heusch mehr als zwei Drittel der Stimmen. Dies stelle ich ausdrücklich gemäß Art. 44 Abs. 2 der Landesverfassung in Verbindung mit § 46 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung fest. Damit ist Herr Professor Dr. Andreas Heusch zum Vizepräsidenten des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen gewählt.

(Allgemeiner Beifall)

Nach der Feststellung der Ergebnisse frage ich die Gewählten einzeln, ob sie die Wahl annehmen.

Sehr geehrter Herr Dr. Gilberg, nehmen Sie die Wahl an?

Dr. Dirk Gilberg: Ich nehme die Wahl an.

Präsident André Kuper: Sehr geehrter Herr Clemen, nehmen Sie die Wahl an?

Peter Clemen: Ich nehme die Wahl an.

Präsident André Kuper: Schließlich frage ich Sie, sehr geehrter Herr Professor Dr. Heusch: Nehmen Sie die Wahl an?

Professor Dr. Andreas Heusch: Herr Präsident, ich nehme die Wahl an.

Präsident André Kuper: Herzlichen Dank. Dann können wir jetzt zur Vereidigung kommen.

Nach dem Gesetz ist eine Vereidigung der beiden neuen Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen erforderlich. Hierzu lade ich alle Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs ein, zu mir in die Mitte des Plenarsaals zu kommen, um der Vereidigung der beiden neuen Mitglieder beizuwohnen.

Alle übrigen Anwesenden bitte ich, sich für die Vereidigung von den Plätzen zu erheben, soweit es Ihnen möglich ist.

(Präsident André Kuper, Dr. Dirk Gilberg und Peter Clemen treten an das vor dem Redepult aufgebaute Mikrofon. – Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.)

Nach § 5 Satz 2 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen leisten sämtliche Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs und ihre Vertreter, bevor sie ihr Amt antreten, vor dem Landtag den in dieser Vorschrift formulierten Eid:

„Ich schwöre, dass ich das mir übertragene Amt nach bestem Wissen und Können verwalten, Verfassung und Gesetze befolgen und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

Sehr geehrter Herr Dr. Gilberg, sehr geehrter Herr Clemen, ich werde Sie nun namentlich aufrufen und bitte Sie, jeweils einzeln zu mir zu treten.

Danach heben Sie bitte die Schwurhand und leisten den in § 5 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen vorgesehenen Amtseid, indem Sie die Worte „Ich schwöre es. So wahr mir Gott helfe.“ sprechen. Sollten Sie den Eid ohne religiöse Beteuerung leisten wollen, sprechen Sie bitte nur die Worte „Ich schwöre es.“.

Ich darf nun zuerst Herrn Dr. Dirk Gilberg bitten, zu mir zu kommen, um den Amtseid zu leisten.

Dr. Dirk Gilberg: Ich schwöre es. So wahr mir Gott helfe.

(Allgemeiner Beifall)

Präsident André Kuper: Nun bitte ich Herrn Peter Clemen, zu mir zu kommen und den Eid zu leisten.

Peter Clemen: Ich schwöre es. So wahr mir Gott helfe.

(Allgemeiner Beifall)

Präsident André Kuper: Ich gratuliere Ihnen, Herr Dr. Gilberg, Herr Clemen, im Namen des Hohen Hauses sowie ganz persönlich zu Ihrer neuen verantwortungsvollen und ehrenvollen Aufgabe zum Wohl unseres Landes Nordrhein-Westfalen. Ich wünsche Ihnen Erfolg, eine glückliche Hand und auch Freude bei der Ausübung Ihres Amtes. Gottes Segen soll dabei natürlich auch nicht fehlen. Alles Gute für Sie.

Schließlich darf ich auch Herrn Professor Dr. Heusch zu mir bitten, dem ich allerdings ohne Eidesleistung zu seinem neuen Amt gratulieren darf.

(Allgemeiner Beifall)

Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hohen Hauses zu Ihrer Wahl zum Vizepräsidenten. Ich wünsche Ihnen für die Fortsetzung Ihrer Arbeit – nun aber in neuer Funktion und in vorderer Reihe – weiterhin viel Erfolg, eine glückliche Hand und Gottes Segen.

(Kurze Unterbrechung)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Nach dieser kurzen Sitzungsunterbrechung für das Foto fahren wir jetzt in der Tagesordnung fort.

Ich rufe auf:

2   Wahl eines Mitglieds des Landesrechnungshofs Nordrhein-Westfalen

Wahlvorschlag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7988

Zunächst möchte ich die im Wahlvorschlag genannte Leitende Rechtsdirektorin Frau Doris Krüger herzlich begrüßen, die auf der Besuchertribüne Platz genommen hat.

(Allgemeiner Beifall)

Eine Aussprache bei dem Wahlvorschlag ist, wie Sie wissen, nicht vorgesehen.

Deshalb kommen wir jetzt auch sofort und unmittelbar zur Abstimmung. Wer diesem Wahlvorschlag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen von CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und die AfD-Fraktion. Stimmt jemand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Möchte sich jemand enthalten? – Das ist ebenfalls nicht der Fall. Damit ist der Wahlvorschlag Drucksache 17/7988 einstimmig angenommen.

Ich gratuliere Frau Leitender Rechtsdirektorin Doris Krüger ganz herzlich zu ihrem neuen Amt und wünsche ihr viel Erfolg bei ihrer anspruchsvollen Arbeit. Auf gute Zusammenarbeit!

(Allgemeiner Beifall)

Dann sind wir auch schon bei Tagesordnungspunkt

3   Langer Atem und Konsequenz im Kampf gegen Clankriminalität

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7963

Die Fraktionen von CDU und FDP haben mit Schreiben vom 25. November dieses Jahres gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die antragstellende Fraktion der CDU Herrn Kollegen Golland das Wort.

Gregor Golland (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kriminelle Familienclans arabischer Prägung gibt es erst, seitdem CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen regieren.

(Beifall von Dietmar Brockes [FDP])

Vorher gab es die nicht, zumindest wenn man sich an die Aussagen und das Handeln der vorherigen rot-grünen Landesregierung erinnert.

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Früher war alles besser!)

Sie hat konsequent dieses riesige Problem wahlweise ignoriert, geleugnet oder schöngeredet. – Dafür wurden Sie von den Wählern zu Recht abgestraft.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Weil es nicht in Ihr multikulturelles Weltbild passte, weil Sie nicht zugeben wollten, dass es auch gescheiterte Integration gibt, weil Sie Angst hatten, die Probleme beim Namen zu nennen, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, weil Sie tolerant gegen Intolerante waren, sind Sie nicht konsequent und entschlossen gegen diese massive Bedrohung unseres friedlichen Zusammenlebens und unseres Rechtsstaates vorgegangen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das in diesem Jahr erstmals vorgestellte Lagebild zur Clankriminalität hat nun hoffentlich allen die Augen geöffnet. Die durchgeführten Razzien und Kontrollen, die Taktik der 1.000 Nadelstiche, zeigt die ganze Dimension dieses Phänomens.

Wie die „Rheinische Post“ am 25.11.2019 berichtete, hat die Polizei in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen anderthalb Jahren rund 860 Razzien durchgeführt und dabei rund 2.500 Objekte wegen des Verdachts auf Clankriminalität durchsucht – darunter 1.100 Shisha-Bars. Mehr als 10.000 Straftaten und Ordnungswidrigkeiten sind festgestellt worden, außerdem wurden mehr als 26.100 Personen kontrolliert und mehrere Hundert Verdächtige und Täter festgenommen.

Die hochkriminellen Clans betrachten Deutschland als Beuteland, die Mitmenschen als Opfer und Polizei und Justiz als schwach und wirkungslos. Sie beuten die Solidargemeinschaft mithilfe der Sozialsysteme aus, stellen ihre eigenen Regeln auf und beanspruchen den öffentlichen Raum aggressiv und dominant für sich.

Ich nenne Ihnen ein Beispiel und zitiere aus dem Buch „Die arabische Gefahr: Wie kriminelle Familienclans unsere Sicherheit bedrohen“ von Michael Behrendt, Chefreporter bei der „WeLT“:

„Auch das Personal der Ordnungsämter erlebt täglich Erniedrigungen. ,Ich habe einmal einen der Clanszene zuzuschreibenden Mann angesprochen, als er sich auf einen Behindertenparkplatz stellte‘, erzählt ein Mitarbeiter des Berliner Ordnungsamtes. Der Mann habe ihm arrogant einen 50-Euro-Schein vor die Füße geworfen. Wortlos. Und sei dann seiner Wege gegangen. Der Mitarbeiter des Ordnungsamtes sieht sich mittlerweile nach einem anderen Job um.“

„Ihr Gehabe ist ein großes Problem. Das ist ein Krebsgeschwür mit vielen Metastasen.“

(Beifall Josef Hovenjürgen [CDU])

Das klingt vermeintlich harmlos, zeigt aber die grenzenlose Respektlosigkeit gegenüber unserem Rechtsstaat und die Verachtung unserer Gesellschaft, die sie aber gerne ausbeuten.

Ich zitiere aus „FOCUS Online“ vom 26.11.2019 den Essener Polizeipräsidenten Frank Richter:

„In diesem Bereich ist die Integration voll gegen die Wand gefahren, weil sich viele dieser Leute gar nicht eingliedern wollen. Diese Menschen sehen den Staat nur als Beute an. Das gilt nicht für alle, aber zumindest für einen Teil. … Viele von ihnen leben offiziell von Hartz IV, da kommen mal schnell 5.000 Euro pro Monat zusammen. Das ist die legale Grundlage, aber das reicht den kriminellen Familienzweigen nicht aus.“

Inzwischen sind durch die Nachforschungen der Essener Polizei nach eigenen Angaben über 80 Clanmitglieder aus den staatlichen Sozialsystemen entfernt worden.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wir gehen mit unserer Nulltoleranzstrategie entschlossen und konsequent gegen kriminelle Clans vor.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir dürfen nicht nachlassen. Wenn Sie heute bei Google das Wort „Clans“ eingeben, dann erhalten Sie 114 Millionen Treffer. Die Medien berichten inzwischen sehr offen, klar und intensiv darüber. Niemand kann die Brisanz dieses Themas mehr ignorieren, leugnen oder schönreden; es sei denn, die angebliche Kümmererpartei SPD möchte noch mehr Wahlen verlieren – insbesondere in ihren ehemaligen Hochburgen im Ruhrgebiet.

(Michael Hübner [SPD]: Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram!)

BKA-Präsident Münch äußerte sich unlängst gegenüber der ARD:

Bei ihren Ermittlungen gegen Clankriminalität registrieren die Sicherheitsbehörden eine steigende Zahl tatverdächtiger Zuwanderer. In etwa einem Drittel der Verfahren sind auch Zuwanderer als Tatverdächtige aufgetaucht. Und das bedeutet, wir müssen das Phänomen weiter sehr genau im Auge behalten.

Er warnte außerdem, man dürfe „solche Dinge nicht über Jahre laufen lassen. Das ist, glaube ich, die große Lehre, die wir aus den Entwicklungen der letzten 30 Jahre ziehen müssen.“

Das werden wir hier in Nordrhein-Westfalen tun. Unsere Politik der inneren Sicherheit ist auf einem guten und richtigen Weg. Wir haben und werden den Sicherheitsbehörden weiter die materielle, personelle, legislative und vor allem die politische Rückendeckung geben, die sie so dringend brauchen, um uns zu schützen.

Dies gilt aber auch für unsere Integrationspolitik, die sich an klaren Linien orientiert. Die, die unseren Schutz und unsere Hilfe brauchen, bekommen sie auch – unbürokratisch, schnell, mit hohem finanziellen Einsatz und auch mit Empathie.

Wir sind ein weltoffenes und tolerantes Land für alle, die gerne hier leben wollen und sich an die geltenden Regeln halten. Deren Integration wollen wir beschleunigen und besser machen, als dies in der Vergangenheit geschehen ist. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, die Fehler, aus denen die Familienclans und Parallelwelten entstanden sind, zu wiederholen. Und wir wollen das auch nicht.

Es gibt viele Zuwanderer, die froh und dankbar sind, in Deutschland zu sein, sich positiv einbringen und unser Land bereichern.

(Beifall von der CDU)

Aber denen, die sich nicht an Gesetze und Regeln halten, zeigen wir die rote Karte. Das ist fair und findet hohe Akzeptanz bei den Menschen.

(Beifall von der CDU)

Die NRW-Koalition wird ihren Weg fortsetzen. Wir haben den Menschen versprochen, den Rechtsstaat immer und überall durchzusetzen. Wir nehmen Clankriminalität sehr ernst und gehen entschlossen dagegen vor. Wir beschönigen dabei nichts, wir dramatisieren oder hetzen dabei aber auch nicht. Das unterscheidet uns zum Glück deutlich von der AfD.

(Beifall von der CDU und der FDP – Helmut Seifen [AfD]: Dummes Zeug, was Sie da sagen!)

Ohne Verharmlosung, aber auch ohne Übertreibung sprechen wir Probleme an und lösen sie im Sinne aller anständigen und gesetzestreuen Bürger in Nordrhein-Westfalen. Unabhängig von deren Herkunft arbeitet die Nordrhein-Westfalen-Koalition weiter beständig und klug für mehr Sicherheit. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP – Michael Hübner [SPD]: Wo war der aktuelle Bezug? – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das war eine Grundsatzrede! – Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN – Gegenrufe von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Golland. – Für die FDP-Fraktion, die ebenfalls antragstellende Fraktion ist, spricht Herr Kollege Lürbke.

Marc Lürbke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg: Die Bekämpfung von Clankriminalität ist definitiv kein Ponyhof, und niemand weiß das besser als die Polizistinnen und Polizisten in unserem Land.

Allein in den vergangenen anderthalb Jahren wurden insgesamt 860 Kontrollen und Razzien durchgeführt, zweieinhalbtausend Objekte durchsucht, 26.000 Personen kontrolliert, mehr als 10.000 Straftaten und Ordnungswidrigkeiten in diesem Bereich festgestellt und dabei 360 Personen festgenommen.

Das ist ein echter Kraftakt unserer Behörden und Beamten. Das ist ein riesiger Arbeitsaufwand, aber er ist unerlässlich. Denn der Rechtsstaat zeigt in Nordrhein-Westfalen endlich wieder klar seine Durchsetzungskraft gegen Organisierte Kriminalität

(Beifall von der FDP und der CDU)

und macht deutlich, dass sich Nordrhein-Westfalen nicht länger von kriminellen Banden auf der Nase herumtanzen lässt.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Und was macht die SPD? Anstatt als ehemaliger Justizminister – leider ist Herr Kutschaty nicht im Raum; vielleicht schreibt er wieder Presseerklärungen zu dem Thema –

(Lachen von Gordan Dudas [SPD] – Michael Hübner [SPD]: Ist denn Ihr Justizminister noch im Amt, Herr Lürbke? Wo ist denn Ihr Justizminister?)

mal anzuerkennen, dass unsere Beamten auch im letzten Winkel unseres Landes stetig dafür streiten, unseren Rechtsstaat zu stärken, lässt sich Herr Kutschaty lieber mit den Worten zitieren, das seien alles nur öffentlichkeits- und medienwirksame Razzien. Man würde dabei nur unversteuerten Tabak finden. Im Grunde jage man dabei nur die Boten der Clans und nicht die Bosse.

(Zuruf von Heike Gebhard [SPD])

Liebe SPD, ich weiß nicht, ob Sie sich nicht mehr erinnern können. Ich könnte es verstehen, wenn Sie sich nicht mehr erinnern wollten,

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Wir heißen ja nicht Biesenbach!)

aber Sie sind abgewählt worden wegen fehlender Lösungsansätze, wegen fehlender Kompetenzen in den Bereichen „Bildung“, „Wirtschaft“ und vor allem „innere Sicherheit“.

(Beifall von der FDP und der CDU – Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

Jahrelang haben Sie fast mit liebevoller Nachsicht auf bestimmte Gegenden wie den Essener und den Duisburger Norden geschaut und in kriminellen Clanstrukturen womöglich eher noch das Wählerpotenzial als das sicherheitspolitische Problem gesehen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Michael Hübner [SPD]: So ein Unsinn! Das ist totaler Unsinn! – Gordan Dudas [SPD]: Steuerkriminelle sind das doch! – Frank Müller [SPD]: Unverschämt!)

Sie hatten vielleicht auch einen Koalitionspartner an der Seite, für den falsch verstandene politische Korrektheit grundsätzlich Vorrang vor kriminalpolizeilichen Ermittlungen hat.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Sie sind nur peinlich!)

Aber das reicht auch nicht als Entschuldigung dafür, dass Sie bei der Bekämpfung von Clankriminalität jahrelang untätig geblieben sind.

(Beifall von der FDP und der CDU – Michael Hübner [SPD]: Wer ist denn der Oberbürgermeister von Essen? Thomas Kufen, Ihr ehemaliger Kollege!)

Sie können ruhig sagen, dass das peinlich ist, aber es ist die Wahrheit. Ich kann verstehen, dass das wehtut, und ich erzähle es Ihnen auch nicht zum ersten Mal. Wir haben Ihnen jahrelang Vorschläge gemacht.

(Gordan Dudas [SPD]: Sie schützen doch die Steuerkriminellen! – Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Ich habe noch einmal nachgeschaut: In Vorlage 16/3428 aus dem November 2015 wird gefordert: „Innenminister Jäger muss endlich landesweites Lagebild zu kriminellen Familienclans darstellen“. Das wurde natürlich abgelehnt. Ein Antrag im Januar 2017 – das ist noch keine Lichtjahre her – forderte auf, die Landesregierung müsse endlich entschlossen gegen kriminelle Familienclans in Nordrhein-Westfalen vorgehen.

Ich zitiere mal aus den Plenarprotokollen; da ging es um die Frage des Lagebildes. Ich zitiere Frau Kollegin Düker – sie ist jetzt auch nicht im Raum, aber von den Grünen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Gucken Sie mal auf Ihre Regierungsbank! – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das ist eine Frechheit!)

– Hören Sie mal gut zu! Frau Düker sagte damals:

„Selbstverständlich verbietet es sich aus polizeilicher Sicht, zu den kriminellen Familienclans, die Sie immer wieder als Kriterium für ein Lagebild einfordern, ein eigenes Lagebild zu erstellen.“

(Ralf Witzel [FDP]: Aha!)

Das Zitat reicht alleine schon aus, um Ihre Sturheit und Ihre Beratungsresistenz in diesem Bereich völlig zu offenbaren.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Frau Schäffer, dann spreche ich Sie an: Es verbietet sich nicht aus polizeilicher Sicht, so ein Lagebild zu erstellen. Denn das LKA hat mittlerweile auch ein Lagebild erstellt. Aber es verbietet sich offenbar aus grüner Sicht, so ein Lagebild zu erstellen.

(Beifall von der FDP)

Es verbietet es sich offenbar aus grüner Sicht, den Realitäten ins Auge zu schauen,

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Oh, ist das billig! Billiger Populismus, den Sie da betreiben!)

und es verbietet es sich offenbar aus grüner Sicht, den Kampf gegen kriminelle Familienclans aufzunehmen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Dann machen Sie doch was! – Heike Gebhard [SPD]: Das ist eine richtige Ausrede!)

Ich sage es Ihnen noch einmal, aber Sie sehen es im Grunde auch selbst: Es macht einen Unterschied, wer in Nordrhein-Westfalen regiert. Und Fakt ist: Einen Innenminister Jäger musste man an rot-grüner Kette zum Jagen tragen. Schwarz-Gelb handelt.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Denn was ist alles seit Mai 2017 passiert? – Es wurde das bundesweit erste Lagebild erstellt. Wir haben eine Taskforce mit dem Innen-, Justiz- und Finanzministerium gebildet, um auch Geldwäsche und illegales Vermögen aufzudecken. Die Hawala-Razzien waren jüngst ein großer Erfolg. Es gibt endlich eine gemeinsame Strategie. Es gibt endlich eine Vernetzung der Behörden – nicht nur der Polizei, sondern unter Einbindung von Zoll, Gewerbeaufsicht und Jobcentern.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das ist Selbstsuggestion, Herr Kollege!)

Das waren vorher Ideen, aber die sind nicht umgesetzt worden. Die gab es nur auf dem Papier. Der Unterschied ist, dass es das jetzt auch in der Realität gibt; dass jetzt der Kampf gegen Clankriminelle tatsächlich geführt wird, meine Damen und Herren.

Wir haben spezielle Staatsanwälte vor Ort, es gibt konsequente Razzien, und es gibt erste Rückmeldungen aus der Szene, dass der höhere Kontrolldruck nun zu wirken beginnt. Das ist ein Marathon, und das ist auch nicht in zweieinhalb Jahren zu lösen – das wissen wir alle im Raum –, aber wichtig ist doch, dass es endlich angepackt wird und dass wir konsequent daran weiterarbeiten.

Dazu gehört aber auch, dass wir nicht nur ahnden und Straftaten verfolgen, sondern Menschen, die in diese Strukturen geraten oder zu geraten drohen, aufklären und ihnen Auswege zeigen. Gerade jungen Menschen müssen wir zeigen, dass man in Nordrhein-Westfalen noch richtig was werden kann, ohne auf die schiefe Bahn zu geraten. Wir müssen Ihnen vermitteln, dass man auch außerhalb ihrer Clans Anerkennung, Respekt oder persönlichen und finanziellen Erfolg haben kann, und ihnen auch dabei helfen, aus den abgeschotteten Strukturen auszubrechen. Das ist ein Teil der gesamten Strategie, die wir verfolgen.

Meine Damen und Herren, unter Schwarz-Gelb geht Nordrhein-Westfalen voran, agiert mit einem klaren Plan gegen das Phänomen der Clankriminalität, zeigt unseren Bürgern, dass für Sicherheit gesorgt wird, und steht den Kriminellen auf den Füßen. Andere Bundesländer oder auch der Bund selbst können sich daran ein Vorbild nehmen. Wir wünschen uns – und das wäre in diesem schwierigen Kampf auch ein Signal der Rückendeckung für unsere Polizei –, dass das Thema nun auch bundesweit offensiv und entschlossen, und zwar unbedingt gemeinsam und vernetzt, angegangen wird. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP, der CDU und Roger Beckamp [AfD] – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Damit ist der zufrieden!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lürbke. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Ganzke.

Hartmut Ganzke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir befinden uns in einer Aktuellen Stunde. Als Westfale bringe ich es kurz auf den Punkt: wichtiges Thema, kein aktueller Bezug, nichts Neues, viel heiße Luft von den Vorrednern.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich freue mich gleich auf den Wortbeitrag der Kollegin Erwin, denn der Vertreter der Werteunion

(Gregor Golland [CDU]: Ach, jetzt reicht’s doch! – Andreas Kossiski [SPD]: Das tut weh!)

und der Vertreter der FDP haben bereits gesprochen, und ich bin gespannt, was die CDU zu diesem Thema sagt, Frau Kollegin Erwin.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wenn man sich diesen Antrag auf die Aktuelle Stunde durchliest – ich habe ihn mir durchgelesen; er war in diesem Bereich sehr dünn –, dann fällt auf, dass darin sehr viele große Zahlen stehen: über 10.000 Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, über 26.000 Personen kontrolliert. – Ganz wichtig sind ganz große Zahlen. Allerdings wundere ich mich ein bisschen, denn wir haben das Thema „Clankriminalität“ in diesem Monat bereits zweimal im Rechtsausschuss behandelt. Gestatten Sie mir, Frau Präsidentin, dass ich an dieser Stelle das Ministerium aus der letzten Rechtsausschusssitzung vom 6. November zitiere.

(Andreas Kossiski [SPD]: Die waren fleißig!)

Auf meine Frage nach konkreten Zahlen in dem Bereich der Clankriminalität sagte die Expertin aus dem Justizministerium: Wenn Sie flächendeckende Zahlen zur Clankriminalität haben wollen, dann können wir diese nicht liefern, weil wir erst einmal definieren müssen: Was ist eigentlich Clankriminalität.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Das ist doch mal eine Aussage: Die Landesregierung hat keine abgestimmte Definition, was Clankriminalität überhaupt ist.

(Zuruf von Gordan Dudas [SPD])

Das weiß bei der Justiz keiner, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, kein Mensch weiß das bei denen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Nadja Lüders [SPD]: Aber wir können ja schon einmal darüber reden!)

Damit haben wir es nicht bewenden lassen, sondern ich habe ganz konkret nachgefragt, wie es denn sein kann, dass in der Presse

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Steht im Strafgesetzbuch! – Michael Hübner [SPD]: Oder ein Telefonat mit Biesenbach, aber der erinnert sich ja nicht!)

– und darauf bezieht sich ja der Antrag auf diese Aktuelle Stunde – ständig Erfolgsmeldungen stehen, und ob diese Erfolgsmeldungen stimmten. Die Antwort lautete – das ist kein Spaß; ich zitiere wiederum mit Erlaubnis der Frau Präsidentin –: Wenn wir die Zahlen hätten, würden wir die Ihnen doch auf den Tisch legen.

(Zurufe von der SPD: Aha!)

Aber auch da war es noch nicht zu Ende. Sehr skeptisch habe ich noch einmal nachgefragt, und zwar den Minister der Justiz selbst.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Der ist nicht da! – Michael Hübner [SPD]: Wo ist denn der Justizminister?)

Ich habe eine Meldung aus Februar dieses Jahres zur bisherigen Bilanz der beiden Sonderstaatsanwälte in Duisburg zitiert. Dort ist von rund 260 eingeleiteten Verfahren die Rede. Ich zitiere den Minister der Justiz aus dem Rechtsausschuss vom 6. November:

Die Zahlen, die ich seinerzeit sagte – 260 –, waren nicht Zahlen zur Clankriminalität, sondern Verfahren, die von den beiden Staatsanwälten eingeleitet wurden. Das ist aber nicht alles Clankriminalität, sondern da ist eine Menge Beifang bei, den wir einfach mit abräumen.

(Zurufe von der SPD: Oh! – Volkan Baran [SPD]: Das ist ja interessant! – Rainer Schmeltzer [SPD]: Daran kann er sich noch erinnern!)

Die von mir gerade zitierten Anmerkungen sind in Anwesenheit von Vertretern des Innenministeriums getätigt worden. Also auch das Innenministerium war bei der Sitzung dabei.

Auf den Punkt gebracht: Wir werden von der Landesregierung mit Beifangzahlen versorgt, und tatsächlich hat bei der Justiz kein Mensch den Überblick, ob und gegebenenfalls welche Verfahren es wirklich gegen Clankriminalität gibt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Marc Lürbke [FDP]: Der Beifang ist immer noch höher als das, was Sie gefangen haben!)

Wie viele Ermittlungsverfahren gibt es denn genau? Wie viele Anklagen sind bisher geschrieben worden? Wie viele Verurteilungen hat es gegeben? Was wurde sichergestellt? Auf keine dieser Fragen kann die Regierung eine Antwort gegeben. Das ist der Punkt!

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Gordan Dudas [SPD]: Erklären Sie das gleich mal! – Rainer Schmeltzer [SPD]: Herr Golland kann das!)

Was heißt das? Das bedeutet, ein organisiertes und abgestimmtes Vorgehen von Polizei und Justiz gibt es ganz offensichtlich nicht. Genau das ist es, was die SPD-Fraktion Ihnen, sehr geehrter Herr Minister Reul, vorwirft.

(Gordan Dudas [SPD]: Nepper, Schlepper, Bauernfänger!)

Sie ordnen eine Razzia nach der anderen an, und die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die einen top Job machen, häufen immer mehr Überstunden an. Aber wissen Sie, was dabei herauskommt? Bei der Justiz kommt nichts an, Herr Minister Reul.

(Heike Gebhard [SPD]: Alles nur medial!)

Es kommt bei der Justiz nichts an, und das wird in Kürze zum Frust bei den Beamten führen.

(Zuruf von Marc Lürbke [FDP])

Herr Minister Reul, ich weiß, dass Sie vor Kurzem auf den Frust der Kolleginnen und Kollegen Beamten angesprochen worden sind. Diese fragen: Was kommt bei der Justiz an? Was für Anklagen gibt es? Was für Verurteilungen gibt es?

(Herbert Reul, Minister des Innern: Nö!)

Es frustet die Beamten, dass die Justiz ihren Eifer nicht teilt.

Und was das bei den Clankriminellen auslöst, das können wir uns doch alle ausmalen. Die werden in Kürze die Polizei gar nicht mehr ernst nehmen, weil sie keine Konsequenzen der Justiz zu befürchten haben.

(Gregor Golland [CDU]: Die haben in Ihrer Regierungszeit Sie nicht ernst genommen!)

So ist es leider.

(Beifall von der SPD)

Herr Minister Reuel, wir werfen Ihnen vor: Diese Landesregierung spricht nicht mit einer Stimme, sie hat sich in diesem Bereich nicht abgesprochen, und das geht doch nicht.

(Lachen von Herbert Reul, Minister des Innern)

Noch einmal die Frage: Warum gibt es keine Definition der Clankriminalität? Die gibt es bei dieser Regierung nicht. Warum haben Sie sich nicht einmal mit Herrn Biesenbach abgestimmt, wie man gemeinsam gegen Clankriminalität vorgehen kann?

(Zuruf von Gregor Golland [CDU])

Der Zwischenstand ist: Die Polizei versucht viel, die Justiz ignoriert alles. Aber ohne die Justiz wird es die Erfolge nicht geben. Und deshalb will und muss ich leider noch mal eins draufgeben. Ich zitiere zum Abschluss noch einmal Minister Biesenbach aus der Sitzung vom 6. November – Zitat –: Der Erfolg liegt nicht darin, dass wir jetzt irgendjemanden packen, der unversteuerten Tabak anbietet.

Wissen Sie was, Herr Minister Reul? – Darin könnten ich und wir als SPD eine große Kritik an Ihrem Vorgehen seitens des Justizministers sehen. Genau das ist es, was der Justizminister macht. Er kritisiert Ihre Strategie, unversteuerten Tabak zu beschlagnahmen.

(Beifall von der SPD)

Das zeigt doch, dass es hier keine Absprache zwischen der Justiz und dem Inneren gibt.

Völlig richtig heißt es in dem Antrag, und zu Recht führen Sie aus, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU und der FDP, dass ein Kampf gegen Clankriminalität nur durch ein bundesweit koordiniertes Vorgehen geführt werden kann. Genauso ist es.

Die Clans machen an Landesgrenzen nicht halt. Den Clans ist es auch völlig egal, ob irgendwo CDU oder SPD regieren.

(Gregor Golland [CDU]: Nein, das ist nicht egal!)

Clankriminelle nutzen gezielt unseren Föderalismus aus. Aber wissen Sie was? – Dann ist es auch wichtig, dass man gemeinsam föderal mit anderen Bundesländern zusammenarbeitet. Bei der letzten Innenministerkonferenz …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Hartmut Ganzke (SPD): … hat sich ein Innenminister geweigert, mit allen anderen Innenministern und Innensenatoren des Bundes zusammenzuarbeiten, um eine Unterschrift unter die Vereinbarung zur besseren Bekämpfung …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Hartmut Ganzke (SPD): … der Clankriminalität zu setzen. Das waren Sie, Herr Reul!

(Herbert Reul, Minister des Innern, gestikuliert. – Zurufe von der SPD: Uuh! Hey! Das geht nicht, Herr Minister!)

Das waren Sie, Herr Reul! Sie haben diese Unterschrift nicht geleistet. Es ist ein wichtiges Thema.

(Unruhe)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Ganzke …

Hartmut Ganzke (SPD): Aber wir haben gesehen: Es gibt keine abgestimmte Strategie der Landesregierung.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Ganzke, die Redezeit.

Hartmut Ganzke (SPD): Vor dem Hintergrund war diese Aktuelle Stunde überflüssig. – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank.

(Nadja Lüders [SPD]: Benehmen Sie sich mal! Sie dürfen Abgeordneten hier nicht „so“ zeigen! [Nadja Lüders macht die Scheibenwischergeste] – Weitere Zurufe)

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Frau Kollegin Schäffer das Wort.

(Zurufe)

Jetzt hat Frau Kollegin Schäffer das Wort für Ihre Rede. Wir klären gleich, was hier gewesen ist.

(Herbert Reul, Minister des Innern, spricht mit Präsidentin Carina Gödecke. – Zurufe von der SPD: Beeinflussung! Das kennen wir von Ihnen! – Weitere Zurufe)

Es gibt überhaupt keinen Grund zur Aufregung. Wir lassen klären, welche Zwischenrufe gehört wurden, was gesehen wurde und ob die Kamera etwas zeigt – wie das in diesen Fällen üblich ist. Ich bitte darum – auch in einer politisch kontroversen Debatte in der Aktuellen Stunde –, dass wir auf allen Seiten Höflichkeitsregeln einhalten.

(Zuruf von der SPD: Der Innenminister droht!)

– Hallo! Jetzt hat Frau Kollegin Schäffer das Wort.

Verena Schäffer (GRÜNE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Liebe Kolleginnen und Kollegen! – Lieber Herr Golland, lieber Herr Lürbke, mir drängt sich der leise Verdacht auf, dass Sie einem sehr großen Irrtum unterlegen sind. Die reine Anzahl der Razzien sagt nichts, wirklich gar nichts, über den Erfolg von Kriminalitätsbekämpfung aus.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die entscheidende Frage ist doch: In wie vielen Fällen kam es zu Anklagen, vor allem aber zu Verurteilungen? – Herr Reul, genau das ist die Währung, in der Sie liefern müssen, und daran werden Sie sich auch messen lassen müssen.

(Ralf Witzel [FDP]: Wie ist denn Ihre Bilanz?)

Derzeit – und das hat der Kollege Hartmut Ganzke gerade schon gesagt – haben Polizei und Justiz noch nicht einmal dieselbe Definition von diesem Kriminalitätsphänomen. Wie auch?

Clankriminalität ist bisher nichts weiter als ein Arbeitsbegriff der Polizei und ein politischer Kampfbegriff der CDU und der FDP.

(Beifall von den GRÜNEN – Ralf Witzel [FDP]: Das ist ja bezeichnend!)

Der Begriff „Clankriminalität“ ist nicht legal definiert – das sagen die Behörden auch selbst. Das Justizministerium kann noch nicht einmal Antworten zu den Fragen nach den Ergebnissen der Razzien liefern. Wie viele Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet? In wie vielen Fällen wurde Vermögen abgeschöpft? Wie viele Waffen wurden sichergestellt? Wie viele Haftbefehle wurden angeordnet? – Das alles kann nicht beantwortet werden.

Ich frage mich, auf welcher Basis Sie eigentlich zu dem Schluss kommen, so selbstherrlich behaupten zu können, dass Ihre Strategie erfolgreich sei. Das frage ich mich.

(Ralf Witzel [FDP]: Was war denn Ihre Strategie?)

– Dass es eine Strategie gegen die sogenannte Clankriminalität geben muss, Herr Witzel, ist unbestritten.

(Zuruf von der FDP)

Herr Lürbke, ich habe den Lagebericht des LKA gelesen, auch im Ausschuss haben wir darüber diskutiert. In diesem Lagebericht geht das LKA davon aus, dass etwa ein Drittel der angeführten Straftaten Hoheitsdelikte sind. Dazu gehören Raub, schwere Körperverletzungsdelikte und Gewaltdelikte.

Folgendes als Einschub: Wir sprechen hier immer von einer Eingangsstatistik. Eigentlich bräuchten wir eine Verlaufsstatistik, die verzeichnet, wie viele dieser Fälle zu einer Anklage und Verurteilung der Täter führen.

Dennoch will ich deutlich sagen, dass die im Lagebericht angeführten Straftaten und die Gewaltbereitschaft erschreckend sind und wir das nicht hinnehmen können.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Dafür braucht es aber eine Gesamtstrategie.

(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Diese Gesamtstrategie hat die Landesregierung bisher ganz offenbar nicht.

(Gregor Golland [CDU]: Sie hatten überhaupt keine Strategie!)

Ich habe mir in Vorbereitung auf die Diskussion heute den Zwischenbericht der Bosbach-Kommission angeschaut.

(Zuruf von Michael Hübner [SPD])

In der gibt es durchaus ein paar interessante Empfehlungen: zum Beispiel den Aufbau eines strategischen Innovationszentrums zur Organisierten Kriminalität mit einem Team aus Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten und Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft; oder die verstärkte Einrichtung von spezialisierten Kommissariaten für den Bereich der Organisierten Kriminalität; oder die Verbesserung der Kommissionsfähigkeit – ein Thema, das wir im Zusammenhang mit Lügde diskutiert haben –; oder die Schaffung von Qualifizierungsmöglichkeiten für eine Spezialisierung.

Das alles sind spannende Punkte, die wir diskutieren müssen. Das setzt aber voraus, dass entsprechend Personal zur Verfügung gestellt wird.

Damit, Herr Reul, meine ich nicht, dass man Personal für die Einsatzhundertschaften zur Verfügung stellt, die die Razzien durchführen. Vielmehr meine ich Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die über eine längere Dauer in den Aufbauorganisationen in den Kommissariaten tätig sind.

(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] und Josefine Paul [GRÜNE])

Wenn Ihnen die Bekämpfung der Clankriminalität so wichtig ist, dann reichen, mit Verlaub, Razzien und PR-Termine allein nicht aus. Dann müssen Sie die Behörden im Ruhrgebiet entsprechend mit Personal ausstatten. Das ist Ihre Aufgabe, Herr Reul.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich will auch noch einmal auf Punkt 2 des Zwischenberichts der Bosbach-Kommission eingehen, nämlich: Ausbau der Integrationsbemühungen und Entwicklung von Aussteigerprogrammen. – So steht es im Zwischenbericht der Kommission. Das ist an sich überhaupt keine neue Erkenntnis. Auch der Innenminister hat schon vor Monaten angekündigt, tätig zu werden. Nur: Passiert ist bislang überhaupt nichts.

Wir müssen doch aber gerade diejenigen erreichen, die zum Teil in dritter Generation hier leben, hier geboren sind und kaum Perspektiven haben, weil sie eben nur geduldet sind. Da wissen schon die Kinder im jüngsten Alter, dass sie in der völligen Perspektivlosigkeit aufwachsen werden.

Natürlich – das will ich hier auch noch einmal deutlich sagen – ist Perspektivlosigkeit keine Rechtfertigung für Straftaten.

(Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Aber man kann auch nicht ignorieren, dass Perspektivlosigkeit Kriminalität begünstigt. Deshalb müssen wir da ran.

Ich will hier auch sagen, dass der inflationär verwendete Begriff „Clankriminalität“, der ja zumindest sprachlich alle Familienmitglieder unter Generalverdacht stellt, auch zur Stigmatisierung führen kann. Das finde ich problematisch. Ich finde, Herr Golland, dessen muss man sich dann zumindest bewusst sein.

(Beifall von den GRÜNEN – Michael Hübner [SPD]: Der ist doch gar nicht da! Wo ist denn Herr Golland?)

Herr Reul, Sie haben ja immer angekündigt, Sie wollten ein Aussteigerprogramm machen. Wie gesagt, bisher ist nicht viel passiert. Aber ich glaube, dass der Begriff „Ausstieg“ es auch nicht so wirklich trifft. Es muss doch eigentlich darum gehen, den Einstieg in Kriminalität zu verhindern.

Deshalb meine ich, dass nicht nur Herr Reul gefragt ist, sondern zum Beispiel auch Herr Stamp, der heute auch da ist und hier sitzt. Herr Stamp, ich habe Sie zuerst nicht gesehen; es tut mir leid. Ich habe nach links geguckt, aber Sie sitzen auf der anderen Seite. Es tut mir leid, Herr Stamp, aber schön, dass ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit habe.

(Beifall von den GRÜNEN)

Denn ich finde, es ist Ihre Aufgabe als Integrationsminister, an dieser Stelle für dauerhafte Lösungen zu sorgen, wenn es um diese jungen Menschen geht. Sie müssen dafür sorgen, dass diese jungen Menschen eine Perspektive bekommen.

Eines will ich hier zum Schluss noch einmal festhalten: Der Erfolg Ihres Handelns in diesem Themenbereich bemisst sich nicht an der Anzahl von Razzien, sondern an der Reduktion von Straftaten. Wir haben gerade die Halbzeit der Regierung. Alle schreiben Halbzeitbilanzen. Ich denke, wir dürfen gespannt sein, wann Sie in diesem Bereich dann endlich liefern.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Marc Lürbke [FDP])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Schäffer. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Wagner.

Markus Wagner*) (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon wieder dürfen, nein, müssen wir heute über ausländischstämmige Clankriminelle reden. Wir müssen darüber reden, weil Schwarz, Gelb, Rot und Grün dieses Problem seit den 80er-Jahren importieren, es haben wachsen und gedeihen lassen und nun selbst erschrocken sind ob ihrer desaströsen Fehlleistung auf dem Rücken der Menschen.

Seit Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre, seit 40 Jahren also, wurden und werden die heutigen Clans – bis 2015 vornehmlich Türken und Kurden – über den Weg des Libanon und nun aus aller Herren Länder als angebliche oder tatsächliche Flüchtlinge ins Land gelassen, oft ohne echte oder gar ganz ohne Papiere.

Es waren im Übrigen CDU und FDP, die damals regierten und all das haben entstehen lassen.

Das Hauptoperationsgebiet für diese hochgradig kriminellen Banden ist dabei neben dem Failed State Berlin Nordrhein-Westfalen. Es sind Nordrhein-Westfalens Landespolitiker, die neben der Bundespolitik diese Zustände verantworten, gegen die nun teilweise – sehr teilweise – vorgegangen wird.

Ihr Antragstext, liebe Kollegen von der CDU und der FDP, zeigt ganz deutlich, was Sie nicht sehen, was Sie darum unterlassen und worin wir uns von Ihnen unterscheiden. Es ist nämlich der Faktor der Migration. Darauf könnte man bei ausländischstämmigen Kriminellen eigentlich kommen – Sie leider nicht.

Wir haben aus 40 Jahren gelernt, Sie offenbar nicht. Wir haben daraufhin ein ganzheitliches Konzept, Sie haben polizeiliche Nadelstiche.

Nun will ich ausdrücklich sagen: Nadelstiche sind besser als nichts, und damit ist Herr Reul schon deutlich näher an uns als das rot-grüne Totalversagen, welches sich in Drogendealerdenkmalen oder den Ansichten des grünen Abgeordneten hier im Haus, Herrn Mostofizadeh, niederschlägt, der sich weigert, Clans „Clans“ zu nennen getreu dem Motto: Wir nennen die Clans einfach nicht mehr „Clans“, und schon ist das Problem gelöst.

(Beifall von der AfD)

Gott bewahre uns vor den Grünen in der Landesregierung. Anschaulicher kann man die Wirkungsmechanismen der linken politischen Korrektheit nicht machen. Probleme zu verschweigen, ja, sie zu leugnen, heißt, sie großzumachen.

(Zuruf von Stefan Engstfeld [GRÜNE])

Ich kann Ihnen von der Union nur sagen: Schauen Sie sich genau an, mit wem Sie da das nächste Mal koalieren.

Schlimm ist: Es geht heute alles noch viel schneller als in den 80ern, weil seit 2015 so schnell so viele von den Falschen ohne Steuerung und Begrenzung in unser Land gelassen wurden und bis heute werden. Die alten und neuen Clans erhalten also ständig neuen personellen Nachwuchs.

Denn – damit sind wir bei der nächsten Problemstufe – die Clans aus dem Libanon bekommen nun zunehmend Konkurrenz durch syrische, irakische, albanische und nigerianische Mafiaclans. Waren vor allem die afrikanischen Migranten, die nach 2015 von Frau Merkel und den alten Parteien ins Land geholt wurden, zunächst an der Front als Kleindealer für die Araber unterwegs, kommt es nun zunehmend zu Abkopplungsprozessen.

Wenn Sie dies, wovor wir schon 2015 warnten und dafür als Hetzer und Rechtspopulisten diskreditiert wurden, für rassistisch und übertrieben halten: Im Lagebild des LKA zur Clankriminalität ist auf Seite 24 unter „Perspektiven“ zu lesen:

„Die kriminellen Angehörigen türkisch-arabischstämmiger Familienverbände sehen sich in den letzten Monaten einem Verdrängungswettbewerb um kriminelle Märkte ausgesetzt, der durch Personen mit Herkunft aus Syrien bzw. dem Irak forciert scheint. Diese konkurrierenden Gruppierungen werden – auch vor dem Hintergrund teilweise aktueller Kriegserfahrungen – im Milieu als besonders durchsetzungsstark und gewalttätig wahrgenommen.“

Dieser ständige Zustrom an neuen Migranten aus den clanbildenden Milieus macht zum einen die rein polizeiliche Antwort der Landesregierung zur Sisyphusarbeit für unsere Polizisten. Wird überhaupt mal einer der Kriminellen festgesetzt, strömen über die ungesicherten Grenzen nämlich schon drei neue.

Zum anderen zündet bereits die nächste Eskalationsstufe; denn nun wird es mit den Verteilungskämpfen zwischen den einzelnen ethnisch begründeten Clans losgehen. Ich werde Sie in den nächsten Jahren noch häufiger an diese Warnung erinnern, so wie ich es auch in der Vergangenheit bereits mehrfach getan habe.

Je mehr Sie den Zufluss erhöhen, umso weniger tun Sie für den Abfluss; denn Abschiebungen aus den Clanstrukturen liegen bei nahezu null.

Ihr Versagen produziert zudem Ausländerfeindlichkeit auch denen gegenüber, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen und die wir gern im Land haben und die bereits gut assimilierte deutsche Staatsbürger sind.

(Beifall von der AfD)

Ich fasse zusammen:

Erstens müssen wir unsere Grenzen schützen. Wir müssen wissen, wer da kommt. Wir müssen abweisen, wer unbefugt und mit unlauterer Absicht kommt.

Zweitens müssen wir die polizeilichen Maßnahmen, mit denen Herr Reul richtigerweise begonnen hat, ausweiten, verstetigen und noch kleinteiliger, also für den Delinquenten unangenehmer machen.

Drittens müssen die Sozialämter und Jobcenter angehalten werden, auch im Bereich staatlicher Teilleistungen öfter, genauer und härter zu kontrollieren.

Viertens müssen die Staatsanwaltschaften angewiesen werden, im Regelfall in die Revision zu gehen, wenn das Urteil zu milde erscheint.

Fünftens muss gesetzlich dort nachgeschärft werden, wo es verfassungsrechtlich möglich ist. Das gilt für die Entziehung der Staatsbürgerschaft bis runter ins Strafrecht, wobei ich hier betonen will, ich habe keine Lust darauf, dass wir wegen dieser Leute, die Ihretwegen hier sind, die Freiheits- und Bürgerrechte für alle ungebührlich einschränken.

Sechstens. Abschiebungen: Im KEEAS-Abschluss-bericht heißt es auf Seite 22 – ich zitiere erneut –:

„Es ist als Ergebnis von Experteninterviews im Projekt KEEAS erkennbar geworden, dass repressive Maßnahmen gegenüber notorisch kriminellen Clanmitgliedern nur geringen präventiven Einfluss entfalten. Deutliche generalpräventive und kriminalitätsbegrenzende Wirkungen gegenüber dieser Personengruppe dürften in erster Linie aufenthaltsbeendende Maßnahmen haben.“

Sie sagen es also selbst, handeln aber nicht danach. Wir werden danach handeln. Das bedeutet also, den Zufluss neuer potenzieller Clankrimineller zu verhindern, die, die hier sind, hart ranzunehmen, Stärke zu zeigen und schließlich die, die wir loswerden können, auch tatsächlich rauszuwerfen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Wagner. – Für die Landesregierung hat jetzt Herr Minister Reul das Wort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist hier eine hochinteressante Debatte. Ich würde mir wünschen, viele Menschen würden sie mitbekommen.

Vor 30 Jahren kamen diese Menschen nach Nordrhein-Westfalen, Berlin und in andere Städte und haben clankriminelle Strukturen entwickelt. Keiner hat sich darum gekümmert. Alle haben weggeguckt. Alle haben in der zweiten Phase, in der diese kriminellen Strukturen immer intensiver wurden, gesagt: Das ist schwierig, unangenehm. Es droht Stigmatisierung. Das lassen wir weiterlaufen. – Dann kommt eine neue Landesregierung, kümmert sich darum, und ich muss jetzt erklären, warum ich mich darum kümmere. Das ist ja wohl absurd. Das ist ja wohl absurd!

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Michael Hübner [SPD])

In der ersten Phase der Diskussion vor einigen Wochen erklärte die SPD-Fraktion in Person ihres Fraktionsvorsitzenden,

(Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE])

das sei alles nur Show und dabei käme doch gar nichts raus. Davon ist heute schon mal nicht mehr die Rede. Heute streiten Sie über die Frage, ob die Statistik richtig ist. Meine Damen und Herren, in welchem Film bin ich eigentlich?

(Michael Hübner [SPD]: Sie haben doch die Aktuelle Stunde beantragt! Ihre Fraktion hat die beantragt!)

In welchem Film bin ich hier eigentlich? Sie haben jahrzehntelang nichts gemacht. Das ist Teil 1.

(Vereinzelt Beifall von der CDU – Zurufe von der SPD)

Teil 2: Das Problem ist gravierend, und es muss gehandelt werden. Totschweigen war auf jeden Fall nicht die richtige Antwort.

(Beifall von der CDU und von der FDP – Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

Wir haben ein Lagebild „Clankriminalität“ entwickelt und damit – erstens – das Problem benannt.

(Sarah Philipp [SPD]: Sie hätten gerade mal zuhören sollen!)

Zweitens haben wir begonnen, uns darum zu kümmern. Kein Mensch, auch ich nicht, behauptet, dass wir das Problem damit schon voll im Griff haben. Wenn sich ein Problem 30 Jahre entwickelt hat, geht das auch nicht hoppla hopp, um das mal klar zu sagen. Aber nicht anzufangen, ist noch schlimmer, als anzufangen und Stück für Stück voranzukommen.

Wenn wir heute über Ergebnisse reden dürfen

(Michael Hübner [SPD]: Was denn für Ergebnisse?)

und Sie darüber diskutieren, ob die Statistik von mir mit der des Justizministeriums übereinstimmt, dann wissen Sie doch …

(Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

– Frau Schäffer, bitte brüllen Sie nicht so rum, wenn es geht. Ich verstehe Sie sehr gut.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Ich verstehe Sie sehr genau.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das sagt der Richtige! – Sarah Philipp [SPD]: Was soll das denn?)

– Ich habe doch hier nicht dazwischengerufen.

(Michael Hübner [SPD]: Sie bewerten die Abgeordneten! – Zurufe von der SPD)

Sie wissen erstens, dass die Statistik der Polizei und die Statistik der Justiz in vielen Fällen unterschiedlich sind und gar nicht übereinstimmen.

Zweitens wissen Sie, dass es zwischen einer Eingangsstatistik erfasster Straftaten und einer Ausgangsstatistik Unterschiede gibt. Das wissen Sie doch alles! Das werfen Sie alles durcheinander. Ich habe nie behauptet, dass dies das Ergebnis des Prozesses ist.

Die Zahlen, die hier vorgetragen worden sind und die hochinteressant sind – ich würde sagen, die richtig gut sind –, sind die Eingangszahlen. Sonst überhaupt nichts. Mehr habe ich doch nie behauptet. Aber zwischen null und 10.000 oder 20.000 besteht ein kleiner Unterschied. Genau darauf wollen wir in diesem Zusammenhang hinweisen.

Natürlich ist das zwischen uns, dem Justizministerium und übrigens auch dem Kollegen Stamp abgestimmt, damit Sie da keinen falschen Eindruck haben. Das passiert alles in der Zusammenarbeit. Damit sind wir auch nicht am Ende, sondern das wird weitergehen.

An der Organisation des Ausstiegs arbeitet Herr Stamp übrigens längst. Das betrifft auch eine Frage, die Ihnen möglicherweise nicht so gefällt. Er arbeitet nämlich auch an Abschiebungen. Das heißt, wir sind längst dran, aber wir verkünden immer nur das, was wir fertig haben, und nicht das, was wir demnächst vielleicht machen werden. Wir arbeiten die Sachen systematisch ab.

Dieses 360-Grad-Betrachtungsmodell mit mehreren Säulen ist total richtig:

Erstens sorgen die Nadelstiche für Unruhe. Sie verunsichern die Szene und sorgen dafür, dass wir 360 Razzien hatten und 2.500 Objekte durchsucht haben. 26.000 Personen waren betroffen. – Das gibt Unruhe. Das heißt: Jungs und Mädels, wir haben euch im Blick! – Das Signal an die Bürgerschaft: „Wir kümmern uns darum“, ist vielleicht auch nicht ganz unwichtig.

(Beifall von der CDU)

Ergebnis: 340 Festnahmen, 3.200 Sicherstellungen, 14.000 festgestellte Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. 150 Objekte wurden gleich bei der Razzia dichtgemacht.

Sie können sagen, das ist nicht genug. Von mir aus. Aber es ist mehr als null. Da sind wir uns, glaube ich, auch einig. Sie haben null geliefert. Immer daran denken!

Zweitens fordern Sie eine intensive Bekämpfung der Bandenkriminalität und der organisierten Verbrechen, Frau Schäffer.

Das machen wir doch. Es gibt doch eine Taskforce des Finanzministeriums, Innenministeriums und Justizministeriums im LKA. Meinen Sie, die sitzen da herum und tun nichts? Die arbeiten intensiv. Nur ist das Ermittlungsarbeit, und die geht nicht hoppla hopp, sondern die braucht Zeit.

Die ersten Erfolge konnten Sie übrigens vor zwei Wochen besichtigen, als wir die etwas große Aktion gemacht und große Mengen an Geld aufgedeckt haben. Ich kann Ihnen das alles gerne nennen: Im Rahmen von Hawala-Banking wurden 120 Objekte durchsucht, davon 50 in NRW, mit 212 Millionen Euro an Vermögensarresten, 6,2 Millionen Euro an beschlagnahmtem Bargeld usw.

Die dritte Säule – nur um das zu vervollständigen – ist die, Lösungen zu finden, wie wir Ausstiege hinbekommen. Frau Schäffer, das ist leider viel schwerer, als auch ich gedacht habe. Es ist viel schwerer, weil Sie nicht einfach jemandem sagen können, er solle einfach aussteigen, denn im Unterschied zur Links- und Rechtsszene und zum Islamismus sind das Familienstrukturen, bei denen man sich 33 Mal überlegt, ob man aus solchen sicheren Strukturen herausgeht.

Ich behaupte, wenn da keine Unruhe entfacht wird, wenn Mütter und junge Frauen nicht das Gefühl haben, dass das nicht mehr lange gut geht, dass sich die staatlichen Institutionen jeden Tag um sie kümmern, dass sie mit Polizei, Steuerfahndung und allem anderen unterwegs sind, dann werden Sie keinen Nährboden dafür schaffen, dass Leute sich entscheiden, vielleicht auszusteigen. Ich bin fest davon überzeugt: Das eine bedingt das andere.  

Wir sind da in einem Verbundprojekt mit dem BKA tätig. Wir greifen im Rahmen der Ruhr-Konferenz das Projekt auf. Eben habe ich schon gesagt, Herr Kollege Stamp befasst sich mit dem Thema „Prävention“. Wir werden in Essen einen Single Point of Contact organisieren, also ein Gebäude, eine Stelle, an der all das zusammengeführt wird, sowohl die Bekämpfung – repressive Mittel – als auch der Ausstieg. Wir haben Erfolge erzielt. Ich finde, das Mindeste, was Sie sagen können, ist, dass das, was da passiert ist, ein irrer Fortschritt zu dem ist, was vorher war.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Meine Damen und Herren, noch einmal: Niemand behauptet, dass damit das Problem gelöst ist. Das Problem hat sich über 30 Jahre entwickelt. Wir haben aber angefangen und können erste Erfolge vorweisen, die sich wirklich sehen lassen können. Man darf sich nichts vormachen: Wir befinden uns auf einem Weg, der sehr lang ist, der nicht nach dem Hoppla-Hopp-System bewältigt werden kann.

Herr Kollege, bundesweit arbeiten wir auch zusammen.

Herr Ganzke, Sie haben den Hinweis gegeben, ich hätte mich geweigert, eine Unterschrift zu leisten. Darüber habe ich mich geärgert. Man muss bei der Wahrheit bleiben.

(Zuruf von Hartmut Ganzke [SPD])

Entschuldigen Sie, damit nehmen Sie es doch immer sehr genau. Wir sind damit untereinander bisher immer relativ klar zurechtgekommen. Es ging um die Frage, ob es da eine große Showveranstaltung mit Unterschriften geben soll.

(Heike Gebhard [SPD]: Mit Showveranstaltungen kennen Sie sich doch aus!))

Das mache ich nicht. Genau das mache ich nicht.

(Unruhe – Glocke)

Ich halte nichts von großen Veranstaltungen, auf denen man Unterschriften leistet und erklärt,

(Zuruf von Frank Müller [SPD])

was man alles vorhat, sondern ich bin für Handeln, und deswegen sind wir unterwegs, und zwar jedes Wochenende – an Tagen, in Nächten –, und kümmern uns sehr intensiv um diese Frage.

(Zuruf von Frank Müller [SPD])

Man muss hinzufügen: nicht nur Polizisten, sondern auch Zollbeamte, Finanzbeamte, Mitarbeiter vom städtischen Ordnungsamt und viele andere mehr, die wahnsinnig viel arbeiten.

Anstatt über eine Statistik zu diskutieren oder einzufordern, man müsse das zuerst alles irgendwo erörtern, würde ich den Menschen zuerst einmal Dankeschön sagen. Die gehen an die Grenze dessen, was möglich ist.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zurufe von der SPD)

Ich weiß, dass wir von denen wahnsinnig viel verlangen. Die Polizisten sind aber froh und machen das gerne, weil sie sagen: Endlich können wir uns darum kümmern. Endlich dürfen wir uns darum kümmern. – Das ist das Neue.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Der Minister hat in der Aktuellen Stunde in der ersten Runde die Redezeit um 1:48 Minuten überzogen, obwohl wir andere Regeln haben.

(Unruhe im Hause)

Da in der zweiten Runde jede Fraktion noch einmal die Gelegenheit hat, zu sprechen, bekommt jede Fraktion selbstverständlich die Redezeit zusätzlich.

Der nächste Redner für die SPD-Fraktion ist Herr Kollege Kossiski.

Andreas Kossiski (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Ich lege meinen vorgefertigten Text zur Seite. Herr Reul, ich möchte, bevor ich zum eigentlichen Thema komme, noch etwas sagen. Sie wissen, dass ich Polizeibeamter war und immer noch bin und bei der Arbeit im Innenausschuss eher derjenige bin, der vermittelt. Was ich aber heute hier bei Ihnen gesehen habe, dieses Scheibenwischerzeichen, ist zu viel, Herr Reul.

(Beifall von der SPD)

Ich weiß, dass Sie ein sehr emotionaler Mensch sind, aber bei allem Verständnis: Das geht nicht. Das hat mich persönlich sehr getroffen. Das war gegen den Kollegen Ganzke gerichtet. Das hat er nicht verdient. Das ist eine Sache, auf die ich von Ihnen eine Reaktion in diesem Hause erwarte.

(Beifall von der SPD)

Ich will das Wort „Entschuldigung“ nicht, aber Sie müssen das klarstellen. Das geht nicht.

Sie haben zu Recht angesprochen, dass die Polizeibeamten ihre Arbeit machen. Die machen seit vier, fünf Jahrzehnten eine hochmotivierte Arbeit, egal welche Regierungen es gab, die unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt haben.

Herr Reul, wir haben beide an einer Veranstaltung teilgenommen, auf der Sie den Kollegen genau diesen Respekt – das will ich auch sagen – entgegengebracht haben.

Ich glaube, Sie haben aber auch das erste Mal in meinem Beisein kritische Fragen gehört, und zwar positiv-kritische Fragen in dem Sinne: Was passiert da eigentlich? Welche großen Aktionen werden da gemacht? – Die gleichen Fragen haben wir uns vor fünf Jahren zu den Blitzmarathon-Geschichten stellen lassen müssen. Die Kollegen sind mittlerweile dabei, zu überlegen: Hat das alles Sinn? Oder was passiert danach? – Es kam ein konkreter Vorschlag von einem Kollegen, der gefragt hat: Was ist mit dem Thema „Geldwäsche“? Was ist mit dem Thema „Finanzermittlungen“?

(Zuruf von der CDU)

– Moment, die Frage war an Herrn Reul gerichtet.

Sie haben richtigerweise auf den Bund hingewiesen. Ich möchte da einsteigen und sagen: Das ist unser aller Thema hier im Landtag. Wir müssen es nach vorne bringen. 

Wir brauchen eine europäische Kooperation, wir müssen mit anderen Ländern kooperieren. Es gibt erfolgreiche Modelle. Wir haben uns vor Kurzem in Niedersachsen beim LKA lange mit den dortigen Kollegen unterhalten. Das gibt es überall. Ich glaube, es geht da nicht um Showveranstaltungen, wie Sie das gerade gesagt haben. Ich erwarte vom nordrhein-westfälischen Innenministerium und von Innenminister Reul, dass er diese Aktionen unterstützt und dafür sorgt, dass Geldwäschegesetze, dass europäische Richtlinien, die schon lange in anderen Ländern gelten, umgesetzt werden.

Wir waren vor zwei Jahren mit dem Innenausschuss in Italien. Die italienischen Kollegen haben zu uns gesagt: Warum setzt ihr das nicht um? Was nützt es, wenn ich den Clans die Vordertür eintrete, aber hinten gehen sie mit dem Geld raus?

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Lassen wir endlich das ständige Verweisen, Herr Golland und Herr Lürbke und auch Sie in Teilen, auf die vermeintlichen Fehler der Vorgängerregierung.

(Zuruf von Marc Lürbke [FDP])

Schauen wir gemeinsam nach vorn und arbeiten miteinander.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Herbert Reul, Minister des Innern)

– Herr Reul, über die Frage, wer damit angefangen hat – das ist ein Spiel –, können wir uns lange unterhalten.

Wir reden heute aktuell über die Clans. Wir haben vor fünf Jahren schwerpunktmäßig über die Rocker geredet. Wir haben über die Mafia geredet. Das, was heute der Clan ist, sind morgen wieder die Rocker oder die Mafia. Es gibt keine singuläre Clankriminalität, das ist Teil der Organisierten Kriminalität. Das sagt Ihnen jeder Fachmann und jede Fachfrau.

Deshalb müssen wir Gesamtkonzepte, die hier auch eingefordert werden, umsetzen. Diese 1.000 oder 10.000 Nadelstiche, die möglicherweise auch in Begleitung der Ministerin, der Minister oder einiger Abgeordneter passieren, sind der erste Schritt. Aber das hat alles keinen Wert, wenn die Schritte danach nicht kommen, und die müssen wir entsprechend anpacken. Das erwarte ich von Ihnen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kossiski. – Für die CDU-Fraktion hat jetzt Frau Kollegin Erwin das Wort.

(Michael Hübner [SPD]: Auch für Minister gelten Redelisten!)

Angela Erwin (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ganzke, Liebe Kollegin Schäffer, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Dass es gar keine Definition von Clankriminalität gibt, ist völliger Quatsch.

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Haben wir auch nicht gesagt!)

Ich empfehle Ihnen, einfach mal einen Blick in das Clankriminalität-Lagebild zu werfen.

(Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

Da gibt es einen Punkt 2.2 mit der Überschrift „Definition Clankriminalität“.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Lesen Sie das mal vor! – Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

Da ist ganz klar definiert, welche Straftaten darunter zu fassen sind. – Das aber nur vorweg.

„Die Entschlossenheit der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen die kriminellen Clans ist wirklich beachtlich. Und sie dürfte auch beispiellos sein in der jüngeren Geschichte des Landes.“

(Beifall von der CDU)

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nicht die Worte der CDU, sondern die der „Rheinischen Post“ vom 25. November.

Weiter heißt es in dem Kommentar – ich zitiere mit Ihrem Einverständnis, Frau Präsidentin –:

„NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) scheint im Kampf gegen kriminelle Familienclans Wort zu halten.“

Das, meine Damen und Herren, sehen wir als CDU auch so.

(Zuruf von Michael Hübner [SPD])

Das sehen wir ganz genauso.

(Beifall von der CDU)

Mit dem Beginn der Legislaturperiode hat die schwarz-gelbe Landesregierung den Bürgerinnen und Bürgern Nordrhein-Westfalens das Versprechen gegeben, die Sicherheitspolitik neu zu sortieren, Probleme klar zu benennen und die Unterminierung unseres Rechtsstaats nicht länger zu dulden.

Die CDU hat im Wahlkampf mit Armin Laschet an der Spitze gefordert: NRW geht sicherer. – Den Beweis dafür haben wir in den vergangenen zweieinhalb Jahren angetreten.

Noch sehr gut ist uns in Erinnerung, wie die Nachrichtenlage vor der Übernahme der Regierungsverantwortung durch CDU und FDP war, wie die Schlagzeilen über unser Land gelautet haben. Ich erinnere mich daran – das können Sie alle im Plenarprotokoll nachlesen –, dass sich der damalige Innenminister Ralf Jäger zu einem Antrag der CDU gegen die Ausbreitung von No-go-Areas und gegen kriminelle Familienclans hier im Landtag breitbeinig aufgebaut und von einem subjektiven Gefühl der Menschen statt einer realen Gefahr gesprochen hat.

Die Regierung Kraft hat sich monatelang geweigert, überhaupt ein polizeiliches Lagebild zu kriminellen Familienclans anfertigen zu lassen. Völlig zu Recht bilanzierte die Zeitung „WELT“ im April 2017 ihre Regierungszeit daher wie folgt – ich zitiere erneut –:

„Denn der Tenor der Berichterstattung in NRW lautet ganz überwiegend: Mit der inneren Sicherheit war Rot-Grün überfordert.“

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

(Beifall von der CDU)

Ganz anders geht deshalb die NRW-Koalition gegen diese Phänomene vor. Durch eine konsequente Nulltoleranzstrategie, die Sie im Übrigen bis heute immer wieder kritisieren, verteidigen wir Recht und Gesetz gegen kriminelle Clans und stärken so das Vertrauen der Menschen in die Wehrhaftigkeit unseres Rechtsstaats. Endlich kann nordrhein-westfälische Politik wieder als Vorbild für andere Bundesländer herhalten.

Das zeigt auch der Blick von außen auf unsere Regierung. Der „BAYERNKURIER“ lobte im Mai dieses Jahres – ich zitiere erneut –:

„Das ist vielleicht die wichtigste Lektion aus dem Phänomen der Clankriminalität in Nordrhein-Westfalen: Jahrzehntelange schlechte Politik hat schlimme Folgen für die Menschen. Aber zum Glück haben Wahlen auch Folgen – wenn dann nach dem richtigen Ergebnis eine neue Regierung ... entschlossen handelt.“

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Die „BÄCKERBLUME“!)

Und das tun wir.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 860 Durchsuchungen, mehr als 10.000 festgestellte Straftaten und Ordnungswidrigkeiten – anders als der ehemalige Innenminister halte ich, halten wir das für eine reale Gefahr und nicht bloß für ein subjektives Gefühl der Bürgerinnen und Bürger.

Warum der personalintensive Einsatz gegen Clans richtig und für den Rechtsstaat notwendig ist und daher auch in Zukunft mit gleicher Konsequenz fortgeführt werden muss, bekommen wir an anderer Stelle vor Augen geführt. Wenn andere Länder zuweilen berichten, dass Staatsanwälte im Gerichtssaal Schutz benötigen, weil sie Übergriffe von Clanmitgliedern fürchten, dass Opfer von Clankriminalität keine Anwälte mehr finden, weil diese Angst vor Racheaktionen haben, dass Zeugen in Verfahren bedroht oder bestochen werden, dann ist das ein inakzeptabler Zustand.

(Beifall von der CDU – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Wer bestreitet das denn, Frau Kollegin?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Fälle gibt es. Deshalb müssen wir weiterhin den politischen Willen aufbringen, unseren Rechtsstaat gegen solche Entwicklungen zu verteidigen. Wir senden daher eine klare Botschaft: In NRW gilt das Gesetz des Staates und nicht das Gesetz der Familie.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dafür benötigen wir konsequente Strafverfolgungsbehörden, die in der Lage sind, die kriminellen Clans zu durchschauen. Informationen müssen schnell ausgetauscht, kurze Wege gefunden, aber eben auch neue gemeinsame Strategien entwickelt werden.

So sind wir beispielsweise mit zwei Staatsanwälten vor Ort in Duisburg und in Essen unterwegs, also genau da, wo Clankriminalität lange starken Zuwachs hatte. Diese spezialisierten Staatsanwälte werden von erfahrenen Dezernenten unterstützt und sind eng verbunden mit der Polizei, der Steuerfahndung, dem Zoll, den Agenturen für Arbeit und der kommunalen Verwaltung vor Ort.

Aber nicht nur im Mikrokosmos, sondern gesamtheitlich für das ganze Land befassen sich Staatsanwälte zusammen mit der Polizei und der Steuerfahndung seit Dezember des vergangenen Jahres auch in einer Taskforce speziell mit organisierten Strukturen krimineller Clans.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lange wurde die Bekämpfung der Clankriminalität nicht angepackt; wir haben es heute schon mehrfach gehört. Über drei Jahrzehnte verfestigte Strukturen lassen sich nicht innerhalb weniger Monate durchleuchten und aufbrechen. Aber unser Rechtsstaat ist stark. Unser Rechtsstaat verfügt über die Mittel, die wir benötigen, um den Kampf gegen Clankriminalität engagiert fortzuführen.

Auch die Vermögensabschöpfung bietet beispielsweise ein Mittel, das wir zukünftig noch stärker berücksichtigen sollten. Kriminelle Strukturen aufbrechen, Straftätern das Handwerk legen und Geldquellen austrocknen, so behalten wir die Hoheit über den Rechtsstaat. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Erwin. – Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Abgeordneter Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ehrlich gesagt etwas erstaunt, dass wir in der Aktuellen Stunde in dieser Art und Weise über das Thema reden, aber jetzt tun wir es. Ich möchte einige Argumente aufgreifen, die hier in der Debatte gefallen sind.

Frau Kollegin Erwin, Sie haben eben – ich glaube, wörtlich – gesagt: In NRW gilt das Gesetz des Staates und nicht das der Familie. – Wenn man das betonen muss, Frau Kollegin, dann hat man doch ein Problem mit dem Rechtsstaatsverständnis. Wenn das wirklich in diesem Parlament infrage gestanden hätte, dann müssten wir uns doch alle miteinander fragen, was hier los ist. Ich weise das mit Entschiedenheit zurück, falls Sie das auf andere Fraktionen gemünzt haben. Wenn Sie das für Ihre Fraktion feststellen mussten, ist das aus meiner Sicht ein ziemlich beachtliches Bild, das Sie von Ihrer Fraktion abgeben.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Aber mir ist ein anderer Punkt sehr wichtig. Wir haben es bei der Organisierten Kriminalität – und das ist der Begriff, der im Strafgesetzbuch steht – mit einem Phänomen zu tun, das sich zu meinem Bedauern und zu meinem Erschrecken leider auch in einigen Stadtteilen von Essen in besonderer Weise abspielt. Es geht darum, dass in Familien mit patriarchalen Strukturen, mit Unterdrückung und männlicher Stärke Familienmitglieder, die sich dem entziehen wollen, unter Druck gesetzt werden, wenn sie nicht mitmachen möchten. Es muss Aufgabe des Staates, Aufgabe der Sozialarbeit und aller beteiligten Gruppen sein, das zu unterbinden und die zu stärken, die genau darunter leiden, und nicht, hier mit Parolen auf dicke Hose zu machen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Herr Innenminister Reul, Sie haben uns – gerade die grüne Fraktion – ganz klar an Ihrer Seite, wenn Sie dafür sorgen, dass Recht und Ordnung eingehalten werden.

(Zurufe von der CDU und der FDP)

Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn Polizistinnen und Polizisten dafür sorgen, dass Straftaten bekämpft werden.

Und Sie haben uns auch ganz klar an Ihrer Seite, wenn es um die Verstärkung von Personal geht, wenn das nicht funktionieren sollte. Das stellen wir auch mit keiner Silbe infrage.

Fragen haben wir aber zum Umgang mit der Begrifflichkeit. Da kann ich nur den Lagebericht selbst zitieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Darin steht:

„Der Begriff ‚Clankriminalität‘ ist nicht legal definiert. Auch auf polizeifachlicher Ebene besteht weder im Bund noch in den Ländern ein einheitliches Verständnis darüber, welche Kriterien einen

– sogar hier in Anführungszeichen –

‚Clan‘ ausmachen, ab wann eine Gruppierung dem zuzurechnen ist und welche Phänomene und Sachverhalte unter ‚Clankriminalität‘ zu subsumieren sind.“

Nichts anderes hat Frau Schäffer hier in ihrer sehr sachlichen Rede vorgetragen.

(Dr. Christos Georg Katzidis [CDU]: Weiterlesen!)

– Was?

(Erneut Zuruf von Dr. Christos Georg Katzidis [CDU] – Gegenruf von der SPD)

– Herr Kollege, „nicht legal definiert“ wird auch später nicht definiert. Was Sie machen, ist eine sozialwissenschaftliche Definition, aber keine rechtliche Definition. Das ist der große Unterschied.

Deswegen, Herr Kollege Katzidis, komme ich auch auf das zu sprechen, was im Rechtsausschuss gelaufen ist.

(Zuruf von der CDU)

Herr Minister Reul, uns liegt ein Bericht des Rechtsausschusses vom 20. November vor. In der Sitzung wurden die Fragen gestellt: Wie viele Ermittlungsverfahren laufen zurzeit gegen Clanmitglieder? Bei welcher Staatsanwaltschaft wurden diese Ermittlungsverfahren geführt? – Es gab noch viele weitere Fragen. Die Antwort lautete: Im Übrigen liegt noch keine valide Grundlage für eine umfassende Beantwortung der aufgeworfenen Fragen vor. – Sie haben keine Grundlagen, diese Fragen zu beantworten, suggerieren aber dem Parlament, auf Basis von Grundlagen zu agieren. Das ist doch absurd, Herr Minister Reul.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich bin ganz froh, dass eine Fraktion in diesem Haus etwas aufgegriffen hat, was auch die Junge Union Essen versucht hat, nämlich Personen zu titulieren; denn es könnte um Wahlniederlagen im Ruhrgebiet gehen. Ich kann nur davor warnen, dieses Thema dafür zu missbrauchen, rechtslastigen Tendenzen und der Diffamierung Vorschub zu leisten. Da werden weder CDU noch SPD noch Grüne gewinnen, sondern eine ganz andere Gruppierung.

(Zuruf von der AfD)

Ob das im Sinne derjenigen ist, die im Ruhrgebiet leben, das wage ich zu bezweifeln.

Ich kann nur dazu raten – und ich werde in den nächsten Monaten alles dafür tun, dass es so kommt –, dass wir uns mit hohem Engagement diesem Problem stellen, dass wir uns mit hohem Engagement damit auseinandersetzen, und zwar sachlich, vernünftig und präzise.

Aber was ich und meine Fraktion ganz bestimmt nicht mitmachen werden – deswegen bin ich Frau Schäffer dankbar für ihren sehr sachlichen Beitrag –: Sippenhaft, Diffamierung und Ausgrenzung wird es mit der Grünenfraktion definitiv nicht geben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Mostofizadeh. – Für die Fraktion der FDP hat nun Herr Abgeordneter Lürbke das Wort.

Marc Lürbke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Widersprüchlichkeit in dieser Debatte ist stellenweise schon echt grenzwertig.

(Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Wenn man sich wirklich einmal fragt, warum in den letzten Jahren in dem Bereich „Clankriminalität“ nichts oder nicht viel passiert ist, dann, glaube ich, haben die Redner von SPD und Grünen heute einen wunderbaren Beweis dafür geliefert.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie suchen nach Ausflüchten. Dem einen fehlt die Definition, dem anderen fehlt dann wieder die Statistik, Herr Kollege Ganzke. Wir haben doch jetzt die Staatsanwälte vor Ort.

(Hartmut Ganzke [SPD]: Ja!)

– Jetzt monieren Sie das. Ich weiß nicht genau, was Sie wollen. Wollen Sie Sonderabteilungen bei den Staatsanwaltschaften, oder wie soll das dann gehen? Wenn jemand einen Betrug begeht, dann landet das im Betrugsdezernat. Wenn es um Raub geht, läuft es unter „Raub“, bei Vermögen unter „Vermögen“. Wie wollen Sie es denn machen? Das alles wird doch mittlerweile konsequent gemacht.

Wenn Sie gestern bei der Haushaltsdebatte zu dem Bereich „Justiz“ zugehört hätten, hätten Sie erfahren, dass wir ihn massiv verstärkt haben. Hier passiert unglaublich viel. Es wäre schön, und es stände Ihnen gut zu Gesicht, wenn Sie anerkennen würden, dass hier wirklich viel passiert.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Frau Kollegin Schäffer, Sie kritisieren die Anzahl der Razzien und erklären, das allein sei kein Erfolg. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man nichts macht, wenn man gar nicht beginnt, dann wird man definitiv keinen Erfolg haben. So war leider Ihre Politik.

Sprechen Sie doch mal mit den Beamten vor Ort, sprechen Sie mit den Beamten des LKA.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das sind Freunde von mir! Die wohnen bei mir in der Nachbarschaft!)

Immer wieder kam: Ja, aber es fehlt die Strategie. – Das sind doch Ausflüchte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn man nichts mehr weiß, sagt man: „Es fehlt die Strategie“, auch wenn man eigentlich gut findet, was in dem Bereich passiert.

Sprechen Sie mal mit den Beamten vor Ort. Überall werden das Vorgehen

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Herr Lürbke, die wohnen bei mir nebenan!)

und die klare Nulltoleranzstrategie doch begrüßt.

(Gordan Dudas [SPD]: Nein, das ist falsch!)

Es gibt so viel Zuspruch auch im Lager der Beamten, dass das Thema nun endlich gezielt angegangen wird.

Wie der Minister gesagt hat: Anstatt hier zu kritisieren, fände ich es gut, wenn wir alle ein Signal des Dankes an unsere Beamtinnen und Beamten senden würden für den Job, den Sie dort machen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Michael Hübner [SPD]: Das hat Andreas Kossiski sehr deutlich gesagt!)

Frau Kollegin Schäffer, dann haben ich Sie gerade jammern gehört: das Aussteigerprogramm. – Ich habe in meinem Redebeitrag in der ersten Runde ja auch gesagt, dass wir da etwas benötigen. Sie kritisieren jetzt, dass es noch nicht da ist. Der Minister wäre sehr froh gewesen, wenn er dazu in seinem Ressort etwas vorgefunden hätte, wenn da etwas gewesen wäre, auf dem er hätte aufbauen können.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dann wären wir heute vielleicht noch weiter, als wir es gerade sind. Wenn wir das Problem der Clankriminalität lösen wollen, müssen wir offen, kreativ und offensiv darangehen.

Noch einmal zu den Staatsanwälten vor Ort: Wir haben uns doch angeschaut, wie man in Italien gegen die Mafia oder in Berlin-Neukölln gegen Clankriminelle vorgeht. Nach diesen Vorbildern wurden die Staatsanwälte vor Ort eingesetzt. Das ist doch etwas Neues. Vielleicht ist es erst einmal ungewöhnlich, weil man die Namen, die Gesichter, die Hintergründe der Staatsanwälte ja nicht kennt. Bei neuen Herausforderungen muss man sich auch an neue Ideen herantrauen, und das ist gut.

Das Gleiche gilt für die Frage, Frau Schäffer – das kam bei Ihnen gerade durch –, wie man Organisierte Kriminalität durch eine vielleicht noch bessere Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden bekämpfen kann. Auch da passiert längst sehr viel.

Das ist ein ungemütliches Thema, aber es ist kein Tabuthema, und es gehört ganz sicher ohne Vorverurteilung in die öffentliche politische Debatte. Aber wie gesagt, hier geschieht längst sehr viel. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen erwarten zu Recht von ihrer Landesregierung,

(Michael Hübner [SPD]: Das ist für Sie vielleicht neu, für uns nicht!)

dass Probleme angegangen und gelöst werden und man sich nicht wegduckt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Jetzt hören wir von Ihnen zig Vorschläge, was man nicht alles machen müsste, was man nicht alles machen sollte.

(Michael Hübner [SPD]: Sie haben die Aktuelle Stunde beantragt!)

Damit stellen Sie nur eins unter Beweis: Wenn Sie heute noch regieren würden, dann wären wir keinen Schritt weiter bei der Bekämpfung der Clankriminalität.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie würden sich weiter hinter Ausflüchten verstecken,

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Was haben Sie denn jetzt in der Sache dazu beigetragen? – Zuruf von der SPD: Null! Dafür hätte es keine Aktuelle Stunde gebraucht!)

und das wäre ein Bärendienst für die innere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Lürbke. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD Herr Kollege Beckamp das Wort. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Roger Beckamp (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Mostofizadeh, ich habe bei Ihrer traurigen Rede eben sehr geweint. Die Clans müssen ja ungemein viel mitmachen, die Ärmsten. Wo kann ich spenden? Herr Mostofizadeh, in welcher Li-La-Laune-Welt leben Sie, wenn Sie von Clans nicht einmal sprechen wollen? Das ist absurd.

Aber die Vorredner reden immerhin davon. Sie reden von Statistiken, von großen Zahlen. Das Rampenlicht ist erst einmal gut. Aber was ist mit den vielen kleinen Gemeinheiten und Übergriffen, die kaum oder gar nicht bemerkt werden, liebe CDU, die einfach passieren, jeden Tag, an ganz vielen Orten, und die keiner mitbekommt? Die stehen nämlich gar nicht in der Statistik. Dazu zwei kurze Geschichten:

Die erste Geschichte habe ich der Presse entnommen. Sie beginnt mit einem Müllmann, der leider im falschen Stadtviertel einen im Wege stehenden Autofahrer auffordert, seinen Wagen doch bitte beiseitezufahren. Der prügelt den Müllmann daraufhin mithilfe einiger Brüder grün und blau, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass im Falle einer Anzeige noch mehr Brüder und Cousins dem Müllmann den Rest geben würden. Das, was unserem Müllmann passiert ist, stößt auch immer mehr Leuten in NRW und darüber hinaus zu.

Die zweite Geschichte habe ich mir diese Woche selbst erzählen lassen

(Michael Hübner [SPD]: Selbst ausgedacht!)

in einer Stadt im Ruhrgebiet, von Leuten, die früher vielleicht mal SPD gewählt haben, lange her. Ich war bei einer behinderten Dame. Sie hat sich bei mir gemeldet, weil sie sich Luft machen wollte. Sie erträgt es nicht mehr. Sie möchte in einem Video zu ihren Umständen sprechen. Sie möchte erzählen, wie sie immer wieder von Zigeunergruppen

(Zuruf von der SPD: Ich glaube, das Wort gibt es nicht! – Michael Hübner [SPD]: Das ist eine Schande für dieses Parlament!)

beschimpft, geschlagen und gedemütigt wird – immer wieder in ihrem Wohnort, wenn Sie nach draußen geht.

(Andreas Keith [AfD]: Sie sind eine Schande! – Michael Hübner [SPD]: Sie sind eine Schande!)

Sie will davon reden, wie sie von ihnen im Rollstuhl umgekippt und liegen gelassen wird. Sie möchte darüber sprechen, wie sie von arabischen Männern festgehalten wird, ihrer Jacke beraubt, ins Gesicht getreten wird, wenn sie am Boden liegt.

(Zuruf von der AfD: Hören Sie zu, was den Menschen auf der Straße passiert!)

Sie will berichten, wie sie im Park überfallen wird, wie ihr das Handy abgenommen wird. Sie möchte kundtun, was die Polizei dazu sagt, Herr Reul, und zwar mehrfach – Zitat –: Dann gehen Sie nicht mehr alleine raus.

Aber was bleibt dieser Frau? Sie ist alleine und schwach, und sie hat Angst, wenn sich ihr von hinten Schritte schnell nähern. Das geht vielen, das geht immer mehr Menschen gerade in Stadtvierteln im Ruhrgebiet so.

Nein, das denke ich mir nicht aus. Nein, das ist kein Einzelfall. Das ist eine Geschichte von vielen, die mir erzählt wurde – komischerweise vielleicht auch Ihnen, aber Sie hören nicht zu, oder Sie wollen es nicht wahrhaben.

Was hat das mit Clans zu tun? – Alles. Denn es geht um kulturellen Ursprung. Es geht um familiären Zusammenhalt und um örtliche Machtansprüche. Es geht hier nicht um die großen Taten, um Statistiken, um spektakuläre Taten, um Raubzüge, um Gruppenvergewaltigungen. Das Problem dabei sind nicht nur diese Taten, die natürlich stattfinden, das Problem sind auch die Dinge, die nicht mehr stattfinden, weil Frauen Angst haben, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, weil Schulkinder Angst haben, zur Schule zu gehen,

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Das Problem sind die Leute, die meinen, immer mehr neue Sensationen zu erzählen!)

weil all die Rechtschaffenden – ob Deutsche oder Ausländer, völlig egal – Angst haben, sich zu gewissen Uhrzeiten in bestimmten Vierteln zu bewegen. Wenn es Abend wird, dann gehört die Straße anderen. Die Menschen passen sich an: in den Schulen, in der Wahl der Gegend, wie man sich im öffentlichen Raum bewegt.

Es geht diesen Clans um Raumnahme, Herr Reul. Sie wollen bestimmen, wie Sie selber am Beispiel der Stadt Essen ausgeführt haben, was auf der Straße gilt. Das stimmt.

Aber was sagen Sie den 14-jährigen Jungs, die von irgendwelchen Clanmitgliedern drangsaliert werden, abgezogen werden, denen die Jacke oder das Handy weggenommen werden, die gedemütigt werden? Was sagen Sie der Frau im Rollstuhl? Was soll sie tun? Soll sie zu Hause bleiben? Soll sie wegziehen? Soll sie hoffen, dass es irgendwann vorbei ist? Was tun Sie da? Denken Sie, SPD und Grüne, überhaupt darüber nach?

Diese Strukturen, diese Clangesellschaften machen Deutschland bunter, vielfältiger und weltoffener. Die meisten von Ihnen nennen das „multikulti“. Gemeint ist der Zerfall der Gemeinschaft in Parallel- und Gegengesellschaften. Nicht jeder fühlt sich davon bereichert.

Aber wer das anspricht, ist schnell der Fremdenfeind, und der Überbringer der Nachricht ist das eigentliche Problem. Gleichzeitig – hören Sie zu – bilden sich schon die nächsten Clans mit Zuwanderern aus Syrien und dem Irak.

Unser Zusammenleben basiert auf der Annahme, dass sich größtenteils alle an die Regeln halten. Mit wenigen Abweichlern wurden wir schon fertig. Aber das funktioniert nicht mehr. Unser Zusammenleben steht auf der Kippe, wenn Schafe mit Wölfen über das Abendessen abstimmen. Genau das ist der Fall in diesen Sachen.

(Zuruf von der SPD: Sie sind wirklich eine Schande für das Parlament!)

Die Leute nehmen sich, was sie wollen, auch mit Gewalt – genauso ist es. Da helfen keine neuen Polizeihelme, kein Antispuckschutz für die Polizei und auch keine Vermögensabschöpfung.

(Marc Herter [SPD]: Wenn Menschen als Tiere bezeichnet werden, ist die Grenze überschritten!)

Leute, die das nicht wollen und die nicht integriert werden können, sind immer noch hier. – Warum sind sie noch hier, Herr Herter? Warum denn? Weil Leute wie Sie sie hierhin geholt haben und sich darum kümmern.

(Zurufe von der SPD)

Aus den Fehlern der Vergangenheit sollte angesichts der anhaltenden Migration dringend gelernt werden. Wenn die Flüchtlinge, die jetzt kommen, ähnliche Clanstrukturen aufbauen – bestärkt durch den Familiennachzug –, dann ist dieser Kampf verloren.

(Beifall von der AfD – Zurufe von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Das war der Abgeordnete Beckamp für die Fraktion der AfD.

Bevor ich jetzt gleich Herrn Minister Reul das Wort für die Landesregierung gebe, möchte ich allgemein noch einmal daran erinnern, dass wir hier in diesem Parlament die Tradition haben, unterschiedliche Standpunkte argumentativ zu vertreten. Alle miteinander sollten bitte darauf achten, was die Wortwahl bei Zwischenrufen und vom Rednerpult aus angeht.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Herr Minister Reul, Sie haben das Wort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung, damit Sie da nicht auf dem falschen Dampfer sind: Es gibt für den Clanbegriff keine Formulierung im Strafgesetzbuch – übrigens auch nicht für Organisierte Kriminalität.

Zweitens. Wir haben eine sehr aufgeregte Debatte. Das ist nicht gut. Daran bin ich auch beteiligt gewesen, das stimmt. Ich möchte an einer Stelle direkt Klarheit herstellen: Wenn meine Handbewegung Sie verletzt haben sollte, Herr Ganzke, bitte ich um Entschuldigung. Das war Teil dieser Aufgeregtheit und nicht in Ordnung.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Bitte verstehen Sie mich: Ich habe dieses Amt übernommen und bin ein Problem – Clankriminalität – angegangen, das seit 30 Jahren nicht bearbeitet worden ist. Wenn dann der Vorwurf kommt, das sei alles nur Show

(Zuruf von der SPD)

und dabei käme nichts raus, oder wenn andere hier eine Debatte anfangen, ob die Definitionen richtig sind, dann platzt mir der Kragen, weil das Problem sehr gravierend ist. Die Leute wollen, dass wir das Problem lösen, und zwar bestmöglich.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD)

Ich beanspruche überhaupt nicht, dass alles das, was wir machen, schon genug ist. Aber wir machen das, was im Rahmen des Rechtsstaats möglich ist. Wir machen das mit Augenmaß, Geradlinigkeit und Konsequenz. Deswegen sind die 1.000 Nadelstiche natürlich wirkungsvoll und die Ergebnisse ein Erfolg. Dazu gehört auch – das bitte ich zu beachten –, dass die Taskforce sehr intensiv arbeitet und in einem Teil jetzt schon Erfolge hat.

Drittens. Bei der Frage der Gesetzesinitiativen sind wir natürlich unterwegs, Stichwort „Geldwäsche“. Aber da sind wir nur ein Teil von mehreren. Da können wir uns einbringen – nächste Woche ist IMK. Sie können sicher sein: Bei all diesen Gelegenheiten wird das von mir und allen Mitarbeitern in den unterschiedlichen Arbeitskreisen immer wieder angesprochen und vorgetragen.

Vorletzte Bemerkung: Ich finde, Frau Erwin hat zu Recht gesagt, dass es nötig ist, zu betonen, dass hier nicht das Recht der Familie gilt, sondern das Recht des Staates. Das ist keine Belehrung ihrerseits, sondern das ist eine wichtige Ansage in die Szene hinein. Denn offensichtlich haben die Menschen, die wir meinen, jahrzehntelang geglaubt, das Recht der Familie könne bestimmen, was auf der Straße in Essen los ist. So haben sie sich auch verhalten. Deswegen muss man ihnen erstens sagen: „Hier gilt das Recht des Staates“ und zweitens: Wir zeigen das auch. – Das ist der Sinn dieser ganzen Maßnahmen.

(Beifall von der CDU)

Last, but not least: Ein Kollege hat davor gewarnt – vielleicht habe ich ihn falsch verstanden –, dass man mit solch einer Politik und solch einer Sprache Rechtstendenzen Vorschub leisten könnte. Ich hoffe, er hat mich nicht gemeint, sonst gäbe es ein bisschen Ärger. – Danke.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP – Zuruf von der SPD: Das gibt‘s doch nicht! – Sarah Philipp [SPD]: Jetzt hat er sich gerade entschuldigt, und jetzt legt er wieder nach! – Weitere Zurufe)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Reul. – Es hat jetzt in der nächsten Runde der Aktuellen Stunde für die Fraktion der CDU der Abgeordnete Golland das Wort.

Gregor Golland (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon ein bisschen erschrocken. – Herr Mostofizadeh, Sie haben es immer noch nicht verstanden. Sie diskutieren hier über Legaldefinitionen. Es gibt auch für den Klimawandel keine Legaldefinition, aber trotzdem leugnen wir ihn nicht. Was soll der Blödsinn? Das Problem ist immanent, es ist täglich auf den Straßen zu erleben.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP und der AfD)

Diese Erniedrigungen, diese Demütigungen, dieses Macht- und Machogehabe, das die Menschen erleben, ist das, was den Leuten wirklich und zu Recht auf den Zeiger geht, wovor sie Angst haben, wovon sie sich bedroht fühlen und weshalb sie fragen, was der Rechtsstaat macht. Das befördert radikale Tendenzen auf Dauer, und deswegen müssen wir da so entschlossen reingehen. Es ist doch kein Selbstzweck, gegen Clans zu kämpfen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Im Übrigen weichen Sie jetzt aus. Sie merken, im Innenbereich finden Sie kein Pack-an mehr, weil wir das tun, was die Menschen von uns erwarten und wofür wir gewählt worden sind. Sie versuchen, es auf den Rechtsbereich, auf die Justiz zu schieben und fragen nach Verurteilungen. Ja, die werden kommen, aber dafür muss man die Täter erst einmal schnappen.

Die vor einem Jahr eingerichtete Taskforce hat grandiosen Erfolg, zumindest wenn man den Berichten glauben kann, bei dem sogenannten Hawala-Banking. Da werden Millionenbeträge, wahrscheinlich aus illegalen Quellen, verschoben, und das hat bisher keiner mitbekommen. Das sind übrigens Steuergelder, die uns in Kindergärten und Schulen am Ende fehlen. Deswegen müssen wir ganz entschlossen und mit allen Mitteln, die wir haben, dagegen vorgehen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Der Kampf gegen Clankriminalität ist lang und steinig; es gibt keine schnellen und einfachen Lösungen. – Das sagt der Minister, seit er Minister ist. Wir werden noch mehr in die Sicherheitsbehörden investieren müssen, in Technik, Ausrüstung und Personal bei Polizei und Justiz.

Wir müssen auch immer wieder prüfen, ob die rechtlichen Mittel ausreichend sind. Das Verfolgen und Austrocknen der Geldströme ist extrem wichtig; ich habe es gerade erwähnt. Der Kampf gegen Geldwäsche und der Entzug des Vermögens sind entscheidende Schritte, die den Clans den Spaß verderben und das Geschäft versauen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das muss unser Ziel sein, meine Damen und Herren, ebenso wie das noch häufigere und konsequentere Abschieben der Täter in ihre Heimatländer, wie zuletzt in Bremen geschehen. Das schreckt wirklich ab und wirkt nachhaltig, auch wenn manche wieder zurückkehren.

Wir werden jetzt auf Bundesratsebene sowie im Deutschen Bundestag über die Schließung von Gesetzeslücken debattieren, damit solche Leute nicht wieder einreisen können, direkt in Haft genommen und wieder abgeschoben werden und Ihnen auch die Kosten dafür in Rechnung gestellt werden können.

Das Signal darf man nicht unterschätzen, wenn der oberste Clanboss plötzlich klein beigibt und sagt: Ich bin doch ein netter Kerl, man behandelt mich hier nur schlecht. Ich möchte so gern in meine Heimat zurückkehren, die ich vorher mit Füßen getreten habe.

Das Signal an diese Truppe ist wichtig. Sie müssen wissen, dass sie sich in diesem Rechtsstaat nicht benehmen können, wie sie wollen. Deswegen werden wir entschlossen dagegen vorgehen.

(Beifall von der CDU)

Aber – das sage ich Ihnen auch ganz klar – neben repressiven Maßnahmen bedarf es auch präventiver Konzepte, um ein Abdriften insbesondere junger Menschen in die Kriminalität zu verhindern. Das ist eine Aufgabe für uns alle.

Dabei geht es um Bildung, Teilhabe, Förderung und Forderung. Zudem bedarf es der Möglichkeit des Ausstiegs aus diesen Strukturen. Wir brauchen ein wirksames Aussteigerprogramm, welches aufgrund der familiären Bindung ungleich schwieriger umzusetzen ist als vergleichbare Programme gegen links und rechts.

Wir haben heute diese Aktuelle Stunde beantragt, weil die Bekämpfung der Clankriminalität erste Erfolge zeigt und wir sehen, dass die Szene zunehmend verunsichert wird und deutlich zurückhaltender auftritt als in der Vergangenheit. Das sehen Sie ganz deutlich an der Reduktion der sogenannten Tumultdelikte. Das ist wichtig für das Vertrauen der anständigen Bürger in diesem Rechtsstaat.

Das Thema „Clankriminalität“ geht über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus. Es ist ein bundesweites Thema mit regionalen Schwerpunkten. Die Sicherheitsbehörden in Deutschland müssen sich deswegen vernetzen und zusammenarbeiten. Sie müssen sich über ihre Erfahrungen austauschen.

Die enge und stetige Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern ist hilfreich, sinnvoll und notwendig. Es gilt, voneinander zu lernen und gemeinsam die Kräfte zu bündeln und zu stärken.

Das Landeslagebild Clankriminalität wird fortgeschrieben und liefert wichtige Beiträge zum Bundeslagebild; Nordrhein-Westfalen ist schließlich seit zweieinhalb Jahren Vorreiter im Kampf gegen kriminelle Clans.

Zusammen mit unserem liberalen Koalitionspartner haben wir die Balance von Freiheit und Sicherheit gehalten, die sich im Übrigen beide bedingen: Freiheit und Sicherheit gehören zusammen.

Zusammen mit der SPD hat die Nordrhein-Westfalen-Koalition ein modernes und effektives Polizeigesetz verabschiedet, das den Beamten auf der Straße täglich hilft. Lieber Hartmut, das hättest du als positives Beispiel erwähnen können.

(Beifall von der CDU)

Es ist unsere gemeinsame Pflicht, denen den Rücken zu stärken, die ganz vorne für die Einhaltung von Recht und Gesetz sorgen und dafür bedroht, beleidigt und angegriffen werden: unseren Polizisten, unseren Justizbeamten und allen anderen, die für Sicherheit und Ordnung einstehen.

Wir danken ihnen und stehen hinter ihnen in ihrem Kampf gegen aggressive Clans und jeden, der unsere Gesellschaft, unsere Regeln und unseren Staat infrage stellt.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Wir setzen unseren konsequenten Nulltoleranzkurs fort, jetzt und in Zukunft. – Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Golland. – Außer vonseiten der Landesregierung liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor. Dann hat nun Herr Minister Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp*), Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Schäffer hatte mich vorhin persönlich angesprochen; deshalb möchte ich gern darauf antworten.

Herbert Reul und ich sind in engem Austausch, weil wir eine große Herausforderung vor uns haben. Es geht nämlich auch um die Akzeptanz einer funktionierenden, offenen Gesellschaft.

Deswegen setzen wir unseren Kurs in Sachen Clankriminalität fort, schaffen verlässliche Bleiberechte für diejenigen, die gut integriert sind, und schieben diejenigen konsequent ab, die unsere Gesellschaft kaputtmachen, soweit dies möglich ist, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es ist völlig richtig, dass wir es hier mit Strukturen zu tun haben, die besondere Maßnahmen verlangen, sowohl was die Repression als auch die Integration angeht.

Wir sind beispielsweise mit der Stadt Essen im Gespräch, denn auch in diesen Strukturen gibt es Leute, die sich lösen und denen wir daher Perspektiven bieten wollen. Genau daran arbeiten wir, und das ist, wie gesagt, der Kurs unserer Regierung.

Wir haben im Rahmen unserer Kampagne #IchDuWirNRW eine Veranstaltung durchgeführt, in der wir mit vielen gesprochen haben, die bedauert haben, dass sie von einer Kettenduldung betroffen waren. Sie haben uns um Unterstützung gebeten, um aus dieser Situation herauszukommen. Daran arbeiten wir.

Allerdings muss auch klar sein, dass derjenige, der sich in unserer Gesellschaft nicht an die Spielregeln hält, den Rechtsstaat in aller Härte zu spüren bekommt. – Danke schön.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, weiter Wortmeldungen liegen mir nicht vor, sodass wir am Schluss der Aussprache sind. Damit ist die Aktuelle Stunde abgeschlossen.

Wir kommen zu:

4   Gesetz zur qualitativen Weiterentwicklung der frühen Bildung

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/6726 – Neudruck

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend
Drucksache 17/7934 – Neudruck

dritte Lesung

Änderungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/8024

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7968

Entschließungsantrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7969

Ich darf hierzu nun die Aussprache eröffnen und für die Fraktion der CDU Herrn Abgeordneten Kamieth das Wort erteilen. Bitte sehr.

Jens Kamieth (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die SPD-Fraktion hat für den heutigen Tag eine dritte Lesung für das neue Kinderbildungsgesetz beantragt. Bereits gestern haben wir uns in der zweiten Lesung über die von SPD und Grünen zu verantwortende strukturelle Unterfinanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung

(Michael Hübner [SPD]: Nee, nee, nee!)

in unserem Land ausgetauscht.

(Michael Hübner [SPD]: Wir machen die dritte Lesung, damit Sie es heute lernen!)

Wir haben besprochen, dass deswegen die Trägervielfalt und die Qualität der frühkindlichen Bildung akut gefährdet wurden.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Bis wann gilt das noch? – Drei Haushalte dahinter!)

Mit den folgenden Maßnahmen – ich wiederhole mich da gerne, auch für Sie, Herr Mostofizadeh – verbessern wir die frühkindliche Bildung bei uns im Land ganz konkret:

deutlich höhere Kindpauschalen, mehr Mittel für Familienzentren, mehr Mittel für die alltagsintegrierte Sprachförderung, angehobene Zuschüsse für die Kindertagespflege, mehr Geld für Fortbildung und Qualifizierung, Mittel für die bedarfsorientierten Öffnungszeiten, eine Kita-Platz-Ausbaugarantie und ein weiteres elternbeitragsfreies Kindergartenjahr sowie last, but not least, verbesserte Arbeitsbedingungen für Erzieherinnen und Erzieher zum Beispiel durch Leitungsfreistellung.

Meine Damen und Herren, die finanziellen Investitionen sind der eine Aspekt. Um es an dieser Stelle noch einmal zu sagen: Es sind jährlich 1,3 Milliarden Euro zusätzlich an Bundes-, Landes- und Kommunalmitteln, davon rund 1 Milliarde Euro allein für mehr Qualität in der frühkindlichen Bildung.

Ein anderer Aspekt, der uns und mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt, ist die Stärkung von Demokratie und Partizipation von Anfang an. Deswegen haben wir mit § 16 des neuen Kinderbildungsgesetzes klargestellt, dass in Zukunft die altersgerechte Einbindung in Entscheidungsprozesse zur Bildungs- und Erziehungsarbeit obligatorisch ist.

Das neue KiBiz stellt klar, dass zum Wohle der Kinder und zur Sicherung ihrer Rechte geeignete Verfahren zur Beteiligung und Mitbestimmung vorzusehen und zu praktizieren sind. In einigen Kitas zum Beispiel bei den Johannitern wird dies bereits heute vorbildlich praktiziert.

Unser Ziel ist es, dass dieses Modell zukünftig in allen Kitas in Nordrhein-Westfalen gelebt wird. Damit wollen wir einen Beitrag dafür leisten, dass schon unsere Kleinsten das Rüstzeug an die Hand bekommen, um sich zu selbstbestimmten Persönlichkeiten in einer demokratischen, offenen und toleranten Gesellschaft zu entwickeln.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, auch wenn die Meinungen an der einen oder anderen Stelle auseinandergehen, bin ich mir doch sicher, dass über die Sinnhaftigkeit dieses Punktes in diesem Hohen Hause weitgehend Einigkeit herrscht.

Partizipation und Mitbestimmung sind zwei ganz wesentliche Schlüsselbegriffe im Zusammenhang mit der Entstehung des neuen Kinderbildungsgesetzes. Um Ihnen dies zu veranschaulichen: Unser Familienminister Dr. Stamp hat mit der Berufung eines KiBiz-Beirates Expertinnen und Experten aus der Praxis eng eingebunden.

(Wolfgang Jörg [SPD]: Das war eine Zahnarztpraxis!)

CDU und FDP haben zwei große Werkstattgespräche durchgeführt. An diesen haben Hunderte von Praktikerinnen und Praktikern teilgenommen und gemeinsam mit uns diskutiert. Die Fraktionen von CDU und CSU haben ebenfalls einen sehr transparenten und partizipativen Weg hin zu einem neuen Kinderbildungsgesetz gewählt.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Da hat sich auch nichts geändert, ne?)

Selbstverständlich haben Dutzende, wenn nicht gar Hunderte Gespräche mit allen Beteiligten hier bei uns im Landtag – herzlichen Dank an meine Mitstreiter im Arbeitskreis –, in vielen Wahlkreisen vor Ort und damit in ganz Nordrhein-Westfalen stattgefunden.

(Beifall von Christina Schulze Föcking [CDU])

Wir sind dankbar für all die vielen guten Hinweise und haben zahlreiche Anregungen aus der Praxis aufgenommen, um das neue KiBiz im Gesetzgebungsverfahren noch besser zu machen.

Auch mit Blick auf die Anhörung haben wir wichtige Punkte aufgenommen und einfließen lassen. Um es auf einen Nenner zu bringen: zuhören, entscheiden, handeln.

Meine Damen und Herren, gemeinsam verbindet uns nämlich das Ziel, unseren Kindern beste Bildungschancen von Anfang an zu bieten. Diesem Anliegen werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gerecht. Ich sagte es bereits: Mit dem neuen KiBiz wird nicht alles anders, aber vieles besser.

Noch ein ganz wichtiger Punkt zum Schluss: Mit der Evaluation des neuen KiBiz ab Tag eins stellen wir sicher, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.

Apropos Fehler der Vergangenheit: Ich komme noch mal zur SPD. Sie bringen jetzt zur dritten Lesung einen Änderungsantrag ein. Wir hätten gestern in der zweiten Lesung intensiv darüber diskutieren können. Das zeigt, hier wird politischer Klamauk veranstaltet.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Der scheint Ihnen aber wehzutun, der Klamauk!)

Diesen können wir hier nicht mittragen. Wir sind überzeugt davon: Heute ist ein guter Tag für die Zukunft unserer Kinder und damit für die Zukunft unseres Landes. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Kamieth. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der SPD Herr Kollege Dr. Maelzer das Wort.

Dr. Dennis Maelzer (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben gestern ausführlich über Ihre KiBiz-Fortschreibung diskutiert. Für die meisten Betroffenen bleibt Ihr Entwurf eine große Enttäuschung.

(Beifall von der SPD)

Deshalb lohnt es sich nicht, heute noch viel Zeit auf Ihre KiBiz-Vorschläge zu verwenden, denn das geschichtliche Urteil über den vorliegenden Gesetzentwurf scheint bereits gesprochen, bevor der Landtag seine Zustimmung erteilt hat.

(Beifall von der SPD – Lachen von der FDP)

Der große Wurf, auf den so viele für die frühkindliche Bildung gehofft hatten, ist es beileibe nicht geworden – eher eine weitere Überbrückung. Schon heute ist klar: Nach der Reform ist vor der Reform. – Darum gilt es, sich besser mit der Zukunft zu befassen.

Meine Damen und Herren, bei einer grundlegenden Reform muss das Wohl des Kindes im Mittelpunkt stehen. Davon ist in Ihrem Entwurf herzlich wenig zu lesen. Wir waren uns einmal einig, dass Kinder nicht länger als neun Stunden am Tag institutionell betreut werden sollen. Dann gehört dieser Anspruch aber auch ins Gesetz und nicht nur in die Begründung.

(Beifall von der SPD)

Deutlich wird: Sie denken im Korsett des KiBiz. Als SPD geben wir den Anspruch auf einen Systemwechsel nicht auf. Wir müssen weg von den Kindpauschalen und hin zu einer sicheren Einrichtungsfinanzierung.

(Beifall von der SPD)

Diesen Weg der Systemumstellung können wir heute einleiten, wenn Sie unserem Änderungsantrag folgen. So ganz überraschend kann dieser für Sie auch nicht gekommen sein; schließlich haben wir im Vorfeld schon intensiv im Ausschuss darüber diskutiert. Aber wenn Sie Ihre Ohren dort auf Durchzug gestellt haben, ist es für Sie vielleicht überraschend, dass wir diese Änderungen heute wieder nach vorne stellen.

Wir benötigen für eine Umstellung eine Qualitätssicherungspauschale in der Größenordnung von 500 Millionen Euro. Die ebnet den Weg für die Sockelfinanzierung.

Die Sockelfinanzierung ist es, die mehr Qualität und vor allen Dingen Planungssicherheit bei den Trägern und damit letztlich auch für die Beschäftigten schafft.

Es sind die Kindpauschalen, die in Nordrhein-Westfalen dazu führen, dass wir trotz Fachkräftemangels einen besonders hohen Anteil an Teilzeitstellen für Erzieherinnen und Erzieher haben, dass wir einen besonders hohen Anteil an befristeten Stellen haben.

Aber wie sollen Erzieherinnen und Erzieher ein sicheres Umfeld für unsere Kinder schaffen, wenn unser Kita-System eben keine sicheren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten schafft?

Darum muss das kommende Kita-Jahr das letzte Kita-Jahr sein, in dem die Kitas mit unzureichenden Kindpauschalen auskommen müssen.

(Beifall von der SPD)

Wir wollen die Trägervielfalt erhalten und deshalb auch die Trägeranteile bei den freien Trägern deutlich senken. Das soll und kann aus unserer Sicht allein das Land finanzieren. Das entlastet die Träger, die wir dringend für den weiteren Kita-Ausbau brauchen; es entlastet aber eben auch die Kommunen.

Wir wollen Bildungsgerechtigkeit bei den Elternbeiträgen herstellen. Dank der Bundesmittel von Franziska Giffey wird ein weiteres Kita-Jahr beitragsfrei. Das ist gut. Besser wäre es, wenn auch das Land hier eigene Anstrengungen unternehmen würde. Die Kita-Gebühren müssen weg; die Spielräume dafür sind da.

(Beifall von der SPD – Jörn Freynick [FDP]: Das ist unseriös! – Marcel Hafke [FDP]: Populismus!)

Herr Minister, ich schätze Sie persönlich: Wenn Sie gleich hier mit treuen Augen erklären werden, für die Kitas sei einfach mehr Geld nicht vorhanden, halte ich das für absolut unglaubwürdig.

Ihre Partei, die FDP, hat gestern Steuersenkungspläne für die Wirtschaft in Höhe von 33 Milliarden Euro vorgestellt.

(Zurufe von der SPD: Oho!)

Milliarden für Unternehmen sollen da sein, aber keine Million für Kinder? – Nein, von dieser FDP lassen wir uns mit Sicherheit nicht erklären, was finanzierbar ist und was nicht.

(Beifall von der SPD)

Leider ist die CDU nicht viel besser. Noch immer haben Sie sich nicht von Ihren Steuersenkungsplänen für die Grunderwerbsteuer verabschiedet. Das würde uns im Haushalt ganz intensiv treffen.

Wir werden Ihnen wie bereits in den vergangenen Jahren aufzeigen, dass das Geld für ein besseres und gerechteres Kita-System in unserem Haushalt vorhanden ist.

(Zuruf von Franziska Müller-Rech [FDP])

Sie wollen Steuersenkungen, wir wollen bessere und gebührenfreie frühkindliche Bildung. Stimmen Sie unseren Anträgen zu; dann muss es heute nicht heißen: Nach der KiBiz-Reform ist vor der KiBiz-Reform.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Maelzer. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Kollege Hafke das Wort.

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag, weil nun endlich die KiBiz-Reform in Kraft treten wird,

(Beifall von der FDP und der CDU)

nachdem sieben Jahre lang Rot-Grün die Arbeit in diesem Fachbereich verweigert hat. Sieben Jahre Zeit verschleppt, nichts passiert.

(Christof Rasche [FDP]: Totalversager!)

Die Probleme in diesem Fachbereich sind enorm. Mit diesem Gesetz, Herr Mostofizadeh, sorgen wir einerseits für die Auskömmlichkeit, dass die Träger und die Kitas wieder Planungssicherheit haben, wir sorgen für Qualitätsverbesserung, und wir entlasten die Eltern in diesem Land. Deswegen ist das heute ein guter und richtiger Schritt für die frühkindliche Bildung in unserem Land.

(Beifall von der FDP)

Wenn die SPD einen ernsthaften Beitrag dazu leisten möchte, um die Lage in Nordrhein-Westfalen zu verbessern, machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben in Berlin und entfristen Sie das Gute-KiTa-Gesetz,

(Beifall von der FDP und der CDU)

weil 400 Millionen Euro strukturell demnächst vom Land Nordrhein-Westfalen zu tragen sind.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Sie feiern sich hier für Sachen ab, die Sie überhaupt nicht zu verantworten haben; das haben Sie im Ausschuss schon so gemacht. Dieses Gute-KiTa-Gesetz verursacht für das Land Nordrhein-Westfalen massive Probleme; so sieht die Lage nämlich tatsächlich aus.

(Beifall von der FDP – Zuruf von Marc Herter [SPD])

– Herr Herter, Herr Herter! Wenn wir Ihre unseriöse Politik, die Sie damals auch als PG hier im Land gemacht haben, weiter fortsetzen würden …

Was hat die SPD an Haushaltsvorschlägen vorgestellt? – Es wäre schön, wenn Herr Zimkeit endlich mal nach Jahren als Haushaltssprecher rechnen könnte. Dann wüsste er nämlich, dass diese Vorschläge 1,5 Milliarden Euro kosten und Sie keine Gegenfinanzierung vorgestellt haben. Sich hierhin zu stellen und zu sagen, das Geld wäre da, ist Populismus, lieber Dennis Maelzer.

(Beifall von der FDP – Michael Hübner [SPD]: Das Geld ist doch da!)

Jetzt will ich zu dem Wortbeitrag von Herrn Kollegen Müller von gestern kommen. Es wird einfach Angst bei den Erzieherinnen und Erziehern in diesem Land gemacht und Panik geschürt, wenn man über das Thema Flexibilität spricht.

Ich habe immer gedacht, es wäre ein wichtiges Anliegen für die SPD, Armut zu bekämpfen, gerade Frauen die Berufstätigkeit zu ermöglichen und dort entsprechend voranzugehen. Stattdessen erklären Sie hier, wie schlimm das alles wäre, wie die Situation aussehen würde.

Ich will Ihnen mit Erlaubnis der Präsidentin ein Zitat vorlesen, nämlich aus einem Gesetz. In § 13 Abs. 1 Satz 4 wird verdeutlicht und herausgestellt, dass sich die Betreuungszeit in einer wöchentlichen Betrachtung unterschiedlich auf die einzelnen Wochentage verteilen kann.

Lieber Kollege Müller, das stammt aus der KiBiz-Reform von 2004. Das beinhaltet genau das, was wir jetzt machen. Das haben Sie damals beschlossen. Sie werfen uns jetzt vor, wir würden die Erzieherinnen und Erzieher in schlechte Situationen bringen und nicht für Flexibilität sorgen, was die Kita-Träger an den Rand des Ruins bringen würde?

(Wolfgang Jörg [SPD]: 2004 gab es noch gar kein KiBiz!)

Machen Sie seriöse Politik! Was darin steht, ist Ihr Gesetz. Ich kann Ihnen sogar die Drucksachennummer nennen. Ich halte für absolut unseriös, was die SPD hier an dieser Stelle vorlegt.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, nachdem wir jetzt sieben Jahre rot-grüne Verschwendungszeit hatten und es nicht vorangegangen ist in diesem Land, haben wir heute die Möglichkeit – die SPD hat noch eine ernsthafte Chance, sich wieder auf eine seriöse Politik zu besinnen –, diesem Gesetzentwurf zu folgen.

1,3 Milliarden Euro werden zusätzlich investiert. Wir entlasten die Träger, wir entlasten die Eltern. Wir sorgen für zusätzliche Qualität. Wir sorgen für Auskömmlichkeit.

Deswegen ist das heute ein guter Tag für die frühkindliche Bildung. Ich freue mich, dass wir das heute den Menschen mit auf den Weg geben können. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Hafke. – Als nächste Rednerin hat Frau Abgeordnete Paul das Wort. Bitte sehr, Frau Kollegin.

Josefine Paul*) (GRÜNE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren!

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration wendet sich der Rednerin zu.)

– Sie machen sich gerade sozusagen schon bereit; das ist gut. Genau Sie möchte ich nämlich ansprechen, Herr Minister.

Gestern haben Sie noch mal versucht, die Kritik an Ihrem Gesetz als Kritik an der Vorgängerregierung darzustellen. Dazu muss ich deutlich sagen: Sie sind schon lange genug im Geschäft und ein erfahrener Politiker. Deshalb wissen Sie doch, dass man, wenn es einen großen Reformprozess geben soll, tunlichst versucht, sich im Verfahren einzubringen.

Schließlich wird es, wenn das Gesetz erst auf dem Weg ist – das sieht man jetzt auch an diesem Gesetz –, schwierig, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen. Das zeigt Ihr Gesetz deutlich: Es ist trotz großer Kritik vorher nichts passiert.

Ich würde mir aber zu eigen machen, dass diejenigen, die sich im Reformprozess vorher beteiligen wollten, dies mit 80.000 Unterschriften und 10.000 Leuten, die auf den Rheinwiesen gestanden haben, deutlich gemacht haben. Diese Menschen wollten Ihnen etwas mit auf den Weg geben. Allerdings haben Sie leider nicht zugehört, Herr Minister.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Doch!)

Nach der Veröffentlichung der Eckpunkte war doch klar, dass der von Ihnen so groß angekündigte große Wurf leider ausfallen würde. Sie können den Anspruch der weltbesten Bildung nämlich nicht einlösen. Marcel Hafke hat gestern noch mal davon gesprochen; ich dachte, mittlerweile hätten Sie wenigstens das eingetütet. Aber nein, es wird noch immer von der weltbesten Bildung und vom ganz großen Wurf geredet.

(Marcel Hafke [FDP]: Genau das ist es ja auch!)

Was die Leute bekommen haben, ist dieses KiBiz. Herr Minister, die Kritik, die an Ihren Eckpunkten vorgenommen wurde, wurde, als der Gesetzentwurf dann da war, nicht weniger, sondern nur noch differenzierter.

Herr Minister, Sie müssen sich mal entscheiden: Wenn das Ihr Gesetz ist, auf das Sie so stolz sind – das haben Sie schon mehrfach vorgetragen –, ist es aber auch Kritik an Ihrem Gesetz.

Oder ist es Kritik an Rot-Grün? – Das würde dann aber bedeuten, dass Sie gar nichts gemacht und nichts verändert haben.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sie müssen sich an dieser Stelle schon entscheiden: Ist es Ihr Gesetz, ist die Kritik daran auch Kritik an Ihrer politischen Arbeit. Oder haben Sie nichts gemacht? – Dann ist es vielleicht Kritik, mit der Rot-Grün nach Hause geht, aber ich würde mich dann fragen, was in den letzten zweieinhalb Jahren in Ihrem Ministerium passiert ist.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Herr Minister, es geht nicht, hier nach dem Motto „wasch mir den Pelz, aber macht mich nicht nass“ zu handeln. Sie feiern sich hier für das Gesetz ab; das werden Sie auch gleich wieder tun. Immer, wenn es um Kritik geht, haben Sie aber auf einmal nichts mehr mit dem Gesetz zu tun.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Doch!)

Das kommt mir ein bisschen vor wie „Familienminister mit beschränkter politischer Haftung“.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das empfinde ich einigermaßen so, als ob Sie sich einen schlanken Fuß machten.

Es ging doch auch darum – das wurde gestern eingefordert –, Korrekturen vorzunehmen. Sie haben nicht mal die kleinsten Korrekturen vorgenommen.

Beispielsweise bei den Wald‑ und Naturkindergärten wurde gefordert nachzuvollziehen, was doch im ganzen System ist, nämlich dass die Pauschalen dynamisiert worden sind bzw. indexiert werden. Das ist ein richtiger Schritt.

Aber warum vollziehen Sie das – wie von Ihnen gefordert wird – bei diesen Pauschalen dann nicht nach? – Es wäre schlicht systemlogisch.

(Marcel Hafke [FDP]: Das haben wir doch gemacht!)

So viel zu der tollen Ankündigung des Ministeriums – die Sie gestern noch mal vorgetragen haben –, die Trägervielfalt sei der Landesregierung heilig. Offensichtlich sind der Landesregierung aber nicht alle Träger gleich heilig.

(Beifall von den GRÜNEN – Heiterkeit von der SPD)

Ein dritter Punkt, der hier auch schon angesprochen wurde, ist die Elternbeitragsfreiheit. Dazu sage ich sehr deutlich, dass das, was Sie da hervorgezogen haben, ein Bonbon ist, das Sie vorher mit niemandem besprochen haben – nicht mal mit den kommunalen Spitzenverbänden.

Die wussten davon nämlich auch nichts und finden das gar nicht so gut; schließlich haben auch die kommunalen Spitzenverbände gesagt: Was uns wirklich helfen und entlasten würde, wäre die Rückkehr zur landeseinheitlichen Beitragstabelle.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es geht schließlich darum, dass wir endlich mit diesem Flickenteppich Schluss machen müssen, den Sie so beibehalten. Das Outsourcen der Beitragsgestaltung an die Kommunen führen Sie fort – auch da wieder keine Steuerungswirkung, weder im sozialen Bereich noch bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, Herr Minister.

(Zuruf von Henning Rehbaum [CDU])

Auch da haben Sie nicht auf Kritik gehört, sondern stur durchgezogen und gesagt, irgendwer werde sich hoffentlich schon darüber freuen.

Ja, Herr Minister, heute ist zumindest für die regierungstragenden Fraktionen ein guter Tag. Diese freuen sich darüber, dass das Gesetz jetzt endlich verabschiedet wird. Ich sage Ihnen, dass wir aber leider dauerhaft darüber werden diskutieren müssen, weil dieses Gesetz nicht die Ansprüche einlöst, die Sie selber so groß verkündet haben.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Leider wird auch dieses Gesetz scheitern, und wir müssen weiterhin mithilfe einer Überbrückungsfinanzierung sehen, wie wir endlich irgendwann gemeinsam zu einer Finanzierung der Kindertageseinrichtungen in diesem Land kommen, die wirklich verlässlich, nachhaltig und an den Kindern ausgerichtet ist. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der AfD Frau Kollegin Dworeck-Danielowski das Wort.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geehrte Kollegen von der SPD, Sie haben eine dritte Lesung beantragt und sind ausgesprochen unzufrieden mit dem Gesetz. Dieser Unzufriedenheit möchten Sie Nachdruck verleihen. Das kann man alles verstehen.

(Sarah Philipp [SPD]: Schön!)

Sehe ich mir aber den Inhalt des Änderungsantrags an, geht mir, ehrlich gesagt, der Hut hoch.

In den ersten beiden Punkten rücken Sie eindeutig das Wohl des Kindes, das Ihnen jetzt anscheinend so am Herzen liegt, in den Vordergrund.

Wenn ich an die zahlreichen Beratungen denke, die im Ausschuss und auch hier schon stattgefunden haben, sowie an die Anhörungen zur KiBiZ-Reform, ist das Wohl des Kindes insbesondere seitens Ihrer Fraktion nie Gegenstand der Beratungen gewesen.

(Beifall von der AfD – Regina Kopp-Herr [SPD]: Dummes Zeug! – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Unverschämt!)

– Nein, genauso ist es. Sie haben sich immer nur an der Finanzierung hochgezogen, an der Sockelfinanzierung oder Sonstigem. Das Wohl des Kindes und die Sorge darüber, dass die Kinder nun zu lange in der Betreuung sein könnten, war nie Ihr Thema. Das macht das Ganze unglaublich unglaubwürdig.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Oh Gott! Oh Gott!)

Ihre ehemalige Familienministerin Frau Schwesig hat zum Beispiel auf Bundesebene das ElterngeldPlus vorangetrieben. Das ist auch wieder etwas, hinter dem wohl ebenfalls eigentlich der Wunsch und der Gedanke stehen, dass die Frauen am besten schon acht Monate nach der Geburt wieder in den Beruf zurückkehren. Auch da hat Sie das Kindeswohl nicht interessiert.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Unglaublich! – Gegenruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

Wenn Kinder in Fällen, wo das ElterngeldPlus in Anspruch genommen wird, schon in die Kita oder zur Tagesmutter kommen, wenn sie noch nicht einmal laufen können, gegebenenfalls noch von der Mutter gestillt werden und noch gefüttert werden müssen, machen Sie sich keine Sorgen um das Kindeswohl.

Überhaupt ist auch der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr unter Ihrer Regierung eingeführt worden. Danach haben wir einen dramatischen Qualitätsverlust erlebt, weil man mit dem Ausbau und der Personaldecke für die deutlich höheren Betreuungsbedarfe, die Kinder unter drei Jahren haben, nicht nachkommt.

(Frank Müller [SPD]: Wollen Sie vielleicht noch zum KiBiZ reden?)

Sie mit Ihrer Jugendorganisation, die sich gegenüber dem ungeborenen Leben gar nicht verachtender ausdrücken kann, wollen mir etwas vom Kindeswohl erzählen?

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Mit Verachtung kennen Sie sich ja aus!)

Ich habe so etwas noch nie erlebt: Bei der Debatte Ihrer Jusos steht da eine junge sogenannte Feministin und sagt: Erst einmal zählt das Recht der Frau, nicht irgendwelche Ungeborenen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Kommen Sie noch mal zum KiBiz?)

So eine Partei will hier eine dritte Lesung veranstalten, um das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu rücken. Unglaubwürdig ist das! Absolut unglaubwürdig!

(Beifall von der AfD – Zurufe von der AfD: Genau! – Rainer Schmeltzer [SPD]: Kommen Sie noch mal zum KiBiz? – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Wenn Sie mit Ihrem Populismus zu Ende sind, kommen Sie dann auch noch mal zum Gesetz? – Regina Kopp-Herr [SPD]: Sie vermischen hier Dinge, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben!)

Deswegen werden wir auch diesen Änderungsantrag ablehnen, obwohl uns das Wohl des Kindes sehr am Herzen liegt. Aber ganz ehrlich: Das ist Kasperletheater. Sie machen das einfach nur, weil Sie das Gegenteil von dem tun wollen, was die FDP macht. Hätten FDP und CDU maximal 30 Stunden gefordert, weil sie die Familie stärken wollen, dann würden Sie mit einem Änderungsantrag fordern, dass wir 10 Stunden Betreuung bräuchten,

(Sarah Philipp [SPD]: Was Sie alles wissen!)

damit alle Frauen arbeiten gehen können, und dass alles möglichst flexibel sein muss. Das ist einfach unglaubwürdig. Das ist schäbig. – Danke.

(Beifall von der AfD – Rainer Schmeltzer [SPD]: Da wissen sie ja, worüber Sie reden!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Dworeck-Danielowski. – Jetzt hat Herr Minister Dr. Stamp das Wort. Bitte schön.

Dr. Joachim Stamp*), Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat aus einer Meldung der Deutschen Presseagentur von heute Nacht beginnen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten:

„Nach einer Verzögerung durch die SPD soll das milliardenschwere Kita-Gesetz am Freitag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen unter Dach und Fach gebracht werden.“

Eine Verzögerung durch die SPD. – Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich erst einmal einen Moment lang überlegt habe: Meinten die die Vertagung von gestern auf heute, oder meinten sie die sieben Jahre Regierungszeit von Rot-Grün?

(Beifall und Heiterkeit von der CDU und der FDP – Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Da hast du die ganze Nacht wach gelegen, was?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist ein guter Tag für die Kinder und Familien in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von Frank Müller [SPD] – Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE] – Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

Denn – jetzt kommt wieder ein Zitat –:

„Nordrhein-Westfalen hat sich für ein starkes Maßnahmenpaket entschieden, ….“

(Zuruf von der SPD: Mit der Hilfe des Bundes!)

Und von wem ist das Zitat? – Es ist von Franziska Giffey, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU und der FDP – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Ja, die hat ja auch geholfen!)

Wir beschließen heute einen Meilenstein für die frühkindliche Bildung und für mehr Chancen für alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft.

(Frank Müller [SPD]: Sie hat nicht gesagt, Sie haben sich für ein starkes KiBiz entschieden!)

Ich bin froh, und ich bin auch stolz, dass es uns gemeinsam mit dem Bund und gemeinsam mit den Kommunen gelungen ist, ab dem kommenden Kita-Jahr jährlich zusätzlich 1,3 Milliarden Euro für unsere Jüngsten zu investieren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Davon fließt – das ist das Entscheidende – knapp eine Milliarde Euro in die Qualität. Und dazu geben wir den Kommunen eine Platzausbaugarantie: Jeder Platz, der gebraucht wird, kann auch gebaut werden – und das ohne Limit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Der dritte Punkt ist: Wir entlasten die Familien mit Kindern durch ein zweites beitragsfreies Jahr. Wir haben immer gesagt, dass wir etwas bei den Beiträgen machen, wenn es uns umgekehrt gelingt, die Qualität signifikant zu verbessern.

Mehr Qualität heißt: mehr Mittel für pädagogisches Personal, mehr Zeit für die Kinder, mehr Leitungszeit für die Kita-Leitungen, mehr Sprachförderung für unsere Kinder, mehr Vor- und Nachbereitungszeit, mehr Zeit für Gespräche mit Eltern, mehr Unterstützung für Familienzentren, mehr Unterstützung und Professionalisierung für Tagesmütter und Tagesväter, mehr Flexibilität und passgenaue Angebote für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehr praxisbezogene Ausbildung für unsere Erzieherinnen und Erzieher. Wir schaffen mehr Qualität auf ganz breiter Ebene.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Genau das erwarten die Erzieherinnen und Erzieher auch von uns. Deswegen haben sie nämlich demonstriert. Frau Paul, Sie haben es, glaube ich, immer noch nicht verstanden: Sie haben gegen den Status quo demonstriert;

(Lachen von der SPD – Frank Müller [SPD]: Wir haben gestern noch mal nachgefragt: Die haben „Nein“ gesagt! – Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE])

gegen die Situation, die Sie zu verantworten haben. Der Gesetzentwurf lag ihnen doch noch gar nicht vor.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Ach, Herr Minister!)

Wir haben doch die Dinge, die die Erzieherinnen und Erzieher angesprochen haben, im Gesetzentwurf auch berücksichtigt.

(Beifall von der CDU und der FDP – Josefine Paul [GRÜNE]: Das ist aber gut versteckt!)

Im Gegensatz zu Ihnen nehmen wir die Bürgerinnen und Bürger nämlich ernst. Sie haben sieben Jahre lang die Erzieherinnen und Erzieher nicht ernst genommen. Wir haben das gemacht.

(Beifall von der CDU und der FDP – Regina Kopp-Herr [SPD]: Das ist frech, Herr Minister!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Zimkeit?

Dr. Joachim Stamp*), Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Ja, natürlich.

(Heiterkeit von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Zimkeit.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Ich merke, die Vorfreude ist groß. – Ich möchte etwas zu Ihrer gerade getätigten Aussage zitieren:

Unfassbar: Da demonstrieren Tausende von Erzieherinnen gegen den Revisionsentwurf der CDU- und FDP-Landesregierung zum KiBiz.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Frage!)

80.000 Unterschriften werden gesammelt, und Minister Stamp behauptet,

(Henning Rehbaum [CDU]: Was lesen Sie denn da ab?)

das sei ein Protest gegen SPD und Grüne.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Ja, so ist es! – Zuruf von Daniel Sieveke [CDU])

– Das sagt eine der Organisatorinnen der Demonstration, die das durchgeführt hat.

(Christian Loose [AfD]: Frage!)

Sie stellt damit absolut klar, ...

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, stellen Sie Ihre Frage?

Stefan Zimkeit (SPD): … dass das eine Demonstration gegen Ihren Entwurf war.

(Zurufe von der CDU und der FDP: Frage!)

Warum behaupten Sie hier das Gegenteil, obwohl die Organisatorinnen der Demonstration klar sagen, dass es Unterschriften und Demonstrationen gegen Sie waren?

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE])

Dr. Joachim Stamp*), Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Weil ich recht habe.

(Beifall und Heiterkeit von der CDU und der FDP – Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Die Erzieherinnen und Erzieher …

(Fortgesetzt Zurufe von der SPD und den GRÜNEN – Frank Müller [SPD]: Da muss man sagen: Da muss man schon ganz weit oben im Elfenbeinturm sitzen!)

– Herr Kollege Müller, es wird doch auch nicht besser, wenn Sie hier jetzt schreien. – Sie haben sieben Jahre lang nichts für die Erzieherinnen und Erzieher getan, aber wir tun es. Es bleibt dabei.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die haben das auch verdient. Natürlich kommen die Qualitätsmaßnahmen auch dem Arbeitsplatz der Erzieherinnen und Erzieher zugute. Deswegen werden wir auch weiter werben, sodass wir noch mehr Erzieherinnen und Erzieher für die wertvolle Arbeit, die in den Kitas geleistet wird, finden. Wir freuen uns, dass auch die Tagesmütter und Tagesväter von dieser Reform umfassend profitieren; immerhin wird jedes dritte Kind unter drei Jahren in der Tagespflege betreut.

(Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

Meine Damen und Herren, wenn ich gesagt habe, dass ich stolz auf unsere Reform bin, dann meine ich das auch genau so.

Ich möchte mich heute ausdrücklich bedanken. Ich danke den Kommunen für lange, harte, aber stets faire Verhandlungen und für ihren Beitrag zu dieser Reform. Ich danke den Trägern und den Kirchen für zahlreiche Gespräche und wertvolle Hinweise.

Die Trägervielfalt ist und bleibt ein Qualitätsmerkmal frühkindlicher Bildung. Wir haben die Anregung der Träger gerne aufgenommen, unsere Reform von Anfang an eng zu evaluieren und zu monitoren, damit wir sicherstellen können, dass die Trägervielfalt – auch im Sinne derjenigen, die heute noch Befürchtungen haben – dauerhaft gewährleistet ist.

(Beifall von Matthias Kerkhoff [CDU])

Ich danke auch der Kollegin Giffey für den Beitrag des Bundes, sage aber an dieser Stelle auch, dass ich erwarte, dass die GroKo sich endlich bekennt und die Gute-KiTa-Mittel entfristet.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Ich danke den Eltern für ihre konstruktive Mitarbeit, den Gewerkschaften, die die Anliegen und Interessen der pädagogischen Kräfte eingebracht haben, dem KiBiz-Beirat für viele wertvolle und fachlich anspruchsvolle Debatten,

(Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

und ich danke auch den Fraktionen von CDU und FDP, namentlich Jens Kamieth und Marcel Hafke, für die enge Begleitung. Es war sicherlich manchmal anstrengend mit mir, manchmal auch anstrengend mit euch, aber es hat sich wirklich gelohnt. Dafür bin ich euch wirklich dankbar.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von der SPD: Och!)

Last but not least danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Hauses, Staatssekretär Bothe und vielen aus der Fachabteilung. Sie waren großartig, insbesondere unsere Fachgruppenleiterin Dagmar Friedrich und ihr Team, unser neuer Abteilungsleiter Dr. Weckelmann und natürlich sein Vorgänger Manfred Walhorn,

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

mit dem ich oft bis tief in die Abendstunden diskutiert und beraten habe.

Nach den Zwischenrufen kann ich es mir nicht verkneifen: Wenn die Sozialdemokratie mehr Genossen von seinem Format hätte, dann stünden Sie jetzt woanders, als Sie im Moment stehen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Norwich Rüße [GRÜNE] – Stefan Zimkeit [SPD]: Ihre Menschenkenntnis ist unwürdig! – Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Das ist lächerlich, Herr Minister!)

Was wir heute verabschieden, basiert auf einer guten Mannschaftsleistung für unsere Kinder. Es ist ein Meilenstein für Nordrhein-Westfalen. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall von der CDU und der FDP – Josefine Paul [GRÜNE]: Ein bisschen Demut täte gut!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Was ist denn mit der Redezeit?)

Die Landesregierung hat die Redezeit ein wenig überzogen. – Das habe ich mir doch gedacht. Herr Dr. Maelzer, Sie haben das Wort, bitte schön.

(Zurufe von der FDP: Ah!)

Dr. Dennis Maelzer*) (SPD): Herr Minister, vielen Dank, dass Sie Ihre Redezeit für Ihre Dankesarien überzogen haben. Das gibt mir zumindest die Gelegenheit zu ein paar Klarstellungen.

Gestern saßen auf der Zuschauertribüne viele Vertreterinnen und Vertreter des Bündnisses „Mehr Große für die Kleinen“. Sie haben schwarz getragen, in Trauer über Ihr Gesetz. Sie haben sich danach öffentlich geäußert und gesagt: Wir sind erschüttert und finden es enttäuschend, dass Minister Stamp

(Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)

in seiner Rede ernsthaft behauptet hat, dass die Demonstrationen und die Unterschriften sich nicht gegen das Gesetz aus seinem Ministerium, sondern gegen die Vorgängerregierung gerichtet haben.

(Zuruf von Thomas Nückel [FDP])

Das ist definitiv nicht der Fall. Das Bündnis ist genau gegen Ihre Politik auf die Straße gegangen.

(Beifall von der SPD)

Sie bleiben bei ihrer Forderung „Mehr Große für die Kleinen“. Dabei bleiben auch wir.

(Henning Rehbaum [CDU]: Bei Ihnen war alles super!)

Herr Minister, ich verspreche Ihnen: Auch wir als SPD-Opposition werden dranbleiben, bis wir eine Sockelfinanzierung und ein Kita-Gesetz haben, das den Namen „Kinderbildung“ wirklich verdient hat.

(Beifall von der SPD – Dietmar Brockes [FDP]: Sorgen Sie in Berlin erst mal für Entfristung! – Zurufe von Dr. Günther Bergmann [CDU] und Daniel Sieveke [CDU] – Gegenruf von Stefan Kämmerling [SPD]: Schreien Sie nicht so rum!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Maelzer. – Es liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.

(Ralf Witzel [FDP]: Sieben Jahre nichts! – Frank Müller [SPD]: Sie kennen die Zahlen von eins bis sieben, das ist schon mal gut! – Weitere Zurufe – Glocke)

Ich muss ja sagen: Das ist ein Ausschuss, der mich auch noch interessieren würde – aber erst in der übernächsten Legislaturperiode.

Wir kommen somit zur Schlussabstimmung gemäß § 78 Abs. 3 Satz 1 unserer Geschäftsordnung über den Gesetzentwurf Drucksache 17/6726 – Neudruck – in dritter Lesung. Der Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend empfiehlt in Drucksache 17/7934 – Neudruck –, den Gesetzentwurf Drucksache 17/6726 – Neudruck – in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses anzunehmen.

Erstens stimmen wir ab über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/8024. Wer stimmt dem Änderungsantrag zu? – Die SPD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP, AfD, Grüne und die drei fraktionslosen Abgeordneten Herr Langguth, Herr Neppe und Herr Pretzell. Gibt es Enthaltungen? – Die kann es gar nicht geben. Dann ist das so entschieden, wie wir es gerade festgestellt haben. Die Mehrheit des Hohen Hauses ist gegen den Änderungsantrag der SPD-Fraktion Drucksache 17/8024 und hat ihn deshalb nicht angenommen.

Zweitens stimmen wir ab über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend Drucksache 17/7934 – Neudruck. Wer stimmt dem zu? – CDU und FDP stimmen für den Gesetzentwurf. Wer stimmt dagegen? – SPD, Grüne, AfD und die drei fraktionslosen Kollegen. Gibt es Enthaltungen? – Die gibt es nicht. Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses und damit der Gesetzentwurf Drucksache 17/6726Neudruckin der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses in dritter Lesung angenommen und verabschiedet.

(Lang anhaltender und lebhafter Beifall von der CDU und der FDP)

Ich rufe auf:

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Nein! Die Entschließungsanträge!)

– Pardon! Habe ich etwas übersehen? Entschuldigung, es ist ein Fehler meinerseits. Ich bitte um Verständnis. Der Applaus war so lang, dass ich dachte, das wäre ein Schlussapplaus. Aber das stimmt gar nicht. Ich muss noch zwei Abstimmungen durchführen. Entschuldigen Sie. Es liegt daran, dass ich die zweite Seite nicht aufgeblättert hatte. Pardon!

Es stehen noch zwei Abstimmungen aus: zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/7968. Wer stimmt der Entschließung zu? – Die SPD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP, Grüne, AfD und die drei fraktionslosen Kollegen stimmen dagegen. Enthaltungen? – Gibt es nicht. Dann ist so entschieden, wie die Mehrheit das hier zum Ausdruck gebracht hat. Der Entschließungsantrag Drucksache 17/7968 ist abgelehnt.

Außerdem stimmen wir ab über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/7969. Wer stimmt dem zu? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP, AfD und die drei fraktionslosen Kollegen stimmen dagegen. Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der SPD-Fraktion hat die Mehrheit des Hohen Hauses auch den Entschließungsantrag Drucksache 17/7969  abgelehnt.

Ich entschuldige mich nochmals, dass ich das hier nicht gesehen habe. Danke schön, dass Sie darauf hingewiesen haben, Herr Dr. Kober.

Ich rufe auf:

5   Taten statt Worte – nachhaltige Verwertung von Lebensmitteln statt Entsorgung in der Tonne

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7910

Entschließungsantrag
der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7989

Die Aussprache ist eröffnet. Für die CDU-Fraktion tritt ans Pult Herr Kollege Klenner.

Jochen Klenner (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Auch wenn hier im Landtag schon die ersten Weihnachtsbäume stehen, passt zum Antrag heute nicht nur die Weihnachtsbotschaft, sondern auch der zentrale Gedanke des Sankt-Martins-Festes in diesem Monat. Helfen ist einfach. Helfen muss einfach sein. Helfen ist eigentlich kinderleicht.

Meine Kinder – sie sind vier und sieben Jahre alt – haben die Sankt-Martins-Geschichte wochenlang im Wohnzimmer nachgespielt. Jedes Kind versteht sie. Sankt Martin sieht einen Mitmenschen in Not und denkt nicht lange nach, sondern handelt – Taten statt Worte.

Wie wäre die Geschichte eigentlich ausgegangen, wenn Martin ins Zweifeln geraten wäre? Was ist der Mantel, den ich hier zerteile, eigentlich noch wert? Was ist der fiktive Preis eines halben Mantels? Was ist die Bemessungsgrundlage für die andere Hälfte? Soll ich den Bettler nach einer Spendenquittung fragen? Und was passiert, wenn im Stall nicht die Gänse, sondern die Steuereintreiber warten? – Statt der Heiligsprechung hätte es dann vielleicht Ärger mit dem antiken Finanzamt gegeben.

Die NRW-Koalition will Helfen möglichst einfach gestalten. Vereine und Initiativen sollen sich nicht um Vorschriften sorgen müssen, sondern ihren Mitmenschen helfen können – nicht verunsichern, sondern stärken.

Das gilt auch und insbesondere beim Thema „Lebensmittel“. Sie sind viel zu wertvoll, um im Abfall zu landen – und das aus vielen Gründen. Sie sind wertvolle Ressourcen. Es ist doppelt mangelnde Wertschätzung gegenüber unseren Landwirten, wenn sie ihre mühsam erarbeiteten Produkte erst zu Billigpreisen im Supermarktregal und dann auch noch im Abfall sehen müssen. Und es sind oft einwandfreie Lebensmittel, und es gibt viele Menschen, die froh wären, wenn sie sich diese leisten könnten.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Daher ist ein bewusster Umgang mit Lebensmitteln in privaten Haushalten sicherlich ein gemeinsames und wichtiges Ziel, für das wir zunächst werben sollten.

Eine andere Möglichkeit ist das Spenden der Lebensmittel. Hier engagieren sich vor allem die vielen Tafeln, auch bei uns in Nordrhein-Westfalen. Für dieses Engagement der Tafeln und ähnlicher Einrichtungen möchte ich mich im Namen der NRW-Koalition herzlich bedanken. Das ist gelebte Hilfe ohne viele Worte, Tag für Tag. Auch hier gilt: Taten statt Worte.

(Beifall von der CDU, Ralf Witzel [FDP] und Susanne Schneider [FDP])

Unser Dank gilt den ehrenamtlichen Helfern, die die Abholung der Lebensmittel, die fachgerechte Lagerung und die Ausgabe an Bedürftige organisieren. Unser Dank gilt aber auch den zahlreichen Spendern, die die Arbeit der Tafeln mit ihren Sachspenden unterstützen.

Lebensmittelspenden an soziale Einrichtungen dürfen nicht unattraktiv sein. Es darf nicht günstiger sein, Lebensmittel zu entsorgen, als sie zu spenden. Bund und Länder haben vor einigen Jahren bereits eine entsprechende Lösung bei der Umsatzsteuer gefunden: Der fiktive Preis, der noch erzielt werden könnte, wird mit 0 Euro bewertet. Dementsprechend gibt es keine Spendenquittung und eben auch keinerlei Probleme im Nachhinein.

Aber auch hier gilt das Prinzip „Taten statt Worte“. Wenn wir im Land unterwegs sind, hören wir immer wieder von Unsicherheiten bezüglich der rechtlichen Hintergründe. Die Sorge, einen Fehler zu begehen, darf wichtige Spenden aber nicht verhindern. Deshalb liegt es an uns, für eine breite Aufklärung und für Klarheit zu sorgen.

Die Tafeln sind hier gute Ansprechpartner, da sie sehr genau wissen, welche Hilfe besonders gefragt ist und wie diese gut, unkompliziert und rechtssicher bei den Menschen ankommt. Auch das Handwerk weist in diversen Publikationen für die Betriebe immer wieder darauf hin.

Ich danke auch unserer Finanzverwaltung und den Mitarbeitern vor Ort, die dieses Prinzip bereits sehr sensibel umsetzen. Das ist ein gutes Vorbild für kluges landesweites Verwaltungshandeln. Wenn es vor Ort Unsicherheiten gibt, sollten wir für Aufklärung sorgen.

Stichwort „Entfesselung“: Entfesselung ist nicht nur in Verwaltung und Wirtschaft, sondern auch im Ehrenamt notwendig. Wer sich in Vereinen und Organisationen engagieren möchte, soll sich keine Sorgen über negative persönliche Folgen machen müssen. Deshalb danke ich auch unserem Finanzminister Lutz Lienenkämper für seine Initiativen im Bund, das Ehrenamt weiter zu stärken. Das ist ein wichtiges Signal der Wertschätzung für den Einsatz so vieler Menschen in unserem Land für ihre Mitmenschen und die Gesellschaft.

Hoffentlich gibt auch bald der Bundesfinanzminister seine Blockadehaltung auf. Er sollte sich weniger damit beschäftigen, wer hilft und ob in der Gruppe zu viele Frauen oder zu wenig Männer – oder umgekehrt – sind. Es geht darum, wie geholfen wird und ob die Hilfe bei den Menschen im Land ankommt.

Hilfe muss möglichst einfach sein. Das entspricht auch dem Grundkonzept der Tafeln. Sie legen großen Wert auf ihr ehrenamtliches Engagement. Das trägt auch zu der breiten Unterstützung in der Bevölkerung bei, da jede Hilfe nahezu eins zu eins bei den Bedürftigen ankommt. Das ist gut so. Und deshalb sollten wir diese unkomplizierte Hilfe fördern und unterstützen.

Das tun wir heute mit unserem Antrag. Wir werben darin vor allem dafür, diese Worte nicht nur in der Zeit um Sankt Martin und Weihnachten, sondern das ganze Jahr über konkret vor Ort zu leben und so Tag für Tag viele gute Taten in unserem Land zu ermöglichen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hinter uns liegen nun schon mehrere Tage mit streitigen Debatten über Haushaltsfragen. Wir haben heute einen Plenartag erlebt mit mehreren sehr engagierten Diskussionen – kontrovers geführt – über Clankriminalität und das neue KiBiz. Nun haben wir es zur Abwechslung hier mal mit einem Tagesordnungspunkt zu tun, den wir in der Sache auch mit Leidenschaft diskutieren können, aber vielleicht und hoffentlich um einiges konsensualer als andere Punkte in dieser Plenarwoche.

Ich will deshalb ausdrücklich zu Beginn sagen: Für eine faire Bewertung der Problematik wollen auch wir einräumen: Das Thema hat unterschiedliche Fraktionen in diesem Hause in den letzten Jahren beschäftigt.

Richtig ist ausdrücklich, dass die Frage rechtssicherer Lebensmittelabgabe an Tafeln auch den früheren Finanzminister des Landes, Norbert Walter-Borjans, bereits beschäftigt hat.

Richtig ist auch, dass die Bundesregierung nicht untätig ist, weil es dort eine Initiative gibt „Zu gut für die Tonne“, die, wenn sie hilft, hier der Problemlösung näherzukommen, natürlich auch unsere Unterstützung verdient.

Wir haben ein klares Anliegen, nämlich eine Auslegung des Umsatzsteuerrechtes, die überall so rechtsklar erfolgt, dass in keinem Fall Umsatzsteuer auf die Spende von unverkäuflichen Lebensmitteln zu entrichten ist. Da gibt es offenbar bei Betroffenen noch teilweise Unklarheit, die auch einer richtigen Verhaltensweise im Weg steht.  

Dass es zu diesen Konstellationen mit Umsatzsteuernachteil auf keinen Fall kommen darf, ist völlig klar, denn das wäre dann eine Benachteiligung gegenüber der Lebensmittelvernichtung, für die keine Steuerzahlung anfällt. Für uns gilt: Das betriebliche, unternehmerische Ergebnis darf nicht dadurch besser ausfallen, dass möglichst viele Lebensmittel nutzlos vernichtet werden. Hier ist gleichermaßen eine Sensibilisierung aller potenziell betroffenen Unternehmen sowie der Finanzverwaltung ratsam.

Wir beobachten mit Sorge die immense jährliche Lebensmittelverschwendung in unserem Land. Bei allen statistischen Problemen der Erfassung gehen Schätzungen davon aus, dass bis zu 13 Millionen Tonnen Lebensmittel jedes Jahr im Müll landen. In jedem Fall handelt es sich um enorme Summen an weggeworfenen, aber potenziell brauchbaren Lebensmitteln wie auch zwischenzeitlich verdorbenen Waren. Das hat insgesamt zugleich negative ökonomische wie ökologische Folgen. Ressourceneffizienz hat eben eine finanzielle Dimension, aber nicht nur, sondern sie hat beispielsweise auch Relevanz für Belange des aktuell viel diskutierten Klimaschutzes.

Politik und vor allem Zivilgesellschaft haben deshalb die Chance, Initiativen zu ergreifen, um mehr Transparenz für Verbraucher zu schaffen und die negative Konnotation von Lebensmitteln aufzubrechen, die nicht dem klassischen Anforderungsideal irgendwelcher Normen entsprechen.

Unsere Leitlinie ist ein hohes Maß an Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Wahrung von Eigentumsrechten und die Bereitstellung von möglichst passgenauen Informationen zu dem Thema „Haltbarkeit von Lebensmitteln“ für alle Bürger. Ziel sollte ebenfalls eine stetige Reduzierung des unnötigen Mülls pro Person sein.

Aus unserer Sicht bietet die Digitalisierung auch auf diesem Feld neue Chancen. Wenn wir maßgenaue, verbrauchsabhängige Warenbestellsysteme haben, dann hilft uns auch das dabei, die Lebensmittelvernichtung zukünftig zu reduzieren. Oberste Devise sollte sein, dass möglichst wenig Lebensmittel überhaupt erst in einem Abfallbehälter landen.

Pauschale Wegwerfverbote oder verpflichtende Kooperationen von Supermärkten und Tafeln, wie sie teilweise auch gefordert werden, lehnen wir ab. Ebenso halten wir es aufgrund der großen bestehenden rechtlichen Probleme nicht für richtig, der Forderung der Grünen hier zu folgen, Containern generell zu legalisieren. Das brächte viele andere Probleme mit sich.

Freiwillige und funktionierende Kooperationen zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung begrüßen wir aber ausdrücklich. Auch die bereits gelegentlich von Geschäften selbst praktizierte Preisreduzierung und eindeutige Kennzeichnung von Produkten kurz vor Ablaufen des Mindesthaltbarkeitsdatums halten wir für eine gute und weiter ausbaufähige Maßnahme.

Lebensmittelverschwendung ist auch ein Thema von Großküchen und Kantinen. Da viele Großküchen und Kantinen durchaus auch in der öffentlichen Sphäre betrieben werden, beispielsweise für Schulen und Behörden, kann jeder Einzelne von uns für sich prüfen, an welchen Stellen auch vonseiten der Politik Möglichkeiten bestehen, im Dialog mit Kantinenbetrieben hier zu Verbesserungen zu kommen.

Handels- und Qualitätsnormen können mit einem Vorschriften-TÜV belegt werden, damit nachgeprüft werden kann, ob sich zum Beispiel Verordnungen zur Mindestgröße von Äpfeln oder dem Krümmungsgrad von Bananen oder Schlangengurken bewährt haben oder überflüssig sind.

Wir sind Realisten. Die Nichtverwertung von Lebensmitteln kann nie vollständig ausgeschlossen werden, auch nicht bei noch so guter Planung. Aber wir sollten alle an Verbesserungen arbeiten. Denn bei der großen Menge an vernichteten Lebensmitteln gibt es noch sehr viel Luft nach oben. Ich meine, das ist Auftrag für alle Fraktionen im Haus, sich dieser Problematik zu widmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Witzel. – Jetzt spricht für die SPD-Fraktion Frau Watermann-Krass.

Annette Watermann-Krass (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank für die vorweihnachtlichen Reden, die wir gerade gehört haben.

Natürlich sagen auch wir von der SPD: Lebensmittelabfälle in dieser Größenordnung – 1,3 Milliarden Tonnen essbare Lebensmittel werden weltweit Jahr für Jahr in den Müll geworfen – müssen vermieden werden. Die gesamte Wertschöpfungskette von der Landwirtschaft und der Produktion bis hin zum Handel und zu den Endverbrauchern führt dazu, dass diese Abfälle entstehen.

Schauen wir auf die CO2-Bilanz, dann sehen wir: 8 % der insgesamt vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen kommen aus diesem Bereich der Lebensmittel, die produziert, aber dann nicht gegessen werden.

Diese Zahlen machen deutlich, dass die Verschwendung von Lebensmitteln den Klimawandel fördert und wertvolle Ressourcen wie Boden, Energie oder Wasser vergeudet. Deshalb ist es richtig und wichtig, etwas dagegen zu unternehmen.

Den Antrag von der CDU habe ich zuerst vernommen. Dieser Antrag ist richtig. Er ist zwar nicht sehr ambitioniert, aber das scheint ja eher der vorweihnachtlichen Zeit geschuldet zu sein.

Der Entschließungsantrag ist wie gewohnt sehr detailliert. Dazu komme ich noch.

Insgesamt können wir sagen: Dieses Bemühen setzt im Grunde unsere Arbeit, die wir von Rot-Grün 2010 schon begonnen haben, fort. Wir haben 2010 diesen runden Tisch für mehr Wertschätzung bei Lebensmitteln eingesetzt. Es gab auch diese FH-Studie, auf die der Antrag eingeht.

Diese Aussagen haben damals schon dazu geführt, dass die Back-Shops und die Bäcker dahin gehend beraten worden sind, das Vollsortiment nicht bis zum Abend vorzuhalten. Das hat schon dazu beigetragen, dass es weniger Brotabfälle gibt.

Es gab und gibt eine gute Zusammenarbeit mit der Verbraucherzentrale. Mit dem Projekt „MehrWertKonsum“ sucht man nach Wegen einer guten Kantinenverpflegung. Es gab ja dieses gute Beispiel bei den Jugendherbergen. Man hat es durch diese Beratung geschafft, die Lebensmittelabfälle um ein Drittel zu reduzieren.

Gemeinsam mit dem Ernährungsrat Köln hat das Projekt in elf Kitas der Stadt zur Schulung von Küchenpersonal geführt. Man hat den kritischen Blick auf den Einkauf, die Essensplanung und die Portionierung bis hin zu klimafreundlichen Gerichten. All das hat eine langfristige Reduzierung der Lebensmittelabfälle dort um bis zu 30 % zur Fogle. Das ist eine gute Entwicklung, weil das Geld, das wir da einsparen können, dann wieder für regionale Produkte verwendet werden kann.

Übrigens kann ich an der Stelle auch wieder auf unseren Antrag zur guten Kita- und Schulverpflegung hinweisen. Im Schulausschuss findet im Januar die Anhörung statt. Wir würden uns freuen, dafür eine breite Unterstützung von Ihnen zu bekommen.

Auf der Bundesebene gibt es jetzt die nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. Das Ziel dabei ist, die Abfallmenge bis 2030 zu halbieren. Wichtig ist es jetzt, dass der Bund-Länder-Arbeitskreis ganz konkrete Umsetzungsziele vereinbart und dann auf den jeweiligen Ebenen umsetzt. Da erhoffen wir uns natürlich eine aktive Unterstützung aus NRW, Frau Ministerin.

Zum Schluss möchte ich noch auf die Plattform www.lebensmittelwertschaetzen.de und auf die vielen privaten Initiativen wie www.foodsharing.de hinweisen, die sich digital auf den Weg machen, um Lebensmittel zu retten und zu teilen. Ihnen allen und den vielen Ehrenamtlichen, die bei den 170 Tafeln in NRW aktiv sind, möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen. Sie alle tragen dazu bei, Lebensmittelabfälle zu vermeiden. Dafür, meine ich und meint die SPD, ist es an der Zeit, das sogenannte Containern nicht unter Strafe zu stellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, wir unterstützen Ihren Antrag, obwohl er aus unserer Sicht, wie ich eben sagte, nicht sehr ambitioniert und weitreichend ist. Dem Entschließungsantrag der Grünen stimmen wir ebenfalls zu. Ich sage mal, er zielt in die richtige Richtung. In der Sache selbst – Vermeidung von Lebensmittelabfällen – werden wir weiterhin im Gespräch bleiben. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Watermann-Krass. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Kollege Rüße.

Norwich Rüße (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lebensmittelverschwendung ist tatsächlich ein großes Problem unserer Gesellschaft. Die Zahlen sind genannt worden. Die Schätzungen reichen von 11 bis 18 Millionen Tonnen, die in Deutschland weggeworfen werden und gar nicht den Teller der Verbraucherinnen und Verbraucher erreichen.

Das sind gewaltige Mengen. Wenn man diese Mengen in Lkw packen würde, dann würden sie eine Schlange von 500.000 Lkw bilden, die von Berlin bis hinter Peking reichen würde. Da passiert also auch eine unglaubliche Energieverschwendung; denn diese Dinge werden ja auch wieder als Abfall in die Biogasanlage usw. hin- und hertransportiert.

Ich kann mich daran erinnern, dass die Kirchen mal einen heftigen Streit darüber geführt haben, ob man überschüssigen Weizen, Brotgetreide, in Öfen verbrennen darf. Darf man das tun? Darüber haben sich Kirchen gestritten. Diese Frage müssten wir hier eigentlich noch viel mehr diskutieren. Darf man mit Lebensmitteln so umgehen, wie wir es uns erlauben?

Das, was wir in Europa an Lebensmitteln wegwerfen, das, was wir uns erlauben, jeden Tag wegzuschmeißen, weil es nicht mehr ganz so ist, wie wir uns das vorstellen, weil es nicht lecker genug war, weil es zu viel auf dem Teller in der Kantine war oder was weiß ich, reicht aus, um alle Hungernden auf dieser Erde zweimal satt zu machen.

Es ist aber nicht nur diese ethische Dimension von Lebensmittelverschwendung, sondern es ist eben auch eine ökologische Dimension. Wir haben heute wieder die Demonstration vor dem Landtag gesehen. Wir haben gesehen, wie viele junge Menschen dafür demonstrieren, dass wir uns als Politik auf den Weg machen und handeln, dass wir etwas tun, damit dieser Planet lebenswert bleibt.

Dazu gehört es natürlich – und das muss man an der Stelle auch so deutlich sagen –, Landwirtschaft so zu betreiben und mit Lebensmitteln so umzugehen, dass wir nicht zu viel produzieren, sondern das, was wir produzieren, auch wirklich nutzen, aufessen und eben nicht in dem Umfang Müll produzieren, wie wir es zurzeit tun.

Das ist, glaube ich, die große Schwäche Ihres Antrags. Das hat mir absolut missfallen. Der Antrag besteht im Wesentlichen aus Wörtern wie „sensibilisieren“, „prüfen“ und „evaluieren“, ob Förderprogramme sinnvoll waren.

Bei aller Wertschätzung für die Tafeln, die sicherlich eine gute und engagierte Arbeit leisten, müssen wir das in Relation setzen. Die Tafeln vermitteln ungefähr 250.000 t Lebensmittel pro Jahr. In Relation zu den 15 Millionen Tonnen gesetzt, die weggeworfen werden, sind wir im Bereich von gut einem Prozent dessen, was die Tafeln tatsächlich wieder nutzbar machen. Das zeigt doch, dass das Problem an der Stelle viel, viel größer ist und wir da eben grundsätzlich rangehen und uns fragen müssen: Warum schätzen wir unsere Lebensmittel nicht wirklich wert?

(Monika Düker [GRÜNE]: Ja!)

Warum fällt es uns so leicht, das alles wegzuwerfen?

(Monika Düker [GRÜNE]: Ja! – Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Das ist die Frage! Ja!)

Das liegt doch daran, dass es tatsächlich nicht den finanziellen Wert hat, den es haben müsste, dass wir, wenn wir im Supermarkt einkaufen gehen, nicht lange überlegen. Wir können uns das alles leisten, und wir können es uns tatsächlich leisten, mit gierigen Augen einzukaufen – viel mehr einzukaufen, als der Magen wirklich braucht. Ich glaube, das muss sich ein Stück weit ändern. Die Preise für die Produkte müssen in eine andere Richtung gehen.

Dazu gehört eben auch – man kann an der Stelle immer viel über Landwirtschaft sagen –: Ja, natürlich müssen in den Kosten für die Produkte im Durchschnitt auch die ökologischen Nebenkosten, die eigentlich nicht verursacht werden dürften, enthalten sein.

Es muss aber auch darüber diskutiert werden, welche Löhne wir auf den Schlachthöfen zahlen. Auf den Schlachthöfen wird schwere körperliche Arbeit geleistet, die gar nicht mehr von uns, sondern von osteuropäischen Arbeitskräften geleistet wird. Ist es richtig, dass wir das als Gesellschaft so machen? Da gibt es natürlich einen Zusammenhang mit der Exportstrategie der Landwirtschaft, dass wir möglichst billig dieses Fleisch auf den Weltmarkt bringen wollen, um konkurrenzfähig zu sein. Das muss sich deutlich ändern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deshalb haben wir den Entschließungsantrag auch gestellt, weil wir die Sachen etwas konkreter machen wollen, als das im Ursprungsantrag der Fall ist. Wir werden uns gleich bei der Abstimmung über den Ursprungsantrag der Stimme enthalten, aber wir sind der Meinung, wir müssen das Thema deutlich stärker und deutlich konkreter anpacken. Wir müssen da wirklich mehr machen, wenn wir es schaffen wollen, die Lebensmittelverschwendung bis zum Jahr 2030 – das ist nicht mehr so weit weg – zu halbieren.

Mit dem Antrag, wie Sie ihn gestellt haben, kommen wir nicht wirklich in diese Richtung. Sie wissen selbst, dass das nicht ausreicht. Mit Blick auf die Tafeln ist das ein netter Antrag, aber ich finde, da hätten Sie mehr auflegen müssen.

Sie nennen Ihren Antrag selbst „Taten statt Worte“. Ich habe eben die Demonstration draußen erlebt. Es gibt viele junge Menschen, die sagen: Politik, macht euch doch einmal auf den Weg. Beschleunigt doch endlich einmal den Umbau der Energiewirtschaft. Tut da was! 

Ich glaube, dass wir hier genau dasselbe haben. Im Jahr 2010 gab es den Film „Taste the Waste“ von Valentin Thurn. Das war im Jahr 2010. Wir befinden uns jetzt im Jahr 2019,

(Zuruf von der AfD)

aber es reicht zu nicht mehr als zu einem Antrag, der sich im Hinblick auf die Tafeln noch nicht einmal mit 1,5 % der Lebensmittelverschwendung beschäftigt.

Ich fordere die Landesregierung zum Beispiel dazu auf, darüber zu diskutieren, was mit unseren landeseigenen Kantinen ist. Was ist mit unserer Kantine hier im Haus? Was tun wir, um da tatsächlich eine nachhaltige Nachfrage, einen nachhaltigen Lebensmittelkonsum anzuregen?

(Zurufe von der CDU)

Hier im Landtag – ich sage das so deutlich – sind wir seit dem Catererwechsel schlechter geworden. Hier ist es nicht besser geworden. Das kann nicht sein. Wir müssten in die andere Richtung gehen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, Sie kommen zum Schluss.

Norwich Rüße (GRÜNE): Ich komme zum Schluss.

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke.

Norwich Rüße (GRÜNE): Ich würde mich freuen, wenn Sie unseren Antrag unterstützen würden, damit wir in der Tat gemeinsam beim Thema „Lebensmittelverschwendung“ konkreter werden und wirklich deutlich mehr erreichen.

Wie gesagt, bei der Abstimmung über den CDU-Antrag werden wir uns der Stimme enthalten. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Rüße. – Nun spricht für die AfD-Fraktion Herr Loose.

Christian Loose*) (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind an Hunger auf der Welt. Wie können wir diesen Menschen helfen? Das geht nur vor Ort. Jede Hilfe vor Ort kann Menschenleben retten, zum Beispiel mit einer Spende für „Brot für die Welt“. Das sind wichtige Themen.

Stattdessen reden wir nun aber über Lebensmittelverschwendung in Deutschland. Ja, in Deutschland gibt es arme Menschen. Diese armen Menschen können sich nicht jeden Tag frisches Obst und schon gar nicht Bio-Obst leisten. Wollen Sie aber wirklich den Menschen den schrumpeligen Apfel aus der letzten Woche geben, nur weil der aus Ihrer Sicht nicht mehr gut aussieht? Nein, das sollten Sie nicht tun.

Wenn Sie wirklich helfen wollen, dann spenden Sie einfach einmal Geld an die Tafeln. Es gibt bei jeder Tafel ein Spendenkonto. Schauen Sie einmal auf die Website der Tafel in Ihrem Ort.

(Zuruf von der CDU)

Dann können die Tafeln entscheiden, was sie mit dem Geld machen und wie den Menschen wirksam geholfen werden kann. Essen Sie den schrumpeligen Apfel lieber selbst, als diesen jemandem anderen andrehen zu wollen.

Liebe Kollegen, es ist doch wirklich keiner so dumm, im Januar 2020 eine Dosensuppe wegzuwerfen, weil das Jahr 2019 als Haltbarkeitsdatum aufgedruckt ist.

(Zuruf von der CDU)

Liebe Kollegen von der CDU und FDP, welches Menschenbild haben Sie eigentlich? Wer, glauben Sie, weiß nach Jahren der Aufklärung noch nicht, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum eben kein Verfallsdatum ist? Sie wollen kurz vor Weihnachten mit Ihrem Antrag lediglich eine Phantomdebatte anstoßen; denn um Fakten geht es Ihnen schon lange nicht mehr.

Die von Ihnen angeführte Studie liegt seit sieben Monaten auf dem Tisch. Die App „Zu gut für die Tonne“ liegt seit sieben Jahren auf dem Tisch. Herr Rüße sagte selbst, es gab doch einmal einen schönen Film im Jahr 2010 dazu. Dann frage ich mich: Wer hat denn von 2010 bis 2017 regiert?

Allein 3 Millionen Tonnen werden jedes Jahr im Bereich der Landwirtschaft weggeworfen. Sie fokussieren sich hier aber auf die Privathaushalte oder auch auf den Fleischer. Dabei ist gerade der Fleischerbetrieb ein Betrieb, der extrem viele Produkte mit langer Haltbarkeit herstellt. Denken Sie nur an die Schinken und Dauerwürste.

Wenn es Ihnen wirklich um die Haltbarkeit von Lebensmitteln und damit um eine Ressourcenschonung ginge, dann sollten Sie auch damit anfangen, unsere Lebensmittel zu schützen. Ich kann Ihnen da etwas empfehlen: Vielleicht haben Sie davon schon etwas gehört. Es nennt sich Plastik. Ich wiederhole es noch einmal für Sie: Plastik!

Ja, die Erfindung von Plastik hat dazu geführt, dass immer weniger Lebensmittel weggeworfen werden.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Und die Erfindung des Klugscheißers!)

Nun sind aber auf Drängen der politischen Kräfte, der vier Verbotsparteien, einige hypermoralische Lebensmittelhändler dazu übergegangen, zum Beispiel das Plastik um die Gurke zu entfernen. Was im Sommer noch funktionierte, weil die Gurke aus Deutschland oder den Niederlanden kam und kurze Transportwege aufwies, scheitert im Winter; denn nun kommen die Gurken aus Südspanien oder von noch weiter her. Aufgrund des längeren Transportwegs fangen die Gurken bereits im Laden an, zu schrumpeln; denn durch das Plastik waren die Gurken vorher vor Wasserverlust geschützt.

(Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Nicht durch das Plastik, sondern …)

Jetzt fehlt aber dieser Schutz. Frau Heinen-Esser, fragen Sie einmal bei Real nach. Gerade erst vor ein paar Wochen gab es dazu einen Bericht in den Nachrichten. Die werfen inzwischen die Gurken weg; denn es fehlt der Schutz.

(Zuruf von der CDU)

Die Gurken schrumpeln. Die Kunden wollen die Gurken nicht mehr kaufen, und die Lebensmittelhändler – das sagen die Lebensmittelhändler selbst – werfen Tausende von Tonnen an Lebensmitteln weg.

Plastik erhält Lebensmittel, ein Plastikverbot schadet hingegen. Bei Ihnen zählt jedoch leider nur noch Ideologie. Sie alle machen da mit, die grüne Ministerin zu allererst.

Stattdessen kommen Sie mit einem nutzlosen Sonntagsantrag oder – besser gesagt – Weihnachtsantrag, den wir ablehnen werden.

Noch kurz zum Entschließungsantrag der Grünen: Verbote und Quoten sind Ihre Lösungen. Sie wollen verpflichtende maximale Abfallquoten. Kommt der Gemüsehändler in den Knast, wenn er zu viel an einem Tag wegwirft? Wie sieht da Ihre Lösung aus, liebe Grüne?

Verbote und Quoten waren schon Instrumente der roten Sozialisten der DDR. Noch leben wir aber in einem halbwegs freien Deutschland. Ihren Sozialismus brauchen und wollen wir nicht.

Wir als AfD werden auch weiterhin für ein freies Deutschland oder eine Rückbesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft kämpfen, auch gegen Ihre Widerstände. Denn die Demokratie braucht Freiheit und keine staatlichen Verbote. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Loose. – Als nächste Rednerin hat für die Landesregierung Frau Ministerin Heinen-Esser das Wort.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst mal danke ich den Fraktionen für die Anträge und dafür, dass wir heute die Gelegenheit haben, das Thema „Lebensmittelverschwendung“ hier im Landtag zu diskutieren.

Es ist in der Tat ein Thema, das diskutiert werden muss. Wir haben eben schon viel über Belastungen für Umwelt und Klima, Inanspruchnahme landwirtschaftlicher Flächen, Wasser, Dünger, Energie gehört – viele Themen, die dabei eine Rolle spielen.

Aber es hätte kein besseres Datum geben können als den heutigen 29. November, um hier im Parlament darüber zu diskutieren. Denn meines Erachtens hat das Thema „Black Friday“ oder „Deal Days“, wie es bei den Discountern heißt, die das Wort „Black Friday“ nicht übernehmen, weil es zu extrem ist – „Deal Days“ heißt es in den Discounter-Anzeigen –, schon etwas damit zu tun, wie wir mit dem Thema „Lebensmittel“ umgehen und wie wir Lebensmittel tatsächlich wertschätzen. Was immer billiger wird und in den Supermärkten kaum noch zu Selbstkosten angeboten wird, kann natürlich nicht wertgeschätzt werden,

(Beifall von Henning Rehbaum [CDU] und Norwich Rüße [GRÜNE])

sondern ist quasi schon im Kopf bereit für die Tonne.

(Beifall von der CDU)

Das ist das Problem, worüber wir hier reden. Jeder Redner hat im Grunde die Zahlen genannt, mit denen wir es zu tun haben. 75 kg pro Kopf werfen die Deutschen weg, 6,1 Millionen Tonnen Lebensmittel werfen die Privathaushalte jährlich weg. Das sind gewaltige Zahlen. Es ist falsch, diese Lebensmittel wegzuwerfen. Das müssen wir klar sagen. Deshalb haben wir als Landesregierung schon sehr umfangreiche Programme, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen.

Wir können nicht in private Haushalte regieren und sagen, wie man es machen muss. Das geht nicht. Aber es geht um Beratung, um Coaching und um Wertschätzung. Das sind genau die Themen, die wir angepackt haben, und zwar insbesondere beispielsweise im Bereich der Außer-Haus-Verpflegung, die es immer mehr gibt. Immer mehr Menschen essen in Kantinen, immer mehr Menschen werden außer Haus versorgt. Auch hier und in den Restaurants landet ein Großteil der Lebensmittel im Müll, und zwar vorzeitig.

Deshalb haben wir zusammen mit der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen – auch das ist schon erwähnt worden – ein ‎Projekt „MehrWertKonsum“, mit dem die Wertschätzung von Lebensmitteln, aber auch der ökonomische Umgang mit Lebensmitteln gelernt wird und Vorbildprojekte gesteuert werden. Das betrifft Schulen, Kindertagesstätten und Jugendherbergen.

Herr Rüße, mal abgesehen davon, dass Sie das Kantinenproblem im Landtag selbst lösen können über Ihren Ältestenrat und die Ausschreibungen für die Landtagskantine, empfehle ich einen Blick darauf, was wir schon längst tun, nämlich zusammen mit dem LANUV ein dreijähriges Programm, in dem wir unsere eigenen Landeskantinen qualifizieren und schulen, wie sie mit diesem Thema umgehen.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Das hat der Kollege gesagt!)

Wir machen das, was Sie tatsächlich wollen.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, wir haben einen Runden Tisch „Neue Wertschätzung für Lebensmittel“, an dem die Vertreter aus der Landwirtschaft, dem Einzelhandel, der Lebensmittelwirtschaft, der Wissenschaft, die Verbraucher- und Wohlfahrtsverbände teilnehmen, mit denen wir insgesamt die Themen diskutieren und schon eine Reihe von Fortschritten erreicht haben.

Wir finden es sehr positiv, dass sich die Bundesregierung das Thema jetzt auch auf ihre Fahnen geschrieben hat mit der nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung. Das ist ein sehr wichtiges Signal, das wir hier in Nordrhein-Westfalen natürlich intensiv unterstützen. Wir als Bundesländer sind in den Dialogprozess eingebunden, sodass wir auch unsere Maßnahmen, unsere Aktionen mit einbringen können.

Auch im Handel fallen in der Tat große Lebensmittelverluste an, und zwar aus vielen Gründen. Es geht nicht nur um genusstaugliche Lebensmittel, die immer noch problemlos verzehrt werden können. Die Diskussion rankt sich immer um die Frage des Mindesthaltbarkeitsdatums. Ist es ein Richtwert oder ein Wert, der tatsächlich eingehalten werden muss? Auf Bundesebene wird immer wieder diskutiert, wie wir damit umgehen. Das ist sicherlich auch ein Thema.

Gut finde ich die Kooperationen des Handels mit sozialen Einrichtungen, hier mit den Tafeln. Wir selbst wollen jetzt auch ein Projekt mit den Tafeln entwickeln, mit dem wir die Tafeln in ihrer Arbeit noch besser ausstatten und unterstützen können – es ist eine gute Verbindung, die es zwischen Handel und Tafeln gibt –, um dafür zu sorgen, dass die Lebensmittel nicht einfach weggeworfen, sondern verzehrt werden.

Zu dem Problem des Containerns: Sie wissen selbst, wo die Probleme insbesondere im Lebensmittelrecht und Hygienerecht liegen, was die Haftbarkeit des Inverkehrbringens beispielsweise von Lebensmitteln betrifft. Das ist nicht einfach zu lösen.

Aber – wie gesagt – ich freue mich, dass hier weitestgehend Einigung im Landtag herrscht. Also, weniger Lebensmittel zu verschwenden, ist vielleicht gerade jetzt in der Weihnachtszeit eine gute Idee. – Danke schön.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Ministerin Heinen-Esser. Gibt es weitere Wortmeldungen? – Das ist nicht der Fall. Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am Schluss der Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Ich lasse – erstens - abstimmen über den Antrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/7910. Hier haben die antragstellenden Fraktionen von CDU und FDP direkte Abstimmung beantragt, sodass ich nun über den Inhalt des Antrags abstimmen lasse. Wer dem Antrag zustimmen möchte, den darf ich jetzt um das Handzeichen bitten. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP, die zwei fraktionslosen Abgeordneten Langguth und Neppe. Gegenstimmen? – Gegenstimmen bei der Fraktion der AfD. Enthaltungen? – Enthaltungen bei der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

(Zuruf)

– Herr Pretzell, fraktionslos, stimmt dagegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit stelle ich fest, dass der Antrag Drucksache 17/7910 die Mehrheit des Hohen Hauses gefunden hat und angenommen ist.

Ich lasse nun – zweitens – abstimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/7989 und darf auch hier um das Votum des Hohen Hauses bitten. Wer zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das sind die Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten von CDU, FDP, AfD sowie alle drei fraktionslosen Abgeordneten. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 17/7989 nicht angenommen, sondern abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss von Tagesordnungspunkt 5.

Ich rufe auf:

6   Pflegende entlasten – pflegebedürftigen Menschen ein selbstbestimmteres Leben ermöglichen! Die Chancen der Digitalisierung in der Pflege flächendeckend und schneller nutzen!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7881

Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau Kollegin Weng für die antragstellende Fraktion der SPD das Wort. Bitte sehr.

Christina Weng (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, Sie stürzen zuhause und liegen bewusstlos auf dem Boden. Früher hätte das vielleicht niemand gemerkt. Heute kann ein sensibler Fußboden einen Sturz erkennen und einen Notruf senden.

Stellen Sie sich vor, Sie müssen regelmäßig Ihre Blutwerte überprüfen lassen, die nächste Klinik ist jedoch weit von Ihrer Wohnung entfernt. Früher hätten Sie die Strecke gezwungenermaßen auf sich nehmen müssen, heute können Sie die Messwerte digital übermitteln und per Videovisite besprechen. Das befürworten übrigens 40 % der befragten Menschen, aber derzeit bieten lediglich 3 % der Praxen diesen Service an.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Pflegekraft und müssen tagtäglich Menschen beim Aufstehen unterstützen, in Rollstühle setzen oder aus dem Bett mobilisieren. Früher hätten Sie diese kräftezehrenden und belastenden Aufgaben zwangsläufig auf sich nehmen müssen, heute kann Pflegerobotik Sie entlasten und so vor körperlichen Folgeschäden bewahren.

Gesund in die Rente, ein heikles Thema für Pflegekräfte.

Bereits heute fehlen in Nordrhein-Westfalen mehr als 10.000 Pflegekräfte. 2035 benötigen wir allein in Nordrhein-Westfalen eine halbe Million von ihnen, also rund 44 % mehr als heute. Diesen eklatanten Mangel und diese sich anbahnende Katastrophe wird die Digitalisierung natürlich nicht aufheben können, denn Pflege ist und bleibt eine Beziehung von Mensch zu Mensch. Digitalisierung in der Pflege wird das nicht ersetzen, aber sie kann mehr Freiräume für Zwischenmenschlichkeit schaffen.

Ziel innovativer Systeme ist, für die pflegebedürftigen Menschen mehr Selbstbestimmung und Sicherheit auch in den eigenen vier Wänden zu garantieren. Diese Potenziale zu nutzen, sollte der Anspruch einer zukunftsgerichteten Pflegepolitik sein. Diesen Anspruch verfolgen wir als SPD. Die verwendete Technik muss sicher sein, und die Menschen müssen sie sicher nutzen können. In unserem Antrag haben wir dazu vier Grundsätze herausgearbeitet.

Erstens. Digitale Dokumentation hilft, wenn Prozesse intelligent verknüpft werden.

Nach wie vor verbrauchen Dokumentationsprozesse sehr viel Zeit und Ressourcen, die für die Betreuung von Patientinnen und Patienten fehlt. Sinnvoll eingesetzte Pflegesoftware als Bestandteil einer elektronischen Patientenakte ermöglicht einen besseren Informationsfluss, schafft mehr Transparenz, verhindert Redundanzen und damit Bürokratie. Das verhindert Fehler und trägt zur Qualitätssteigerung bei. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Kommunikation zwischen Berufsgruppen, Sektoren und Systemen barrierefrei und ohne Schnittstellenproblematik endlich realisiert wird.

Eine digitale Pflegedokumentation ist in der Lage, einen großen Datenschatz zu generieren. Unter dem Stichwort „Big Data“ und gepaart mit künstlicher Intelligenz ergeben sich wichtige Hinweise für Verbesserungen in der Patientenversorgung. Datensicherheit und Datenschutz müssen dabei natürlich höchste Priorität behalten, denn der Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung gilt.

Der zweite Grundsatz lautet: Digitale Assistenzsysteme denken mit, wenn das Denken schwerer wird.

Technische Assistenzsysteme wie sensible Fußböden, automatische Herdabschaltungen oder interaktive und sensitive Betten können eine wachsame Unterstützung sein, damit besonders ältere Menschen weiterhin zuhause, aber auch in stationären Einrichtungen selbstbestimmter leben können. Wichtig dabei ist, dass ethische Grundsätze, ein würdevoller Umgang mit den Patientinnen und Patienten nicht vernachlässigt wird.

Der dritte Grundsatz: Telecare kann Entfernungen überwinden, wenn Wege zu weit sind oder die persönliche Mobilität nachlässt.

Der bestehende Fachkräftemangel in der Pflege sorgt zunehmend für Versorgungsengpässe. Telecare kann durch virtuelle Kommunikation einerseits für Arbeitsentlastung von Pflegekräften sorgen, beispielsweise durch eine Videovisite und gegebenenfalls in Kombination mit ärztlicher Unterstützung. Andererseits kann Telecare den Patientinnen und Patienten teilweise weite Anfahrten zu Krankenhäusern ersparen. Das funktioniert allerdings nur mit einer flächendeckenden Breitbandversorgung. Die ist aber gerade im ländlichen Raum, wo Telemedizin und Telecare den größten Nutzen bedeuten könnten, vielerorts noch Fehlanzeige. Dazu haben wir gestern sehr viel gehört.

Einen Grundsatz habe ich noch: Robotik schafft Zeit für Zwischenmenschlichkeit, wenn sie die Kraft der Pflegenden schont.

Pflegeroboter werden Pflegekräfte nicht ersetzen, sondern lediglich die Rolle eines Werkzeugs einnehmen. Sie können bei kräftezehrenden Aufgaben entlasten, bei Routinen unterstützen und den Zugang zu Pflegebedürftigen mit demenziellen und Alzheimererkrankungen erleichtern. Wir fordern dabei grundsätzlich: Robotik in der Pflege muss sicher, einfach zu bedienen, verfügbar und anpassungsfähig sein. Darüber hinaus muss Robotik unter der Beteiligung von Pflegeerfahrenen mit- und weiterentwickelt werden. Für all das brauchen wir klare gesetzliche Regelungen in puncto Qualität, Haftung und Finanzierung.

Innovationspotenzial und auch Technologien in diesem Bereich sind vorhanden, aber bisher nur bei vereinzelten Forschungs- und Pilotprojekten. Es fehlen die Investitions- und Betriebsmittel für einen strategisch angelegten Digitalpakt Gesundheit.

Über Digitalisierung wird viel gesprochen. Real in den Gesundheitseinrichtungen findet man sie aber noch nicht. Dort tobt der Kampf um die Köpfe, um die Renditeerwartungen der Träger. Dort fehlt das Geld für Investitionen in zeitgemäße Technik, für Um- und Neubauten, für die Refinanzierung der Mieten für Pflegeschulen und, und, und. Diese Probleme waren das ganze Jahr Thema hier im Hohen Haus.

Herr Laumann, Sie sagen doch so gerne, dass Sie der Anwalt der Pflege sind. Sie investieren 2019 und 2020 in die Zentralisierung, in die Schließung von Klinikstandorten und in den Krankenhausbettenabbau. Aber in das Zukunftsthema „Digitalisierung im Gesundheitswesen“, speziell in der Pflege, investieren Sie nicht.

Das Essener RWI schlägt in einem Gutachten für das BMG ein Investitionsprogramm „Digital Boost“ von Bund und Ländern über acht Jahre vor, an dem sich Nordrhein-Westfalen unbedingt beteiligen sollte. Herr Laumann, unterstützen Sie diese Initiative. Bis es so weit ist, lassen Sie uns doch vorangehen und ein entsprechendes Landesprogramm auflegen.

(Beifall von der SPD)

Deutlich kleinere Länder wie Estland oder Dänemark haben seit vielen Jahren eine Health-Strategie. Digitalisierte Prozesse und Verfahren sind dort realisiert. Deutschland hingegen hinkt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich deutlich hinterher. In einer von Bertelsmann beauftragten Studie erreichten wir bei 17 untersuchten Ländern immerhin Platz 16.

Was andere Länder können, können wir doch auch. Aber dazu müssen wir andere Schwerpunkte setzen, Herr Laumann. Aus technischem Fortschritt sozialen Fortschritt machen, das ist das Credo der SPD. Das sollte auch unser gemeinsames Credo werden. Dafür müssen wir das Gesundheitssystem wieder viel mehr von den Patientinnen und Patienten her denken. Denn sie sind keine Kunden, und Gesundheit ist keine Ware. Allerdings müssen wir dafür das vorhandene Geld anders als bisher einsetzen. Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Weng. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Kollege Schmitz das Wort. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Marco Schmitz (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin positiv überrascht, dass auch die SPD-Fraktion inzwischen erkennt, was die NRW-Koalition schon lange festgestellt hat, nämlich dass Digitalisierung Chancen birgt.

(Christina Weng [SPD]: Aber nichts getan!)

Wir sollten, nein, wir müssen die Chancen der Digitalisierung in der Pflege definitiv nutzen; denn sowohl den Pflegenden als auch den pflegebedürftigen Personen bringt die Digitalisierung maßgebliche zeitliche, qualitative und ressourcenschonende Vorteile.

Die NRW-Koalition hat in der Digitalstrategie daher dem Thema „Gesundheit und Pflege“ ein eigenes Kapitel gewidmet. Die ohnehin schon hohe Qualität der medizinischen Versorgung, die in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen zu den weltweit besten zählt, ist in den vergangenen Jahren durch die fortschreitende Digitalisierung noch weiter verbessert worden.

Nordrhein-Westfalen ist bundesweit führend beim Aufbau der Telematikinfrastruktur und der Einführung elektronisch gestützter medizinischer Anwendungen wie dem Notfalldatenmanagement, der Arzneimitteldokumentation und der elektronischen Fallakte. Die NRW-Koalition will diese Vorteile nutzen und die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen intensiver ausschöpfen.

Genau deshalb führen wir zum Beispiel das Virtuelle Krankenhaus ein. Unser Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hat es vor einigen Wochen vorgestellt. Diese digitale Plattform wird fachärztliche Expertise landesweit bündeln und besser zugänglich machen.

Dabei ermöglichen wir die Einbindung von Patienten und die Kommunikation zwischen den Leistungserbringern. Wir hoffen, dass das Virtuelle Krankenhaus – davon gehe ich aus – im Frühjahr des nächsten Jahres starten wird.

Die NRW-Koalition und die Landesregierung arbeiten zudem an dem Ziel, Patientendaten auch durch elektronische Patientenakten einrichtungsübergreifend verfügbar zu machen, um die Versorgung von Patienten mit Teletherapie, Telemonitoring sowie Telekonsilen zu unterstützen. Wir wollen die Digitalisierung nutzen, um zu einer besseren Kommunikation und Kooperation zwischen den Einrichtungen und den zu Pflegenden zu kommen.

Allerdings – und das gehört auch dazu –: Ohne die Akzeptanz derjenigen, die diese Sachen nutzen sollen, werden wir da nicht weiterkommen.

Digitalisierung heißt im Gesundheitswesen daher zuallererst Vernetzung. Der Aufbau der Telematikinfrastruktur für ganz Deutschland ist eines der größten IT-Projekte in Europa mit einer sehr hohen Komplexität. Bis 2020 soll die Telematikinfrastruktur in Nordrhein-Westfalen stehen.

Daneben gibt es in den Pflegeheimen und unter den Angehörigen der nichtapprobierten Gesundheitsberufe einen hohen Bedarf an neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Das haben Sie im Antrag ja auch beschrieben. Auch sie müssen und sollen am digitalen Austausch teilnehmen.

Neben Diagnose und Therapie können digitale Technologien auch organisatorische Abläufe im Pflege- und Gesundheitswesen unterstützen. Patienten profitieren davon, wenn die Krankheitsgeschichte für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte direkt einsehbar ist oder wenn manche Besuche auch überflüssig werden, weil die Sprechstunde online von zu Hause oder von einer Pflegeeinrichtung erfolgen kann.

Auch bei dem Übergang zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen, insbesondere von der medizinischen zur ambulanten oder stationären pflegerischen Versorgung, bieten digitale Prozesse eine wesentliche Vereinfachung und erhöhte Sicherheit.

Technikeinsatz kann insbesondere älteren oder pflegebedürftigen Menschen das Leben erleichtern. Die NRW-Koalition setzt sich daher dafür ein, digitale Angebote benutzerfreundlich und bekannt zu machen, die es älteren oder pflegebedürftigen Menschen erlauben, möglichst lange am Ort ihrer Wahl wohnen zu bleiben.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Schmitz, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Frau Kollegin Lück.

Marco Schmitz (CDU): Bitte.

Angela Lück (SPD): Vielen Dank, Herr Schmitz, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben sehr deutlich ausgeführt, dass sich die NRW-Koalition das Thema „Digitalisierung in der Pflege“ auf die Fahne geschrieben hat und da sehr viel machen möchte.

Mich würden nun Ihre praktischen Ansätze interessieren. Wir haben eben gehört, dass überhaupt erst 3 % der Praxen in NRW in der Lage sind, digitale Angebote zu machen. Wie werden Sie das anpacken? Wie werden Sie die weiteren Praxen befähigen, digitale Angebote zu entwickeln, um eine bessere Versorgung herstellen zu können?

Marco Schmitz (CDU): Danke sehr, Frau Kollegin. – Ich habe es ja eben schon ausgeführt: Unter anderem ist natürlich die Plattform „Das Virtuelle Krankenhaus“ eine der wichtigsten Einrichtungen, die zur Vernetzung zwischen den Praxen, den behandelnden Ärzten und den Pflegeeinrichtungen zur Verfügung steht, um die Menschen mitzunehmen.

Zum anderen muss Geld in die Hand genommen werden, um Einrichtungen zu unterstützen.

(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)

– Ja, lassen Sie mich das ausführen.

Wir haben zum Beispiel den DigitalPakt Schule, über den Geld – ich komme gleich noch einmal darauf – in die Pflegeberufsschulen geht, um die Schülerinnen und Schüler fit für die Digitalisierung zu machen.

Es ist natürlich die Frage, wer am Ende der Kostenträger ist. Sind es die Kassen? Ist es die Rentenversicherung? Das muss noch ausgehandelt werden. Ich gehe im Laufe der Rede gleich noch darauf ein. Wenn Sie danach noch Fragen haben – ich beantworte heute alles, was mir möglich ist.

(Angela Lück [SPD]: Sehr schön!)

Ich war bei den älteren und pflegebedürftigen Menschen stehen geblieben. Das Problem ist, dass sie erst einmal den technischen Umgang mit den Geräten lernen müssen. Dafür gibt es den Landesförderplan Alter und Pflege. Hierüber werden ältere Menschen bereits im Umgang mit Technik gefördert.

Gefördert werden aber auch die Entwicklungen für Arbeit und technische Assistenzsysteme, die das Leben alter oder pflegebedürftiger Menschen zu Hause einfacher und sicherer machen. Arbeitsabläufe in der Pflege und in der sozialen Beratung sollen vereinfacht werden.

Die Ergänzung technischer Assistenzsysteme mit der Möglichkeit der Telemedizin soll darüber hinaus die Versorgung schwerstpflegebedürftiger Menschen in ihrem häuslichen Umfeld erleichtern. Solche Szenarien können zum Beispiel bei beatmungspflichtigen Patienten Lebensqualität und Krankheitsverlauf verbessern.

Dokumentationen von Leistungen und Krankheitsverläufen sind in einem modernen Gesundheitswesen nicht nur unumgänglich, sondern tragen auch zur gezielten Steuerung von Pflege und Therapie bei. Durch die Digitalisierung können Informationen wesentlich einfacher erfasst und aktuell zur Verfügung gestellt werden.

Die Landesregierung trägt daher dazu bei, Verwaltungsprozesse in der Pflege auf elektronische Verfahren umzustellen. Denn: Die Pflege ist für den Menschen da, und die Digitalisierung muss genau dafür Zeit schaffen.

Die Chancen und Vorteile, welche die Digitalisierung im Bereich der Pflege mit sich bringen, und auch die nicht von der Hand zu weisende Notwendigkeit, diese zu nutzen, sind allgegenwärtig.

Neben den gerade bereits erläuterten Fällen wurden auf Bundesebene bereits die notwendigen Weichen gestellt. Gerne verweise ich hier noch einmal auf die Initiative „Konzertierte Aktion Pflege“, die Ihnen sicherlich bekannt sein wird. Genau diese behandelt schon die Themen, die Sie im vorliegenden Antrag ansprechen. Auch auf Landesebene wird an der Umsetzung des Bundesprogramms gearbeitet. Der dafür zuständige Landesausschuss für Pflege und Alter befasst sich längst mit der Umsetzung der Ergebnisse.

Wie auch auf Bundesebene kümmert sich die „Arbeitsgruppe 3: Innovative Versorgungsansätze und Digitalisierung“ um die Vorteile und Herausforderungen, die mit dem Einsatz technologischer und digitaler Mittel in der Pflege verbunden sind.

Konkret fallen die vier Anwendungsbereiche, die Sie in Ihrem Antrag auch genannt haben – elektronische Pflegedokumentation, technische Assistenzsysteme, Telecare und Robotik –, in den Bereich dieser Arbeitsgruppe. Ich möchte kurz auf die einzelnen Punkte eingehen:

Elektronische Pflegedokumentation: Dass eine effiziente Dokumentationspraxis einen erheblichen Vorteil und eine enorme Entlastung in der Pflege darstellt, wissen wir alle. Bei zielgerichteter Anwendung werden ein hoher Dokumentationsstandard und somit qualitativ hochwertigere Ergebnisse erzielt.

Technische Assistenzsysteme können einen erheblichen Einfluss auf die Selbstständigkeit und die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen haben. Diese können dann beispielsweise länger in ihren eigenen vier Wänden wohnen bleiben und müssen das gewohnte Umfeld nicht verlassen. Auch für das Pflegefachpersonal stellen gut integrierte Lösungen eine Erleichterung dar.

Ihre Behauptung, dass es sich beim Einsatz von technischen Assistenzsystemen, wie Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, bisher eher um Pilot- und Inselprojekte handelt, kann man mithilfe der Publikation – ich stelle Ihnen den Link nachher gerne zur Verfügung – „Pflege 4.0 – Einsatz moderner Technologien aus der Sicht professionell Pflegender“ widerlegen. Diese ist bereits 2017 erschienen.

Laut der Publikation werden technische Assistenzsysteme – in größerem Umfang als bislang in der Forschung und Praxis angenommen – bereits in der Pflege eingesetzt. Auch sind Pflegende demnach offener gegenüber entsprechenden Technologien, einfach weil es ihre Lebensqualität im Alltag verbessert.

Robotik in der Pflege: Je mehr und vor allem auch zielgerichteter wir die Vorteile des digitalen Wandels in der Pflege nutzen, desto größer ist der Gewinn für uns alle, sei es durch Telecare, Robotik, elektronische Patientenakte oder technische Assistenzsysteme. Alles, was einen Mehrwert und Entlastung im Bereich der Pflege mit sich bringt, sollte und muss gefördert werden.

Roboter aber sollten – das haben Sie auch gesagt – werkzeugähnlich eingesetzt werden und nicht, um Menschen zu ersetzen. Es darf hier nur um eine Unterstützung der Pflegerinnen und Pfleger und die Interaktion gehen. Viele von Ihnen kennen sicherlich Pepper, der in einigen Caritaseinrichtungen mit Demenzkranken kommuniziert, oder die bekannte Robbe, ein Roboter, der den Menschen hilft, Emotionen zu entwickeln.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dem Antrag heben Sie hervor, wie wichtig es ist, dass Digitalisierung bereits in der Pflegeausbildung ein wichtiger Bestandteil ist. Das ist völlig richtig und wichtig. Daher werden wir in den Curricula der neuen generalistischen Pflegeausbildung digitale Inhalte verankern. Digitale Lernmethoden und die Vermittlung digitaler Kompetenzen sind hier ein fester Bestandteil. Ein Beispiel ist der Umgang mit digitalen und mobilen Endgeräten, aber auch mit anderen Geräten.

Das bundesweite Förderprogramm DigitalPakt Schule, in dem unter anderem Pflegeschulen berücksichtigt werden, setzen wir in Nordrhein-Westfalen ebenfalls um. Um die Digitalisierung der Schulen voranzutreiben, bedarf es der Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zu deren Förderungen. Nur so können Maßnahmen wie eine bessere Ausstattung der Schulen mit digitaler Technik umgesetzt, infrastrukturelle Grundlagen für die digitale Bildung in den Schulen geschaffen und Investitionshilfen als Anschub geleistet werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Vieles aus Ihrem Antrag wird von der NRW-Koalition und der Landesregierung bereits umgesetzt. Nichtsdestotrotz stimmen wir natürlich der Überweisung an den Ausschuss zu.

Ich freue mich auf eine fruchtbringende Debatte; denn alles, was wir zum Wohle der zu Pflegenden und ihrer Angehörigen, aber auch der Pflegerinnen und Pfleger mithilfe der Digitalisierung machen können, sollten wir verbessern, gemeinsam prüfen und versuchen, es umzusetzen. – Danke sehr.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP-Fraktion hat nun die Abgeordnete Frau Schneider das Wort.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Digital first. Bedenken second“ – das hat die FDP in ihrer DNA. Auch deshalb stellen wir mit Herrn Professor Pinkwart den ersten Minister für Digitalisierung in Nordrhein-Westfalen. Aber auch unseren Gesundheitsminister haben wir inzwischen durchaus mit dem Digitalisierungsvirus infiziert.

Die Digitalisierung verändert und durchdringt derzeit alle Lebensbereiche. Gerade in der Pflege bietet sie ein großes Potenzial für die Pflegebedürftigen, aber auch für die Pflegenden durch die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.

Beim Antrag der SPD schwingt jedoch unterschwellig das „second“, sprich: die Bedenken, mit. Ganz zu Beginn des Antragstextes wird davor gewarnt, die Pflege zu entpersonalisieren.

Diese Einschätzung teile ich ausdrücklich nicht. Wenn wir die Digitalisierung richtig nutzen, können wir den Pflegenden zurückgeben, was ihnen momentan viel zu oft fehlt, nämlich Zeit – Zeit für den Menschen, Zeit für die Pflege am Bett. Damit haben wir die Chance, die persönliche Zuwendung in der Pflege weiter zu stärken.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Auch müssen wir den Mut haben, Dinge grundsätzlich anzugehen. Eine Vielzahl von Forschern und Unternehmen arbeitet derzeit daran, die Pflege digitaler zu machen. Wir dürfen die Ergebnisse aber nicht als neue Werkzeuge sehen, sondern müssen auch Prozesse völlig neu denken und optimieren.

Tatsächlich werden viele Chancen der Digitalisierung noch nicht so genutzt, wie es vielleicht möglich wäre. Wir müssen diese Potenziale heben, damit digitale Technologie Pflegende zeitlich und körperlich entlastet. Damit stärken wir diesen wunderbaren Beruf und machen ihn auf diese Weise attraktiver.

Die SPD tut jetzt so, als würde sie mit ihrer Initiative das Rad gänzlich neu erfinden. Tatsächlich kommt der Antrag aber arg bescheiden daher. Wirklich Neues ist nicht dabei. Die Zusammenstellung war bestimmt eine ziemliche Fleißarbeit. Die Bearbeiter hätten sich jedoch lieber Zeit dafür nehmen sollen, die Realität im Lande und die vorhandenen Fortschritte zur Kenntnis zu nehmen.

(Beifall von der FDP)

Die NRW-Koalition aus Union und FDP hat bei allen Vorhaben immer auch die Digitalisierung mitgedacht. Bereits bei der Novelle des Wohn- und Teilhabegesetzes wurde ein Schwerpunkt auf digitale Lösungen gesetzt, um die Qualität der Pflege zu steigern. Eine App ermöglicht Bürgerinnen und Bürgern künftig einen schnellen Überblick darüber, welcher Pflegeplatz in ihrer Nähe, in ihrer Region frei ist und zur Verfügung steht. Dies gab es bisher nur in wenigen Kommunen.

Zudem wurden alle Pflegeeinrichtungen verpflichtet, mit WLAN-Netzen einen flächendeckenden Internetzugang für die Bewohnerinnen und Bewohner sicherzustellen, und zwar nicht nur, damit diese mal eben ins Internet gehen können, sondern auch um über das Tablet eventuell nachzufragen, wer vor der Zimmertür steht, oder um vom Bett aus über das Tablet das Licht an- und auszuschalten und Geräte bedienen zu können. Das bringt mehr Selbstbestimmung für die Pflegebedürftigen.

Wer digitale Technologien nutzt, muss sie auch bedienen können. Daher muss die Digitalisierung nicht nur ein elementarer Bestandteil der Ausbildung der Pflegenden sein. Vielmehr bedarf es dort auch einer regelmäßigen Fortbildung, um mit der technologischen Weiterentwicklung Schritt zu halten.

Auch hier hat die NRW-Koalition bereits erste Maßnahmen ergriffen. In den neuen Rahmenlehrplänen der generalistischen Pflegeausbildung sind digitale Lehrmethoden und Kompetenzen nun fest verankert. Damit für die notwendige Hardware gesorgt ist, wurden Pflegeschulen im DigitalPakt Schule berücksichtigt. Rund 20 Millionen Euro stehen für eine bessere Ausstattung von Pflegschulen mit digitaler Technik zur Verfügung. Hochschulen und Universitäten arbeiten zudem an Weiterbildungsmaßnahmen in der Pflege und bringen innovative Angebote auf den Markt.

Die lieben Kolleginnen und Kollegen der SPD laufen der tatsächlichen Entwicklung somit ein kleines bisschen hinterher.

(Angela Lück [SPD]: Wenn man den Antrag nicht verstanden hat, kann man das so sehen, ja!)

Auch eine Arbeitsgruppe des Landesausschusses Alter und Pflege beschäftigt sich bereits mit Digitalisierung und innovativen Versorgungslösungen. Dazu zählen unter anderem Telematik, der Einsatz technischer Unterstützungssysteme, elektronische Dokumentation und digitale Abrechnung.

Selbst im Landesförderplan Alter und Pflege wird die Digitalisierung berücksichtigt. So können zum Beispiel die Entwicklung von Konzepten zur Anwendung technischer Assistenzsysteme in der Pflege, die Analyse von Wirkung und Nutzung von digitaler Technik sowie die Heranführung älterer Menschen an digitale Technik gefördert werden. Das sollten auch die Antragsteller zur Kenntnis nehmen.

(Beifall von der FDP und von Marco Schmitz [CDU] – Angela Lück [SPD]: Unglaublich!)

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, die Zeiten, in denen Pflegekräfte mit Dokumentationsmappen unterwegs sind, müssen so schnell wie möglich der Vergangenheit angehören. Einrichtungen, die bereits jetzt elektronische Pflegedokumentationen nutzen, machen positive Erfahrungen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden von erheblichem Zeitdruck befreit, sodass mehr Zeit für die Betreuung der Pflegebedürftigen bleibt. Vor allem aber helfen solche Systeme auch dabei, dass Aufgaben im hektischen Alltag viel seltener vergessen werden, weil unerledigte Dienste deutlicher angezeigt werden. Unser Gesundheitsminister arbeitet daher intensiv daran, die digitale Patientenakte in Nordrhein-Westfalen umsetzungsfähig zu machen.

Werte Kolleginnen und Kollegen, wenn die rot-grüne Vorgängerregierung in dieser Hinsicht auch so hinterher gewesen wäre, wären wir längst deutlich weiter.

(Beifall von der FDP – Angela Lück [SPD]: Ach, die Geschichte!)

Beim Einsatz von Pflegerobotern ist die Bevölkerung wahrscheinlich viel weiter als die Politik und noch viel weiter als die SPD. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geht davon aus, dass Pflegeroboter in zehn Jahren längst zum pflegerischen Alltag gehören werden. Viele Länder, wie zum Beispiel Dänemark, sind in der Praxis schon weiter und nutzen die Roboter viel selbstverständlicher für banale und einfache Tätigkeiten.

Bei allen Vorteilen und Chancen, die die Digitalisierung mit sich bringt: Sie ist kein Selbstzweck. Deshalb muss ausreichend Raum für Evaluation und Selbstreflexion neuer Anwendungen und Technologien geschaffen werden. Auch muss der Schutz der Patientendaten und der Privatsphäre von Pflegebedürftigen immer Priorität haben.

Ich freue mich auf eine intensive Debatte im Ausschuss. Wenn wir dort alle Chancen der Digitalisierung richtig und nicht nur halbherzig in den Vordergrund stellen, werden wir in einigen Punkten vielleicht auch einen Konsens darüber erzielen können, wie man Pflegende und Pflegebedürftige entlasten kann. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Regina Kopp-Herr [SPD]: Was ist denn halbherzig an dem Antrag?)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Herr Abgeordneter Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte, um es einmal vorsichtig auszudrücken, ist ritualisiert abgelaufen.

(Zuruf von Christina Weng [SPD])

– Ich meinte ausdrücklich die Debatte, nicht die Einbringung des Antrags, Frau Kollegin.

Wir reden hier – ich komme direkt zur Entstehung der Hardware – seit fast 40 Jahren darüber, wie wir in der Informationstechnologie vorankommen sollen. Es war, liebe Frau Kollegin Schneider – und dafür lobe ich Sie mal –, eine SPD/FDP-Bundesregierung, die im Oktober 1981 zwar den Ausbau des Glasfasernetzes zwischen 1985 und 2015 beschlossen, aber leider nicht umgesetzt hat. Das Niveau hatte diese Debatte gerade. Das, was hier abgelaufen ist, war mutlos, rückwärtsgewandt und langweilig. Solch ein Vorgehen können wir uns nicht weiter leisten.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Mir ist es mittlerweile auch egal, ob es Mike Groschek war, der den Glasfaserausbau vor zwei Jahren nicht mutig genug weiter vorangebracht hat, oder ob Herr Pinkwart jetzt auf einer Schleife steht oder nicht. Deutschland hat bei der Digitalisierung einen Zustand erreicht, der unserem Anspruch, Fortschrittsland zu sein, nicht mehr gerecht wird. Das können wir uns so nicht mehr leisten.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Frau Kollegin Schneider, Herr Kollege Schmitz, in den Debatten heißt es immer, alles sei prima, die Ausschüsse würden sich damit befassen usw. Die Telematik und die gematik scheitern doch nicht am Datenschutz. Sie scheitern daran, dass sich die Konkurrenten nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagel gönnen. Da müssen wir vorangehen und besser werden, und zwar gemeinsam, ohne immer mit dem Finger auf den anderen zu zeigen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Heute findet wieder ein Klimastreik der Initiative „Fridays for Future“ statt. Die jungen Menschen, die protestieren, werden manchmal belächelt und ins Lächerliche gezogen, sei es, ob sie konkrete Forderungen zur Klimapolitik haben oder nicht, sei es, dass ihre Eltern sie mit dem SUV abholen. Ich kann Ihnen nur sagen: Diese jungen Menschen machen uns vor, was Zukunftsgewandtheit heißt. Sie haben eine klare Vision davon, dass die Welt anders werden muss, dass wir in der Klimapolitik besser werden müssen.

Diesen Mut wünsche ich mir auch im Bereich der Digitalisierung. Bei der Robotik müssen wir besser werden. Wir dürfen uns nicht gegenseitig beweihräuchern und mit dem Finger aufeinander zeigen. Das ist der Debatte überhaupt nicht angemessen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Was die einzelnen Punkte in dem Antrag angeht, so müssten wir uns doch wirklich anstrengen – der Minister wird das wahrscheinlich gleich ausführen –, um überhaupt einen Widerspruch im Parlament zu entwickeln.

Man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen, wenn es um das Thema „Robotik“ geht, wenn es um ethische Fragen geht. Aber wir, die fachlich dahinterstehen, wissen doch, dass wir es ohne Robotik, ohne mehr Digitalisierung, ohne deutlich mehr Fortschritt, ohne vernünftige Konzepte in den Pflegeheimen vor Ort schlicht nicht schaffen werden. Dann werden wir ein Entwicklungsland in der Pflege und rückständig sein.

Wir müssen besser werden. Wir müssen mehr Technik einsetzen. All das müssen wir allerdings mit vernünftigen Konzepten hinterlegen, die die Menschen verstehen, die in den Pflegeheimen dazu führen, dass die Pflegedienstleitung das als eine der wichtigsten Aufgaben ansieht. Diese Konzepte müssen dazu führen, dass die Beschäftigten die Digitalisierung gut finden, sich darüber freuen und einen Mehrwert darin sehen. Das ist unsere Aufgabe. Wir dürfen aber nicht mit dem Finger aufeinander zeigen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Deswegen unterbreite ich Ihnen einen Vorschlag, ohne hier jetzt über einzelne Punkte zu reden: Dieser Antrag wird ja an den Ausschuss überwiesen. Dann sollten wir uns ernsthaft und ohne Ansehen der Farben darüber unterhalten, wie wir besser werden können, an welchen Anknüpfungspunkten die Kommunen tätig werden müssen, an welchen Anknüpfungspunkten das Ministerium oder das Land tätig werden müssen, wo die Infrastruktur bereitgestellt werden muss, wo wir das verknüpfen müssen und wo im Zweifel das Geld herkommt.

Ich rege ausdrücklich an: Lassen Sie uns das bei dem Thema ohne Ansicht der Farben machen, ohne gegenseitig mit dem Finger auf uns zu zeigen. Es lohnt sich wirklich, ergebnisoffen über dieses Thema zu diskutieren, mit der klaren Perspektive der Verbesserung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich finde den Antrag sehr in Ordnung. Natürlich könnte ich jetzt viele Punkte nennen, warum das auf der Bundesebene nicht funktionierte, warum wir bei der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit besser sein müssen, warum sich auch gesetzliche Rahmenbedingungen ändern müssen. All das können wir im Ausschuss besprechen.

Lassen Sie uns heute diesen Aufschlag nutzen, um auf diesem Feld besser zu werden und gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Es lohnt sich wirklich. Die Pflege ist einer der wichtigsten Bereiche, in denen wir vorankommen müssen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die AfD spricht nun Herr Abgeordneter Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn die SPD Chancen nutzen will, dann sieht das wie folgt aus: Die Überschrift lautet „Die Chancen der Digitalisierung in der Pflege flächendeckend und schneller nutzen!“ Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten die ersten drei Sätze aus dem Antrag:

„Pflege ist eine Beziehung von Mensch zu Mensch. Digitalisierung in der Pflege kann das nicht ersetzen. Digitale Technik darf nicht dazu führen, dass Pflege entpersonalisiert wird.“

Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass mit dem Einsatz von Technik auch mehr Zeit von Mensch zu Mensch verbunden sein kann. Sie kommen nicht auf die Idee, dass, wenn wir einige Vorgänge digitalisieren, die Pflegekraft dann endlich wieder Zeit hat, um sich um das zu kümmern, wofür sie eigentlich einmal den Beruf gewählt hat.

Also, bevor die SPD in ihrem Antrag über irgendeine Möglichkeit zum Einsatz neuer Technik nachdenkt, schickt sie lieber das Prunkstück ihrer damals allzu schicken Flotte auf den Weg: den Bedenkenträger.

Es ist manchmal fast ein wenig drollig, wenn die SPD mit aller Macht versucht, in der Moderne anzukommen, sich irgendwie ein neues Profil zuzulegen und frischer zu wirken. Aber es bleibt eben doch das Bild im Kopf, wie man versucht, seinem Großvater die neue Fernbedienung für den Fernseher zu erklären.

Dann wird es auf einmal interessant im Text: Die SPD zitiert McKinsey. Jetzt geht es darum, wo man im deutschen Gesundheitssystem mithilfe der Digitalisierung etwas sparen kann, nämlich immerhin 9 Milliarden Euro, wenn man nur genügend Stationshilfen, Schreibkräfte und Sekretärinnen durch Telematik ersetzt. – Wenn die SPD es mit Marktwirtschaft versucht, dann wird es nicht mehr drollig. Dann wird es gruselig.

Aber weiter: Es werden im Antrag endlich die Hilfsmittel in der Pflege genannt, die für die SPD die Zukunft bedeuten. Als Beispiel wird die Sensorfußmatte – hier im Antrag ist von intelligenten Fußböden die Rede – genannt. Ich habe mal auf eBay nachgeschaut. Gebraucht bekommt man relativ gute schon für 9 Euro. Die sind dann schon ein paar Jahre alt. Also, die Investitionskosten wären gar nicht so hoch, wenn sich die SPD 2019 die Innovationen der Pflegetechnikmesse anno 2001 endlich zulegen möchte.

(Beifall von der AfD)

Oder auch ein schöner Vorschlag: Geräte mit großen Bildschirmen. In jedem Prospekt von Aldi, Saturn oder Media Markt finden wir Seniorenhandys für 20,99 Euro. Das wäre auch nicht so teuer.

Ich habe eigentlich noch darauf gewartet, dass Sie endlich die flächendeckende Einführung von Bettlifts in der Pflege vorschlagen, eine Erfindung, wenn ich das richtig recherchiert habe, meines Ururururgroßvaters, Dr. Vincentz. Aber das war Ihnen vielleicht doch noch zu modern.

(Christina Weng [SPD]: Darum sind die auch noch nicht digital!)

Dann geht es um Telemedizin und die irrige Annahme, ausgerechnet dazu bräuchte man jetzt den Breitbandausbau.

Videotelefonie, liebe SPD, ist mittlerweile technisch so komprimiert worden, dass es selbst in den meisten Ecken unseres Landes, das lange von der SPD geführt wurde, heute schon funktioniert.

Man könnte auch sagen „Die Zukunft ist fast schon in der Gegenwart angekommen“ oder doch lieber „Hallo, liebe SPD, aufwachen!“.

Kommen wir zum Schluss. Sie fordern, ohne Fortbildung wird die Digitalisierung in der Pflege kein Erfolg – absolute Zustimmung. Vielleicht fangen wir bei der SPD damit an.

Sie hätten zum Beispiel unseren Anträgen zur IT-Sicherheit im Gesundheitssystem zustimmen können. Die haben wir nicht nur hier im Plenum eingebracht, sondern auch für den Haushalt.

Das wäre ein erster Schritt gewesen, um all Ihren Bedenken nachzukommen und zum Beispiel dafür zu sorgen, dass die Krankenhäuser wie das Lukaskrankenhaus in Neuss nicht von anderen Menschen gehackt werden. Aber auf so eine Idee, vielleicht mal über den Tellerrand zu schauen, kommen Sie leider nicht. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Laumann.

Karl-Josef Laumann*), Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich persönlich finde, dass eine Debatte über die Frage, wie wir mehr Digitalisierung in der Pflege verantwortungsbewusst nutzen können, in der Gesellschaft und damit auch im Landtag von Nordrhein-Westfalen vernünftig ist.

Für mich geht es in dieser Frage zunächst einmal darum, dass man natürlich auch einen gewissen Konsens braucht: Wo gibt es Grenzen der Digitalisierung, die wir bewusst nicht überschreiten wollen?

Um ein Beispiel zu nennen: Möchten wir eine Kamera über einem Pflegebett haben? – Das würde die Arbeit von Nachtwachen sehr entspannen, würde aber auch den rund um die Uhr beobachteten Menschen bedeuten.

Wie geht man damit um? – Ich habe dazu meine Meinung, aber sich darüber auszutauschen, um auch andere Meinungen zu hören und zu schauen, wie weit wir da gehen wollen, ist sehr sinnvoll.

Die Sicherheit der sensibelsten Daten eines Menschen im Gesundheitssystem ist eine ganz besondere Frage; das muss man ganz klar sehen. Meiner Meinung nach muss das Gesundheitssystem die Frage beantworten, wie man diese Sicherheit auch herstellt.

Allerdings frage ich mich, ob die Datensicherheit gewährleistet ist, wenn heute viele Arztbriefe noch gefaxt werden. Wo beispielsweise steht das Fax? Darüber kann man auch streiten. Aber dafür müssen wir praktikable Lösungen finden.

Dann will ich Ihnen einen weiteren Punkt nennen. Natürlich mögen wir in Deutschland, was Digitalisierung angeht, auch unsere Probleme haben. Unstreitig ist, dass die im Gesundheitsbereich am größten sind. Ich sage immer: Wenn die Digitalisierung im Bankenbereich so wäre wie im Gesundheitsbereich, würden wir noch alle mit Verrechnungsschecks rumlaufen.

Wir haben im Gesundheitsbereich, um auch einmal das Geld anzusprechen, in den letzten 15 Jahren 1,3 bis 1,5 Milliarden Euro in die Gematik gesteckt – nicht das Land; das war die Selbstverwaltung.

Der einzige Fortschritt für die gesetzlich Versicherten ist: Diese Karte hat ein Bild; sonst weiß sie nichts. Gescheitert ist die Gematik in diesem Land nicht an der Politik, sondern an Egoismen in der Selbstverwaltung, weil man die Transparenz im Gesundheitssystem nicht wollte.

(Beifall von der CDU und der SPD)

Digitalisierung – das muss man wissen – bedeutet Transparenz. Ich glaube sogar, dass eine Digitalisierungsstrategie, die Jens Spahn ja jetzt macht … Er mag kritisiert werden, dass er die Gematik übernommen hat, aber nach den vielen Jahren habe ich viel Verständnis dafür, dass er sie übernommen hat, weil das in der Selbstverwaltung nicht gewollt war.

Warum hat man es nicht gewollt? – Weil Digitalisierung vielleicht jetzt auch das Instrument ist, bei dem wir endlich auch einmal zu einer sektorenübergreifenden Denke in der Gesundheitspolitik kommen, was viele in diesem Land über Jahrzehnte in der Selbstverwaltung verhindert haben.

(Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Ich hätte schon Spaß daran, dass wir in diesen Fragen weiterkommen.

Natürlich stellt sich die Finanzierungsfrage; das will ich auch ganz offen sagen. Man kann natürlich fordern, das Land müsste mehr Geld für Digitalisierungsinfrastruktur ausgeben, für die Krankenhäuser, für die Altenheime, für die Pflegeschulen.

Aber ich kann das Geld auch nur einmal ausgeben. Mir war es zunächst wichtig, dass ich erst einmal die Schulgeldfreiheit in nicht akademischen Gesundheitsberufen hinkriege. Dafür habe ich 15 Millionen Euro organisiert.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir haben jetzt die Leistungen für die Pflegeschule. Wir haben in Nordrhein-Westfalen für die Altenpflegeschule jahrelang 218 Euro im Monat bekommen. Die Krankenpflegeschulen waren schon bei 550 Euro, die sie von den Krankenkassen erhalten haben.

Wir haben es jetzt über den Fonds geschafft, dass die Altenpflegeschulen genauso viel Geld bekommen wie Krankenpflegeschulen, nämlich 600 Euro im Monat pro Schülerin und Schüler. Es war nun einmal wichtiger, das zu finanzieren, als Millionen in die Digitalisierung zu stecken. Ich habe als eine meiner ersten Amtshandlungen den Pflegeschulen statt 218 Euro 380 Euro gegeben.

Ich habe jetzt ganz konkret vor Augen und vor der Brust: Wie machen wir das mit der Pflegeassistenzausbildung? Es pfeifen doch die Spatzen von den Dächern, dass wir mehr Assistenten in der Pflege brauchen; sonst werden wir die Probleme nicht mehr lösen.

Aber wo kriege ich sie her? Wie finanzieren wir die einjährige Ausbildung in diesem Land? – Das muss das Land machen. Auch da sind finanzielle Dinge, die auf uns zukommen, die natürlich wichtig sind.

Trotzdem – das will ich mal sagen – geben wir dieses Jahr 2 Millionen Euro für Modelle der digitalen Zusammenarbeit von Arztpraxen und Pflegeheimen aus. Das Geld wird zurzeit über die Kassenärztlichen Vereinigungen ausgelobt, wenn Arztpraxen das machen wollen.

Wir haben dafür gesorgt, dass unsere Pflegeschulen am Digitalpakt teilnehmen. Sie bekommen aus dem Digitalpakt genauso pro Schüler das Geld wie jede andere Schule auch. Das sind einige Hundert Millionen Euro für die Pflegeschulen und für die Gesundheitsschulen bei uns in Nordrhein-Westfalen.

Wenn man objektiv über die MEDICA gegangen ist, hat man doch gesehen, dass Nordrhein-Westfalen sich mit Modellprojekten um die elektronische Patientenakte nun wirklich nicht in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren blamiert hat, sondern dass wir da eine Menge gemacht haben.

(Michael Hübner [SPD]: Richtig!)

Es kommt jetzt darauf an, was sich in Berlin tut, denn das Wichtigste ist doch, dass die digitalen Netzwerke im Gesundheitswesen keine Insellösung sind, sondern dass sie miteinander verzahnt sein müssen und miteinander auch kommunizieren können.

Da gibt es die ganz spannende Frage – ich finde, man kann den SPD-Antrag gut zum Anlass nehmen, sie auch in Anhörungen in den Mittelpunkt zu stellen –: Wo können wir uns modernste Technik, modernste digitale Technik zum Nutzen der Pflegebedürftigen vorstellen?  

Das muss man zum einen aus Sicht des Pflegebedürftigen sehen. Zum anderen sollte gelten: Was man selber später nicht gerne haben will, sollte man auch anderen Leuten nicht zumuten. Dann wird man schon ein Mittelmaß im Umgang mit diesen Möglichkeiten finden.

Führen Sie sich Folgendes – weswegen das Thema „Pflege“ in den nächsten 25 Jahren ein Megathema werden wird – mal vor Augen: In Nordrhein-Westfalen werden wir jetzt wie in allen anderen Bundesländer auch 30 Jahre lang jedes Jahr zwischen 2 % und 3 % mehr pflegebedürftige Menschen haben.

(Michael Hübner [SPD]: Richtig!)

Das liegt am Altersaufbau unseres Landes bis zu dem Zeitpunkt, an dem die geburtenstarken Jahrgänge verstorben sein werden.

Wir haben in Nordrhein-Westfalen zurzeit 100.000 Leute in der Altenpflege. Wenn wir also gar nichts verbessern – was so auch nicht gehen wird – und die häusliche Pflege so bleiben wird, wie sie ist – was wegen anderer Familienstrukturen sehr unwahrscheinlich ist –, brauche ich jedes Jahr wenigstens 3.000 zusätzliche examinierte Pflegekräfte.

Sagen Sie mir bei den Geburtenjahrgängen, die aktuell die Schule abschließen, bitte mal, wo die herkommen sollen. Sie alle aus dem Ausland zu holen, hat teilweise auch verheerende Wirkungen.

Deswegen ist es mir zum Beispiel auch wichtig, dass ich dafür sorge – ich hoffe, dass ich das im nächsten Jahr hinbekomme –, dass jeder Mensch, der in Nordrhein-Westfalen eine Pflegeausbildung machen will, auch einen Rechtsanspruch auf eine Lehrstelle, einen Schulplatz hat.

Wir haben nämlich immer noch Gebiete, in denen sich mehr Menschen für eine Pflegeausbildung interessieren, als wir dafür nehmen. Reden Sie mal mit den Trägern darüber; dann sehen Sie, wie begeistert die sind, wenn da jetzt mal etwas aus einer Pflicht heraus gemacht werden muss.

Ich mag ja dumm sein, aber eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel zu verhindern, ist, Ausbildung, Ausbildung und noch mal Ausbildung.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Natürlich brauchen wir Technik, die einer Arbeitskraft die Pflege erleichtert und vielleicht auch zeitsparend ist.

(Christina Weng [SPD]: Ja!)

Auch ich habe ein bisschen mit Pflege zu tun; jeder hat außerdem sein privates Umfeld: Die Hebegeräte, die ich in manchen Krankenhäusern sehe, die herangeschafft werden müssen, um einen Menschen aus dem Bett zu bekommen, wenn dieser nicht getragen werden kann, sind umständliche Monstren. Da verstehe ich auch, dass diese Dinger meistens in der Ecke stehen und von niemandem genutzt werden.

(Christina Weng [SPD]: So ist es!)

In einer Nation wie unserer, der Nation der Ingenieure, muss es doch möglich sein, etwas zu entwickeln, damit das besser geht.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Markus Wagner [AfD])

Geht man durch manches Krankenhaus und manches Pflegeheim, sieht man noch Betten, die nicht elektronisch verstellbar sind, liebe Leute. Die sind immer noch mechanisch verstellbar. Diese Betten haben wenigstens 25 oder 30 Jahre auf dem Buckel.

Deswegen bin ich der Meinung, dass es unsere Krankenschwestern sehr entlasten würde und natürlich auch für die Pflegebedürftigen einen gewissen Komfort bedeuten würde, wenn man beispielsweise – auch wenn man vielleicht nur noch ganz wenig Kraft hat – sein Bett selber einstellen kann, damit man darin so liegen und sitzen kann, wie man es gerade möchte, und man nicht unbedingt schellen muss, damit eine Pflegekraft kommt.

(Christina Weng [SPD] und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Genauso ist es!)

All das sind doch Sachen, die die Einrichtungen auch selber weiterentwickeln müssen. Aber auch die Pflege generell muss das weiterentwickeln. Die Pflege muss an ihrer Profession arbeiten und Menschen haben, die aus der Sicht der Pflege diese Dinge in den Einrichtungen nach vorne treiben.

Deswegen ist es gut, dass wir einen Teil der Pflegekräfte akademisieren, damit wir Menschen haben, die so etwas aus dem Blickwinkel der Pflege in den Einrichtungen organisieren.

Die Digitalisierung wird sich – ich will nicht sagen, von selber, aber – durch eine neue Denke in einer neuen Generation von Pflegekräften entwickeln. Ich bin der Meinung, dass Politik dieser Sache einen gewissen Rückenwind geben sollte. Das werden wir, denke ich, gemeinsam schaffen.

In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss. Ich bin privat nicht der größte Digitalisierer – das liegt vielleicht etwas an meinem Alter –, aber Sie können sicher sein, dass ich möchte, dass unser Land bei dieser Sache weit vorne mit dabei ist.

Lassen Sie es uns aus der Perspektive der betroffenen Menschen machen; dann werden wir schon das richtige Mittelmaß zwischen dem, was verantwortbar ist, und dem, was nicht verantwortbar ist, finden. – Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.

(Allgemeiner Beifall)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Für die SPD hat sich die Abgeordnete Weng noch einmal zu Wort gemeldet. Sie hat jetzt das Wort.

Christina Weng (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich melde mich noch mal zu Wort, weil ich als rückwärtsgerichtete Krankenschwester, als Fachschwester für Intensivmedizin noch mal hierhin geschubst werden kann; sei es drum.

Ich will betonen, dass in dem Antrag „flächendeckend und schneller“ steht. Das, was darin steht, ist alles kein Hexenwerk. Wir haben es aber nicht in der Struktur über die einzelnen Häuser hinweg.

Wenn wir in die Häuser gehen – Sie alle tun das doch auch –, ist es genau so, wie eben skizziert; ich danke Ihnen wirklich ganz ausdrücklich für die Beschreibung: Es gibt keine Tablets an den Betten und all diese Dinge, die man theoretisch in Projekten bereits evaluiert hat, und zwar deshalb nicht, weil den Institutionen das Geld für das Invest fehlt.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Na!)

– Ja, fehlt, und zwar sogar in der Uni Aachen. Da habe ich neulich nachgefragt. Es betrifft also auch Universitäten, die vielleicht über mehr Geld verfügen und für mehr Tempo sorgen könnten.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Hat das HDZ sowas denn? Die haben doch Geld!)

– Das HDZ hat Geld ohne Ende, genau.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Haben die denn Tablets?)

Das ist aber eine andere Größenordnung, und es ist ein Fachkrankenhaus mit verschiedenen Förderkulissen. Die gibt es in den anderen Krankenhäusern nicht. Es geht um schneller, nicht um neu. Alles ist da.

Liebe Susi Schneider, eben war ich wirklich ein bisschen erschüttert. Wir haben 30 Jahre lang in der Pflege so viele Dinge versäumt, dass die Pflege nicht im Beruf bleibt, sodass wir stark werben müssen, um überhaupt Personal zu gewinnen und zu binden.

Jetzt so zu tun, als wäre alles super und die Krankenschwestern würden sich auf die Digitalisierung und solche Dinge freuen …

(Susanne Schneider [FDP]: Das habe ich mit keinem Wort gesagt!)

Die wollen das und werden das können. Wir haben ihnen aber ihre Arbeitsbedingungen in den letzten 20 Jahren durch unsere Renditebesoffenheit so verschlechtert, dass wir heute die Situation haben, die wir haben.

Digitalisierung kann das nur lindern. Das sollten wir tun, weil alle Pflegebedürftigen und Versorgungsbedürftigen in diesem Land das mehr als verdient haben.

(Beifall von der SPD, Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] und Dr. Martin Vincentz [AfD])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit liegen mir keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir schließen die Aussprache und kommen zur Abstimmung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/7881 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend – sowie an den Ausschuss für Digitalisierung und Innovation. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Spricht sich jemand dagegen aus? – Enthält sich jemand? – Dann haben wir die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

7   Selbstbestimmung bei Intensivpflege achten – Reha‑ und Intensivpflege menschenrechtskonform gestalten

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7902

Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, heute keine Aussprache durchzuführen. Wir stimmen deshalb ab.

Ältestenrat und Fraktionen empfehlen die Überweisung des Antrags Drucksache 17/7902 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen nach Vorlage einer Beschlussempfehlung des Ausschusses erfolgen. Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann haben wir auch diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir kommen zu:

8   Der Freiheit auf der Spur: Grüne Welle statt Stauspur und Tempo 30 – ideologiefreie Mobilität und Individualverkehr erhalten – Verkehrsexperimente zu Lasten der Pendler beenden

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7908

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Fraktion der AfD dem Abgeordneten Strotebeck das Wort.

Herbert Strotebeck (AfD): Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Umweltspuren und Tempo-30-Zonen bewegen die Menschen in NRW – zumindest im übertragenen Sinne, denn sie sorgen in der Realität für Staus und Ärger, und verursachen Verzögerungen und damit auch wirtschaftlichen Schaden.

Umweltspuren und Tempo-30-Zonen sind ein Hemmnis für die innerstädtische Mobilität. „Umweltspuren“ – allein der Name ist schon ein Euphemismus. Diese Sonderfahrspuren helfen nur sehr wenigen Verkehrsteilnehmern, bestimmt aber nicht der Umwelt.

Als Argument wird immer die Luftreinhaltung herangezogen. Umweltspuren seien nötig, weil ansonsten aufgrund der Klage der Deutschen Umwelthilfe flächendeckende Fahrverbote drohten.

Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass Hunderte stehender Autos, deren Motoren laufen und die sich im Schneckentempo durch die Stadt quälen, die Lösung für Ihre Luftreinhaltepläne sind?

Laut einer Erhebung aus dem Juni 2019 verlangsamen Umweltspuren den Verkehr auch auf den Alternativrouten. Selbst der Wirtschaftsprofessor Dr. Ferdinand Dudenhöffer hält die sogenannten Umweltspuren für ein sehr gewagtes und risikoreiches Experiment und prophezeit sogar steigende Emissionen.

Wäre die berühmte grüne Welle nicht besser für die Luftqualität, für die Mobilität in der Stadt und auch für die Zufriedenheit der Bürger und Pendler?

Was in den Städten Nordrhein-Westfalens momentan passiert – seien es die Umweltspuren in Düsseldorf oder die Tempo-30-Zone innerhalb des Alleenrings in Aachen –, ist ein von Ideologie getriebener Akt, Automobilität unattraktiv zu machen. Sie versuchen zwangsweise, die Bürger und Pendler zu einem anderen Mobilitätsverhalten zu zwingen.

Wie reagiert der Bürger? – Er umfährt einfach den Bereich der Umweltspur, nimmt einen Umweg in Kauf und sorgt damit in der Stadt für insgesamt mehr Verkehr, mehr Stau und mehr Emissionen. Das führt schließlich bei allen Bürgern zu mehr Frust, mehr Unverständnis und mehr Zeitverlust.

Im Verkehrsausschuss erfuhren wir während einer Anhörung zum Thema „Binnenschifffahrt“ kürzlich von einem Vertreter des BUND, dass eine Wasserstraße aufgrund der Emissionen der Schiffe hinsichtlich der Emissionswerte einer Autobahn gleicht oder ihr zumindest sehr nahekommt. Hinzu kommt die generelle Diskussion über die fragwürdigen Standorte der Messstationen.

Unsere Städte sind insbesondere in den Stoßzeiten verkehrstechnisch überlastet und können die Pendlerströme kaum bewältigen. Über 300.000 Bürger pendeln täglich nach Düsseldorf ein.

Durch die Umweltspuren wird dem Auto‑ und Lieferverkehr weiterer Verkehrsraum entzogen. Vertreter von Handel und Wirtschaft wie beispielsweise die IHK warnten bereits vor Monaten vor Verkehrsinfarkten und drohenden Nachteilen für den Lieferverkehr der Einzelhändler. Diese Folgen sind nun bereits eingetreten.

Düsseldorfs SPD-Oberbürgermeister Geisel will trotz dieser negativen Folgen jedoch an den Umweltspuren festhalten. Der Stadtrat Düsseldorfs stimmte gestern leider mit einer Mehrheit von einer Stimme für die Fortsetzung dieses Unfugs.

Gerade die neue Benachteiligung des Einzelhandels in den Städten durch Umweltspuren konterkariert die allseitigen Bemühungen, den Einzelhandel gegenüber dem Versandhandel stark zu machen; darüber haben wir hier auch schon gesprochen.

Es droht eine Abwanderung von Handel und Gewerbe aus urbanen Kernbereichen in die Peripherie. Infolgedessen drohen auch eine Verödung und ein Verlust der Attraktivität der Innenstädte. Hierin liegt eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den Einzelhandel, die Land und Kommunen unbedingt im Blick haben sollten.

Wir befürchten, dass die Stauspuren Vorbild für andere Städte werden. Städte wie Essen und Bochum eruieren derzeit bereits die Einrichtung von Umweltspuren.

In diesen Tagen öffnen in unseren Städten die Weihnachtsmärkte. Dies bedeutet noch mehr innerstädtischen Verkehr, mehr Autos, volle Parkplätze und auch Besuchergruppen, die mit Reisebussen ankommen. Diese Reisebusse müssen sich mit allen anderen Verkehrsteilnehmern durch die absichtlich verengte Verkehrsinfrastruktur quälen.

Die IHK hat das bereits bemängelt. Für die Weihnachtsmärkte in Düsseldorf stellen die Umweltspuren einen greifbaren Wettbewerbsnachteil dar – wie auch mittelfristig für den gesamten Handel in der Landeshauptstadt.

In der letzten Woche haben die Kaufleute von der Königsallee in einer ganzseitigen Anzeige in der „Rheinischen Post“ sehr deutlich darauf hingewiesen und das Problem dargestellt.

Natur‑ und Umweltschutz? – Ja, aber bitte mit Augenmaß und ohne Ideologie. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der CDU hat der Abgeordnete Herr Blöming das Wort.

Jörg Blöming*) (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag zeigt wieder einmal: Abschreiben kann jeder, gute Lösungen finden aber nicht.

(Beifall von der CDU und Stefan Engstfeld [GRÜNE] – Carsten Löcker [SPD]: Guter Satz!)

Da hier bereits der Begriff des Schildbürgerstreichs bemüht wurde, möchte ich eine kurze Anekdote vortragen:

Als die Schildbürger ein neues, pompöses Rathaus bauten, vergaß der Architekt die Einplanung von Fenstern, und das Rathaus war innen stockfinster.

Daraufhin versuchten die Schildbürger, mit Eimern das Sonnenlicht einzufangen und ins Innere zu tragen. Sie waren damit natürlich nicht erfolgreich, denn ohne das richtige Werkzeug ist selbst der beste Plan nichts wert.

Die Parallelen zu Ihrem Antrag sind ganz offensichtlich: Sie versuchen, mit leeren Worthülsen einen Missstand zu erheben. Statt konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, gibt es bloße Wiederholungen mit althergebrachten Argumenten. Dabei wirken diese oft unüberlegt und entsprechen nicht den aktuellen Gegebenheiten.

So wird in der Umweltspur eine Benachteiligung des stationären Einzelhandels gegenüber dem Onlinehandel gesehen, der allerdings in Verbindung mit Paketlieferdiensten ebenso betroffen ist.

Von solchen Halbwahrheiten abgesehen scheinen Sie die verkehrspolitischen Entwicklungen der letzten zweieinhalb Jahre nicht aufmerksam verfolgt zu haben.

(Zuruf von Andreas Keith [AfD])

Anders kann ich mir Ihre Forderung nach einer besseren Infrastruktur des öffentlichen Personennahverkehrs nicht erklären, denn genau die haben wir als Nordrhein-Westfalen-Koalition mit unserer Verkehrspolitik ganz fest im Blick.

(Andreas Keith [AfD]: Die Kollegen aus dem Stadtrat auch?)

Jetzt fließen jedes Jahr 60 % des Verkehrsetats in den öffentlichen Personennahverkehr. Bis 2031 investieren wir 1 Milliarde Euro allein in die Stadt‑ und Straßenbahnnetze.

(Beifall von der CDU)

Natürlich spielt auch die Digitalisierung eine tragende Rolle. Mithilfe unserer Digitalisierungsoffensive soll den Fahrgästen eine individuelle und flexible Mobilität ermöglicht werden. Eine Maßnahme ist zum Beispiel das E-Ticketing. Hierdurch können die Fahrscheine bargeldlos erworben und auf elektronischen Medien verwaltet werden.

Aber nicht nur der öffentliche Personennahverkehr wird ausgebaut; entgegen den Behauptungen der AfD investiert das Land in die gesamte Bandbreite des Verkehrs. So wurden alleine 2018 1,4 Milliarden Euro in Autobahnen, Bundesstraßen und Landesstraßen investiert.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Auch nach Düsseldorf!)

100 zusätzliche Mitarbeiter sorgen bei Straßen.NRW dafür, dass jetzt schneller geplant und gebaut werden kann, denn wir wollen auch für den Autoverkehr eine zukunftsfähige Infrastruktur gewährleisten.

Erst am Mittwoch hat Minister Wüst in der Debatte zum Verkehrsetat berichtet, dass Nordrhein-Westfalen auch in diesem Jahr Rekordinvestitionen in unsere Straßen tätigen konnte. Sanieren, erhalten und ausbauen – sogar mit Bundesmitteln, die in anderen Ländern nicht investiert wurden – gehören zu unseren Schwerpunkten.

Davon abgesehen gibt es bereits zahlreiche Pilotprojekte rund um die sogenannten On-Demand-Angebote. Diese werden derzeit mit 120 Millionen Euro vom Land gefördert. Dazu zählen zum Beispiel Smartbusse, die Fahrgäste an individuellen Standorten abholen und zum Zielort bringen.

In Krefeld, Duisburg oder Münster können Sie die getakteten Kleinbusse bereits per App buchen. Auch hier in Düsseldorf plant die Rheinbahn solche Angebote. Dafür müssen Sie nicht nach London schauen.

Das Verkehrsministerium hat darüber hinaus am 14. November den Landeswettbewerb für innovative Modellvorhaben gestartet. Im Rahmen des Landeswettbewerbs soll der flächendeckende Einsatz von bedarfsgesteuerten Verkehren modellhaft erprobt werden.

So funktioniert eine moderne und lebensnahe Mobilität in Nordrhein-Westfalen: durch konstruktive Lösungsansätze und mit dem richtigen Werkzeug. Ihr Antrag hingegen lässt beides vermissen.

(Beifall von der CDU und Bodo Middeldorf [FDP])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD-Fraktion spricht nun der Abgeordnete Löcker.

Carsten Löcker (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ich möchte gleich zu Beginn deutlich machen, was wir von Ihrem Antrag halten: nichts. Das sage ich ausdrücklich.

Es ist entweder eine populistische Show, die Sie für Ihren eigenen YouTube-Kanal aufführen. Das kann man machen, sich als Ausputzer für die Automobilfreunde darzustellen.

Oder Sie hatten wirklich die Idee, einen vernünftigen Antrag zu stellen. Blickt man dann in den Antrag, kann man aber ganz schnell feststellen, dass Sie nicht wirklich eine Ahnung davon haben, welche Zusammenhänge bestehen und wie groß insbesondere in Düsseldorf der Druck ist, Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die die Stadt in die Lage versetzen zu handeln.

Nur so viel zur Umweltspur: Sie fordern unter Ziffer 2 aus ideologischen Gründen, Umweltspuren entgegenzuwirken. Bleiben wir mal bei dem Beispiel „Düsseldorf“.

Meine Damen und Herren, meinen Sie denn wirklich, dass irgendjemand im Stadtrat von Düsseldorf von alleine auf die fixe Idee gekommen wäre, Umweltspuren einzurichten? – Es ist doch die blanke Not, denn der Luftreinhalteplan zwingt die Stadt fast dazu, diese Maßnahmen auf den Weg zu bringen.

(Andreas Keith [AfD]: Fragen Sie mal Ihre Kollegen im Stadtrat!)

Täte die Stadt es nicht, käme es unweigerlich zu Dieselfahrverboten.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Oh, das ist ja gottgegeben!)

Wenn man sich für die Umweltspuren entschieden hat, ist das eine Sache. Denkt man aber Ihren Antrag zu Ende, muss man ja fast logischerweise feststellen, dass Sie für Dieselfahrverbote sind. Anders kann man es gar nicht mehr werten, was Sie hier vortragen.

Ehrlich gesagt hatte ich Sie schon immer im Verdacht, dass Sie Dieselfahrverbote wollen; anders kann man Ihre Debattenbeiträge überhaupt nicht mehr erklären.

(Zuruf von Andreas Keith [AfD])

Dann fühlten Sie sich auch noch bewogen, Ausführungen zum ÖPNV zu machen. In dem Antrag steht, die Landesregierung solle sich mit allen Akteuren des ÖPNV zusammensetzen und nach Lösungen für den Ausbau der benötigten Infrastruktur suchen. – Das ist ja mal eine Anregung, meine Damen und Herren – mehr aber auch nicht.

(Heiterkeit von Thomas Kutschaty [SPD])

Mehr als eine Anregung ist das nicht. Inhalte – Fehlanzeige. Den Antrag braucht es in dieser Form sicherlich nicht.

Man könnte es auch anders ausdrücken: Andere sollen Antworten auf schwierige Fragen geben, weil Sie selbst keine haben; so ist es nämlich.

(Beifall von der SPD)

Eine Problemanalyse braucht niemand mehr. Wir alle kennen doch die Probleme; sie liegen auf dem Tisch. Handeln ist nötig. Es geht in den nächsten Jahren um das Machen und nicht darum, mal darüber zu reden.

Zur Wahrheit gehört aber auch – das sage ich noch einmal ausdrücklich –, dass die Bundesregierung, die Landesregierung in diesem Zusammenhang viel tut. Investitionsmittel werden wirklich in großer Menge bereitgestellt.

Es hapert aber daran, dass die Verkehrsbetriebe das umsetzen können, nicht nur in Bezug auf die Investitionen, sondern es geht am Ende auch darum, den Betrieb auszuweiten insbesondere da, wo man Fahrerinnen und Fahrer, also Personal, bezahlen muss, aber auch darum, Kilometerleistungen auf die Straße zu bringen. Deshalb muss man nämlich neben den investiven Mitteln insbesondere auch eine Antwort auf die konsumtiven Anforderungen geben.

Das wird uns in den nächsten Monaten noch beschäftigen, denn klar ist auch, dass wir dafür die nötigen Finanzmittel benötigen, wenn es mehr Betrieb geben wird. Diese können nicht allein aus den Kommunen kommen.

Wir alle wissen, dass der Druck groß ist. Wenn das Verkehrsaufkommen steigen soll, muss man sich damit beschäftigen. Deswegen geht es am Ende des Tages auch darum, darüber eine Debatte zu führen, welche Drittnutzerfinanzierung wir gemeinsam auf den Weg bringen können, um glaubhaft eine Alternative zu schaffen. Das wollen wir gerne tun.

Unterbreiten Sie doch im Verkehrsausschuss Vorschläge dazu. Das wäre uns lieb und recht, denn dann könnten wir uns inhaltlich darüber austauschen. Denken Sie einmal darüber nach, Herr Kollege Strotebeck.

Wir stimmen der Überweisung zu und freuen uns auf die Debatte. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP hat nun der Abgeordnete Middeldorf das Wort.

Bodo Middeldorf (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn sagen, dass uns die Gesundheit der Menschen in unseren Städten genauso wichtig ist wie die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Mobilität. Deswegen bleibt es das Ziel der NRW-Koalition und der schwarz-gelben Landesregierung, Fahrverbote in unseren Innenstädten zu verhindern, aber gleichzeitig die Emissionsgrenzwerte einzuhalten.

(Beifall von der FDP)

Uns allen – vielleicht mit Ausnahme der AfD – ist wohl klar, dass beides zusammen eine Herausforderung ist. Das ist in den betroffenen Städten nur mit einem Bündel von Maßnahmen zu erreichen. Es wird nur gehen, wenn wir beispielsweise bei den Antriebssystemen für öffentliche Verkehre umsteuern, wenn wir gezielt innovative Maßnahmen zur Verkehrslenkung einsetzen und wenn wir die Attraktivität des ÖPNV und anderer Verkehrsmittel deutlich steigern.

Da hier Unschärfen in die Debatte kommen, ist es mir wichtig, zu sagen: Ein solches Maßnahmenbündel muss immer auf die spezifischen Bedingungen in den jeweils betroffenen Kommunen zugeschnitten sein. Das zentrale Instrument ist immer der Luftreinhalteplan. Er ist nämlich die Referenzgröße für die rechtliche Bewertung bei etwaigen Verbandsklagen.

Zur Aufstellung des Luftreinhalteplans braucht es natürlich immer den Schulterschluss zwischen den unterschiedlichen Behördenebenen. Am Ende aber stellt jede einzelne Stadt einen Einzelfall dar. Welche Maßnahmen für sinnvoll und angemessen gehalten werden, liegt immer in der individuellen hoheitlichen Entscheidungsgewalt der jeweiligen Kommune. An diesem Prinzip, meine Damen und Herren, wollen und werden wir nicht rütteln.

(Beifall von der FDP und Marc Blondin [CDU])

Die Stadt Düsseldorf beispielsweise – sie wurde hier als Grund für einen solchen Antrag genannt – hat von eben diesem Recht Gebrauch gemacht und mit Mehrheit einem Luftreinhalteplan zugestimmt, der auch das Instrument der Umweltspuren enthält – übrigens aller drei Umweltspuren. Das haben wir zunächst einmal zu respektieren.

Genauso klar sage ich aber auch, dass wir ein Festhalten an der dritten Umweltspur für falsch halten.

(Beifall von der FDP)

Ihre Auswirkungen haben wir alle vor Augen: Wenn Autos stundenlang im Stau stehen und der ÖPNV nicht mehr durchkommt, werden die umweltpolitischen Zielsetzungen einer solchen Maßnahme ins Gegenteil verkehrt.

(Beifall von der FDP)

Die Einrichtung der Umweltspuren war von Anfang an als Versuch geplant. Dieser Versuch ist nun, insbesondere im Hinblick auf die Einrichtung der dritten Umweltspur, als gescheitert anzusehen.

(Carsten Löcker [SPD]: Ein bisschen geduldiger könnten Sie schon sein, Herr Kollege!)

Deswegen empfehlen wir der Stadt Düsseldorf, diese unverzüglich zurückzunehmen. Wir bedauern sehr, dass der Rat der Stadt Düsseldorf in seiner gestrigen Sitzung einem entsprechenden Antrag der FDP nicht gefolgt ist.

(Beifall von der FDP)

Aber, noch einmal: In anderen Städten kann sich ein solches Instrument im Einzelfall durchaus als probates Mittel herausstellen. Das gilt übrigens auch für die Tempo-30-Zonen.

Vor allem deshalb, aber auch aus Respekt vor der kommunalen Selbstverwaltung, ist der pauschale Ansatz der AfD, solche Maßnahmen grundsätzlich auszuschließen, aus unserer Sicht nicht der richtige Weg. – Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Middeldorf. Sie haben sicherlich gesehen, dass eine Kurzintervention angemeldet wurde. Sie wollen sie hier vorne entgegennehmen? – Sehr gerne. – Die Kurzintervention hat Frau Dworeck-Danielowski von der AfD-Fraktion angemeldet. Ihr Mikro ist frei.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Middeldorf, Sie hatten eingangs als ersten Satz gesagt, dass Ihnen die Gesundheit der Bürger NRWs sehr am Herzen liege. – Uns liegt die im Übrigen auch sehr am Herzen.

Sie haben doch sicherlich mitbekommen, dass 2018 die Ergebnisse der Metastudie vom Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung veröffentlicht wurden. Darin ging es um Arbeitsmobilität und die negativen Auswirkungen des Pendelns auf die Gesundheit.

Es gibt einen signifikanten Zusammenhang zwischen Berufspendeln und psychischen Erkrankungen. Je länger der Arbeitsweg dauert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Pendler erkrankt, und desto mehr Fehlzeiten hat er, insbesondere aufgrund psychischer Erkrankungen.

Wenn man beispielsweise auf den Zugverkehr umschwenkt, kann eine morgendliche Zugverspätung beim Berufspendler einen vergleichbaren Stresslevel verursachen wie der gesamte Arbeitstag. Derjenige, der die Ergebnisse der Studie vorstellte, sprach sogar davon, dass man den Stresslevel von Berufspendlern, die mit dem Pkw zur Arbeit fahren, mit dem von Kampfhubschrauberpiloten vergleichen könne.

Deswegen: Wenn man stundenlang für den Arbeitsweg braucht und der Arbeitstag somit künstlich verlängert wird, gibt es eine Rückkopplung von der Unzufriedenheit über die Work-Life-Balance auf die psychische Gesundheit der Berufspendler.

Diese Maßnahmen, wie wir sie zum Beispiel in Düsseldorf erleben, verlängern dieses Leiden bzw. tragen maßgeblich dazu bei. Wir wissen auch aus eigener Erfahrung, dass der Arbeitsweg nicht mehr 50 Minuten, sondern anderthalb Stunden dauert.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Zeit.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Natürlich hat es Auswirkungen auf die Gesundheit der Berufspendler, wenn der Verkehr nicht fließt.

(Carsten Löcker [SPD]: Der fließt sowieso nicht!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Danke, Frau Kollegin Dworeck-Danielowski. – Herr Middeldorf kann antworten, wenn er möchte.

(Carsten Löcker [SPD]: Ohne Befund, Ihre Ausführungen!)

Bodo Middeldorf (FDP): Frau Kollegin, ich kann nicht erkennen, wie uns dieser Beitrag, wie auch der gesamte Antrag der AfD, in der aktuellen Debatte an irgendeiner Stelle weiterhilft.

(Beifall von der FDP – Zuruf)

Das sind doch völlig selbstverständliche Aussagen, die Sie hier treffen, dass Pendeln immer mit Stress verbunden ist.

(Carsten Löcker [SPD]: Machen Sie doch mal einen Vorschlag!)

Dazu hätte ich tatsächlich keine Studie gebraucht. Dass natürlich das Pendeln, wenn man im Stau steht, mit Stress verbunden ist, ist genauso selbstverständlich.

Wir sollten aber nicht so tun, als wäre die Verkehrssituation in unseren Städten einfach zu lösen. Wir haben ein Zieldreieck, das ich gerade versucht habe aufzuzeigen.

Dass wir eine komplexe Situation haben, wird in Ihrem Antrag nicht ansatzweise aufgegriffen. Sie suggerieren den Menschen, es gäbe einfache Wahrheiten. Es gibt aber keine einfachen Wahrheiten, und es gibt schon gar nicht einfache Antworten, sondern man muss immer an jeder Stelle komplexe Antworten geben. Wie komplex die Sachlage ist, habe ich hier gerade geschildert.

Wir finden, dass auf der kommunalen Ebene in enger Abstimmung mit der Landesregierung alles unternommen wird, um hier zu klugen, abgewogenen Meinungen und zu Maßnahmen zu kommen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Middeldorf. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Engstfeld.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Der Überweisung stimmen wir natürlich zu, aber in der Sache lehnen wir den Antrag ab.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich bin meinem Vorredner Herrn Middeldorf eigentlich ganz dankbar für seinen Redebeitrag. Denn Sie haben Ihren Beitrag damit begonnen, klarzustellen, dass für die FDP der Schutz der Gesundheit der Menschen, die in unseren Städten leben, gleichwertig ist mit individueller Bewegungsfreiheit. So haben Sie es, glaube ich, formuliert. Das gibt mir die Gelegenheit, den Unterschied zwischen unseren Positionen noch einmal hervorzuheben.

Das sehen wir nämlich nicht so. Warum nicht? – Weil für uns der Gesundheitsschutz der Anwohnerinnen und Anwohner höchste Priorität hat.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich bin ja Düsseldorfer. Wir haben diverse Messstellen in der Stadt: Corneliusstraße, Dorotheenstraße, Ludenberger Allee. Viele davon überschreiten mit Stickoxidwerten von über 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel die Grenzwerte. An der Corneliusstraße haben wir im Jahr 2008 einen Jahresmittelwert von 54 Mikrogramm gemessen.

Man kann aus meiner Sicht nicht gesundheitliche Schäden, körperliche Schäden der Menschen, die dort wohnen und arbeiten, gleichsetzen mit der Freiheit, von Erkelenz zum Shoppen nach Düsseldorf zu fahren.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das ist etwas anderes. Deswegen kann diese Gleichsetzung aus unserer Sicht nicht erfolgen. Natürlich ist individuelle Bewegungsfreiheit wichtig, aber der Gesundheitsschutz geht schon vor und ist nicht gleichwertig.

Die Umweltspuren – auch in Düsseldorf – werden ja eingerichtet, um die ansonsten auf jeden Fall drohenden Dieselfahrverbote zu verhindern. Ich glaube, über diesen Umstand gibt es in diesem Parlament eigentlich eine große Einigkeit: Dieselfahrverbote wollen wir natürlich verhindern. Wenn wir die verhindern wollen, dann ist das Instrument Umweltspur ein mögliches Mittel der Wahl. Es muss nur gut gemacht sein.

Bei der dritten Umweltspur, über die gestern im Düsseldorfer Rat gestritten wurde, ist wahrscheinlich – so haben wir Grüne das ja auch analysiert – der zweite Schritt vor dem ersten gemacht worden.

Deswegen haben wir ja angeregt, das Instrument nicht per se zu verdammen und auch nicht sofort die Umweltspur wieder abzuschaffen, sondern relativ schnell andere notwendige Maßnahmen umzusetzen. Es fehlt zum Beispiel eine Taktverdichtung bei den Bussen. Die Führung der Buslinien auch auf der Autobahn könnte vielleicht über den Standstreifen erfolgen, der dann direkt in die dritte Umweltspur führt. Das ließe sich relativ schnell umsetzen. Wir brauchen natürlich mehr Park-and-Ride-Anlagen. Die Mitfahr-Apps sind nicht so ausgebildet, wie sie sein sollten.

Wir haben gesagt: Wenn wir jetzt mehr Zeit brauchen, um die handwerklichen Mängel, die wir ja nach sechs Wochen sehen, zu beheben, dann sollte überlegt werden, ob man kurzzeitig die dritte Umweltspur aussetzt. Aber dann müssten die Verwaltung, die Stadt und die Rheinbahn mal sagen, wie viel Zeit sie denn brauchen, um das, was ich gerade beschrieben habe, umzusetzen.

Deswegen haben wir ja gestern auch den Antrag der FDP zur dritten Spur abgelehnt. Die FDP hat ja im Stadtrat die ersten beiden Umweltspuren mit beschlossen. Der Name „Umweltspur“ stammt übrigens von Ihren Fraktionskollegen, Herr Middeldorf. Ihr Antrag zur direkten Abschaffung der dritten Umweltspur stand ja gestern im Rat der Stadt Düsseldorf zur Abstimmung.

Sie haben den CDU-Antrag im Düsseldorfer Stadtrat gestern abgelehnt. Die CDU wollte ja alle drei Umweltspuren sofort beseitigen. Die FDP hat auch dagegen gestimmt. Für die direkte Abschaffung der dritten Umweltspur haben Sie dann nur noch die Zustimmung von der CDU und von der AfD und von den Republikanern bekommen. Denken Sie vielleicht noch einmal darüber nach, ob das dann so richtig schnuckelig ist.

(Zurufe von Rainer Matheisen [FDP] und Andreas Keith [AfD])

Es muss eindeutig mehr passieren. Die Pendlerverkehre müssen reduziert werden. Wir brauchen mehr Radschnellwege. Wir brauchen Expressbuslinien. Wir brauchen eine deutliche Ausweitung von Park-and-Ride-Plätzen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir brauchen Ausbau im Schienennetz und überörtliche ÖPNV-Verbindungen. Eigentlich sollten wir uns gar nicht so intensiv mit so einem …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Engstfeld, Entschuldigung, dass ich Sie kurz vor Ende Ihrer Rede unterbreche, aber Kollege Matheisen würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Ich bringe den Satz noch zu Ende. Dann kann er gerne seine Frage stellen.

Es muss also natürlich deutlich mehr passieren.

Ich fand das ganz witzig, Herr Strotebeck, dass Sie gesagt haben: Weniger Ideologie sei doch hier notwendig, gerade in der Verkehrspolitik.

(Carsten Löcker [SPD]: Dann hätte der Antrag aber anders ausfallen müssen! Ihr bietet doch gar nichts an!)

Ich kenne keine andere Fraktion in diesem Parlament, die ideologischer unterwegs ist als Sie. Da muss ich immer ein bisschen schmunzeln, wenn Sie dann Ideologiefreiheit einfordern, die Sie ja den ganzen Tag und in den letzten Plenartagen hier überhaupt nicht gezeigt haben.

Also: Ablehnung in der Sache, Zustimmung zur Überweisung. Dann wird es im Verkehrsausschuss ja vielleicht noch das eine oder andere Wortgefecht geben. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Jetzt kann der Kollege Matheisen gerne seine Frage stellen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Das heißt, der lange Satz war jetzt zu Ende?

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Genau.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Wunderbar. – Herr Kollege Matheisen, Sie haben das Wort.

Rainer Matheisen (FDP): Herzlichen Dank. – Kollege Engstfeld, wie beurteilen Sie in Anbetracht Ihrer Äußerung, die Sie gerade getätigt haben, die Tatsache, dass seinerzeit SPD, Grüne und Oberbürgermeister Geisel in Düsseldorf die Tour de France mit der AfD, den Republikanern und anderen gemeinsam beschlossen haben?

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Das sind zwei Paar Schuhe, aber egal. Ich habe ja nur darauf aufmerksam machen wollen – das war eigentlich mein Punkt; vielleicht reden wir ein bisschen aneinander vorbei –, …

(Zuruf von Ralph Bombis [FDP])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zwischenfrage ist gestellt. Die Antwort sollte gegeben werden. Herr Engstfeld will Ihnen die Antwort geben. Sicher hören alle gerne zu.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Ich habe nur gesagt, dass man vielleicht darüber nachdenken sollte, ob es nicht einen anderen Weg gibt, als sich solche Mehrheiten zu organisieren. Das war mein Punkt, und dabei bleibe ich auch.

(Beifall von den GRÜNEN – Andreas Keith [AfD]: Wir stimmen auch mit Ihren Anträgen!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Engstfeld. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Wüst.

Hendrik Wüst, Minister für Verkehr: Frau Präsidentin! Immer, wenn Herr Engstfeld vor mir gesprochen hat, brauche ich das Redepult nicht hochzufahren. Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen bessere Mobilität, und wir wollen saubere Mobilität. Wir wollen keine Fahrverbote und möglichst keine Einschränkung der Mobilität.

Mobilität ist in einer hocharbeitsteiligen, spezialisierten Gesellschaft Voraussetzung zum Broterwerb. Die Menschen fahren ja morgens nicht aus Jux und Tollerei in diese Stadt, sondern schlicht, weil sie zur Arbeit müssen. In einer Stadt mit 300.000 Ein- und über 100.000 Auspendlern ist es aber keine Banalität, das unter einen Hut zu kriegen.

Besseres ÖPNV-Angebot, Vernetzung mit der Region, ein Angebot vernetzter Mobilitätsketten, Park and Ride, ordentliches Radwegenetz – ich habe gerade bei der Erwähnung der Tour de France gedacht, Sie wären schon fast bei dem Thema gewesen –:

All das sind ja Dinge, die man haben müsste und längst hätte haben können, um die Situation zu vermeiden, die wir jetzt haben. All das hätten die rot-grünen Amtsvorgänger in den sieben Jahren seit 2010 tun können und, seit die NOx-Grenzwerte einzuhalten sind, tun müssen. Seit 2010 sind diese einzuhalten.

(Carsten Löcker [SPD]: Ich stelle mir gerade vor, Sie wären an der Regierung gewesen! Sie hätten alles gemacht!)

Dass ich diese Umweltspur kritisch sehe, ist kein Geheimnis. Ich habe auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Ich will bessere Mobilität, und die Umweltspur bringt schlechtere Mobilität.

(Beifall von Henning Rehbaum [CDU])

Wir beobachten mit Sorge auch das Unfallrisiko an Stauenden und lassen uns dazu von den zuständigen Behörden berichten.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Sie machen sich doch lächerlich mit Ihrem Beitrag!)

Ich belasse es aber nicht bei der Feststellung, man hätte früher dies und das tun können. Ich belasse es auch nicht bei der sorgenreichen Feststellung über den Status quo, sondern wir tun jetzt das, Herr Mostofizadeh, was Sie in den sieben Jahren längst hätten tun müssen

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das ist doch albern!)

– längst hätten tun müssen! –, und ich sage auch: längst hätten tun können.

(Beifall von der CDU – Carsten Löcker [SPD]: Das ist jetzt wirklich Murks!)

Ich habe die ÖPNV-Offensive beschrieben und will es gerne wiederholen. Wir bieten den Städten in ihrer Zuständigkeit eine Milliarde Euro für die Erneuerung der Stadt- und Straßenbahnnetze an. Davon profitiert auch Essen und hat sofort unterschrieben, dass wir das als Budget zur Verfügung stellen. So schlecht kann das nicht angekommen sein.

180 Millionen Euro für ein robustes Netz, gemeinsam mit der DB und den Aufgabenträgern, um den SPNV besser zu machen, Investitionen in Millionenhöhe, Reaktivierung von Bahnstrecken, 120 Millionen Euro für On-Demand-Verkehre in suburbanen und ländlichen Regionen, 100 Millionen Euro für zusätzliche Schnellbuslinien!

In der kommenden Woche gibt es die Ticket-App. Alle Ticket-Angebote aus Nordrhein-Westfalen gibt es erstmals in einer App. Das Azubi-Ticket ist mit fast 7.000 Verkäufen statt prognostizierten 3.500 Verkäufen ein Erfolg. Ein schönes Produkt, das gut funktioniert!

Alles in allem: So geht bessere Mobilität und saubere Luft. – Zu spät? Mag sein. Wir machen es jetzt. Ich glaube, dann kommen wir am Ende auch wieder besser nach Düsseldorf rein und aus Düsseldorf raus. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit kann ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8 schließen.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/7908 an den Verkehrsausschuss – federführend –, an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen sowie an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung mitberatend. Wie immer soll die abschließende Beratung und Abstimmung dann im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? – Enthaltungen? – Da beides nicht der Fall war, haben wir so überwiesen.

Ich rufe auf:

9   Freie Berufe unterstützen: Qualität, Qualifikation, Verbraucherschutz und Transparenz stärken, EU-Dienstleistungspaket begleiten

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7909

Ich eröffne die Aussprache. Herr Kollege Krauß hat für die antragstellende Fraktion der CDU das Wort.

Oliver Krauß (CDU): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass noch ein paar Kolleginnen und Kollegen da sind, obwohl der erste Advent schon ruft; denn mir ist dieser Antrag schon sehr wichtig.

Hier geht es in keiner Weise darum, irgendwelche Besitzstände von Freiberuflern zu sichern. Es geht hier, meine Damen und Herren, um den besonderen Schutz von Menschen, von Patienten, von Mandanten, und es geht um den Datenschutz – um nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Durch das Dienstleistungspaket der EU sollen Wachstum und Beschäftigung im Fahrplan der Binnenmarktstrategie angekurbelt werden. Unmittelbar nach Präsentation dieser Strategie hatten wir am 04.11.2015 eine Große Anfrage zur Lage und zu den Perspektiven der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen gestellt. Die Ergebnisse dieser Anfrage gelten unverändert. Zu den tragenden Grundprinzipien der Freiberuflichkeit gehören die Orientierung am Gemeinwohl, der hohe Qualitätsmaßstab und der Zuschnitt der freiberuflichen Dienstleistungen auf den konkreten Einzelfall.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das steht schon im Antrag!)

Meine Damen und Herren, das Ziel der Binnenmarktstrategie ist gut begründet: die Aktivierung des Wettbewerbs im Dienstleistungssektor mit grenzüberschreitender Arbeitsmobilität und mit Zuwachs der Produktivität. Dass diese Potenziale entwickelt werden, ist selbsterklärend. NRW geht dabei an der Seite der Benelux-Staaten voran. Ein gutes Beispiel dafür ist unser Europa-II-Antrag vom vergangenen Jahr zum Thema „Grenzüberschreitende Vernetzung intensivieren“.

Die Möglichkeit, sich bei den europäischen Partnern ohne unnötige Bürokratie und ohne unsinnige Voraussetzungen auf offene Stellen zu bewerben, ist ebenso gewollt wie eine rechtssichere Genehmigung für Dienstleister, die nach Möglichkeit schnell erteilt wird.

Die Dienstleistungsstrategie richtet aber dann Schaden an, meine Damen und Herren, wenn sie mit einseitig ökonomischem Motiv alles über einen Kamm schert. Angehörige der Freien Berufe leisten häufig Aufgaben im besonderen öffentlichen Interesse. Rechtspflege und Gesundheitsversorgung, aber auch das ordentliche Finanz- und Rechnungswesen betreffen oftmals ganz höchstpersönliche Rechtsgüter. Das erfordert ein hohes Maß an Verbraucherschutz und an Qualitätsstandards.

Aber in der Ordnung der Gemeinschaft und mit dem Gebot der Subsidiarität steht der Kommission kein Vorrecht bei der Beurteilung zu, welche Reglementierungen notwendig und zulässig sind, um das Gemeinwohl zu wahren und die Verbraucher zu schützen.

Die bewährten Qualitäts- und Schutzstandards haben ihre Berechtigung in keiner Weise überlebt. Daran muss sich jeder messen lassen, der einen Freien Beruf ausübt. Problematisch sind daher Vertragsverletzungsverfahren wie das Urteil des EuGH vom 4. Juli 2019, das die Mindest- und Höchstsätze der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI) gekippt hat; denn auch die Honorarordnungen stehen im Zeichen des Verbraucherschutzes und der Qualitätssicherung.

Bedenklich stimmt mich weiterhin, wenn der Präsident des Deutschen Steuerberaterverbandes Harald Elster im vergangenen Jahr angeprangert hat, dass die EU-Kommission die Vorbehaltsaufgaben des steuerberatenden Berufs infrage gestellt hat.

Zwischenzeitlich wurde die politische Linie der Kommission korrigiert. Das betrifft vornehmlich den einseitigen Binnenmarktaspekt, der kritiklos alle Mitgliedsstaaten, alle Berufsbilder und alle Regulierungskonzepte unter das Regime des Dienstleistungspakets stellt.

Die Energie von EU-Dienst-leistungskarte und verschärften Notifizierungsverfahren ist gestoppt, allerdings nur vorläufig. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist modifiziert worden.

Bei der jetzigen Umsetzung in nationales Recht bleibt das Ermessen der Mitgliedsstaaten ausschlaggebend für den Gegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfungen. Es bleibt eine nationale Entscheidung, ob die Regulierung eines Berufs tunlich ist. Damit finden nationale Gegebenheiten und die nationale Kompetenz entsprechende Würdigung, solange die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit gewahrt sind.

Auch unter der neuen EU-Kommission muss klar sein: Die Entwicklung des EU-Dienstleistungspakets bedarf weiterhin einer konstruktiv-kritischen Begleitung im Sinne von Qualität, Gemeinwohl und Verbraucherschutz. Dazu ist das legitime Recht der Mitgliedsstaaten vor Kompetenzanmaßung zu schützen.

Das Land NRW macht sich weiterhin dafür stark, dass das Versprechen von Vertrauen, Qualität und Transparenz gehalten wird. Wir engagieren uns offensiv im Rahmen der dynamischen Kompetenzordnung, der Identität und der Souveränität der Mitgliedsstaaten des Art. 1 des EU-Vertrags mit dem Ziel einer immer engeren Integration in Europa. Dieses Kräfteparallelogramm ist Aufgabe und Chance zugleich.

Meine Damen und Herren, als Rechtsanwalt werde ich von Kolleginnen und Kollegen regelmäßig dazu aufgefordert, dass die Politik ihren Beitrag dazu leisten müsse, die hervorragende Qualität in den Freien Berufen zu erhalten. Dieser Aufgabe kommen wir mit dem vorliegenden Antrag nach, und nun freuen wir uns auf die Beratungen in den Ausschüssen.

Vielen Dank – und Ihnen allen einen gesegneten ersten Advent.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Krauß, auch für die guten Adventswünsche. – Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Bombis das Wort.

Ralph Bombis (FDP): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, sehr geehrte Herren! Das Dienstleistungspaket der EU ist leider für viele Freiberufler ein Grund zur Sorge. Sie fürchten den Qualitäts- und Anerkennungsverlust ihrer Arbeit und ihrer Qualifikationen.

Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir als NRW-Koalition frühzeitig vor den anstehenden weiteren Abstimmungsprozessen zum EU-Dienstleistungs-paket darauf einwirken, dass die Freien Berufe nicht nur die tatsächliche, sondern auch die politische Wertschätzung erhalten, die ihnen zusteht.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Freie Berufe sind ein Garant für unsere Soziale Marktwirtschaft und Gemeinwohlorientierung. Sie sind nicht nur Mittelstand im besten Sinne des Wortes, sondern sie sind auch gelebte Eigenverantwortung. NRW hat 264.000 Freiberufler. Rund 806.000 Erwerbstätige in den Büros, Kanzleien, Praxen und Apotheken unterstützen diese Arbeit und werden dort beschäftigt. Die Freien Berufe stützen die duale Berufsausbildung mit 11.400 Ausbildungsplätzen in NRW. Damit trägt die Arbeit dieser Berufsgruppe maßgeblich zu wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Erfolgen in NRW bei.

Ja, wir verstehen uns in diesem Sinne als Partner der Freien Berufe, und wir wollen Sie für das 21. Jahrhundert fit machen. Es gilt, in gutem Einvernehmen einen Ausgleich der berechtigten Wünsche nach freiem und fairem Wettbewerb und dem staatlichen Auftrag qualitativ hochwertiger Dienstleistungen sicherzustellen.

Deshalb befürworten wir die Absicht der EU-Kommission durchaus, Wachstums- und Wettbewerbshindernisse im Dienstleistungssektor abzubauen, damit kleine und mittelständische Betriebe bei der Bemühung um öffentliche Aufträge im Ausland – auch NRW-Betriebe – nicht mehr diskriminiert werden.

Dies darf aber nicht dazu führen, dass die hohen Standards bei Qualität, Qualifikation und vor allen Dingen auch Verbraucherschutz in Deutschland und Nordrhein-Westfalen ausgehöhlt werden und die Erfolgsmodelle von Handwerk und Freien Berufen bei uns gefährdet werden.

Wir sagen gerade auch im Sinne der kleinen selbstständigen Betriebe, die uns in besonderer Weise am Herzen liegen, dass die europäische Rechtsprechung und das Vertragsverletzungsverfahren zur Honorarordnung für Architekten und Ingenieure ein mahnendes Beispiel dafür ist, wie das bewährte System Freier Berufe in Deutschland unter Druck gerät.

Wir sind klar der Auffassung, dass die Beanstandungen an der Honorarordnung europarechtskonform bereinigt werden müssen, ohne dass die Honorarordnung als Modell für die Sicherung von Qualität von Architekten und Ingenieuren verloren geht. Trotzdem sind flexible Vereinbarungen nach wie vor auch möglich zu machen.

Wir unterstützen die Harmonisierung des Binnenmarktes. Voraussetzung für diese Harmonisierung auf einem qualitativ hochwertigen Niveau muss aber sein, dass die hohe Qualität freiberuflicher deutscher Dienstleistungen erhalten bleibt. Gleiches gilt für die erfolgreichen Strukturen der dualen Wirtschaft, der dualen Ausbildung, den Meisterbrief und die Selbstverwaltung der Wirtschaft, die landesübergreifend als Vorbild dienen können.

Wir müssen als Mitgliedsstaaten in der EU selbst bestimmen können, welche Berufe mit welchen Zugangsvoraussetzungen belegt werden, solange diese in der EU nicht auf einem qualitativ hohen Niveau harmonisiert sind. Das ist gelebte Subsidiarität. Das führt zu einer Akzeptanz der Europäischen Union auch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wir werden uns für diese Grundprinzipien als Leitlinien einsetzen.

Ich freue mich auf die weiteren Beratungen im Ausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bombis. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Watermeier.

Sebastian Watermeier (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema, das wir heute beraten, ist nicht neu. Aus der im Kern zu begrüßenden Harmonisierung und dem damit verbundenen Abbau von Wettbewerbs- und Wachstumshemmnissen erwachsen, wie in vielen anderen Bereichen auch, einige Widersprüche zu den bewährten Strukturen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Sie haben das in Ihrem Antrag auch sehr detailliert aufgezeigt.

Wir haben hier auf der einen Seite die hohen Qualifizierungs- und Schutzstandards im Bereich der Freien Berufe und auf der anderen Seite dadurch bedingte Schranken im EU-weiten Marktzugang, die es prinzipiell zu überwinden gilt. Die entscheidende Frage ist aber: Zu welchem Preis? Das haben die Vorredner deutlich gemacht.

In der Tat darf hier auf keinen Fall das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden, wie es die bisherigen Aktivitäten der Kommission vermuten lassen, sei es das Dienstleistungspaket oder seien es diverse Vertragsverletzungsverfahren wie zuletzt gegen das Steuerberatungsgesetz.

Nun sind aber die Kolleginnen und Kollegen von der CDU-Fraktion und der FDP-Fraktion wahrlich nicht die einzigen, die sich hier sehr klar positioniert haben. Die Große Koalition in Berlin hat bereits 2015 in ihrem Antrag „Transparenzinitiative der Europäischen Kommission mitgestalten – Bewährte Standards im Handwerk und in den Freien Berufen erhalten“ deutlich Stellung bezogen und die notwendigen Schritte seitens des Bundes, der nun erst mal zuständig ist, beschlossen.

Es erschließt sich mir deshalb nicht so ganz, warum wir uns hier und heute in diesem Hause mit dem Thema befassen bzw. was der Anlass Ihres Antrags ist. Er erscheint mir eher als eine Art Arbeitsnachweis, eine Fleißarbeit durch Formulierung längst bekannter Positionen, keine zielführende Positionierung in der Europapolitik der Regierungsfraktionen.

(Beifall von der SPD)

Wahrscheinlich, liebe Kolleginnen und Kollegen – auch das wurde in den Wortbeiträgen gerade deutlich –, spielt auch der Erwartungsdruck zahlreicher Freiberufler an der christlich-liberalen Basis eine Rolle und hat die Kolleginnen und Kollegen der Mitte-rechts-Koalition zu diesem Antrag motiviert.

(Beifall von der SPD)

Es fällt auf, dass Ihre europapolitischen Anträge sich mal mehr, mal weniger sachkundig mit wichtigen Detailfragen befassen, die an Sie herangetragen werden, eine europapolitische Linie, eine kohärente Europastrategie aber vermissen lassen.

Insbesondere das Thema „wünschenswerte Harmonisierung bei hohen Standards“ wird von Ihnen sehr unterschiedlich angefasst. Während Sie hohe Standards bei Freiberuflern zu Recht als erstrebenswertes Ziel beschreiben, gilt das für Sie mit Blick auf alle Erwerbstätigen leider nicht. Aus den Debatten um bessere europäische Standards bei Löhnen und Arbeitnehmerrechten blieb nicht nur mir sehr deutlich in Erinnerung, dass Anfang des Jahres Ihrerseits das Hohelied des Wettbewerbs in Europa angestimmt wurde, zu dem dann auch, gerade intoniert durch die FDP-Kollegen, ein misstönender Dumping-Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten gehört.

Es fehlt Ihnen auch europapolitisch leider am Willen zu einer Politik für die vielen – nicht die wenigen – und am Einsatz für die Interessen aller Berufstätigen in unserem Land.

(Beifall von der SPD)

Wir werden natürlich dennoch der Überweisung zustimmen, sind – glaube ich – in der konkreten Sachfrage dieses Antrags auch nicht so weit auseinander und werden uns im Ausschuss detaillierter mit dem vorliegenden Antrag auseinandersetzen. Ich freue mich auf die Beratungen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Watermeier. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Kollege Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt habe ich mir die gleiche Frage gestellt wie Kollege Watermeier. Herr Bombis, in Ihrem Beitrag ist deutlich geworden, Sie haben immer „einerseits“ und „andererseits“ gesagt, also einerseits die Standards der deutschen Freien Berufe, also hohe Berufsstandards, hohe Honorarordnung, auch gewisse Regulierung, die dem deutschen Berufsstand nutzen, auf der anderen Seite aber Wettbewerbsmöglichkeiten, Harmonisierungen in Europa usw.

Das können wir unterschreiben. Damit habe ich kein Problem. Wir sind auch sehr dafür, dass die Freien Berufe geschützt werden, dass das System der deutschen Freien Berufe, dass die duale Ausbildung gestärkt wird. Wir sind auch sehr dafür, dass ein Mitgliedsstaat wie Deutschland sich selbst Berufsordnungen gibt und das alles entwickelt.

Aber Sie müssen schon erklären, wie Sie es durchsetzen wollen.

Sie sagen, dass auf europäischer Ebene böse Urteile gefällt wurden und in der Europäischen Union Richtlinien beschlossen wurden, die Ihnen nicht gefallen. Das sind keine Satellitenentscheidungen, die da passiert sind, sondern die haben eine lange Geschichte. Ich verweise darauf, dass das Verfahren der EU-Kommission zur Frage der Steuerberaterberufe seit 2013 läuft. Wer regiert denn seit 2013 in Berlin? Seit 2005 sind die Wirtschaftsminister meistens von der schwarzen Farbe gestellt, und zuständig ist im Wesentlichen der Deutsche Bundestag bzw. noch viel mehr die deutsche Regierung. Was fragen Sie den Landtag denn um Erlaubnis, eine solche Strategie abstimmen zu können?

Wir können hier gerne gemeinsam eine Resolution machen, in der steht: Wir wollen die Freien Berufe stärken. Wir halten das System der Freien Berufe in Deutschland für gut, wir halten es hoch, wir wollen hohe Qualität machen. – Wir können eine gemeinsame Resolution unterschreiben, das im Ausschuss beraten, und dann sind wir fertig mit der Geschichte.

Natürlich werden wir der Überweisung an den Ausschuss zustimmen. Sie müssen den Kollegen im Ausschuss aber mal erklären, wohin es gehen soll, welche Schritte Herr Altmaier ergreifen soll, was er in Europa vorträgt, wie beispielsweise die Stellungnahme der Bundesregierung in dem Vertragsverletzungsverfahren, das die Europäische Union gegen Deutschland angestrengt hat, die schon längst vorliegen müsste, aussieht. Das steht nicht in Ihrem Antrag; das haben Sie gar nicht mehr aufgenommen. Ich glaube nicht, dass Herr Altmaier seit anderthalb Jahren keine Stellungnahme mehr abgegeben hat. Das kann ich mir bei dem Mann gar nicht vorstellen.

Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen mehr Substanz, eine Zielrichtung, eine klare Ansage, wo es hingehen sollte, würde dem Antrag sehr gut tun. Dann könnten wir substanziell darüber reden, was Sie abgestimmt haben wollen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Mostofizadeh. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Tritschler.

Sven Werner Tritschler (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich zitiere:

„Wenn sich das so bewahrheitet, wenn es keine Europäische Union gäbe, wenn wir nicht die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg hätten, würden Hunderttausende Arbeitsplätze in diesem Land gefährdet.“

So der Ministerpräsident am vergangenen Mittwoch in diesem Hause und soweit die blumige Theorie.

(Zuruf von Dr. Ralf Nolten [CDU])

Nun zu Ihrem Antrag. Ich zitiere:

„Darüber hinaus können die derzeitigen Bestrebungen der EU-Kommission, sich das Recht zu sichern, neue Gesetze und Regulierungen für Dienstleistungen in den Mitgliedsstaaten zu genehmigen oder abzulehnen, rechtsstaatliche Konsequenzen nach sich ziehen:“

Und weiter:

„So könnte über den Umweg der ‚Vollendung des Binnenmarktes‘ ein Eingriff in die Kompetenzordnung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedsstaaten vorgenommen und das Subsidiaritätsprinzip sowie die klassische Gewaltenteilung ausgehebelt werden. Die Folge wäre eine Kompetenzverlagerung auf die Ebene der Europäischen Union.“

Meine Damen und Herren, so viel zur traurigen Realität.

Seit Dekaden betreiben Sie eine Politik der Machtverlagerung nach Brüssel. Angeblich sichert das den Frieden oder was auch immer. Und dann wundern Sie sich, wenn Sie irgendwann nur noch machtlose, politisch impotente Provinzverwalter sind, die sich mit Politiksimulation wie diesem Antrag beschäftigen dürfen.

Was soll dieser Antrag denn bringen? Mehr als die Subsidiaritätsrüge des Bundesrates, die man in Brüssel bereits nach dem Schema „Lesen – Lachen – Lochen“ zur Kenntnis genommen hat? Das glauben Sie selbst nicht.

Hier geht es doch nur um eines: CDU und FDP möchten freitagmittags zur parlamentarischen Primetime den Freiberuflern, traditionell eine ihrer Stammwählergruppen, vormachen: Wir kümmern uns. – Dabei haben Sie doch gar nichts mehr zu melden. Sie können wie ein Schülerparlament Appelle an die Zentrale schicken, die dort mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen interessieren.

Aber das Spiel kennen wir schon aus anderen Bereichen. Das war bei der Datenschutzgrundverordnung so oder in diesem Frühjahr bei der Urheberrechtsrichtlinie.

Es wird auch so bleiben, solange Sie jeder noch so leisen Kritik an der EU gleich das große Empörungsgebläse anwerfen und jede Fußmatte zur Vorstufe eines neuen Weltkrieges hochstilisieren. Eine gute, nüchterne und – wie Sie das ja immer so vor sich hertragen – ideologiefreie Politik, eine ideologiefreie Europapolitik, würde sich spätestens an dieser Stelle fragen, ob wir es hier vielleicht mit einem systemimmanenten Problem zu tun haben.

Sie aber zeigen an dieser Stelle Symptome von Schizophrenie. Die EU ist eine heilige Kuh, die man nicht schlachten, ja nicht einmal ernsthaft kritisieren darf. Wenn dann wieder mal etwas aus Brüssel kommt, das Ihnen oder Ihren Wählern vielleicht nicht so gefällt, dann wird lautstark gejammert, aber nichts gemacht.

Meine Damen und Herren, diese Misere ist wie alles andere, das aus Brüssel kommt, nichts als das Ergebnis Ihrer eigenen EU-Besoffenheit. Erkennen Sie endlich an, dass Harmonisierung nichts anderes ist als Vereinheitlichung und Zentralisierung. Hinterfragen Sie endlich mal Ihre eigene Politik und kehren Sie um.

Meine Partei jedenfalls lehnt die Dienstleistungsrichtlinie nicht nur in Teilaspekten, sondern grundsätzlich ab. Sie ist ein Angriff auf das deutsche Handwerk, die freien Berufe und unser duales Ausbildungssystem. Es braucht nicht besonders viel Fantasie dazu, um zu erkennen, warum man dieses System an anderen Stellen und in Brüssel am liebsten schleifen möchte. Es ist einfach verdammt erfolgreich.

Wer also dieses Erfolgsmodell und unsere Souveränität erhalten will, der hält sich zukünftig besser an die AfD und nicht an die Rosstäuscher, die diesen sinn- und folgenlosen Antrag verfasst haben, den wir aus diesem Grund natürlich im Grunde ablehnen. Der Ausschussüberweisung stimmen wir aber zu.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Nach dem Abgeordneten Tritschler von der AfD-Fraktion hat jetzt Frau Ministerin Heinen-Esser für die Landesregierung das Wort, und zwar in Vertretung von Herrn Minister Holthoff-Pförtner.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist unstrittig, dass das System der Freiberuflichkeit ein ganz wichtiger Stützpfeiler der deutschen und eben auch der nordrhein-westfälischen Wirtschaft ist. 272.000 Personen sind derzeit in Nordrhein-Westfalen freiberuflich tätig; das sind 8.000 Personen mehr als jene 264.000, die im Antrag genannt worden sind. 68.000 arbeiten als Ärzte und sonstige Heilberufler, 30.000 als Rechtsanwälte, mehr als 16.000 als Steuerberater, über 10.000 als Architekten.

Wenn man den Blick über die gesamte Bundesrepublik, über Gesamtdeutschland schweifen lässt, sind die Zahlen noch deutlicher: 1,4 Millionen Menschen gehen in Deutschland einer freiberuflichen Tätigkeit nach, und in ihren Praxen, Büros, Kanzleien arbeiten 3,6 Millionen Menschen. Das Institut für Freie Berufe in Nürnberg hat ausgerechnet, dass die Freiberufler immerhin mit 11 % zum deutschen Bruttoinlandsprodukt beitragen. Das sind ganz gewaltige Zahlen. Und Sie zeigen eben auch, wie wichtig es ist, Freiberuflichkeit zu unterstützen und zu stärken.

Meine Damen und Herren, eine wichtige Säule der Freien Berufe sind unter anderem die klaren Vorgaben zur Berufszulassung und zur Qualitätssicherung. In jahrzehntelanger Praxis haben sich diese Vorgaben bewährt und zur sehr hohen Qualität der Freien Berufe bei uns in Deutschland beigetragen.

Von der EU-Kommission wird – das wissen wir alle – die Harmonisierung des Europäischen Binnenmarkts vorangetrieben. Insbesondere im Dienstleistungsbereich hat sich dabei gezeigt, dass unterschiedliche Vorgaben in den einzelnen Mitgliedsstaaten die angestrebte und gewünschte Harmonisierung erschweren. Dass das Konsequenzen auch für Deutschland hat, liegt auf der Hand.

Die Kommission stellte kürzlich in einer Stellungnahme zum nationalen Reformprogramm der Bundesregierung fest – ich zitiere –:

Bei den Unternehmensdienstleistungen sind die Wettbewerbsschranken in Deutschland im EU-Ver-gleich nach wir vor hoch.

Zitatende.

Das betreffe insbesondere reglementierte Berufe wie Architekten, Ingenieure und Rechtsanwälte. So verwundert es auch nicht, dass der Europäische Gerichtshof im Juli in einem Urteil festgestellt hat, dass die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure unvereinbar mit dem EU-Recht ist. Die Bundesregierung prüft zurzeit, wie man den Vorgaben des Urteils Rechnung tragen kann.

Ähnlich wie bei der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure läuft gegen Deutschland noch ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren. Das betrifft das Steuerberatungsgesetz. Zwar hat der EuGH hier noch kein Urteil gefällt, aber ausgehend von der Urteilsbegründung bei der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure ist wahrscheinlich, dass auch das Steuerberatungsgesetz zumindest in Teilen für unvereinbar mit dem EU-Recht erklärt wird.

Meine Damen und Herren, es steht außer Frage, dass eine EU-weite Harmonisierung grundsätzlich zu begrüßen ist. In Zeiten, in denen tarifäre und nichttarifäre Schranken den globalen Handel auf die Probe stellen, kann die EU mit der fortschreitenden Harmonisierung des Binnenmarktes ein Zeichen für offene, funktionierende und damit vor allem für florierende Märkte setzen.

Gleichzeitig dürfen wir aber nicht die Verhältnismäßigkeit aus den Augen verlieren. Das gilt insbesondere für den Bereich der Dienstleistung. Wenn es um die Abwägung zwischen Harmonisierung und Qualitätssicherung geht, darf Harmonisierung eben nicht auf Kosten der Qualität erfolgen.

Deshalb wird die Landesregierung die weiteren Entwicklungen bei der Honorarordnung, aber auch beim Steuerberatungsgesetz genauestens verfolgen. Sollte es bei der HOAI aufgrund des EuGH-Urteils zu legislativen Änderungen kommen, werden wir diese – das können wir heute schon ankündigen – über den Bundesrat sehr intensiv begleiten.

Meine Damen und Herren, nicht zuletzt müssen wir bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit auch die Subsidiarität ins Auge fassen. Beim EU-Dienstleistungspaket sind wir als Landesregierung bereits tätig geworden. Kurz nach der Veröffentlichung des Vorschlags zur EU-Dienstleistungs-richtlinie hat der Bundesrat mit der Unterstützung von Nordrhein-Westfalen eine Subsidiaritätsrüge beschlossen.

Die Landesregierung unterstützt deshalb die Forderungen des Antrags und begrüßt sie. Wir werden uns weiterhin dafür stark machen, dass die Freien Berufe auch in Zukunft für hohe Qualität, hohe Transparenz und hohes Verbraucherschutzniveau stehen. – Besten Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. Damit sind wir am Ende der Aussprache zu Tagesordnungspunkt 9.

Ich komme zur Abstimmung.  Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/7909 an den Ausschuss für Europa und Internationales. Dieser Ausschuss bekommt die Federführung. Der Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung geht in die Mitberatung. Wie immer soll die abschließende Beratung und Abstimmung im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? – Sich enthalten? – Beides ist nicht der Fall. Dann haben wir so überwiesen.

Ich rufe auf:

10 Gesetz zur Errichtung der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7926

erste Lesung

Herr Minister Laumann hat jetzt für die Einbringungsrede das Wort.

Karl-Josef Laumann*), Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach vielen Jahren der Diskussion innerhalb der Pflege, aber auch innerhalb des Landtags haben wir im letzten Jahr ein Meinungsbild innerhalb der Pflege zur Interessensvertretung erheben lassen. Das Ergebnis kennen hier viele. 79 % sprachen sich für die Errichtung einer Pflegekammer aus.

Diese hohe Zustimmung ist für uns Auftrag gewesen, den Wunsch der Pflegefachkräfte umzusetzen und die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen für eine Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen zu schaffen.

Ich freue mich, dass dies gelungen ist und ich heute den Gesetzentwurf zur Errichtung der Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen einbringen und Ihnen zur Beratung übergeben kann.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich persönlich halte schon diese Einbringung für eine hier in Nordrhein-Westfalen bedeutsame Angelegenheit in der Weiterentwicklung der Pflege innerhalb unseres Gesundheitssystems.

Mir war wichtig, dass wir eine starke Pflegekammer schaffen, damit diese auf Augenhöhe mit den übrigen Heilberufskammern agieren kann. Ganz wesentlich ist daher der Regelungsort. Wir ändern mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das Heilberufegesetz, in dem auch die anderen Heilberufekammern verortet sind.

Außerdem wird über das Gesetz eine sehr große Kammer geschaffen. Verpflichtend Mitglied werden alle rund 200.000 Pflegefachkräfte, die in Nordrhein-Westfalen ihren Beruf ausüben oder ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort haben. Wie Sie wissen, liegt mir sehr am Herzen, dass sich die Altenpflege ebenfalls in der Pflegekammer angemessen wiederfindet.

In einem so sehr von Frauen geprägten Beruf ist es auch wichtig, dass Frauen in den Gremien der Pflegekammer angemessen beteiligt sind. Darum haben wir sowohl eine Frauenquotenregelung als auch eine Quotenregelung für die Beschäftigten in der Altenpflege geschaffen.

Um eine starke Pflegekammer zu haben, müssen ihr aber auch wichtige Aufgaben übertragen werden, die die Pflege besser in eigener Verantwortung mit ihrer Expertise erfüllen kann. Dazu gehört zuerst die Zuständigkeit für Weiterbildung. Ich bin ganz sicher, dass die Pflege am besten weiß, welche Inhalte die Fachweiterbildung haben sollte und wie sie gestaltet sein muss.

Die Pflegekammer kann ebenfalls Regelungen zur Berufspflicht und zur Berufsausübung treffen. Beides gehört wesentlich zur Weiterentwicklung des Berufsstandes der professionellen Pflege und soll gemäß Gesetzentwurf zum 1. Januar 2024 selbstständig von der Pflegekammer übernommen werden.

Die Pflegekammer muss meines Erachtens aber auch perspektivisch die Aufgaben der Organisation und der Abnahme der Prüfungen der Pflegeausbildung erhalten. Hier haben wir eine Verordnungsermächtigung ergänzt, da diese Aufgabe erst nach einer Anlaufphase übertragen werden kann.

Selbstverständlich haben wir auch Regelungen für die Errichtungsphase getroffen. Die Meldepflicht der Arbeitgeber, die für die Registrierung der Mitglieder wesentlich ist, und Regelungen zur konstituierenden Kammerversammlung sind in Art. 1 des vorliegenden Gesetzentwurfes enthalten.

Zusätzlich wollen wir über den Gesetzentwurf die Beteiligung der Pflegekammer in den pflegerelevanten Gremien des Landes festschreiben, zum Beispiel in der Landesgesundheitskonferenz und im Landesausschuss für Krankenhausplanung.

Ich meine, dass wir mit der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen einen wichtigen Schritt zur Emanzipation der Pflege gehen. Die Selbstverwaltung der Pflege ist aus meiner Sicht überfällig.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir haben schon einige Male gemeinsam über die Pflegekammer beraten. Das können wir nun anhand des Gesetzentwurfes fortsetzen. Ich hoffe, dass die Beratungen zu einer einvernehmlichen Lösung führen. In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion im Ausschuss. Ich biete den Fraktionen hier im Haus an, zu versuchen, in dieser wichtigen Frage einen möglichst breiten Konsens im Landtag von Nordrhein-Westfalen zu erzielen.

Ich kann Ihnen nur sagen: In Niedersachsen ist eine große Mehrheit für eine Pflegekammer. Das ist eine gute Voraussetzung, dass das vernünftig umgesetzt werden kann, wie wir uns das wünschen. Ich meine auch, dass sich Pflegekammer- und Gewerkschaftszugehörigkeit nicht unbedingt widersprechen müssen. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Aussprache ist heute nicht vorgesehen.

Deshalb kommen wir jetzt zur Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/7926 , die uns der Ältestenrat empfiehlt, und zwar an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? – Sich enthalten? – Beides ist nicht der Fall. Damit haben wir einstimmig so in den entsprechenden Fachausschuss überwiesen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Ende der heutigen Sitzung.

Ich berufe das Plenum wieder ein für Mittwoch, 18. Dezember 2019, 10 Uhr.

Ich wünsche Ihnen einen weiteren angenehmen Arbeitsnachmittag und ein schönes erstes Adventswochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 15:52 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.