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Landtag

Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/72

17. Wahlperiode

15.11.2019

 

72. Sitzung

Düsseldorf, Freitag, 15. November 2019

Mitteilungen des Präsidenten. 3

Vor Eintritt in die Tagesordnung. 3

Formlose Rüge
der Abgeordneten Britta Altenkamp
s. dazu Protokoll der 71. Plenarsitzung
unter TOP 2. 3

1   Kinderschutz und Kinderrechte stärken – Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderschutzkommission) des Landtags Nordrhein-Westfalen einrichten

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7756. 3

Christina Schulze Föcking (CDU) 3

Dr. Nadja Büteführ (SPD) 5

Jörn Freynick (FDP) 6

Verena Schäffer (GRÜNE) 7

Iris Dworeck-Danielowski (AfD) 8

Marcus Pretzell (fraktionslos) 9

Minister Dr. Joachim Stamp. 10

Britta Altenkamp (SPD) 11

Ergebnis. 13

2   Gesetz zur Einführung einer pauschalen Beihilfe

Gesetzentwurf
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5620

Beschlussempfehlung und Bericht
des Haushalts- und Finanzausschusses
Drucksache 17/7791

zweite Lesung. 13

Jörg Blöming (CDU) 13

Markus Herbert Weske (SPD) 14

Ralf Witzel (FDP) 15

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 16

Herbert Strotebeck (AfD) 17

Minister Lutz Lienenkämper 18

Ergebnis. 18

3   Transparenz in der kommunalen Demokratie stärken – Beratungen von Räten und Kreistagen digital veröffentlichen!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7743. 19

Sven Werner Tritschler (AfD) 19

Formlose Rüge  
des Abgeordneten
Sven Werner Tritschler (AfD) 20

Daniel Sieveke (CDU) 20

Ellen Stock (SPD) 21

Stephan Haupt (FDP) 22

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 23

Ministerin Ina Scharrenbach. 25

Rügeähnlicher Hinweis    
auf Einhaltung der parlamentarischen Ordnung,
gerichtet an Ministerin Ina Scharrenbach
s. Protokoll der 73. Plenarsitzung unter
Vor Eintritt in die Tagesordnung. 25

Formlose Rüge  
des Abgeordneten Markus Wagner (AfD)
s. Protokoll der 73. Plenarsitzung unter
Vor Eintritt in die Tagesordnung. 27

Ordnungsruf  
gerichtet an den
Abgeordneten Sven Werner Tritschler (AfD)
s. Protokoll der 73. Plenarsitzung unter
Vor Eintritt in die Tagesordnung. 27

Ergebnis. 28

4   Opfer im Strafverfahren weiter stärken – psychosoziale Prozessbegleitung vereinfachen

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7761 – Neudruck. 28

Angela Erwin (CDU) 28

Christian Mangen (FDP) 29

Stefan Engstfeld (GRÜNE) 30

Sonja Bongers (SPD) 31

Thomas Röckemann (AfD) 32

Minister Peter Biesenbach. 33

Ergebnis. 34


Entschuldigt waren:

Ministerin Ursula Heinen-Esser

Hendrik Schmitz (CDU)

Prof. Dr. Rainer Bovermann (SPD)

Dr. Dennis Maelzer (SPD)

Prof. Dr. Karsten Rudolph (SPD)

Eva-Maria Voigt-Küppers (SPD)

Horst Becker (GRÜNE)

Stefan Engstfeld (GRÜNE)      
(bis 11:30 Uhr)

Arndt Klocke (GRÜNE)

Josefine Paul (GRÜNE)

Johannes Remmel (GRÜNE)

 


Beginn: 10:02 Uhr

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie alle herzlich willkommen zu unserer heutigen, 72. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich neun Abgeordnete entschuldigt. Die Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Geburtstag feiert heute Frau Dr. Patricia Peill von der Fraktion der CDU. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!

(Allgemeiner Beifall)

Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir am Mittwoch vor Eintritt in die Tagesordnung beschlossen haben, heute als Tagesordnungspunkt 2 den von Mittwoch verschobenen Tagesordnungspunkt 8 – Gesetz zur Einführung einer pauschalen Beihilfe, Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, Drucksache 17/5620 – zu behandeln.

Bevor wir aber in die so geänderte Tagesordnung eintreten, komme ich zurück auf die in der gestrigen Plenarsitzung unter Tagesordnungspunkt 2 geführte Debatte. Frau Kollegin Britta Altenkamp von der Fraktion der SPD hat sich in einem Zwischenruf gegenüber einer Abgeordnetenkollegin unparlamentarisch verhalten. Ich werde den Wortlaut hier nicht wiederholen, aber, Frau Kollegin Altenkamp, ich muss Ihnen dafür eine nichtförmliche Rüge aussprechen.

(Zuruf von der SPD: Oh!)

Ich trete damit ein in den Tagesordnungspunkt

1   Kinderschutz und Kinderrechte stärken – Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderschutzkommission) des Landtags Nordrhein-Westfalen einrichten

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7756

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin für die Fraktion der CDU der Abgeordneten Schulze Föcking das Wort.

Christina Schulze Föcking (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich einige Schlagzeilen aus den vergangenen Jahren zitieren:

2015: „Fußballtrainer gesteht Missbrauch“. 2016: „Gewalt und Missbrauch – Kinderärzte schlagen Alarm“, „50-Jähriger missbraucht seine Töchter live im Netz“. 2017: „Schlimmes Leid im Internat“. 2018: „Gruppe junger Männer soll Schülerinnen vergewaltigt haben“. Und dann in 2019 die schrecklichen Gräueltaten von Lügde und Bergisch Gladbach.

Für mich ist es unvorstellbar, was diese Kinder erlebt haben. Ich bekomme eine Gänsehaut, Fassungslosigkeit macht sich breit. Ich verspüre auch unglaubliche Wut in mir, wenn ich dennoch versuche, das Leid der jungen Opfer nachzuvollziehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit einigen Jahren wiederholen sich die Meldungen über Kinder, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. Sie zeigen, wie akut die Themen Kindesmissbrauch und Kinderschutz immer wieder sind und auch, wie betroffen diese uns alle machen.

Ich möchte mich deshalb zunächst bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen herzlich dafür bedanken, dass Sie diesen Antrag parteiübergreifend auf den Weg bringen.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Die NRW-Koalition und ich freuen uns, mit Ihnen für alle Kinder in Nordrhein-Westfalen dieses Zeichen zu setzen. Es ist wichtig und angemessen, dass wir zu dieser Thematik parteiübergreifend Strukturen und Maßnahmen auf den Weg bringen, die den Kindern in Nordrhein-Westfalen wirklich helfen können.

Die allermeisten Kinder erfahren Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit. Doch leider bildet dies nicht die Lebenswirklichkeit von allen Kindern ab. Es gibt Kinder, die Opfer werden von Vernachlässigung, Gewalt – psychisch wie physisch –, Opfer von Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch. Es sind Grausamkeiten, die schon uns Erwachsenen das Blut in den Adern gefrieren lassen, aber kleinen Kinderseelen fügen sie unvorstellbar großes Leid zu, haben schwere, oft lebenslange Folgen.

In den vergangenen Monaten wurden Maßnahmen ergriffen, um die tragischen Ereignisse aufzuarbeiten. Es wurden ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss „Kindesmissbrauch“ und die Stabsstelle im Innenministerium eingerichtet sowie eine Interministerielle Arbeitsgruppe mit dem Titel „Maßnahmen zur Prävention zum Schutz vor und Hilfe bei sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ gegründet. Mit diesen eingeleiteten Schritten sollen die nötigen Erkenntnisse aus den Fehlern auf allen Ebenen im Fall Lügde gewonnen werden, damit diese sich nach bestem Ermessen in Zukunft nicht wiederholen.

Ich möchte an dieser Stelle den Ministern Reul und Stamp ausdrücklich für ihre Arbeit danken. In jeder Sitzung des Familienausschusses hat eine Berichterstattung zu den Geschehnissen in Lügde stattgefunden. Wir sind sofort informiert worden und haben den aktuellen Sachstand ausgetauscht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder, der ein Kind in seinem näheren Umfeld hat, weiß, wie schutzbedürftig ein so kleiner und gutgläubiger Mensch ist. Kinder haben ein unerschöpfliches Grundvertrauen, das ihnen bei Missbrauch zum Verhängnis wird. Ein Kind möchte man so gut beschützen und behüten wie eben möglich, in einem sicheren Umfeld im Familienkreis, in der Schule, im Kindergarten, im Leben. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass Hinweisen und Verdachtsfällen schnell nachgegangen werden kann.

Im aktuellen Fall sitzen neun Männer in Untersuchungshaft, sieben davon aus NRW. Sie werden verdächtigt, Kinder sexuell missbraucht zu haben. Fast ausschließlich sind die eigenen Kinder der Täter hier die Betroffenen – grausam, unvorstellbar. In einem Chat befanden sich allein 1.800 Teilnehmer. Ich finde, da wird das gigantische Ausmaß deutlich.

Ich frage mich immer und immer wieder: Wie kann man einem Kind so etwas antun? Wie ist es jemandem möglich, seinem eigenen Kind so etwas anzutun? Und wie kann so etwas unentdeckt bleiben? Was können wir tun, um künftig Kinder vor solchen abscheulichen Taten zu schützen?

Gerade in der eigenen Familie brauchen Kinder Schutz, Zuwendung und Fürsorge, Sicherheit. Wir können nur erahnen, wie schutzlos und verlassen sich diese Kinder in einem Moment gefühlt haben müssen, in dem ihr Vertrauen so entsetzlich missbraucht worden ist. Aus einer Situation wie dieser kann sich ein Kind nicht selbst befreien. Besonders als Mutter erschüttert mich dieser Gedanke zutiefst.

Vor diesem Hintergrund glaube ich im Übrigen, dass es zu einer wirkungsvollen Präventionsarbeit, die unsere Kinder wirklich vor sexuellen Übergriffen schützt, gehört, dass potenzielle Täter gar nicht erst zu Tätern werden, dass wir denen, die das Krankhafte ihres Verhaltens erkennen und sich selbst und andere vor sich schützen wollen, Angebote und Unterstützung leichter zugänglich machen. Das Projekt „Kein Täter werden“, das es zum Beispiel an der Universitätsklinik hier in Düsseldorf gibt, sei beispielhaft genannt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung geht für die gesamte Bundesrepublik Deutschland von bis zu einer Million von von sexuellem Missbrauch betroffenen Kindern und Jugendlichen aus – eine Million. Ich möchte hier in aller Deutlichkeit und mit allem Nachdruck sagen: Jeder Fall von Kindesmissbrauch ist ein Fall zu viel, jedes Kind, das zum Opfer wird, ist ein Kind zu viel.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Andreas Keith [AfD])

In Art. 6 Abs. 2 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen heißt es:

„Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und den Schutz vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung. Staat und Gesellschaft schützen sie vor Gefahren für ihr körperliches, geistiges und seelisches Wohl. Sie achten und sichern ihre Rechte, …“.

Diese verfassungsrechtliche Verankerung zeigt einmal mehr, dass in Nordrhein-Westfalen der Schutz von Kindern und Jugendlichen einen hohen Stellenwert hat. Wir als Landtag haben jetzt die Möglichkeit, diesen Anspruch ganz praktisch mit noch mehr Leben zu erfüllen und für weitere Verbesserungen beim Schutz von Kindern zu sorgen.

Der Deutsche Bundestag hat bereits im Jahr 1988 eine Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder eingesetzt. Dieses Modell wollen wir jetzt auf Nordrhein-Westfalen übertragen und einen Unterausschuss „Kinderschutzkommission“ einsetzen, der als feste Institution eingerichtet werden soll.

Kinder stehen für uns im Mittelpunkt unseres Handelns, und wir sind überzeugt, dass alles getan werden muss, um dem Kinderschutz einen herausragend hohen Stellenwert zu geben – gesellschaftlich, politisch und parlamentarisch.

Der Unterausschuss „Kinderschutzkommission“ wird mit den nötigen Befugnissen ausgestattet: Vergabe von Gutachten, Einholung von wissenschaftlicher Expertise sowie Durchführung von Anhörungen. Was wichtig ist: All dies wird protokolliert und dementsprechend festgehalten. Es sollen Perspektiven für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes aufgezeigt werden.

Ich bin sehr froh, dass wir in der neuen Kommission unseren Blick auf die verschiedenen Bereiche richten und uns damit beschäftigen werden, wie Verstöße gegen Kinderrechte rechtzeitig wahrgenommen und im besten Fall mit Blick in die Zukunft verhindert werden können. Bei Gefahrensituationen im Umfeld der Kinder sowie möglichen Anzeichen, dass das Kind in seinem Schutz oder in seinen Rechten bedroht ist, brauchen wir Lösungen, um diese Anzeichen so früh wie möglich zu erkennen und Straf- oder Gewalttaten zu verhindern.

Hier soll der Unterausschuss ansetzen und klären, wie Verfahren optimiert werden können. Auch soll der Unterausschuss konkrete Vorschläge zum Schutz der Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen erarbeiten. Staatliche und kommunale Strukturen müssen ebenso berücksichtigt und überprüft werden.

Ein enger Austausch mit Verbänden, Organisationen und Einrichtungen, die sich für die Rechte und Interessen von Kindern und Jugendlichen einsetzen, ist von besonderer Bedeutung. Diese enge Zusammenarbeit kann helfen, vor allem Verfahren in Theorie und Praxis zu verbessern und – das ist ganz wichtig – eventuelle Systemlücken zu schließen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir treffen mit der Einrichtung der Kommission für den Kinderschutz und für die Stärkung der Kinderrechte eine wichtige Entscheidung. Wir als Erwachsene haben die Möglichkeit zu helfen und dürfen nicht wegsehen, leugnen oder ignorieren. Wir tragen Verantwortung für den Schutz unserer Kinder und wollen dieser Verantwortung gerecht werden.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich glaube, wir sind uns alle einig, wenn ich sage: Kinder verdienen es, geschützt und behütet aufzuwachsen. Das ist ihr Recht. Lassen Sie uns den Fokus auf die Stärkung des Kinderschutzes richten und hierfür gemeinsam arbeiten und eintreten. Der Unterausschuss ermöglicht uns, die richtigen Maßnahmen gegen Missbrauch aller Art gemeinsam zu erörtern, aufzuzeigen und auf den Weg zu bringen.

Ich sehe unseren Beratungen positiv entgegen und freue mich auf die Zusammenarbeit zum Wohle unserer Jüngsten. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin.

Bevor ich das Wort weitergebe, nutze ich die Gelegenheit, eine Delegation aus den Vereinigten Staaten auf der Zuschauertribüne hier im Hohen Haus zu begrüßen. Es handelt sich um die Vize-Governor der Bundesstaaten Alaska, Louisiana, Michigan. Ihnen ein herzliches Willkommen hier im Landesparlament von Nordrhein-Westfalen!

(Lebhafter allgemeiner Beifall)

Als nächste Rednerin erteile ich Frau Dr. Büteführ von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Nadja Büteführ (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach den erschütternden Meldungen zu den Missbrauchsfällen in Lügde stellten wir uns alle die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Haben Jungendämter und Ermittlungsbehörden mitsamt ihrer kompletten Struktur der Beratung, Aufsicht und Kontrolle versagt? Heute kann man sagen: Ja.

Die Einzelheiten hierzu sind noch lange nicht in befriedigender Weise aufgeklärt. Die Aufklärungsarbeit ist Aufgabe des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses IV, den das Hohe Haus bereits im Sommer dieses Jahres eingerichtet hat. Das kann aber nur ein Teil sein.

Der PUA untersucht und arbeitet auf, wie der Name schon sagt. Die Frage geht weit darüber hinaus. Wir müssen sicherlich über staatliche Stellen reden, aber dann auch über alle, die Schulen und alle anderen, die mit Familien und Kindern in Berührung kommen. Dabei müssen sie gar nicht einen besonderen sozialen oder pädagogischen Auftrag haben. Wir müssen alle staatlichen und quasi-staatlichen Stellen einbeziehen und dabei hinterfragen, ob die gesamtstaatliche Verantwortung für den Schutz der Kinder ernst genommen wird.

Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass entscheidende Hinweise, die den Fall Lügde schon eher ins Rollen hätten bringen können, von einer Mitarbeiterin eines Jobcenters kamen. Das ist eine Form von Verantwortungsübernahme, die wir uns von allen wünschen, und wir müssen uns fragen, ob dazu wirklich alle willens, bereit und in der Lage sind.

Aber auch das reicht noch nicht aus. Der Auftrag zum Schutz von Kindern richtet sich auch an die Gesellschaft in all ihren Facetten. Ganz naheliegend ist hier der Verweis auf Kirchen, auf Vereine und andere Organisationen, insbesondere auf diejenigen, die als Träger Kitas betreiben, Familienhilfen anbieten, an Sportvereine und andere Einrichtungen, denen man seine Kinder anvertraut.

Aber auch hier muss der Kreis noch weiter gezogen werden. Auch die Betreiberin eines Kiosks, die Camper auf den Plätzen des Landes, ganz normale Menschen, denen man zufällig begegnet, müssen sich fragen: Hätte ich etwas gesagt, hätte ich etwas unternommen, wäre mir überhaupt etwas aufgefallen?

Diese Fragen gehen weit über das hinaus, was ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss leisten kann und soll. Deshalb kam in unserer Fraktion recht früh die Idee auf, dem Parlament eine Art dauerhafte institutionelle Selbstverpflichtung zum Kinderschutz, zur Wahrung der Interessen der Kinder vorzuschlagen, ein Gremium nämlich, das ganz genau hinschaut, das bewusst die Frage stellt, ob Staat und Gesellschaft in der Frage des Kinderschutzes wirklich genug tun und vor allem mit den richtigen Rahmenbedingungen, mit den richtigen Werkzeugen und finanziellen Mitteln ausgestattet sind.

Unser Fraktionsvorsitzender Thomas Kutschaty hat schon beim Aufkommen der ersten öffentlichen Debatte um Lügde und die Konsequenzen eine Kinder- oder eine Kinderschutzkommission vorgeschlagen und auch bereits begonnen, dafür vorsichtig zu werben. Herausgekommen ist zunächst der PUA, was zweifellos richtig und wichtig war. Aber damit war für uns der weiter gehende Ansatz bei Weitem nicht vom Tisch. Es wurde hin und her überlegt, eine Enquetekommission einzurichten. Das wurde wieder verworfen. Schließlich nahm dann diese Kommission Konturen und Gestalt an und mündet in den heutigen Antrag.

Nur wenige Bundesländer räumen den Kindern und ihrem Wohl entsprechenden Raum ein. Es ist aber ein richtiger, ein wichtiger und ein ganz konsequenter Schritt, denjenigen einen Raum zu geben, die noch keine Möglichkeit haben, sich selbst für ihre Belange einzusetzen. Diese Kommission ist nun, wie wir finden, dafür der geeignete Rahmen.

Wir sind den anderen Fraktionen ausdrücklich und aus vollem Herzen dankbar für die konstruktive Zusammenarbeit, die gemeinsamen Anstrengungen, die nun den Weg freimachen werden. Denn eines ist klar: Bei der Frage des Kinderschutzes sollten wir bei allem Dissens in Detail immer versuchen, einen partei- und fraktionsübergreifenden Konsens zu erzielen, der dann auch wirklich das Zeug dazu hat, gesellschaftlich breit getragen zu werden.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wie breit wir den Kinderschutz definieren und wie weit meine Fraktion die Kinderrechte definiert, wird gleich die Kollegin Altenkamp sicherlich noch ausführen. Eine ganz wichtige Facette ist hier jetzt schon mal angesprochen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP spricht nun Herr Abgeordneter Freynick.

Jörn Freynick*) (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Vater von drei noch kleinen Kindern denke ich oft an deren Zukunft. Wie eigentlich alle Eltern möchte ich, dass sie die bestmöglichen Chancen im Leben haben, behütet, selbstbestimmt und frei von Ängsten.

Leider gibt es auch Kinder, für die sich diese Wünsche nicht erfüllen. Es gibt Menschen, die nahezu Unaussprechliches an und mit Kindern tun und geschehen lassen. Zu diesen Menschen zählen in manchen Fällen sogar die leiblichen Eltern. Oftmals sind es gerade Personen, die diesen Kindern sehr nahestehen, bei denen sich die Kinder eigentlich geborgen und beschützt fühlen sollten – eine perfide Täterstrategie, die sprachlos macht.

Kinder brauchen in unserer Gesellschaft besonderen Schutz. Das Wohl der Kinder muss in unserem alltäglichen und politischen Handeln an erster Stelle stehen. Als Erwachsene, als Eltern, als Vorbilder, als Politikerin und Politiker – egal welche Rolle wir in dieser Gesellschaft einnehmen, zum Schutz unserer Kinder sollten wir zusammenstehen.

Ich bin deshalb äußerst froh, dass wir die Kinderschutzkommission ohne parteipolitisches Geplänkel heute einrichten. Das setzt die gute fraktionsübergreifende Zusammenarbeit in dieser Frage fort, die wir hier im Hause seit dem Bekanntwerden der schrecklichen Missbrauchsfälle in Lügde Anfang dieses Jahres haben. Auch die Landesregierung und der Landtag NRW ziehen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes an einem Strang. Wir senden heute ein wichtiges Signal in unser Land. Alle demokratischen Fraktionen des nordrhein-westfälischen Landtags sind im Ziel vereint, die Rechte und das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu wahren und zu verteidigen.

Die Einrichtung einer Kinderschutzkommission ist hierbei eine bedeutende und notwendige Entscheidung. Sie ist Teil eines konzertierten Vorgehens zum besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Verwahrlosung, Missbrauch, physischer und psychischer wie aber auch sexualisierter Gewalt. Da begrüßen wir es als NRW-Koalition, dass die künftige Kinderschutzkommission mit den notwendigen Werkzeugen ausgestatten wird, die es hierfür bedarf. Wir müssen alle bisherigen Ansätze hinterfragen, Prozesse auf den Kopf stellen und neu ausrichten.

(Beifall von der FDP, der CDU und Verena Schäffer [GRÜNE])

Alle bestehenden staatlichen und kommunalen Strukturen im Kinderschutz müssen einer permanenten, eingehenden Prüfung unterzogen werden. Ebenso muss untersucht werden, wie die polizeiliche Ermittlungsarbeit die Kommunikation der zuständigen Stellen sowie die Strafverfolgung weiterentwickelt und optimiert werden können, damit solch abscheuliche Taten des Kindesmissbrauchs wie in Lügde oder in Bergisch Gladbach und Wesel, aber eben auch Fälle von Verwahrlosung und Vernachlässigung verhindert oder zumindest frühzeitig aufgedeckt werden können.

(Beifall von der FDP)

Das Mindeste, was wir tun müssen, ist, Kinder, die zu Opfern werden, schnellstmöglich aus ihrer Lage zu befreien und effektiv vor den Tätern zu schützen. Kurz: Wir brauchen unverzüglich Maßnahmen, die den Kinder- und Jugendschutz in unserem Land wirksam verbessern.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU – Beifall von Verena Schäffer [GRÜNE])

Dazu zählt auch die dringende Verbesserung des Opferschutzes. Leider dauert es bisher viel zu häufig viel zu lange, bis die Vernehmung der Opfer durch die Justiz abgeschlossen ist. Für alle Opfer, aber ganz besonders für Kinder ist es eine Qual, wenn sie sich mit ihren Ängsten alleine gelassen fühlen. Teilweise werden Opfer sogar mehrfach verhört und müssen dadurch ihr Martyrium erneut durchleben.

In manchen Fällen wird mit einer umfassenden therapeutischen Betreuung der Betroffenen erst nach Abschluss der Vernehmung begonnen. Wenn sich der Vernehmungsprozess zeitlich hinzieht oder aus welchen Gründen auch immer wiederholt werden muss, versagen wir den Opfern die dringend benötigte Hilfe zur Aufarbeitung des Geschehens.

Hierbei würde ich gerne mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, die Leiterin der Beratungsstelle Zartbitter, Ursula Enders, zitieren. Sie verglich ein Herauszögern der therapeutischen Betreuung mit der Situation, ein Kind mit inneren Blutungen nach einem Unfall auf der Autobahn liegen zu lassen. Eine ungeheure Vorstellung.

Nur wenn schnellstmöglich Hilfe sichergestellt werden kann, besteht eine realistische Chance, die Auswirkungen von Vernachlässigung und Gewalt auf das Leben der betroffenen Kinder zu reduzieren und ihnen später ein weitgehend normales Leben zu ermöglichen. Auch das ist unser gemeinsames Ziel.

Die Kinderschutzkommission hat zur Aufgabe, Perspektiven für die Weiterentwicklung des Kinderschutzes aufzuzeigen und die Kinderrechte in Nordrhein-Westfalen durchzusetzen. Darüber hinaus wird sie konkrete Vorschläge für den Schutz und für die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen erarbeiten. Damit ist die Kinderschutzkommission ein wichtiger Baustein, um den Kinder- und Jugendschutz in Nordrhein-Westfalen zu verbessern.

Neben der Arbeit des PUA zum Kindesmissbrauch und der Interministeriellen Arbeitsgruppe auf Regierungsebene sorgen wir künftig für eine dringend notwendige verstärkte Aufmerksamkeit für die wichtigen Belange des Kinder- und Jugendschutzes in Politik und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen. Wir müssen und werden aus den aktuellen Vorfällen die richtigen Lehren ziehen.

Ich wiederhole es gerne: Ich bin dankbar, dass wir dies heute fraktionsübergreifend beschließen werden. Es gilt, keine Zeit mehr zu verlieren. Das sind wir unseren Kindern schuldig. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der Grünen hat nun die Abgeordnete Frau Schäffer das Wort.

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der massenhafte sexuelle Missbrauch an Kindern auf einem Campingplatz in Lügde und auch der aktuelle Fall mit Tatverdächtigen unter anderem in Bergisch Gladbach und in Wesel sind nur die Spitze eines Eisbergs. Das physische, aber auch das psychische Leid dieser Kinder, die von ihren engsten Vertrauenspersonen missbraucht wurden, ist für uns unvorstellbar und macht einfach nur fassungslos.

Angesichts von Lügde und Bergisch Gladbach sollten wir uns eins immer vor Augen führen: Nur die allerwenigsten Fälle erreichen eine solche öffentliche Aufmerksamkeit. Es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder leider ein alltägliches Phänomen ist und auch alle gesellschaftlichen Schichten durchzieht.

Laut Zahlen des Bundeskriminalamtes waren im Jahr 2018 bundesweit über 14.000 Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Das sind im Schnitt 40 Kinder pro Tag. Wir alle wissen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Aus ganz verschiedenen Gründen werden diese Fälle nicht bekannt. Manche Kinder – wie auch in diesem aktuellen Fall – sind noch so klein, dass sie kaum oder gar nicht in der Lage sind zu verstehen, was für eine Gewalt es ist, die ihnen angetan wurde, und die auch gar nicht in der Lage sind, das zu verbalisieren.

Sexueller Missbrauch findet häufig im sozialen Umfeld statt. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Anzeigeverhalten.

Ich denke, uns muss klar und wichtig sein, dass wir in Verbindung mit dem Themenfeld „sexueller Missbrauch“ auch die Kinderrechte stärken. Kinder müssen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte zu kennen und auch Grenzverletzungen zu erkennen. Das heißt aber nicht, dass Kinder dafür verantwortlich sind, wenn sie sich keine Hilfe holen oder keine Hilfe holen können. Verantwortlich sind immer die Erwachsenen, nie die Kinder.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vor diesem Hintergrund – die Erwachsenen sind verantwortlich – macht es mich fassungslos und es treibt mich um, dass Kinder in der Regel in Institutionen eingebunden sind und es trotzdem nicht auffällt.

Kinder sind in der Kita. Sie sind in der Schule. Sie sind im Sportverein. Sie sind in der Gemeinde. Trotzdem wird sexueller Missbrauch oft nicht erkannt. Vielleicht will man ihn auch nicht erkennen oder schaut vielleicht bewusst nicht ganz so genau hin.

Kitas, Schulen und alle anderen Räume in unserer Gesellschaft müssen Schutzzonen für Kinder sein, in denen kein Missbrauch stattfindet. Diese Institutionen müssen aber auch Räume sein, in denen Missbrauch auffällt und den betroffenen Kindern Hilfe zukommt.

Das setzt natürlich eine entsprechende Aus‑ und Fortbildung der Fachkräfte und eine Entwicklung von Schutzkonzepten in allen Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, voraus.

Wir müssen von der Kultur des Wegguckens wegkommen. Wir brauchen dringend eine Kultur des Hinsehens und des Zuhörens bei sexueller Gewalt gegen Kinder.

Eine Kultur des Hinsehens und des Zuhörens heißt auch, dass von der Spitze des Eisbergs mehr aus dem Wasser ragt, mehr Fälle bekannt werden und diesen Kindern Schutz zukommt. Genau das muss das Ziel sein.

Das bedeutet dann aber auch, dass wir ein dichteres Netz an Kinderschutzstrukturen in Nordrhein-Westfalen und flächendeckend entsprechende Beratungsstellen für Kinder und ihre Angehörigen brauchen. Wir brauchen mehr Therapiemöglichkeiten.

Wir brauchen aber auch Anlaufstellen für diejenigen, die mit Kindern arbeiten – sei es hauptamtlich, zum Beispiel in den Kitas oder in den Schulen, oder ehrenamtlich, zum Beispiel in den Sportvereinen. Auch diejenigen brauchen Beratung und Begleitung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Machen wir uns nichts vor: Wenn wir es mit dem Kinderschutz ernst meinen – und ich denke, das tun alle hier Anwesenden –, müssen wir den politischen Druck beim Thema „Kinderschutz“ aufrechterhalten und für diese Strukturen entsprechende Finanzmittel zur Verfügung stellen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich habe es schon einmal im Innenausschuss gesagt, bevor der Untersuchungsausschuss Lügde begann: Ich glaube, hierin liegt auch unsere Verantwortung als Abgeordnete.

Wir alle wissen, wie schnell politische Themen von den nächsten Themen, dem nächsten politischen Skandal überlagert werden. Das passiert ganz schnell; das wissen wir alle. Beim Thema „Kinderschutz“ darf uns das aber nie wieder passieren. Dafür sind wir alle verantwortlich.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wir alle hier im Raum sind dafür verantwortlich, dass der Kinderschutz fraktionsübergreifend dauerhaft eine hohe Priorität genießt.

Ich bin froh, dass wir jetzt gemeinsam die Kinderschutzkommission einrichten. Uns Grünen war es von Anfang der Diskussion an wichtig, dass daraus eine dauerhafte Kommission wird, denn Kinderschutz ist eine Daueraufgabe.

Das konkrete Arbeitsprogramm muss sich die Kommission dann selbst erarbeiten und geben. Aus meiner Sicht sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Kommission mit dem Thema „sexueller Missbrauch“ startet.

Dass sich diese Kommission mit dem Kinderschutz strukturell und abgekoppelt vom politischen Tagesgeschäft auseinandersetzt, ist wirklich wichtig und ein hoher Mehrwert für dieses Thema.

Diese Kommission hat die Chance, den Kinderschutz fraktionsübergreifend weiterzuentwickeln und zu stärken. Diese Chance sollten wir gemeinsam mit der Kommission nutzen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die Fraktion der AfD hat nun die Abgeordnete Kollegin Frau Dworeck-Danielowski das Wort.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist unbeschreiblich traurig, dass die Anzahl der Kinder, denen Gewalt angetan wird, nicht kleiner wird.

Das ZDF bestätigte dieses Jahr in seiner Doku mit dem Titel „Feige, niederträchtig oder schlicht überfordert? Wie es zu Kindesmisshandlung kommt und was man dagegen tun kann“:

Jede Woche sterben in Deutschland, hier in unserer Mitte, drei Kinder an den Folgen ihrer Misshandlungen. Jede Woche werden hier in unserer Mitte 70 Kinder so schwer misshandelt, dass eine ärztliche Versorgung notwendig ist. Dabei sind wir uns alle der grausamen Tatsache bewusst, dass das nur die Fälle sind, die als solche erkannt werden.

Bei einer Anhörung in der vorangegangenen Legislaturperiode, die sich mit dem Thema „Kinderschutz“ und insbesondere mit dem Vorstoß hin zum interkollegialen Austausch von Ärzten befasst hat, hat einer der Sachverständigen mit einem Zitat aus einem Lehrbuch der Rechtsmedizin die Schwierigkeiten beim Erkennen von Kindesmisshandlungen im Gesundheitswesen sehr anschaulich auf den Punkt gebracht Zitat :

„Bei kaum einem Gewaltdelikt sind die Vertuschungsmöglichkeiten so groß wie bei der Kindesmisshandlung. Der Täter ist meist der Betreuer und entscheidet selbst über die Arztbesuche. Das Opfer kann sich zumeist nicht oder nur unzureichend artikulieren. Der behandelnde Hausarzt (…)“

– oder auch Kinderarzt –

„sowie gegebenenfalls der Sachverständige beim Schwurgericht stehen vor einem Dilemma. Fast jeder Einzelbefund kann letztlich auch durch einen Unfall erklärt werden. Die eindeutige Diagnose ergibt sich aus der Vielzahl ungewöhnlicher Verletzungen und insbesondere aus der eindeutig mehrzeitig entstandenen Verletzung.“

So endet der Beitrag.

FDP und CDU haben in Oppositionszeiten das Thema sehr ernst genommen – so ernst, dass es sogar nach der gewonnenen Wahl in ihrem Koalitionsvertrag niedergeschrieben wurde. Dort heißt es auf Seite 7:

„Zur Verbesserung des Kinderschutzes werden wir den interkollegialen Ärzteaustausch zur Verhinderung von doctor-hopping und Gewalt gegen Kinder ermöglichen und den Ärztinnen und Ärzten Rechtssicherheit geben.“

Jetzt, in Regierungsverantwortung, warten zahlreiche Ärzte immer noch auf ihre Rechtssicherheit. In der großen Anhörung rund um Prävention von Misshandlung und Missbrauch von Kindern wurde auch, aber eben nicht nur, vom Verein RISKID wieder auf die notwendige Veränderung in dieser Hinsicht hingewiesen.

Jetzt, in der Regierung, wird das Zögern so begründet: Das müsste man über den Bund regeln, eine Bundesratsinitiative anstoßen usw.

Herr Stamp, Sie gerieren sich hier doch immer gerne als der Macher. Wir fragen uns dann natürlich: Warum passiert das nicht?

Was hingegen tatsächlich passiert – und deshalb reden wir heute über den Kinderschutz –, ist eine eindeutig spürbare allgegenwärtige Erkenntnis, dass wir alle viel mehr für den Schutz von Kindern tun müssen. Das Bisherige hat eben nicht ausgereicht, um die Gewalt gegen Kinder, den sexuellen Missbrauch von Kindern, die Verwahrlosung und Vernachlässigung von Kindern weniger werden zu lassen.

Lügde war eine Art Schocktherapie für uns alle, und ich bin mir sicher, dass keiner von uns gedacht hätte, dass wir so schnell wieder mit einem so unbeschreiblichen Fall konfrontiert werden wie in Bergisch-Gladbach.

Der Kinderpornoring aus Bergisch-Gladbach – ich bin in der Nähe zu Hause – macht deutlich, welche Auswirkungen auch die Digitalisierung auf Verbrechen dieser Art hat.

Wenn ich lese, dass zehn Terabyte Daten gesichert wurden, was laut Medien ca. 2,5 Millionen Bildern entspricht, und es Chatgruppen gibt – das wurde heute auch schon genannt –, die bis zu 1.800 Mitglieder haben, sprengt das meine Vorstellungskraft.

Hier wurde lediglich eine Gruppe aufgedeckt, und dass das nur die Spitze eines Eisbergs ist, macht das fast unerträglich.

Es war noch nie so leicht, sich mittelbar an Missbrauch und Ausbeutung von Kindern zu beteiligen wie heute. Wenn Kinderpornokonsumenten, die sich über das Netz am Missbrauch beteiligen, animieren und offenkundig auch einen Anreiz für die Täter darstellen, mit einer Bewährungsstrafe davonkommen wie im Fall Lügde geschehen, bleibt jeder Mensch mit einem normalen Gerechtigkeitsempfinden fassungslos zurück.

Das sind die Fälle, die es in die Medien schaffen, die alle betroffen machen und große Aufmerksamkeit erlangen.

Nicht weniger erschreckend ist, dass die Zahl der Inobhutnahmen und Kindeswohlgefährdungen hier in Deutschland kontinuierlich steigt. Von Experten wird die Vernachlässigung als eine passive Form der Gewalt als größtes Problem eingeschätzt: kein Zuspruch, kein Interesse, keine Förderung, keine Fürsorge, keine Bindung.

Kaum messbar und lange unauffällig werden Kinder auf diese Weise massiv in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestört. Es ist ein Trauerspiel und anscheinend ein so großes Thema, dass der Berufsverband der Kinder‑ und Jugendärzte zu den gängigen U-Untersuchungen kleine Videoclips produziert hat, die den frischgebackenen Müttern mit auf den Weg geben und erklären, dass das eigene Kind, der Säugling, das Baby Nähe braucht und man beim Stillen lieber einmal das Smartphone aus der Hand legen sollte.

Kinderschutz ist eine Querschnittsaufgabe. Deswegen begrüßen wir die interministerielle Zusammenarbeit. Wir begrüßen auch die Einrichtung einer Kinderschutzkommission und werden dem Antrag selbstverständlich zustimmen.

Wir bedauern allerdings, dass die Worte in Ihre Ansprache, Herr Dr. Stamp, bei so wichtigen Themen müsse die Parteipolitik außen vor bleiben – so haben Sie es mehrmals im Ausschuss gesagt –, nur ein Lippenbekenntnis sind. Das wurde hier sehr deutlich.

Kinderschutz ist in der Tat eine fraktionsübergreifende Herzensangelegenheit, und dazu zählt hier im Haus nun einmal auch die AfD-Fraktion. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. Als Nächster hat der Abgeordnete Herr Pretzell das Wort.

Marcus Pretzell*) (fraktionslos): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Drei Minuten sind etwas zu kurz, um sich so ausgiebig mit dem Kinderschutz zu befassen, wie es notwendig wäre.

Erlauben Sie mir daher in Bezug auf diese Kommission, die sicherlich von allen hier im Hause in bester Absicht eingerichtet und mit entsprechenden Rechten ausgestattet wird, einige Appelle an Sie.

Mir ist bei Ihren Reden und auch beim Durchlesen Ihres Antrags eines aufgestoßen: Immer wieder ist erwähnt worden, wie viele Kinder in ihrem nächsten, insbesondere familiären Umfeld schwer misshandelt werden. Das ist erst einmal richtig, das ist wahr: Die allermeisten Fälle passieren im familiären Umfeld.

Des Weiteren ist darauf hingewiesen worden, dass Schule, Kita, Vereine, die Kirche etc. sozusagen mit ein Auge darauf haben sollen. Auch das ist zunächst einmal völlig richtig und unbestritten.

Aber – und das sollte dabei eben nicht zu kurz kommen – mitnichten geschehen Missbrauch und Gewalt gegen Kinder immer nur in der Familie. Auch das Gegenteil ist richtig: Missbrauch und Gewalt gegen Kinder geschehen in Vereinen, in der Kirche, in der Kita und in der Schule. Daher müssen auch die Eltern einen Blick in die andere Richtung haben.

In dem Antrag ist zudem von Kinderrechten die Rede. Das hört sich zwar nett an, doch ich muss ein bisschen Wasser in den Wein gießen: Kinderrechte klingt zwar gut, aber Kinder sind Menschen und haben daher Menschenrechte.

Jüngst gab es eine Debatte über die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz. Vor diesem Hintergrund möchte ich zumindest CDU und FDP auffordern, auch ein Auge darauf zu haben, dass in dieser Kommission die Rechte der Familien und der Eltern gegenüber staatlichen Stellen nicht ausgehöhlt werden.

Das ist nur ein Appell für die Arbeit dieser Kommission. Ich denke, all diejenigen, die diese Kommission einrichten und ihr angehören werden, werden mit den allerbestem Absichten und mit gutem Willen für unsere Kinder handeln. – Herzlichen Dank.

(Beifall von Frank Neppe [fraktionslos] und Alexander Langguth [fraktionslos])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank, Herr Präsident. Meine Damen und Herren! In fünf Tagen jährt sich die Verabschiedung der EU-Kinderrechtskon-vention zum 30. Mal.

30 Jahre Kinderrechte – und jeden Tag erreichen uns unfassbare Nachrichten über Gewalt gegen Kinder, oftmals über sexuelle Gewalt gegen Kinder. Deshalb sind wir alle gefordert, unsere Bemühungen zum Schutz von Kindern erheblich zu verstärken.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Mir ist bewusst, dass es eigentlich nicht üblich ist, dass sich die Landesregierung zu landtagsinternen Entscheidungen äußert, aber wir haben mit Blick auf den Schutz von Kindern vor Gewalt auch keine übliche Situation.

Ich möchte mich daher bei den Fraktionen von CDU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen für diese Initiative bedanken. Ich möchte mich stellvertretend auch namentlich bei Ihnen, Herr Kamieth, Herr Dr. Maeltzer, Herr Hafke und Frau Paul, sowie bei Ihnen, Herr Jörg, als Vorsitzendem des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend, ausdrücklich bedanken.

Im Zusammenhang mit den schweren Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs in Lügde haben wir bereits sehr früh darüber diskutiert, ob die Schaffung eines Amtes für einen Beauftragten zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs oder die Einsetzung einer Kinderschutzkommission die Arbeit in unserem Land unterstützen und voranbringen können. Wie Sie wissen, habe ich für beide Varianten wiederholt Sympathie geäußert.

Mit dieser Entscheidung zur Einrichtung der Kommission hier im Landtag vollziehen wir einen wichtigen Schritt. Auch wenn in den letzten Wochen und Monaten das Thema der sexuellen Gewalt gegen Kinder durch viele schreckliche und widerwärtige Taten im Fokus unserer Aufmerksamkeit stand, finde ich es richtig und wichtig, dass mit der Kinderschutzkommission ein breiterer Blick auf den Kinderschutz und die Kinderrechte gelegt wird. Die Wahrung der Kinderrechte ist der Kern des Kinderschutzes.

Für die einzelnen Themenbereiche gibt es bereits viele gute Ansätze und Ideen. Für Fragen der Prävention, der Intervention und der Nachsorge von sexualisierter Gewalt kann die Kommission, sofern sie das möchte, auch auf die Vorarbeiten der Landesregierung zurückgreifen.

Im Sommer dieses Jahres habe ich dazu das Impulspapier meines Ministeriums vorgelegt. Darin werden systematisch bestehende Expertise, aber auch Ideen und Anregungen zum Thema „Prävention und Schutz vor sexualisierter Gewalt“ zusammengeführt.

Ich habe immer betont, dass das nicht das Papier eines Einzelnen ist. Vielmehr haben wir bereits viele Ideen dazu gemeinsam zusammengetragen.

Bisher hat dieses Papier eine sehr positive Resonanz erfahren, was mich darin bestärkt, dass wir den begonnenen Weg gemeinsam weitergehen.

Darüber hinaus hat die Landesregierung am 3. September 2019 die Einrichtung einer Interministeriellen Arbeitsgruppe beschlossen, die den Auftrag hat, dem Kabinett im kommenden Jahr ein zwischen den Ressorts der Landesregierung abgestimmtes Handlungs‑ und Maßnahmenkonzept zur Beschlussfassung vorzulegen.

Mithilfe dieses Maßnahmenkonzepts sollen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche so stark es eben geht reduziert, Vorgehensweisen aufgezeigt und Betroffene schnell, effektiv und auch langfristig unterstützt werden.

Wir haben im Nachgang von Lügde sehr vertrauensvoll und konstruktiv zusammengearbeitet. Ich wünsche mir im Sinne der Kinder unseres Landes, dass wir das weiterhin so tun und es in der Kinderschutzkommission im gleichen Geiste fortsetzen. So furchtbar das Thema ist, freue ich mich dennoch auf die konstruktive Zusammenarbeit mit Ihnen allen in diesem Gremium. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Für die SPD-Fraktion hat nun die Abgeordnete Frau Altenkamp das Wort.

Britta Altenkamp (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre nicht nur zu den etwas lebensälteren Abgeordneten, sondern auch zu denjenigen, die schon etwas länger hier im Landtag sind, nämlich seit 2000.

2000 bin ich in einen Landtag gekommen, der damals gerade die Diskussion über die Frage, ob Kinderrechte in die Verfassung aufgenommen werden sollten, hinter sich hatte. Diese Frage wurde bejaht.

Damals wurde im Zuge der Diskussion auch sehr intensiv über die Konsequenzen, die das für die Kinder‑ und Jugendschutzstrukturen sowie für den Familienschutz hier in diesem Land haben sollte, geredet.

Herr Pretzell, ob Kinderschutz und der Schutz und die Unterstützung von Familien zu einer unterschiedlichen Rangfolge führen könnten, haben wir damals sehr intensiv diskutiert.

Unsere abschließende Meinung lautete: Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Es kann nicht so sein, dass man Kinder schützt und Familie nicht gleichzeitig unterstützt. Dies ist in diesem Land also schon lange beantwortet.

Mich als eine derjenigen Abgeordneten, die seit über 20 Jahren im Bereich „Kinder‑ und Jugendhilfe und ‑schutz“ unterwegs ist, hat im Jahr 2018, als der Fall Lügde zum ersten Mal aufkam, wirklich völlig umgehauen, dass die Regelung von Dingen, von denen wir geglaubt haben, wir hätten sie lange geregelt – nämlich dass Institutionen und Ämter mit Blick auf die Kinder ganz anders miteinander arbeiten –, an vielen Stellen nicht gelungen ist.

Das macht einen nach über 19 Jahren Angehörigkeit zu diesem Haus und als eine der letzten Abgeordneten, die zu der damaligen jugendpolitischen „Fraktion“, die ein fraktionsübergreifender Zusammenschluss in der Kinder‑ und Jugendpolitik war, gehört hat, schon sehr nachdenklich.

In meiner Fraktion hat sich relativ schnell der Wunsch breitgemacht, dies fraktionsübergreifend zum Anlass zu nehmen, über das Thema „Kinderschutz“ und die Verbesserung der Infrastruktur für Familien und Kinderschutz hier in diesem Land noch mal nachzudenken.

Dennoch geht es meiner Meinung nach leider nicht nur um Lügde, Bergisch Gladbach, Niederrhein und das andere, was sich da in der Zwischenzeit gezeigt hat. Es kann nicht nur um sexualisierte Gewalt und den Schutz davor gehen. Vielmehr muss in dieser Kommission an unterschiedlichen Aspekten auch noch mal grundlegend gearbeitet werden.

Uns geht es nicht um parteipolitische Geländegewinne. Es geht vor allen Dingen darum, gemeinsam dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche in unserem Land umfassend geschützt werden, denn Kinderschutz hat – das sage ich ganz deutlich – Verfassungsrang. Diesem Verfassungsrang zur Umsetzung, zur Durchsetzung zu verhelfen, ist für uns eine ganz wichtige Aufgabe.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Sie kennen das Sprichwort: Es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. – Der 14. Kinder‑ und Jugendbericht hat es so formuliert: Die politische Verantwortung ist das Aufwachsen in gemeinschaftlicher Verantwortung.

Aus dem Grund geht es in dieser Kinderschutzkommission auch darum, dass wir über alle Ebenen gemeinsam überlegen, was wir noch mehr tun können, um unsere Kinder zu schützen – also Legislative, Exekutive und – das sage ich ausdrücklich – Judikative.

Dabei geht es nicht darum, die Ebenen gegeneinander auszuspielen. Es wird darum gehen zu schauen, was wir noch mehr tun können und wie passieren konnte, was in Lügde vorgefallen und so lange unentdeckt geblieben ist.

Wir sollten in dieser Kommission nicht nur über den Schutz vor sexualisierter Gewalt sprechen – dennoch muss das meines Erachtens die Priorität sein –, sondern uns auch damit auseinandersetzen, dass es andere Orte gibt, die für Kinder sehr lebenswichtig sind, in denen es aber mit dem Schutz offensichtlich noch nicht so geklappt hat, wie wir uns das schon seit 2000 gewünscht und vorgestellt haben – also Schule, Kita, Sportvereine, sämtliche Gesellungsformen. Denn der sexuelle Missbrauch und die sexualisierte Gewalt – das haben wir in den letzten zehn Jahren Diskussion ja leider mitbekommen müssen – haben in all diesen Institutionen stattgefunden.

Alle diese Institutionen müssen sich damit auseinandersetzen, wie man Kinder und Jugendliche in der eigenen Obhut besser schützen kann. Deshalb muss sich auch der Staat, also wir, noch stärker damit auseinandersetzen.

Ich bin auch Mitglied im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Fall Lügde und habe dort letzte Woche Freitag hören müssen: Wir sollten nicht annehmen, dass alle Menschen, die sich kinderpornografische Filme und Fotos herunterladen, das aus pädophilen Motiven heraus tun, denn es gibt auch sehr viele, die ganz andere Motive, auch kriminelle Motive, haben. Dazu gehören auch Gewinnmaximierung und andere Dinge.

Das ist das nächste Thema: Auch in Nordrhein-Westfalen werden unsere Kinder nach wie vor ausgebeutet. Auch das müssen wir sehen, dass Kinder in einigen Kreisen als Ware betrachtet werden. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, auch in der Kinderschutzkommission.

Wir müssen deshalb über Verwahrlosung, wir müssen über Vernachlässigung sprechen. Wir müssen uns fragen, ob der Grundgedanke, den wir seit 2000 eigentlich immer hatten, dass alle unsere Kinderschutzmaßnahmen darauf gerichtet sein müssen, dass Kinder in der Familie am besten untergebracht sind, wirklich in allen Fällen stimmt. Möglicherweise kann das nicht in allen Fällen das Ziel von staatlichen Eingriffen sein.

Wir müssen über Schnittstellenproblematiken sprechen, denn das wurde bei Lügde und jetzt bei dem Fall in Bergisch Gladbach deutlich: Es gibt nach wie vor Optimierungsnotwendigkeiten, insbesondere bei der Zusammenarbeit von Polizei und anderen Ämtern.

Wir müssen uns in der Kinderschutzkommission noch einmal deutlich mit dem Thema „Gesundheitsschutz“ auseinandersetzen, aber auch mit dem Schutz vor Armut.

Wir sollten uns – nicht nur, weil es gerade in der Öffentlichkeit öfter diskutiert wird – mit dem Thema „Systemsprenger“ auseinandersetzen, denn das ist ja auch ein Teil der Antwort, dass unser System, von dem wir glauben, dass es eigentlich ganz umfassend Kinder schützen sollte, das eben nicht tut und zum Teil erfordert, dass sich Kinder diesem System anpassen. Können sie es nicht, tun sie es nicht, gibt es große Schwierigkeiten hinsichtlich des Kinderschutzes, so wie er angemessen wäre.

Wir schlagen vor, ich schlage vor, schrittweise vorzugehen und Schwerpunktthemen zu setzen, die wir dann gründlich unter Hinzuziehung von Experten und Gutachtern möglichst im Konsens umsetzen und bei denen wir durch Anträge und gemeinsame Initiativen im Parlament oder auch darüber hinaus deutlich machen, welchen Weg wir gehen wollen.

Das, Herr Minister, geht eben nur mit dem Ministerium, mit der Landesregierung, denn an vielen Stellen muss es einfach deutliche Fortschritte nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch bundesweit geben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es gesagt. Ich bin seit 2000 Mitglied des Landtags. Herr Minister, lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich bin über viele Jahre immer sehr skeptisch gewesen, wenn Menschen gefordert haben: Das ist doch völlig klar. Da müssen mehr Leute in den ASD, und dann wird alles schon gut.

Ich war auch sehr skeptisch, wenn gesagt worden ist: Ein großes Problem ist, dass wir zu viele kleine Kinder‑ und Jugendämter haben. Das ist virulent.

Ich habe mich dann immer gegen einfache Lösungen gewehrt und immer gesagt: So einfach ist die Welt nicht. Wir müssen genauer hinschauen. Ein kleines Jugendamt kann unter Umständen für das einzelne Kind und für die einzelne Familie eine ganz umfassende Hilfe leisten, und ein großes Jugendamt kann aufgrund der Höhe der Fallzahlen möglicherweise auch Dinge einfach übersehen. Das kann so nicht unbedingt immer die Antwort sein.

Ganz genauso war ich immer sehr, sehr skeptisch, wenn gesagt worden ist: Es muss Strafverschärfungen geben. Dann können wir solche Taten möglicherweise verhindern.

Bei der Pressekonferenz habe ich einen sehr zornigen Minister erlebt, von dem ich ja weiß, dass er Vater von zwei Töchtern ist, der gesagt hat: Es kann nicht sein, dass solche Sachen einfach nach wie vor in dem Maße strafbewehrt bleiben, wie sie es jetzt sind.

Deshalb sage ich ganz offen: Mich – ich weiß, auch viele Kolleginnen und Kollegen – haben Sie an Ihrer Seite, wenn Sie über Strafrechtsverschärfungen nachdenken.

Nur wissen wir alle, dass das nicht dazu führen wird, dass wir Taten verhindern können, denn diese Menschen gehen ganz offensichtlich mit einer völlig anderen Vorstellung, mit einem ganz anderen Menschenbild vor.

Deshalb erhoffe ich mir, dass es uns in dieser Kinderschutzkommission gelingt, unserem verfassungsgemäßen Auftrag, unserer verfassungsgemäßen Verantwortung für die Kinder in Nordrhein-Westfalen besser gerecht zu werden. Ich hoffe, dass wir in diesem Sinne zügig die Arbeit aufnehmen können.

Ich bedanke mich bei den Fraktionen, die das mitgetragen haben. Ich weiß, dass einige ihre Skepsis hintangestellt und gesagt haben: Das ist vielleicht doch eine Methode, auch als Parlament deutlich zu machen, wie wichtig uns der Kinderschutz ist. – Herzlichen Dank dafür.

Ich hoffe, dass wir eine sehr gute Zusammenarbeit haben werden. Glückauf, wie man in meiner Heimat immer noch sagt. In diesem Sinne herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Mir liegt keine weitere Wortmeldung mehr vor. Daher schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellenden Fraktionen von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben eine direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrags. Wer möchte dafür stimmen? – Das sind SPD, Grüne, CDU, FDP, AfD und die drei fraktionslosen Abgeordneten. Ist jemand dagegen? – Möchte sich jemand enthalten? – Damit ist der Antrag Drucksache 17/7756 einstimmig angenommen.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der AfD)

Ich rufe auf:

2   Gesetz zur Einführung einer pauschalen Beihilfe

Gesetzentwurf
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5620

Beschlussempfehlung und Bericht
des Haushalts- und Finanzausschusses
Drucksache 17/7791

zweite Lesung

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der CDU dem Abgeordneten Blöming das Wort.

Jörg Blöming (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Einführung einer pauschalen Beihilfe kommt zunächst als recht nüchterner Vorschlag daher. Doch sein ideologischer Grundton ist unüberhörbar. Nicht die Stärkung des Berufsbeamtentums ist das Ziel. Nein, es geht hier um die langfristige Aushöhlung des gut funktionierenden Beihilfesystems. Konkret geht es Ihnen um die schrittweise Einführung einer Bürgerversicherung.

Diesem Angriff auf das Berufsbeamtentum und der Etablierung einer Zwangseinheitsversicherung stellen wir uns strikt entgegen.

Im Koalitionsvertrag hat sich die Nordrhein-Westfalen-Koalition klar zu den drei Grundpfeilern des Berufsbeamtentums bekannt: Besoldung, Versorgung, Beihilfe.

Für einen starken Staat brauchen wir in Nordrhein-Westfalen einen starken öffentlichen Dienst.

Die Beihilfe ist ein wichtiges Attraktivitätsmerkmal, zum Beispiel in Sachen Nachwuchsgewinnung. So haben wir als Nordrhein-Westfalen-Koalition zusammen mit der SPD noch Anfang dieses Jahres einen gemeinsamen Antrag zur Weiterentwicklung und Modernisierung des Beihilferechts beschlossen – nur damit Sie, liebe SPD, wenige Monate später das scheinbare Bekenntnis zur Beihilfe wieder revidieren. Ich kann das nicht verstehen.

Sie beginnen hier, das ganze duale Gesundheitssystem infrage zu stellen. Das hat Ihnen auch der Deutsche Beamtenbund in der Anhörung im Juni dieses Jahres in aller Deutlichkeit vorgehalten. Nach wie vor bestehen schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung einer Bürgerversicherung. Sie nehmen mittelfristig die substanzielle Schwächung der privaten Krankenversicherung in Kauf – mit sinkenden Leistungen bei steigenden Kosten als Folge für alle.

Die überdurchschnittliche Mitfinanzierung des Gesundheitssystems durch die private Krankenversicherung blenden Sie mit Ihren ideologischen Scheuklappen einfach aus. Davon profitieren aber alle Versicherten.

Die möglichen Mehrkosten im Gesundheitssystem werden von Ihnen mit 13 Millionen Euro beziffert. Das soll der Steuerzahler nun jedes Jahr mehr zahlen.

Weiterhin beziehen Sie sich in Ihrer Berechnung auf das Hamburger Modell. Das ist absolut nicht durchdacht. Es ist unsozial und stellt auch eine Generationenungerechtigkeit dar.

Der Bezug zum Hamburger Modell ist zudem entlarvend; denn bereits am 8. August 2017 twitterte Karl Lauterbach von der SPD hierzu und nannte die Entwicklung in Hamburg „einen großartigen Schritt zur Bürgerversicherung“.

Jahrelang wurde von der SPD in Sachen Bürgerversicherung fast nichts erreicht. Daher hat sie ihre Vorgehensweise geändert. Nun soll es in kleinen Schritten in Richtung Bürgerversicherung gehen, wie es in einem programmatischen Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung auch nachzulesen ist. Einer dieser kleinen Schritte liegt uns heute in Form dieses Gesetzentwurfes vor.

Ich sage ganz klar: Wir als Nordrhein-Westfalen-Koalition stehen an der Seite unserer Staatsdienerinnen und Staatsdiener. Wir lehnen daher jeden Angriff auf das Berufsbeamtentum ab.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD ist nicht nur ein sukzessives Sägen an den Grundpfeilern des Beamtentums. Nein, er birgt auch die ernsthafte Gefahr einer Qualitätsverschlechterung und höherer Kosten für alle Versicherten, von den eben erwähnten 13 Millionen Euro Zusatzkosten zur Torpedierung eines bewährten Systems ganz zu schweigen. Wir lehnen den Gesetzentwurf daher ab.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Blöming. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Weske.

Markus Herbert Weske (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits erwähnt worden: Wir haben eine lange und ausführliche Beratung in vielen Sitzungen mit Anhörungen und allem Drum und Dran gehabt und sind nun am entscheidenden Tag der Abstimmung angekommen.

Ich stelle fest – im Gegensatz zu dem, was Sie gerade hier wieder als das, was neu dazukommen soll, erläutert haben –: Schon jetzt kann sich jeder und jede, der oder die bei uns im Land in die Beamtenlaufbahn einsteigt, für die gesetzliche Krankenversicherung entscheiden. Es gibt insofern also gar keinen neuen Tatbestand.

Im Kern geht es hier am Ende des heutigen Tages nur noch um eine Frage: Unterstützen wir die Beamtinnen und Beamten, die sich für die gesetzliche Krankenversicherung entschieden haben, und zahlen ihnen einen Arbeitgeberanteil in Höhe von 50 %, wie ihn auch unsere Angestellten und Arbeiter bekommen,

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

so, wie es bereits in den Ländern Hamburg, Brandenburg, Bremen und Thüringen geschieht und wie Berlin und Schleswig-Holstein es auch vorhaben?

Die Kritik an unserem Gesetzentwurf – das hat insbesondere die Anhörung der Expertinnen und Experten gezeigt – läuft ins Leere. Die Frage nach einer eventuell fehlenden Verfassungsmäßigkeit, die Sie immer noch sehen, stellt sich überhaupt nicht. Weder in Hamburg noch in den anderen Ländern, die sich auf diesen Weg gemacht haben, hat irgendjemand geklagt oder spielt mit diesem Gedanken – übrigens auch nicht hier in Nordrhein-Westfalen.

Dass der Gesetzentwurf der Einstieg in die Bürgerversicherung sein soll, ist blanker Unsinn. Das haben die Gewerkschaften in der Anhörung sehr schön herausgearbeitet. Die Forderung nach einer pauschalen Beihilfe ist Jahrzehnte älter als unser sozialdemokratisches Konzept der Bürgerversicherung.

Herr Blöming oder auch gleich Herr Witzel, die Gewerkschaften haben gesagt, dass diese Forderung 40 Jahre alt ist. Da haben wir noch „Die drei ???“ gelesen und keine Drucksachen, geschweige denn das Konzept der Bürgerversicherung.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Nadja Lüders [SPD])

Hinzu kommt, dass die Bürgerversicherung überhaupt nicht auf Landesebene eingeführt werden kann. Das haben auch alle Beteiligten in der Expertenanhörung so gesagt.

Wir teilen also das Fazit beispielsweise des DGB in der Anhörung, dass die Einführung der pauschalen Beihilfe in Hamburg vielen Menschen genützt und niemandem geschadet hat.

Nun möchte ich noch kurz auf einen Punkt eingehen, der mich in diesem Zusammenhang besonders ärgert. Zu den schlimmsten Dingen, die Politik machen kann, gehört, Wasser zu predigen und Wein zu trinken. Wir alle hier im Saal haben zu dem Zeitpunkt, als wir Abgeordnete wurden, dieses Formular ausgefüllt:

(Der Redner hält ein Blatt Papier hoch.)

Antrag auf Beihilfe oder – jetzt kommt es – Zuschuss zum Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag gemäß § 13 des Abgeordnetengesetzes; übrigens mit dem deutlichen Hinweis versehen, dass die Entscheidung, ob die Beihilfe oder der Beitragszuschuss gewährt werden soll, grundsätzlich unwiderruflich ist.

Hat jemand in diesem Saal aufgeschrien, dass das verfassungswidrig sein könnte? Nein. Hat jemand hier im Saal skandalisiert, das sei der Einstieg in die Bürgerversicherung? Nein, natürlich nicht, auch nicht seitens der FDP-Fraktion oder der CDU-Fraktion.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Seitdem bekomme beispielsweise ich also monatlich einen 50%igen Zuschuss zu meiner AOK-Kranken- und ‑Pflegeversicherung.

Da ist die Position bei uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten klar: Gleiches Recht für alle,

(Beifall von der SPD)

eben nicht Wasser predigen und Wein trinken.

Nicht nur die Abgeordneten sollen einen Zuschuss erhalten, sondern auch die Lehrerin, die an einer Grundschule anfangen möchte, und der Justizvollzugbeamte, der seinen Dienst in einem Gefängnis antreten möchte. Wir wollen mit diesem Gesetz also eine Regelung für die vielen Menschen schaffen, die als Beamtinnen und Beamte des Landes schon jetzt in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, und die vielen, die in den kommenden Generationen noch dazukommen werden, und nicht nur für die wenigen Abgeordneten in diesem Land. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Weske. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Witzel.

Ralf Witzel (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die FDP-Landtags-fraktion darf ich feststellen: Wir stehen zum Berufsbeamtentum mit all seinen Komponenten.

Es handelt sich um ein besonderes Dienstverhältnis, das im Vergleich zu anderen Arbeitsverträgen an einigen Stellen individuelle Vorteile und in anderen Bereichen gegebenenfalls persönliche Nachteile mit sich bringt. Beamte sind einerseits beispielsweise beim Streikrecht eingeschränkt und können sich als Leistungsträger bei ihrem Monatsentgelt nicht so schnell weiterentwickeln wie andere Beschäftigte. Andererseits sorgt die besondere Fürsorge des Dienstherrn bei Pensionen oft für einen höheren Lebensstandard im Altersruhestand und ist die Mitgliedschaft in der privaten Krankenversicherung ein Attraktivitätsaspekt.

Aus prinzipiellen Gründen, aber gerade auch angesichts von 10.000 unbesetzten Stellen in Zeiten des Fachkräftemangels verbietet es sich, als Steinbruch nur einzelne Aspekte zu betrachten und zur Disposition zu stellen.

Der Gesetzentwurf der SPD wird daher vom Deutschen Beamtenbund ausdrücklich zurückgewiesen, wie wir in der Sachverständigenanhörung sehr eindrucksvoll erfahren durften. Selbiges ist mit einem vergleichbaren Antrag der Grünen vor einigen Wochen passiert.

Ferner sorgen folgende Probleme auch bei uns für eine klare Ablehnung: Die SPD behauptet, eine pauschale Beihilfe sei nötig, da beispielsweise langzeiterkrankte und behinderte Personen nicht in eine private Krankenversicherung aufgenommen würden. Die Anhörung der Experten hat allerdings gezeigt, dass das, was Sie behaupten, überhaupt nicht stimmt.

(Heike Gebhard [SPD]: Fragen Sie einmal die Betroffenen!)

Ich darf Ihnen das entsprechende Zitat aus der Stellungnahme des Verbandes der Privaten Krankenversicherung vortragen:

„Im Rahmen der Öffnungsaktionen der PKV wird bereits heute jeder Beamte unabhängig von seinen Vorerkrankungen und seinem Gesundheitszustand in die PKV aufgenommen.“

(Beifall von der FDP – Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

So sieht die Realität in unserem Land heute aus.

Problematisch sind ferner Auswirkungen des SPD-Gesetzentwurfs auf die Rentenversicherung. Die Beihilfe übernimmt nämlich auch Leistungen, die bei gesetzlich versicherten Personen durch die Rentenversicherung erfüllt werden, beispielsweise einen Kuraufenthalt. Ein Beamter ohne bisherigen Beihilfeanspruch und stattdessen mit alternativer GKV-Versicherung würde hier in eine Versicherungslücke fallen. Das kann nicht ernsthaft Ihre Absicht sein.

Ein gewichtiges Argument gegen den Gesetzentwurf der SPD-Landtagsfraktion sind auch schwerwiegende rechtliche Bedenken. Es gibt ein klares Delegationsverbot in Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes, das Ihnen von den Experten in der Sachverständigenanhörung ja auch dargestellt worden ist. Der Dienstherr ist nämlich verpflichtet, seine Fürsorge- und Alimentationspflicht selbst aktiv zu erfüllen, und darf sie nicht auf einen Dritten, wie es die GKV wäre, abwälzen.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Daraus folgt eine weitere Gefahr. Selbst wenn sich der Landtag für die Einführung einer pauschalen Beihilfe entscheiden würde, könnte sich jeder in die GKV gerutschte Beamte je nach Lebenssituation später wieder mit Bezugnahme auf Art. 33 Abs. 5 in das Beihilfesystem einklagen. Das kann nicht sinnvoll sein.

In Wahrheit geht es SPD und Grünen mit ihren jeweiligen Initiativen um eine schleichende Aushöhlung der PKV, da dieses System von Rot-Grün ausweislich zahlreicher Parteitagsbeschlüsse von Ihnen nicht gewollt ist. Das ist doch Ihre eigentliche Motivation.

(Beifall von der FDP und der CDU – Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Nach mehrfacher Heraufsetzung der Versicherungspflichtgrenze wird immer mehr Menschen der Eintritt in die PKV faktisch unmöglich gemacht. Beamte sind daher eine wichtige Säule zur Stabilisierung und Neukundengewinnung der PKV, die Rot-Grün lieber austrocknen und zerschlagen will. Dieses politische Ziel teilen wir ganz ausdrücklich nicht. Wir wollen – umgekehrt – mehr Menschen die PKV ermöglichen und ihnen diese nicht nehmen.

Die eigentlichen Herausforderungen bei der Beihilfe sind deshalb aus Sicht der FDP-Landtagsaktion andere: Wir wollen den Bearbeitungsaufwand und die Bearbeitungszeit der Beihilfe weiter reduzieren, ohne die Bearbeitungsqualität zu beeinträchtigen. Da gibt es noch Optimierungsbedarf. Uns geht es also im Ergebnis um die kundenfreundlichere Ausgestaltung bei der Administration, aber nicht um die Abschaffung des Systems.

Parallel wollen wir das behördliche Gesundheitsmanagement ausbauen und stärken sowie den Krankenstand im öffentlichen Dienst senken. Das sind unsere ganz konkreten Vorschläge zur Verbesserung des Systems.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Beamte schätzen grundsätzlich den Vorteil ihrer PKV mit der dazugehörigen anteiligen Beihilfeerstattung zwischen 50 und 80 %.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Ralf Witzel (FDP): Die FDP-Landtagsfraktion ist davon überzeugt, dass diese gute Versorgung der Beamten

(Stefan Zimkeit [SPD]: Wofür haben Sie sich denn entschieden? – Gegenruf von Henning Höne [FDP]: Mein Gott!)

ein wichtiges Argument bei der Fachkräftegewinnung darstellt. Diese wollen wir nicht gefährden. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Witzel. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hätte das gedacht? Die FDP: die neue Partei der Beamtinnen und Beamten hier in Nordrhein-Westfalen, Vorreiterin des öffentlichen Dienstes, der öffentlichen Hand. Vergessen sind die Worte „Privat vor Staat“.

Mehr Privat vor Staat – das wäre das, was Ihre Partei, Herr Kollege Witzel, an dieser Stelle eigentlich vortragen müsste.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Der Kollege Weske hat es angesprochen: Es geht heute im Kern darum, ob dieses Land bereit ist, denjenigen Angestellten im Landesdienst, die nicht in die Beihilfe hineinkommen, die Möglichkeit zu geben, sich auch gesetzlich zu versichern, und das zu den gleichen Bedingungen, wie sie für die anderen gelten, nämlich indem der Arbeitgeberanteil vom Land übernommen wird.

Eine Mehrheit von FDP und CDU hier im Landtag sagt: „Nein, wir wollen die Ungerechtigkeit im System belassen“, und schiebt da die PKV-Diskussion vor. Eigentlich müssten Sie sich für eine solche Haltung schämen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der SPD und Matthi Bolte-Richter [GRÜNE] – Henning Höne [FDP]: Uiuiui!)

Der Aspekt, den der Kollege Blöming in die Diskussion eingebracht hat, ist entlarvend. Alle Sachverständigen, die sich in der Anhörung zu diesem Thema sachlich geäußert haben, haben Ihnen doch konzediert, dass es nicht um einen Einstieg in die Bürgerversicherung geht.

Herr Kollege Witzel, ich will Ihnen sehr klar sagen: Ich halte eine Bürgerversicherung für den richtigen Weg, weil es nicht richtig ist, dass 50 % der Privatversicherten vom Staat alimentiert werden, nämlich Beamtinnen und Beamte, die pflichtmäßig dort drin sind. Dieses System gäbe es gar nicht, wenn der Staat es nicht mit allen Mitteln aufrechterhalten würde. Das ist doch die Wahrheit, über die wir hier reden müssen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Zurück zur Ungerechtigkeitsfrage: Chronisch Kranken wird der Zugang zur PKV verwehrt.

(Ralf Witzel [FDP]: Nein, das stimmt nicht! – Gegenruf von Heike Gebhard [SPD] – Sven Wolf [SPD]: Das sind horrende Beiträge!)

Sie haben nicht die Möglichkeit, dort hineinzukommen, und Sie sind nicht bereit, den hälftigen Beitrag zu zahlen.

(Unruhe – Glocke)

Wir können ja einfach in das Protokoll der Anhörung hineinschauen. Dort hat auch der Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes vorgetragen, dass wir zweistellige Millionenbeiträge einsparen, weil diejenigen, die in der GKV versichert sind, weiterhin – so hat es der Finanzminister verlangt – den kompletten Beitrag tragen müssen. Wir hatten doch Streit darüber, ob es 12 Millionen Euro oder vielleicht auch 35 Millionen Euro sind, die das Land Nordrhein-Westfalen spart, indem diese ungerechte Versicherungsform in Nordrhein-Westfalen aufrechterhalten wird.

Andere Bundesländer – das hat der Kollege Weske richtigerweise gesagt – wie Hamburg und Bremen, aber in der letzten Legislaturperiode auch in Teilen Nordrhein-Westfalen haben ihren Beschäftigten die Möglichkeit gegeben, diese faire Auswahl treffen zu können.

Wir sprechen doch über die Attraktivierung des öffentlichen Dienstes und der Beschäftigung im Landesdienst sowie über Quereinsteigerrinnen und Quereinsteiger bei den Lehrerinnen und Lehrern. Bei den Zehntausenden, die wir zusätzlich im Landesdienst haben wollen, können wir es uns nicht länger leisten, diese ungerechte Form ohne pauschale Beihilfe aufrechtzuerhalten.

Deswegen rufe ich Sie auf: Nehmen Sie die Anhörung ernst, nehmen Sie den Vorschlag der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ernst, und stimmen Sie dieser Regelung heute hier im Parlament zu. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Mostifizadeh. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Strotebeck.

Herbert Strotebeck (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende SPD-Gesetz-entwurf ist gefährlicher, als es die Überschrift vermuten lässt.

(Lachen von Frank Müller [SPD])

Er ist ein verdeckter Angriff auf die Vielfalt unseres Gesundheitssystems.

(Vereinzelt Beifall von der AfD – Stefan Zimkeit [SPD]: Die Verschwörungstheoretiker sind wieder da! – Frank Müller [SPD]: Die rote Gefahr vom Rhein!)

Die Herren Blöming und Witzel haben sehr deutlich darauf hingewiesen.

Bei der Anhörung im Juni dieses Jahres wurde der Entwurf daher auch zu Recht teilweise verrissen. Der eine oder andere hat das anscheinend anders gesehen.

Gerne kann ich Ihnen an dieser Stelle noch einmal die Kritik gebündelt vortragen, da die SPD die Mängel auch mit ihrem Änderungsantrag nicht beseitigt hat. Eine Korrektur des Entwurfs ist gar nicht möglich, da er grundsätzliche Dinge infrage stellt.

Der größte und umfassendste Kritikpunkt ist, dass die SPD die pauschale Beihilfe nur deshalb als Baustein auf Landesebene einbringt, da ihr Großprojekt, die Bürgerversicherung, auf Bundesebene bislang nicht Realität geworden ist.

Ähnlich wie bei dem linken Wunsch nach einer Einheitsschule soll auch hier ein bestehendes vielfältiges System untergraben werden. Wenn es etwas gibt, was Linke nicht mögen, sind es offensichtlich Wettbewerb und Vielfältigkeit.

(Frank Müller [SPD]: Ja, ja! Er hat unseren perfiden Plan durchschaut!)

– Da können Sie so viel dazwischenrufen, wie Sie wollen. – Das aktuelle Krankenversicherungssystem in Deutschland ist vielfältig, und es sorgt für Wettbewerb. Natürlich ist es nicht perfekt. Aber es ist allemal besser als ein linkes Einheitssystem.

Ein Einheitssystem wird, wie der Deutsche Beamtenbund NRW trefflich feststellte, weder das Problem steigender Kosten für Gesundheitsleistungen bei steigender Lebenserwartung lösen, noch wird die Finanzierung dieser Leistungen bei gleichzeitig sinkender Zahl der Beitragszahler verbessert.

Es ist genau andersherum: Eine Einheitsversicherung würde ohne Wettbewerb wahrscheinlich zu höheren Beiträgen oder zu einer Senkung der Leistungen führen. Es gäbe dann vermutlich nur die Grundleistungen. Alles andere müsste über einzelne Zusatzversicherungen privat organisiert und bezahlt werden.

Ebenso darf nicht übersehen werden, dass dem Gesundheitssystem durch die Einführung eines Einheitssystems die Gelder entzogen würden, welche durch die privaten Krankenversicherungen erwirtschaftet werden. Ein Einheitssystem ist am Ende für die Mehrheit der Menschen schlechter und teurer.

(Beifall von der AfD)

Bezeichnenderweise geht der Gesetzentwurf auch von falschen Zahlen aus, wie der DBB NRW herausstellt. Laut SPD-Gesetzentwurf würden bei der Umsetzung Mehrkosten von 12 bis 13 Millionen Euro pro Jahr entstehen. Der Entwurf gibt aber keine Auskunft darüber, wie sich die Zahlen zusammensetzen. Er nimmt offensichtlich einfach die Zahlen aus Hamburg als Grundlage.

NRW hat aber 2017 rund 263.000 Beamte gehabt. Davon waren 6 % freiwillig versichert. Das sind knapp 16.000. Es ist davon auszugehen, dass eine pauschale Beihilfe von fast allen in Anspruch genommen werden würde.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Was ist denn daran so schlimm?)

Die Zahl 7.000 im Gesetzentwurf ist viel zu niedrig angesetzt. Ob dies mit Absicht geschehen ist oder es sich um ein Versehen handelt, sei dahingestellt. Ich gehe wohlwollend davon aus, dass Letzteres der Fall ist. Ansonsten wäre es, gelinde gesagt, eine üble Täuschung. Ausgehend von einer pauschalen Beihilfe in Höhe von 2.440 Euro pro Person im Jahr würden sich die Mehrkosten nämlich alleine für die derzeitigen Beamten laut DBB auf eine Summe von 38,5 Millionen Euro belaufen. Das ist wesentlich mehr als die im Entwurf erwähnten 13 Millionen Euro. Aber wir haben es schon gehört: Ob es 12 oder 35 Millionen Euro sind, ist ja egal.

Ein weiteres Problem des SPD-Gesetzentwurfes ist, dass er möglicherweise grundgesetzwidrig ist. Ich zitiere, mit Verlaub, Professor Dr. Lindner von der Universität Augsburg:

„Mit der unwiderruflichen Option der pauschalen Beihilfe entzöge sich das Land NRW der von Art. 33 Abs. 5 GG geforderten eigenverantwortlichen Erfüllung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn für das finanzielle Krankheitsrisiko des Beamten. Das Vorhaben ist aus der Sicht des Unterzeichneten mit Art. 33 Abs. 5 GG, an den auch der Landesbeamtengesetzgeber gebunden ist, nicht vereinbar und daher verfassungswidrig.“

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Herbert Strotebeck (AfD): Allein aus diesem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Strotebeck. – Für die Landesregierung hat Herr Minister Lienenkämper jetzt das Wort.

Lutz Lienenkämper, Minister der Finanzen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Land kommt seiner Verantwortung durch die Gewährung individueller Beihilfeleistungen in Krankheits-, Pflege- und Todesfällen nach. Die Beihilfe ist eine Hilfeleistung, die die zumutbare Eigenversorgung der Beamtinnen und Beamten sinnvoll ergänzt. Es gibt aus unserer Sicht keinen Grund, von diesem bewährten System abzuweichen.

Alle Beamtinnen und Beamten haben die Möglichkeit, durch den Abschluss einer Krankenversicherung zu bezahlbaren Konditionen für den Krankheitsfall vorzusorgen. Aufgrund der Beihilfeleistungen der Dienstherren müssen sich Beihilfeberechtigte nur für den nicht durch die Beihilfe gedeckten Teil der Krankenvorsorge absichern.

Die meisten privaten Krankenversicherungen bieten deshalb auf Beihilfeberechtigte zugeschnittene Restkostentarife an. Diese Restkostentarife sind auch für Beamtinnen und Beamte sowie Anwärterinnen und Anwärter mit Vorerkrankungen und Behinderungen finanzierbar, da die Krankenversicherungswirtschaft eine erleichterte Aufnahme in die private Krankenversicherung anbietet. Hier wurden Anfang des Jahres durch die privaten Krankenversicherungen noch einmal wesentliche Verbesserungen eingeführt.

In der gesetzlichen Krankenversicherung hingegen gibt es keine solchen Restkostentarife für Beihilfeberechtigte. Diese wären dort auch nur unter erheblichen bürokratischen Hindernissen einzuführen.

Eine pauschale Beihilfe wäre außerdem schlicht zu teuer. Der Dienstherr müsste den Arbeitgeberzuschuss zur Krankenvollversicherung der Beamtinnen und Beamten zusätzlich zahlen. Neben der pauschalen Beihilfe im Krankheitsfall müssten für den Personenkreis Beihilfeleistungen in Reha- und Pflegefällen aufrechterhalten werden.

Ein wesentliches Element bei der Finanzierung des bestehenden Beihilfesystems liegt darin, dass die Beamtinnen und Beamten im ersten Jahrzehnt ihres Berufseinstiegs nur relativ geringe Beihilfeausgaben verursachen. Erst mit zunehmendem Alter nehmen auch die Beihilfekosten zu.

Weiterhin wäre ein Wechsel zu einem anderen Dienstherrn ohne pauschale Beihilfe aufgrund der einmal und unumkehrbar getroffenen Entscheidung zugunsten einer Pauschalierung nicht mehr ohne Weiteres möglich.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das ist doch einfach nicht wahr, Herr Minister!)

Es bestehen zudem erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Einführung einer pauschalen Beihilfe. Das Land hätte keinen Einfluss mehr auf die konkrete Ausgestaltung der Leistungen im Krankheitsfall. Zu Recht steht daher die Frage im Raum, ob dies mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums vereinbar ist.

Davon losgelöst bekennt sich die Landesregierung zum Berufsbeamtentum mit seinen hergebrachten Grundsätzen. Dies dient insbesondere dem Ziel, den öffentlichen Dienst so attraktiv wie möglich zu halten und die hervorragenden Leistungen der Beamtinnen und Beamten anzuerkennen.

Maßnahmen, die diese Grundsätze infrage stellen – und dazu zählt die pauschale Beihilfe –, lehnt die Landesregierung politisch ab. Wir sollten das Berufsbeamtentum nicht durch massive Eingriffe in die Struktur von Besoldung, Versorgung oder Beihilfe infrage stellen.

Falls Sie diesen Gesetzentwurf mehrheitlich ablehnen sollten, würde das jedenfalls meine große Zustimmung finden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushalts- und Finanzausschuss empfiehlt in Drucksache 17/7791, den Gesetzentwurf abzulehnen. Die Abstimmung führen wir daher über den Gesetzentwurf selbst und nicht über die Beschlussempfehlung durch.

Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP und AfD sowie die beiden fraktionslosen Abgeordneten Langguth und Neppe. Möchte sich jemand enthalten? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf Drucksache 17/5620 mit dem soeben festgestellten Abstimmungsergebnis in zweiter Lesung abgelehnt worden.

Ich rufe auf:

3   Transparenz in der kommunalen Demokratie stärken – Beratungen von Räten und Kreistagen digital veröffentlichen!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7743

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die antragstellende Fraktion Herr Kollege Tritschler das Wort.

Sven Werner Tritschler (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aus gutem Grund sind die Debatten unserer Parlamente weitestgehend öffentlich. Nur wenn das Volk die Gelegenheit hat, seinen Vertretern auf die Finger zu schauen, kann eine Demokratie wirklich funktionieren.

Das vergangene Jahrhundert und das Aufkommen elektronischer Medien hat diese Kontrollfunktion nochmals auf eine neue Ebene gehoben. 1953 wurde erstmals eine Sitzung des Deutschen Bundestages im Fernsehen übertragen. Seither ist der direkte Blick in die Parlamente nicht mehr wegzudenken. Waren es früher noch einige ausgewählte Sitzungen, die übertragen wurden, so ist es seit dem Start des Senders „Phoenix“ 1997 und dem Aufkommen von Videoübertragungen im Internet den Bürgern unseres Landes möglich, sich ein nahezu lückenloses Bild von der Arbeit ihrer Volksvertreter zu machen.

Das gilt aber leider nur auf Bundes- und Landesebene. Die kommunalen Parlamente, also genau da, wo häufig die Entscheidungen getroffen werden, die die Bürger besonders bewegen, tagen nach wie vor weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Von 53 Kreisen und kreisfreien Städten in Nordrhein-Westfalen haben nur acht einen Livestream oder ein vergleichbares Angebot. Wer also berufstätig ist und keine Gelegenheit hat, Stunden seiner Arbeitszeit auf einer Besuchertribüne zu verbringen, hat kaum eine Möglichkeit, seinen Vertretern bei der Arbeit zuzuschauen.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das sei genau so gewollt. Das Leben ist doch viel einfacher, wenn man unter sich ist.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Mit einer kritischen Presse müssen die Lokalpolitiker in vielen Kommunen auch nicht mehr rechnen. Häufig gibt es nur noch eine Lokalzeitung, und nicht selten ist man dort eng mit dem Establishment verbandelt. Und so vertrocknet das, was für eine lebendige Demokratie unerlässlich ist: Streit, Wettbewerb und öffentlicher Diskurs.

Wenn man dann aber versucht, etwas Licht in das Dunkel der Rathäuser zu bringen, verspürt man schnell den heiligen Zorn derjenigen, die am liebsten weiter im Geheimen vor sich hinwursteln würden. So ist es mir zum Beispiel selbst gegangen, als ich Videomitschnitte meiner eigenen Reden im Kölner Rat veröffentlicht habe. Wenige Wochen später bekam ich eine Abmahnung von Frau Reker, dieser Persiflage auf eine Oberbürgermeisterin.

(Widerspruch von der SPD und den GRÜNEN)

Sie ist auch aus irgendwelchen Gründen der Auffassung, sie habe das Urheberrecht an meinen Reden und hat sogar einen Anwalt auf Steuerzahlerkosten gefunden, der diese gewagte Rechtsauffassung vertritt. Die Wahrheit ist natürlich eine ganz andere. Wie vielerorts bleibt man auch im Kölner Rat gerne unter sich, besonders dann, wenn man wie ein Rudel Wilde missliebige Wettbewerber niederbrüllt. So etwas sieht man dann natürlich ungerne im Internet.

Dieser Zustand ist aber nicht nur unserer Demokratie unwürdig, er ist auch ein schlechter Witz in einem Bundesland, das sich ständig als Vorreiter der Digitalisierung feiert.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Wir möchten mit unserem Vorstoß die kommunale Demokratie im Lande beleben und fit für das digitale Zeitalter machen.

(Beifall von der AfD)

Schon heute gibt es Vorreiterkommunen, die ihre Rats- bzw. Kreistagssitzungen im Netz übertragen. Das geht mit verhältnismäßig geringem Aufwand und würde niemanden über Gebühr belasten.

Vonseiten des Landes möchten wir ein einheitliches Portal bereitstellen, das allen Kommunen als Plattform für diese Livestreams und ihre Mediatheken bereitsteht, und das ohne selbst kommerzielle Interessen zu verfolgen. Dort sollen zukünftig auch der Landtag und andere öffentliche Stellen die Möglichkeit haben, ihre Videos zu veröffentlichen.

Meine Damen und Herren, Sie haben wieder mal die Chance, Ihren warmen Worten auch Taten folgen zu lassen. Machen Sie NRW zum Musterland der Demokratie und zum Vorreiter der Digitalisierung und folgen Sie unserem Antrag! – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Tritschler, aufgrund der Formulierung, die Sie im Zusammenhang mit der Oberbürgermeisterin in Köln gewählt haben, spreche ich Ihnen eine nichtförmliche Rüge aus.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Sieveke jetzt das Wort.

Daniel Sieveke*) (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Herr Tritschler, Sie spiegeln doch hier ein Zerrbild der Wirklichkeit der Kommunalparlamente wider. Das ist doch Quatsch, absoluter Quatsch.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ganz ehrlich. – Aber dieses vor uns liegende Thema ist in den letzten Jahren in nahezu jedem Kommunalparlament schon besprochen worden, sei es in öffentlicher Debatte, auf Antrag einer Fraktion oder in Gesprächen zwischen Fraktionen, engagierten Kommunalpolitikern des gesamten Parteispektrums. Mir jedenfalls ist die Diskussion aus meiner Zeit im Rat der Stadt Paderborn noch gut in Erinnerung.

Dass wir hier im Hohen Haus parteiübergreifend die Bedeutung der Digitalisierung, der sozialen Medien und insbesondere des bewegten Bildes kennen und im Blick auf die Förderung von politischen Interessen und politischer Beteiligung gerade junger Menschen sehr schätzen, ist mit Sicherheit unumstritten.

Daher finde ich es auch sehr schade und überhaupt nicht angebracht seitens der antragstellenden AfD-Fraktion, dass Sie bei diesem Thema von einem unwürdigen Zustand unseres Bundeslandes sprechen. Was mich aber wirklich ärgert, ist Ihre negative Wertzuschreibung hinsichtlich der Tribünenplätze in unseren Rat- und Kreishäusern in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich glaube eben nicht, dass sich Bürgerinnen und Bürger dorthin unzeitgemäß verwiesen fühlen. Das ist einfach Quatsch.

(Widerspruch von der AfD)

Sie sprechen überhaupt nicht mit den Menschen. Sie sprechen mit Ihren Leuten. Sie sprechen überhaupt nicht mit den Bürgerinnen und Bürgern, die das anders sehen. Sie wollen nämlich die Menschen …

(Widerspruch von der AfD)

– Sie haben eben gesagt, es gibt Leute, die müssen arbeiten und können nicht zu einer Ratssitzung. Wie sollen die sich dann ein Video anschauen oder den Livestream verfolgen, die müssen doch arbeiten? Ich verstehe unter Arbeiten arbeiten und nicht die ganze Zeit fernsehen.

(Zuruf von der AfD: Mediathek!)

– Mediathek? – Wissen Sie, das Entscheidende ist: Sie verstehen Kommunalparlamente gar nicht.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Sie verstehen gar nicht, dass ein Kommunalparlament ein Ehrenamt ist. Viele Tausende von Rats- und Kreistagsvertreterinnen und -vertretern machen sich tagtäglich auf für die, die auch arbeiten und die ein Recht an ihrem eigenen Bild und an ihrer eigenen Rede haben. Sie wissen sehr wohl, dass sie auf ihr Recht vertrauen können, dem zu widersprechen.

Worin ich Ihnen recht gebe, ist, dass zumindest in größeren Kommunen und Landkreisen die Frage der Bezahlbarkeit weitgehender digitaler Dokumentation kommunaler Gremienarbeit überschaubar sein kann. Gute Technik hat ihren Preis. Aber wir sprechen tatsächlich nicht von unübersehbaren oder nicht beherrschbaren Kosten. Das ist aber auch nicht der entscheidende Punkt.

Sie wissen, dass die Einvernehmlichkeit der Rats- und Kreistagsmitglieder bei diesem Thema entscheidend ist. Bei aller Sympathie für digitale Ansätze auch auf der kommunalen Ebene und damit auch für das Livestreaming oder das Online-Bereitstellen archivierter Beiträge: Die Entscheidung gehört in die Rathäuser und Kreishäuser und nicht hier in dieses Parlament.

(Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Ich sage Ihnen ganz deutlich, dass wir die kommunale Demokratie im Vergleich zu Ihnen vor allem dadurch stärken, dass wir der kommunalen Selbstverwaltung vertrauen. Kommunale Selbstverwaltung scheint aber für Sie ein Fremdwort zu sein, wenn ich nur Ihren Forderungskatalog sehe. Darin ist von kommunaler Selbstverwaltung nichts zu erkennen.

Es geht Ihnen aber auch nicht um die Stärkung der kommunalen Demokratie, sondern nur um Ihre PR-Arbeit. Herr Loose, Herr Tritschler, ich beobachte Sie schon etwas länger, wenn Sie Ihre Reden halten. Es geht mir gar nicht um den Inhalt; dazu haben wir unsere feste Meinung. Sie sprechen gar nicht zu den Abgeordneten.

(Zurufe von Sven Werner Tritschler [AfD] und Christian Loose [AfD])

Sie sprechen jedes Mal ins Off oder in die Medienkamera. Aber die Debatte gehört hier in dieses Haus. Es geht darum, dass wir mit den Kolleginnen und Kollegen Argumente austauschen und miteinander streiten. So ist es auch in einem Kommunalparlament.

Sie kennen die Kommunalparlamente überhaupt nicht. Da gibt es nicht nur Säle mit festen Redepulten, sondern es gibt Kommunalparlamente, bei denen der Rat im Kreis – Sigrid Beer weiß es auch, das ist in Paderborn der Fall – zusammensitzt, Argumente austauscht und übrigens zu mehr als 90 % zu einvernehmlichen Entscheidungen kommt. – Sie wollen demgegenüber die Inszenierung haben.

Ich gebe für die weiteren Beratungen – der Antrag wird in den Ausschuss überwiesen werden, dem stimmen wir auch zu – gern einige persönliche Einschätzungen anhand der in Ihrem Antrag unterbreiteten Feststellungen und Beschlussvorschläge mit auf den Weg.

Zu II.1: Die kommunale Demokratie kann durch digitale Lösungen gestärkt werden, sie hängt aber ganz bestimmt nicht davon ab.

Zu II.2 bzw. III.4: Die Glaubwürdigkeit von kommunalen Mandatsträgern in der Bevölkerung ist in der Regel derart hoch, dass wir keinen Videobeweis benötigen. Ich brauche keinen Videobeweis dafür, dass kommunale Ratsvertreterinnen und Ratsvertreter arbeiten. Wenn Sie das meinen, dann haben Sie wiederum nicht verstanden, wie kommunale Zusammenarbeit funktioniert.

Zu III.1: Sie widersprechen sich selbst, wenn Sie auf der einen Seite sagen, die Kosten seien überschaubar, aber auf der anderen Seite fordern, das Land solle die Kosten übernehmen. Darin sehe ich einen Widerspruch.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Daniel Sieveke*) (CDU): Ich komme zum Schluss.

Zu III.2 und III.3: Solche Verpflichtungen, die Sie dort fordern, widersprechen, wie schon gesagt, dem Ansatz von kommunaler Selbstverwaltung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir zu. Chancen auf inhaltliche Zustimmung sehen wir überhaupt nicht. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Sieveke. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Frau Kollegin Stock.

Ellen Stock (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ehrenamtliche unter dauerhafter Beobachtung in einem Internet, das nicht vergisst – ist dies eine zu hohe Belastung für das Ehrenamt oder mittlerweile ein Erfordernis, das dem Gebot der Transparenz geschuldet ist?

Der hier vorliegende Antrag sieht vor, Beratungen von Räten und Kreistagen digital zu veröffentlichen, also alle öffentlichen Sitzungen live im Internet zu streamen und diesen Stream ein Jahr lang abrufbar zur Verfügung zu stellen. Hier stoßen wir auf mehrere Problematiken.

In den Räten der Städte und Gemeinden sitzen ehrenamtliche Politikerinnen und Politiker. Die meisten von ihnen sind keine Medienprofis. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, sich mit einem Versprecher zu blamieren oder auf irgendeine Art und Weise bloßgestellt zu werden, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit einen negativen Einfluss auf die Diskussionskultur in unseren Räten und Kreistagen.

(Beifall von Sven Wolf [SPD])

Es muss aber ganz deutlich zwischen hauptamtlichen Abgeordneten und ehrenamtlichen Kommunalpolitikern unterschieden werden. Noch einmal ganz deutlich: Ehrenamtliche sind keine Medienprofis. Hier geht es also nicht nur um die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen. Sicherheit und Persönlichkeitsrechte müssen für die Ehrenamtlichen auch im Internet gewahrt werden.

Schon jetzt äußern ehrenamtliche Kommunalpolitiker ihren Unmut über die gestiegenen Belastungen durch das Ehrenamt. Die fachlichen Herausforderungen steigen, die Kommunikationserwartungen der Bürgerschaft ebenso. Gleichzeitig sinkt der Respekt vor der von den Ehrenamtlichen geopferten Freizeit, und die Kritik an den getroffenen Entscheidungen wird teilweise mit harten Bandagen vorgetragen. Auch sogenannte Shitstorms nehmen zu.

Ehrenamtliche Kommunalpolitiker zu zwingen, sich und ihre Aussagen einer weltweiten Öffentlichkeit auszusetzen, birgt die Gefahr, dass die Bereitschaft sinkt, sich für ein Ehrenamt zur Verfügung zu stellen. Menschen in kommunalen Gremien sind nicht alle rhetorisch geschult. Sie dem potenziellen Spott der Internetöffentlichkeit per Gesetz auszusetzen, halten wir für falsch.

(Beifall von der SPD)

Mehrere Städte in Nordrhein-Westfalen übertragen ihre Ratssitzungen bereits im Internet. Dies bedeutet, dass die Kommunen eine Übertragung zulassen und somit möglich machen. Hier machen die Kommunen von ihrem hohen Gut der kommunalen Selbstverwaltung Gebrauch. Für die SPD gibt es keinen Grund, warum man den Kommunen mit einem Landesgesetz einen Streaming-Zwang auferlegen sollte.

Hier geht es nicht nur um die Frage der kommunalen Selbstverwaltung, sondern auch um eine konnexitätsrelevante Regelung. Das Land müsste für die Installierung und die Wartung der Technik finanziell aufkommen. Die Beschneidung der kommunalen Selbstverwaltung und der enorme Kostenaufwand für das Land bestärken uns in der Ablehnung dieses Vorhabens.

Sitzungen von Räten und Kreistagen sind grundsätzlich öffentlich. Jeder, der an der Debatte ein Interesse hat, kann dieser beiwohnen. Auch Protokolle über die abgehaltenen Sitzungen sind wahrscheinlich öffentlich einsehbar. Hier lässt sich wahrlich nicht von einer Intransparenz sprechen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht dafür, dass Politik verständlich, nachvollziehbar und transparent sein muss.

Wir sind der Meinung, dass wir mit der derzeitigen Regelung, dass jede Kommune selbst darüber entscheiden kann, ob sie ihre Sitzungen live im Internet zeigen möchte, alle Möglichkeiten der Transparenz und öffentlichen Teilhabe selbstständig und ohne Bevormundung von oben sicherstellen. Öffentliche Rats- und Kreistagssitzungen sind keine nebulösen Hinterzimmerveranstaltungen. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat stets die Möglichkeit, am politischen Geschehen seiner Kommune live und in Person teilzunehmen.

Wenn darüber hinaus eine Transparenz in Form eines Internetstreams gewünscht wird, dann muss das im Einvernehmen der Beteiligten in den jeweiligen Kommunen erfolgen und nicht über eine verpflichtende Regelung aus Düsseldorf. Für die SPD besteht hier kein Regelungsbedarf. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und Matthias Kerkhoff [CDU])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Stock. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Haupt.

Stephan Haupt (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Digitalisierung und insbesondere das Thema Transparenz von politischen Entscheidungen liegen uns als FDP bekanntermaßen sehr am Herzen.

(Vereinzelt Beifall von der FDP)

Darum freut es uns auch grundsätzlich, dass bei anderen die Bedeutung dieses Themas anzukommen scheint.

Auch wenn wir uns als FDP an vielen Stellen eine Digitalisierung und die entsprechende Transparenz wünschen, so ist die Welt manchmal nicht ganz so einfach, und es gibt einige Hürden zu nehmen.

So ist der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung ein hohes Gut unserer Verfassungsordnung. Art. 28 Abs. 2 besagt, dass unsere Kommunen das Recht haben, ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung zu regeln. Dieser Grundsatz umfasst auch und gerade das Hausrecht und die Sitzungsleitung von Kommunalparlamenten.

Dass die AfD nun möchte, dass das Land per Gesetz von oben herab verordnet, ob und wie Kommunen und Verbände Livestreams ihrer Sitzungen bereitstellen und diese den Mandatsträgern zur Verfügung stellen, halten wir vor diesem Hintergrund für den komplett falschen Weg.

(Beifall von der FDP, der CDU und Sven Wolf [SPD])

Den kommunalen Mandatsträgern, bei denen es sich ja eben nicht um Berufspolitiker handelt, sondern um ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, eine Aufzeichnung aufzuzwingen, ist nicht der richtige Weg angesichts der immer öfter eskalierenden Diskussionen in den sozialen Medien und den teils damit einhergehenden Bedrohungen von Kommunalpolitikern. Wir müssen beachten, dass durch eine solche Regelung noch mehr Menschen von einer kommunalpolitischen Tätigkeit Abstand nehmen könnten. Hier würde eben nur freiwilliges Einverständnis Akzeptanz schaffen.

Sogar bei den Kandidaten der AfD zur Landtagswahl wurde diese Auffassung offenbar geteilt. So hat sich am Kandidaten-Check des WDR zur Landtagswahl, wo von jedem Kandidaten – die Kollegen hier wissen das; sie haben alle daran teilgenommen – ein dreiminütiges Video erstellt wurde, damit die Bürgerinnen und Bürger des Landes sich bereits vor der Stimmabgabe ein Bild der Person machen konnten, kein einziger Abgeordneter der heutigen AfD-Landtagsfraktion beteiligt.

(Frank Müller [SPD]: Hört, hört! – Zuruf von Sven Wolf [SPD] – Weitere Zurufe)

Aber das wäre doch genau die Transparenz gewesen,

(Zurufe von der AfD – Unruhe – Glocke)

welche Sie in Ihrem Antrag einfordern, meine Damen und Herren der AfD-Fraktion!

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

Entweder ist Ihnen von der AfD-Fraktion die Transparenz doch nicht so wichtig, wie Sie schreiben – Klammer auf, was ich persönlich auch glaube, Klammer zu –, oder aber, Sie befürchten, dass, wenn Sie sich selbst den Inhalt nicht zurechtschneiden können, die von Ihnen gewünschte manipulative Wirkung nicht erreicht wird – Klammer auf, was ich auch glaube, Klammer zu.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Ihnen geht es eben nicht um die Liveübertragung einer Debatte und der dort im Zusammenhang gesendeten Rede, Ihnen geht es vielmehr um den aus dem Zusammenhang geschnittenen Wortbeitrag. So fordern Sie auch unverblümt in Ihrem Antrag unter Punkt 4:

„… so soll jeder Mandatsträger uneingeschränkt berechtigt sein, diesen Mitschnitt für eigene Zwecke zu verwenden.“

(Sven Wolf [SPD]: Ganz genau! – Zuruf Sven Werner Tritschler [AfD])

Was Sie damit meinen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion, hat man spätestens bei Ihrem Video mit den Bergleuten gesehen. Es werden manipulativ eigene Wortbeiträge aus dem Zusammenhang gerissen,

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

und dieses wird dann noch mit materialistischer Musik unterlegt.

(Zuruf von Iris Dworeck-Danielowski [AfD])

Für diese Politik stehen wir nicht zur Verfügung.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Wir wollen stattdessen einen fairen, transparenten und verantwortungsvollen Umgang mit diesem Medium.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Dann, Herr Kollege Seifen, würden Sie dafür auch eine Mehrheit in den Räten bekommen und hätten Ihre Liveübertragung.

(Helmut Seifen [AfD]: Warten Sie mal ab!)

Wir diskutieren den Antrag mit Ihnen natürlich gern weiterhin im Ausschuss. – Danke schön.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Haupt. – Herr Kollege Haupt, Sie haben wahrscheinlich nicht bemerkt, dass eine Kurzintervention angemeldet wurde. Die können Sie gleich gerne von Ihrem Platz aus beantworten; gar kein Problem. – Die Kurzintervention ist von Herrn Kollegen Tritschler von der AfD-Fraktion angemeldet. Ich schalte jetzt Ihr Mikro frei.

Sven Werner Tritschler (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Haupt, Sie haben uns gerade vorgeworfen, wir würden in unserem Antrag fordern, dass Ratspolitiker ihre eigenen Reden veröffentlichen dürfen. Ich habe den Vorwurf nicht verstanden. Vielleicht können Sie mir das noch mal erklären.

Ich mache es jetzt per Kurzintervention. Denn wenn ich gleich zu Ihnen käme und Ihnen anbieten würde, das vor der Tür zu klären, dann würden Sie das möglicherweise falsch verstehen, und es steht morgen wieder in der Zeitung. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Haupt, wenn Sie jetzt so nett sind, sich einmal einzudrücken, schalte ich Ihr Mikro frei. – Das Mikro ist frei.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Stephan Haupt (FDP): Sehr geehrter Herr Tritschler!

(Henning Höne [FDP]: Dieselbe Frage noch mal! Sie sind ja herausgerannt bei der Sitzung!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Das Wort hat jetzt Herr Kollege Haupt zur Erwiderung. Machen Sie sich keine Sorgen; die Zeit halten wir an, respektive wir starten sie neu. Alle anderen Fragen bitte ich an der geeigneten Stelle zu klären. – Herr Kollege Haupt.

Stephan Haupt (FDP): Sehr geehrter Herr Tritschler, Ihr Antrag ist, glaube ich, relativ eindeutig. Sie wollen nicht Ihre Rede in Gänze senden, sondern Sie wollen die Berechtigung haben, rauszuschneiden und für eigene Zwecke zu verwenden. Wer sich Ihre Videos mal im Internet anschaut,

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Das sind zehntausend!)

der weiß ganz genau, was Sie damit meinen. Wenn Sie Transparenz wollten – was Sie nicht wollen –, dann würden Sie diese Art der Berichterstattung, die Sie von der AfD manipulativ betreiben, sofort einstellen.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Danke. Wir fahren jetzt fort in der ganz normalen Redeliste. Danach hat Herr Kollege Mostofizadeh für Bündnis 90/Die Grünen jetzt das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Respekt, Herr Kollege Haupt, so viel Mühe hatte ich mir gar nicht gemacht. Dass Sie aber das mit dem Videobeweis so treffend herausgefunden habe, finde ich sehr gut. Ich schließe mich in allen Ausführungen dem Vorredner, auch in Teilen den Ausführungen von Herrn Sieveke und Frau Stock, an. Ich finde, Herr Haupt hat es wirklich auf den Punkt gebracht.

Ich hätte das Beispiel des Aufmarsches der sogenannten Bergleute hier auch angeführt.

(Lebhafte Zurufe von der AfD: Aufmarsch!?)

Herr Wagner, wissen Sie, was Sie in der damaligen Sitzung gemacht haben? – Sie haben eine Kurzintervention gemacht, bei der Sie von Ihrem Platz in der ersten Reihe extra in die dritte Reihe gegangen sind, damit die Einstellung von der Tribüne so ist, damit Sie besser im Bild sind. Sie haben nicht zu mir geredet, sondern Sie haben dort in die Kamera hineingesprochen.

(Markus Wagner [AfD]: Dass Sie Arbeiterfeinde sind, das wissen wir!)

Das ist Inszenierung, das hat mit Transparenz gar nichts zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP – Markus Wagner [AfD]: Sie wenden ihnen den Rücken zu!)

Jetzt kurz zu den Punkten, die in dem Antrag stehen. – Würden Sie sich bitte zügeln?

(Markus Wagner [AfD]: Ich zügele mich schon! – Zurufe von der AfD: Sie sprechen von einem Aufmarsch, Herr Mostofizadeh! Das ist ja schon …!)

Die rechtlich wichtigen Punkte können verfassungsrechtlich aus Art. 2 Abs. 1 abgeleitet werden. Das hatte der Datenschutzbeauftragte übrigens anlässlich eines Antrages der Piraten vom 9. April 2014 bereits ausgeführt. Wenn man sich ein bisschen kundig gemacht hätte, hätte man also schon nachlesen können – aber vielleicht geht es ja auch gar nicht um die Sache –, dass das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Mitglieds des Rates verletzt sein könnte, wenn eine entsprechende persönliche Einwilligung nicht vorliegt.

Insofern ist aus unserer Sicht, und da schließen wir uns dem Datenschutzbeauftragten auch an, eine Übertragung ohne die Zustimmung des jeweiligen Ratsmitglieds nicht zulässig.

Alle anderen Gründe sind breit aufgefächert hier dargelegt worden, wo der Unterschied zwischen Ratsmitgliedern oder Ausschussmitgliedern in den Kommunalvertretungen und den Landtagsabgeordneten oder auch Bundestagsabgeordneten liegt. Natürlich haben wir aufgrund unseres Amtes, unserer Funktion eine andere Beobachtungsintensität hinzunehmen. Das ist gar keine Frage, aber bei Ratsmitgliedern sieht das ein Stück anders aus.

Noch eine Bemerkung, die ich mir am Ende dieser ganzen Auseinandersetzung nicht verkneifen kann, Frau Präsidentin.

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

– Was ich rede, entscheide immer noch ich und nicht die AfD, um das einmal sehr klar zu sagen!

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP – Zurufe von der AfD)

Wie widerwärtig muss man sein, wenn man eine Frau, die im Wahlkampf persönlich von einem Rechtsradikalen angegriffen und schwer verletzt wurde, als Persiflage einer Oberbürgermeisterin bezeichnet? Wie widerwärtig muss man eigentlich sein, liebe Herren von der AfD?

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Mostofizadeh, ich gehe davon aus, dass auch Sie nicht gesehen haben, …

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Doch, ich habe es gesehen, ich antworte vom Platz!)

– Gut. Die Kurzintervention wurde von Herrn Wagner von der AfD angemeldet. Ich schalte jetzt Ihr Mikrofon frei.

Markus Wagner (AfD): Ganz gezügelt, Herr Kollege.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Nein, brauchen Sie nicht!)

Das OVG Saarland hat am 25.03.2011 festgestellt, Kommunalpolitiker seien zudem als Träger gesellschaftlicher Verantwortung wie andere Politiker auf Bundes- und Landesebene auf eine medienvermittelnde Realität angewiesen und suchten die auch ständig.

Dementsprechend ist unser Antrag zu verstehen. Wenn wir alle immer davon reden, wir müssen das kommunale Mandat attraktiver machen, wir müssen es näher an die Bevölkerung bringen, und wir dann tatsächlich die Digitalisierung mal in diesem Zusammenhang zum Einsatz bringen wollen, von der hier im Hohen Haus so viel gesprochen, wozu aber wenig unternommen wird, dann steuern Sie gleich dagegen, natürlich weil der Antrag aus der Fraktion der AfD kommt. Das ist ja der einzige Grund hier im Haus, das wissen wir mittlerweile. Inhaltliches Stellen geschieht hier ja nicht.

Daher denke ich schon, dass die Übertragung von Ratssitzungen, beispielsweise in Köln, wo man dann die pöbelnden Parteien von Grünen, SPD, CDU und FDP sieht, wenn ein AfD-Vertreter dort spricht, durchaus im Interesse der Bürger ist, denn Räte, Kreistage etc. arbeiten nach wie vor im Auftrag des Bürgers und nicht als Selbstverwirklichungsprojekt. Dementsprechend hat der Bürger einen Anspruch darauf, allumfassend über Ratssitzungen und Kreistagssitzungen informiert zu sein.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Danke für die Kurzintervention. – Herr Kollege Mostofizadeh hat jetzt Gelegenheit zur Antwort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE: Frau Präsidentin, vielen Dank. – In aller Sachlichkeit: Erstens ist es unzutreffend, was Herr Wagner sagt. Fakt ist, dass das Kommunalverfassungsrecht selbstverständlich Übertragungen aus den Räten zulässt mit Zustimmung der jeweiligen Ratsmitglieder. Herr Kollege Sieveke hat das alles ausgeführt, und auch der Kollege Haupt hat darauf hingewiesen. Dazu sind Regelungen in den Hauptsatzungen der jeweiligen Gemeinden erforderlich. Die sind kommunal zu treffen. Das halten wir auch für richtig.

Auch ich bin der Auffassung, dass es sehr gut sein kann, aus Ratssitzungen zu übertragen, Livestreams aus Ausschusssitzungen zuzulassen. Ich habe dem in meiner Tätigkeit als Landtagsabgeordneter regelmäßig zugestimmt. Allerdings halte ich es für falsch – auch das haben wir hier sachlich ausgetauscht –, das von Landesseite zu verordnen und es den kommunalen Vertretungen aufzuzwingen. Das ist eben der Unterschied. Wir nehmen an der Debatte teil, wir nehmen Argumente wahr. Sie machen hier eine Inszenierung, Sie haben überhaupt kein Interesse am Ausgang einer sachlichen Auseinandersetzung.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Mostofizadeh, für die Erwiderung. – Für die Landesregierung hat jetzt Frau Ministerin Scharrenbach das Wort.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Als Sie eine nichtförmliche Rüge für Ihre Aussage zur Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker kassiert haben, sind Sie zum Platz zurückgekommen, haben sich umgedreht und gesagt: Das sei fast wie ein Orden für Sie.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: In dem Fall!)

Ich sage Ihnen jetzt ganz offen etwas, und ich muss mich mäßigen, damit ich nicht selbst gleich eine Rüge hier kassiere: Sie sind eine Schande für dieses Parlament!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Die Oberbürgermeisterin von Köln verteidigt jeden Tag, wie zigtausend Menschen in diesem Land auch, die demokratischen Grundrechte und das Grundgesetz dieser Republik.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Nur nicht in ihrem eigenen Parlament! Eine Katastrophe ist das!)

Die Oberbürgermeisterin steht wie zigtausend Frauen und Männer jeden Tag auf der Straße und wirbt bei Bürgerinnen und Bürgern für Politik, für Ideen, für Umsetzung. Sie bewegen jeden Tag ein kleines Stückchen mehr für die eigene Stadt, für die Region, für dieses Land, für die Republik. Die Kölner Oberbürgermeisterin hat sich angreifen lassen müssen, und ihr Leben stand im wahrsten Sinne des Wortes auf des Messers Schneide.

Wenn Sie glauben, Sie können sich hier hinsetzen und Amts‑ und Funktionsträger so betiteln, wie Sie das gemacht haben, erfordert das die Entschiedenheit

(Zuruf von der AfD)

aller demokratischen Kräfte in diesem Parlament. Das sage ich in aller Ausdrücklichkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Sie achten mit Ihrer Politik den Menschen nicht; das kommt in jeder Rede durch, die Sie hier halten. Egal, worum es geht: Sie achten den Menschen und die Würde des Menschen nicht.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zurufe von Helmut Seifen [AfD] und Iris Dworeck-Danielowski [AfD])

Was Sie hier beantragen …

(Helmut Seifen [AfD]: Es ist eine Unverschämtheit, was Sie da sagen!)

Was Sie hier beantragen – und das wurde sehr gut herausgearbeitet, meine sehr geehrten Damen und Herren –: Sie wollen die Instrumente, die Demokraten zur Verfügung haben, einsetzen, um sie gegen die Demokratie zu richten, und das machen Sie in einer Tour.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN – Helmut Seifen [AfD]: Das ist nicht wahr! Sie sagen die Unwahrheit!)

Wir alle hier kennen Ihr Verhalten. In den Ausschüssen finden Sie als Abgeordnete überhaupt nicht statt. Sie äußern sich nicht. Sie arbeiten nicht mit. Sie reden nicht.

(Christian Loose [AfD] und Andreas Keith [AfD]: Das ist eine Lüge!)

Sie kommen aber ins Parlament und beschimpfen die Menschen.

(Unruhe)

Hier beschimpfen Sie die Demokratie in einer Art und Weise. Das wollen Sie jetzt letztlich auch für Räte und Kreistage haben.

(Zurufe von Sven Werner Tritschler [AfD] und Helmut Seifen [AfD])

Das ist hervorragend …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Ministerin, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage bei Frau Dworeck-Danielowski.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Sehr gern.

(Roger Beckamp [AfD]: Herr Beckamp ist an der Stelle! Tut mir leid! Mein Fehler.)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Entschuldigung. – Herr Beckamp.

(Andreas Keith [AfD]: Wir werden hier systematisch ausgegrenzt!)

Roger Beckamp*) (AfD): Frau Ministerin, ist es möglich, dass Sie in Ihrer Rede immer wieder Demokratie mit den etablierten Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP verwechseln?

(Ralf Jäger [SPD]: Es ist unglaublich!)

Sie sprechen immer davon, dass wir die Demokratie angreifen. Kann es sein, dass Sie Demokratie immer mit Altparteien gleichsetzen?

(Zurufe von den GRÜNEN – Rainer Schmeltzer [SPD]: Das war eine dumme Zwischenfrage! – Unruhe)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ministerin hat jetzt das Wort.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Vielen Dank. – Wissen Sie, die Parteien CDU, SPD, FDP und Grüne stehen sehr erfolgreich für sieben Jahrzehnte Bundesrepublik.

(Zuruf von der AfD)

Diese Parteien haben mit 61 Männern und vier Frauen – die Grünen waren damals nicht dabei – das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Lichte von 60 Millionen Toten aus zwei Weltkriegen geschrieben. Es würde sich für Sie vielleicht wirklich anbieten, alleine die Präambel dieses wunderbaren Grundgesetzes zu lesen.

(Helmut Seifen [AfD]: Wenn Sie sich daran halten würden!)

Artikel 1 zitiere ich immer wieder, weil Sie ihn nicht lesen,

(Zuruf: Doch!)

Sie ihn nicht verstehen; Sie greifen ihn an: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – Sie ist unantastbar.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Die Demokraten von CDU, SPD, FDP und Grünen wissen das,

(Zurufe von Rainer Schmeltzer [SPD] und Ralf Jäger [SPD])

und sie verteidigen das Grundgesetz.

(Helmut Seifen [AfD]: Die Grünen?)

Sie vertreten dieses Grundgesetz gegen Leute wie Sie, die es permanent angreifen.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN – Zurufe von der SPD: So ist es!)

Wir tun miteinander gut daran, Art. 28 Grundgesetz – den diejenigen, die sich tagtäglich für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort einsetzen, kennen – zu achten und zu respektieren. Daran tut man immer gut; das ist nämlich die kommunale Selbstverwaltung.

Die Stadträte und die Kreistage wissen für sich am besten, was sie umsetzen wollen und was nicht. Wenn sie eine Videoübertragung haben wollen, werden sie eine Videoübertragung beschließen. Das ist Freiheit, und diese Freiheit achten wir hier im Parlament.

Deswegen wird es Sie auch nicht wundern, dass die Landesregierung Nordrhein-Westfalen sowohl die Inhalte des Antrags nicht mitträgt als auch im Besonderen die Intention hinter diesem Antrag,

(Lachen von der AfD)

nämlich potenziellen Mitgliedern von Räten und Kreistagen, die einer Gesinnung nachhängen, die die Ihre ist, eben nicht das Forum gibt,

(Zuruf von der AfD)

die Waffen gegen die Demokratie zu richten. – Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. Sie haben wahrscheinlich gesehen, dass eine Kurzintervention von Herrn Kollegen Wagner von der AfD-Fraktion angemeldet wurde, dessen Mikro ich jetzt freischalte.

Markus Wagner (AfD): Frau Ministerin, nach einer mit Lügen und Halbwahrheiten gespickten Hetzrede

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Unverschämt!)

gegen die einzige Partei hier im Hause, die in Opposition zur heiligen Vierfaltigkeit steht,

(Lachen von der SPD – Zurufe von Sven Wolf [SPD] und Sigrid Beer [GRÜNE])

kann ich nur feststellen, dass Sie die Letzte sind, die sich auf die Würde des Menschen berufen kann, wenn Sie hier mit diffamierenden Falschbehauptungen gegen demokratisch gewählte Politiker in diesem Parlament vorgehen.

Des Weiteren haben Sie es vorgezogen, wie üblich gar nicht zum Antrag zu sprechen. Ich stelle daher noch einmal fest: Wenn hier immer wieder gesagt wird, wir wollten die kommunalen Mandatsträger dazu verpflichten, dass sie sich in Livestreams zu zeigen haben, verweise ich auf Abschnitt II Ziffer 2 unseres Antrags, in dem steht:

„Jeder kommunale Mandatsträger in NRW muss die Möglichkeit haben, seine Wortbeiträge im Rahmen der öffentlichen Sitzungen von Kommunalparlamenten mitzuschneiden oder mitschneiden zu lassen und zu veröffentlichen.“

Das ist mal wieder dieses typische,

(Zurufe von der SPD)

absichtliche Missverstehen unserer Anträge.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Das ist wieder das Verdrehen des Wortes im Munde, und das ist Ihre offensichtliche Unfähigkeit, uns inhaltlich zu stellen. Sie sind hier allesamt eine Schande für dieses Parlament.

(Beifall von der AfD – Rainer Schmeltzer [SPD]: Was war das für eine dämliche Kurzintervention!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Ministerin, wenn Sie so freundlich sind, sich einzudrücken. – Ihr Mikro ist jetzt frei.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Vielen Dank, sehr geehrte Frau Präsidentin. Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Mitglieder von Räten und Kreistagen sind in ihren Entscheidungen frei. Wenn Mitglieder von Räten und Kreistagen eine Videoübertragung wollen, wird man das dort auch mehrheitlich entscheiden.

Ich denke, wir tun alle gut daran, die kommunale Selbstverwaltung zu achten und zu respektieren.

Ich bin mir auch sicher – und das trifft übrigens für mich ebenso zu –, dass ich die Entscheidung von Wählerinnen und Wähler im Mai 2017, Personen wie Sie in das Parlament zu wählen, respektiere.

Ich akzeptiere Sie aber nicht, und ich werde alles daran setzen, dass solche Leute wie Sie nach der nächsten Wahl hier nicht mehr sitzen.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN – Zurufe von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Bevor ich Herrn Abgeordneten Tritschler das Wort zum zweiten Mal gewähre und er seine Redezeit natürlich hat, will ich deutlich machen, dass in der Rede der Ministerin zu Beginn, aber insbesondere bei der Kurzintervention durch Herrn Fraktionsvorsitzenden Wagner Ausdrücke gefallen sind, die wir prüfen lassen. Das geschieht auch nach Rücksprache mit den beiden Schriftführerinnen.

Bestimmte Formulierungen wären zwar durchaus sofort rügenswert;

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Die typisch für die AfD sind!)

wir müssen sie aber, weil sie in beiden Redebeiträgen vorgekommen sind und sie sich zum Teil auf Reden und zum Teil auf Kolleginnen und Kollegen beziehen, schlichtweg prüfen lassen.

Sie dürfen davon ausgehen, dass Sie dazu noch etwas hören werden. – Herr Kollege Tritschler hat jetzt das Wort.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Typisches Vorgehen der AfD!)

Sven Werner Tritschler (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In aller Kürze: Uns wird immer vorgeworfen, wir würden selektiv Bericht erstatten

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Zu Recht!)

und namentlich nur unsere eigenen Reden veröffentlichen.

Ihnen ist vielleicht nicht bekannt, dass der Ältestenrat dieses Hauses zu Beginn der Legislaturperiode beschlossen hat, dass genau das nur möglich ist: Wir dürfen nur unsere eigenen Reden veröffentlichen.

Glauben Sie mir, gerade vor dem Hintergrund dieser Debatte würde ich sehr gern ab und zu etwas von Ihnen veröffentlichen, aber Sie ermöglichen es einfach nicht.

(Frank Müller [SPD]: Aber zurechtgeschnitten! Das ist der Unterschied! Zurechtgeschnitten! Das ist das Problem!)

Die Wahrheit ist doch, meine Damen und Herren, dass Sie die Hosen voll haben, weil wir das Versagen Ihrer Politik in die Öffentlichkeit tragen. Das ist doch Ihr Problem.

(Beifall von der AfD – Rainer Schmeltzer [SPD]: Sie sind das Problem!)

Es ist ein Problem für Sie, zu sehen, wie viele Leute unsere Videos im Internet sehen. Sie haben ein Problem damit, unsere Reichweite anzuerkennen. Das ist der Punkt.

(Karl Schultheis [SPD]: Maßlose Überschätzung!)

Abschließend möchte ich feststellen: Ich stehe zu jedem Wort, das ich über Henriette Reker gesagt habe.

(Beifall von der AfD – Frank Müller [SPD]: Das ist doch kein Geheimparlament!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war der Abgeordnete Tritschler für die Fraktion der AfD.

Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Das bleibt auch beim Blick in die Runde so.

Damit sind wir am Schluss der Aussprache und kommen zur Abstimmung über die Überweisungsempfehlung des Ältestenrates, der uns nahelegt, den Antrag Drucksache 17/7743 an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen – federführend –, an den Ausschuss für Digitalisierung und Innovation sowie an den Ausschuss für Kultur und Medien zu überweisen. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen.

Ich darf fragen, ob es Stimmen gegen diese Überweisungsempfehlung gibt? – Gibt es Enthaltungen? – Dann stelle ich die einstimmige Zustimmung des Hohen Hauses zu dieser Überweisungsempfehlung fest.

Ich rufe auf:

4   Opfer im Strafverfahren weiter stärken – psychosoziale Prozessbegleitung vereinfachen

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7761 – Neudruck

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Fraktion der CDU Frau Kollegin Erwin das Wort. Bitte sehr.

Angela Erwin (CDU): Vielen Dank, Frau Präsidentin.  Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Menschen Opfer einer Straftat werden, erst recht einer schweren Straftat, mag das bei vielen ein Gefühl der Hilflosigkeit hinterlassen. Die traumatisierenden Erfahrungen müssen über einen langen Zeitraum des Strafverfahrens wiederholt durchlebt werden.

Selbst der charakterstärkste Mensch sollte all dies nicht allein durchstehen müssen. Sowohl von staatlicher Seite als auch aufgrund privater Initiative gibt es bereits heute viele wichtige Institutionen, Einrichtungen und Beratungsstellen, die Opfern von Straftaten Hilfe zuteilwerden lassen. Sie leisten damit eine herausragende Arbeit für unser Gemeinwesen.

Die Opferhilfe zu stärken, ist ein wichtiges Anliegen unserer Rechtspolitik, in dieser Wahlperiode und auch darüber hinaus. Bereits früh nach der Wahl hat die Landesregierung mit Frau Auchter-Mainz eine unabhängige Opferschutzbeauftragte bestellt, die gut vernetzt ist und niederschwellig erreichbar individuelle Hilfe vermitteln kann.

Erst vor wenigen Monaten haben wir hier im Landtag auf Initiative der NRW-Koalition zudem einen Antrag zur Opferhilfe diskutiert. Die Herausforderung – so haben wir damals festgestellt – liegt häufig nicht in einem Mangel an Angeboten, zum Teil sind die einzelnen Institutionen und ihre Zuständigkeitsbereiche einfach noch nicht bekannt genug.

Darum hatten wir unter anderem ein digitales Angebot sowie eine breite Öffentlichkeitskampagne zur besseren Übersichtlichkeit und Bekanntheit verschiedener Angebote gefordert. Diesen Weg wollen wir mit dem heutigen Antrag weiter beschreiten.

Nachdem wir zunächst für eine bessere Übersichtlichkeit der Gesamtstruktur geworben haben, schauen wir uns nun einzelne Bereiche der Opferhilfe an und machen uns auf die Suche nach Verbesserungspotenzialen, so zum Beispiel bei der psychosozialen Prozessbegleitung.

Wir nehmen zur Kenntnis, dass von diesem Hilfsangebot seit seiner Einführung durch den Bundesgesetzgeber im Jahr 2017 in eher geringem Maße Gebrauch gemacht wurde. Das liegt aus unserer Sicht nicht an einem mangelnden Bedarf, sondern abermals an einer fehlenden Bekanntheit.

Genau hier setzt unser Antrag an. Mit einer Öffentlichkeitskampagne und Informationsangeboten in verschiedenen Sprachen wollen wir die Bekanntheit der psychosozialen Prozessbegleitung steigern.

Zudem muss dieses Angebot neben und in Abgrenzung zu den herkömmlichen Professionen wie der Rechtsberatung oder der Psychotherapie aber auch eine gewisse Selbstverständlichkeit in den Verfahren erlangen.

Standardisierte Formulare, eine beschleunigte Bearbeitung der Anträge und eine bessere Vernetzung und Sensibilisierung auch bei den anderen Verfahrensbeteiligten und Professionen sollen Abhilfe schaffen.

Ich habe zu Beginn von Hilflosigkeit gesprochen. Einige Schlagzeilen lassen uns in diesen Tagen wieder absolut sprachlos und hilflos zurück. Der neueste Missbrauchsfall aus Bergisch Gladbach führt uns erneut die entsetzliche Dynamik und Dramatik des sexuellen Missbrauchs von Kindern vor Augen. Es ist an der Zeit, dass die Opferrechte von minderjährigen Verletzten nachhaltig verbessert werden.

Aber auch erwachsene Opfer von Sexualdelikten müssen einen Anspruch auf eine Beiordnung erhalten, auch wenn es sich nur um eine einfache Körperverletzung handelt.

Die Politik muss bei solchen Straftaten an der Seite der Opfer stehen und die notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Dafür setzen wir uns mit unserem Antrag ein.

Lassen Sie uns in diesen Tagen gemeinsam ein starkes Zeichen für die Opfer und die Opferhilfe setzen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Fraktion der Grünen ihre Unterstützung für dieses Thema erklärt hat und unserem Antrag beigetreten ist.

(Beifall von der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wir haben die psychosoziale Prozessbegleitung in Berlin gemeinsam auf den Weg gebracht. Deshalb lade ich Sie herzlich ein, sich auch an einer guten Umsetzung zu beteiligen, damit dieses zusätzliche Angebot ein Erfolg und damit eine echte Hilfe für die Betroffenen werden kann.

Ich freue mich auf die Beratung im Rechtsausschuss. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Erwin. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP Herr Abgeordneter Mangen das Wort. Bitte schön.

Christian Mangen (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer Opfer einer Straftat wird, der verdient die Unterstützung der gesamten Gesellschaft.

Neben den bereits bestehenden Angeboten der Opferbetreuung sowie der Zeugenbetreuung und -beratung steht mit der psychosozialen Prozessbegleitung ein wertvolles Instrument zur Verfügung.

Oftmals sind Opfer traumatisiert, und die psychosoziale Prozessbegleitung kann den Opfern eine echte Hilfe und Unterstützung bieten. Sie kann den Opfern Sicherheit und Orientierung vermitteln und zugleich das Verständnis des Strafprozesses erleichtern, nur kommt sie zu selten vor.

Die psychosoziale Prozessbegleitung ist gegenüber dem Strafverfahren von Neutralität geprägt. Durch die qualifizierte Betreuung während des gesamten Verfahrens hat die psychosoziale Prozessbegleitung das Ziel, die Belastung der Opfer zu reduzieren und ihre Sekundärviktimisierung zu vermeiden.

Auch im Hinblick auf die Prozessökonomie hat die psychosoziale Prozessbegleitung positive Folgen: Zeugen, die sich in besserer seelischer Verfassung befinden, sind eher in der Lage, dem für sie oft sehr belastenden Verfahren zu folgen und positiv zu diesem beizutragen.

Auch wenn es im Jahr 2018 „nur“ 150 Beiordnungen gab, so hoffen wir, dass den Opfern im Strafverfahren tatsächlich geholfen werden konnte. Dahingegen kann man an den Zahlen des laufenden Jahres sehen, dass der Bedarf größer wird und das Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung etwas bekannter geworden ist.

Fakt ist jedoch, dass die Anzahl an Beiordnungen recht gering ist. Denn 2018 gab es rund 185.000 Eingänge von Strafverfahren vor den Amts‑ und Landgerichten, aber, wie bereits gesagt, nur 150 Beiordnungen. Daher ist davon auszugehen, dass das Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung nicht hinreichend bekannt ist.

Des Weiteren führt der Begriff „psychosoziale Prozessbegleitung“ ganz offenbar zu Hemmnissen oder Fehlvorstellungen, denen wir dringend begegnen müssen.

Dies wurde auch durch die Anhörung am 11. September dieses Jahres deutlich, weshalb wir gemeinsam mit der CDU-Fraktion und auch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute diesen Antrag einbringen.

Daher fordern wir die Landesregierung auf, das wichtige Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung bekannter und verständlicher zu machen. Und das möchte ich anhand von drei Punkten ausführen:

Die Landesregierung soll erstens das Informationsangebot in einfacher, niedrigschwelliger Sprache und auch in verschiedenen Sprachen wie Englisch, Französisch, Türkisch oder Arabisch bereitstellen, zweitens auf die psychosoziale Prozessbegleitung mithilfe einer Kampagne aufmerksam zu machen und drittens auf Bundesebene auf Anpassung bzw. Umbenennung hinwirken, damit klar wird, dass die psychosoziale Prozessbegleitung bereits ab dem Ermittlungsverfahren in Anspruch genommen werden kann und nicht erst ab dem Hauptverfahren.

Damit das Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung auch die ausreichende Inanspruchnahme durch Opfer erfährt, fordern wir außerdem, dass ein Formular zur Beantragung einer Beiordnung zu psychosozialer Prozessbegleitung für Verletzte bereitgestellt wird, um diese zu vereinfachen, und auf eine beschleunigte Bearbeitung von Beiordnungsanträgen zu psychosozialer Prozessbegleitung an Gerichten hinzuwirken.

Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen: Denn die Opfern sind es, denen wir unbürokratisch und schnell helfen müssen. Dies wollen wir mit diesem Antrag tun. – Vielen Dank und Glück auf.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Mangen. – Als nächster Redner hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Abgeordneter Engstfeld das Wort.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn der Rede ein Dank an die beiden Fraktionen von CDU und FDP.

Als wir Ihren Antrag letzte Woche erhielten, haben wir ihn uns angeschaut und dabei gesehen, dass alle von Ihnen darin aufgeführten Punkte auch unserer Auffassung und unserer Lehre aus der Anhörung im Rechtsausschuss entsprechen.

Deswegen haben wir darum gebeten, als Antragsteller aufgenommen zu werden. Diesem Wunsch haben Sie entsprochen. Vielen Dank dafür, dass es damit möglich ist, dass wir heute den Opferschutz im Namen von CDU, FDP und Grünen stärken können.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der FDP)

Die psychosoziale Prozessbegleitung ist ein wichtiges Instrument, um Opfer von Straftaten während belastender Gerichtsprozesse bestmöglich zu unterstützen, zu begleiten und den Ablauf von Verhandlungen und verwertbare Aussagen der Opfer zu sichern.

Das Instrument wird seit der Einführung eigentlich von allen Seiten als sinnvoll bewertet. Jetzt kommt es darauf an, die Probleme, die sich in den letzten Jahren gezeigt haben, zu lösen, um die Opfer von Straftaten und die Prozessbegleiterinnen und ‑begleiter bestmöglich zu unterstützen.

Für Opfer von schweren Straftaten können polizeiliche Ermittlungen und gerichtliche Verfahren beängstigend sein. Sie müssen mit vielen verschiedenen Menschen über die Tat sprechen, unter Umständen dem Täter vor Gericht begegnen, oft als Zeuginnen und Zeugen aussagen und dabei auch unangenehme Fragen beantworten.

Die Opfer können in Gerichtsverfahren auch eingeschüchtert werden oder im allerschlimmsten Fall – Klammer auf „re‑„ Klammer zu – traumatisiert werden. Daher brauchen Opfer schwerer Straftaten neben der Möglichkeit, einen rechtlichen Beistand zu erhalten, die bestmögliche psychosoziale Begleitung während des gesamten Verfahrens.

Die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung war ein entscheidender Schritt hin zu mehr Opferschutz, und das Instrument funktioniert ganz gut. Nach den ersten Jahren gibt es nun mal Verbesserungsbedarf; das hat auch die Anhörung im Rechtsausschuss, die, wie ich fand, sehr interessant war, gezeigt.

Ein erstes großes Problem bisher war die fehlende Bekanntheit des Angebots auf allen Seiten, also bei den Opfern, der Polizei, den Fachleuten – zum Beispiel bei Therapeutinnen und Therapeuten und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern –, beim Kinderschutzbund, aber auch bei Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, bei Gerichten, Staatsanwaltschaften und in der Gesellschaft insgesamt.

Dem wird mit dem vorliegenden Antrag unter anderem durch die Forderungen nach einem Informationsangebot in einfacher, niedrigschwelliger Sprache und in verschiedenen Sprachen, nach einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne und nach einer weiteren Sensibilisierung der Verfahrensbeteiligten begegnet; in den beiden vorherigen Reden von der CDU‑ und der FDP-Fraktion wurde das schon ausgeführt.

Ein zweiter aus unserer Sicht wichtiger Aspekt ist, dass der Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung ausgeweitet und der Beantragungsprozess vereinfacht und beschleunigt werden soll. Die Beantragung ist bisher einfach zu kompliziert, und die Bewilligung dauert leider oft zu lange. Das bedeutet eine enorme Unsicherheit für die Opfer und die Begleiterinnen und Begleiter.

Auch muss die Ausweitung auf weitere Straftatbestände erfolgen sowie ein fester Anspruch auf Beiordnung insbesondere in Fällen von häuslicher Gewalt oder Sexualdelikten geschaffen werden.

Ich möchte zum Schluss auf einen Punkt hinweisen, der in dem Antrag nicht behandelt wird, der aber bei der Anhörung immer wieder thematisiert wurde und aus unserer Sicht auch zu Recht bemängelt wurde. Wir finden, dass wir das politisch weiter begleiten müssen.

Es handelt sich um das Problem, dass die Pauschalen für eine Beiordnung derzeit einfach zu niedrig angesetzt sind. Die Vereine und Verbände zahlen derzeit immer drauf, um eine angemessene Prozessbegleitung leisten zu können.

Hier besteht noch Handlungsbedarf. Der wird jetzt über diesen Antrag zwar nicht abgedeckt, aber wir werden das weiter als Thema behandeln und gucken, wie wir da auch noch eine Lösung herbeiführen.

Der Opferschutz wird durch diesen Antrag gestärkt. Ich werbe um Zustimmung zum Antrag und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN und Matthias Kerkhoff [CDU])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Engstfeld. – Für die SPD hat Frau Kollegin Bongers das Wort. Bitte sehr.

Sonja Bongers (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Opfer einer Gewalttat zu werden, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben machen kann. Opfer leiden oftmals ihr ganzes Leben lang an den Folgen solcher Erfahrungen.

Wir müssen nicht nur alles daran setzen, dass solche Straftaten verhindert werden, sondern auch, dass Menschen, die tragischerweise Opfer geworden sind, nicht bei der Aufklärung der Taten erneut leiden müssen.

Um in solchen Fällen psychische Unterstützung erhalten zu können, wurde das Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung entwickelt. Bei der psychosozialen Prozessbegleitung geht es darum, besonders belastete Opfergruppen insbesondere Kinder und Jugendliche sowie Opfer schwerer Sexual‑ und Gewaltstraftaten während der Beweisaufnahme und der Verhandlung angemessen psychosozial zu begleiten, damit der Prozess für die Betroffenen zumindest einigermaßen erträglich und für die Opfer nicht zu einer weiteren retraumatisierenden und belastenden Erfahrung wird.

Bei den Prozessbegleitern handelt es sich um Sozialarbeiter, Pädagogen oder Psychologen, die eine entsprechende Zusatzausbildung für diese Arbeit haben.

Opfer, die während eines Prozesses diese professionelle Unterstützung bekommen, sind nicht nur emotional stabiler, sondern auch eher bereit, über ihre Erfahrungen Aussagen zu machen.

Psychosoziale Prozessbegleitung ist somit nicht nur ein wichtiges Instrument zur Unterstützung von Opfern, sondern trägt ebenfalls dazu bei, dass Verbrechen aufgedeckt und gegebenenfalls auch Wiederholungstaten verhindert werden können.

Wir finden aus diesem Grund, dass das Instrument unsere vollste politische Unterstützung verdient. Wir Sozialdemokraten waren es, die aus diesem Grund das Thema zweimal in den Rechtsausschuss eingebracht haben und dann auch noch eine Anhörung dazu beantragt haben.

Die psychosoziale Prozessbegleitung steht nicht im politischen Streit und gehört auch nicht in den politischen Streit. Niemand kann die psychosoziale Prozessbegleitung ernsthaft in Zweifel ziehen, und das macht in diesem Haus ja auch keiner. Es kann nur darum gehen, das Gute, was schon da ist, noch besser zu machen. Dafür war die von uns beantragte Anhörung sehr wertvoll.

Im Jahr 2017 gab es in Nordrhein-Westfalen 77 Beiordnungen, die durch richterlichen Beschluss zugewiesen wurden. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die Öffentlichkeitsarbeit über die Möglichkeit der psychosozialen Prozessbegleitung verbessert werden soll. Dies ist gut und richtig.

Wir denken aber, dass die Informationen auch vonseiten der Justiz und der Polizei kommen sollten, und zwar in genau dem Moment, wenn Anzeige erstattet wird oder, wenn das Opfer nicht selbst Anzeige erstattet, zu dem Zeitpunkt, wenn eine Einladung als Zeuge oder Zeugin ausgesprochen wird, sodass die oder der Betroffene direkt über eine mögliche Beantragung entscheiden kann.

Liebe Koalitionsfraktionen, liebe Grüne, mal abgesehen davon, dass wir in der Sache Ihren Vorstoß im Bereich der psychosozialen Prozessbegleitung begrüßen, lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Verfahren formulieren:

Im September hat bereits eine Anhörung zum Thema der psychosozialen Prozessbegleitung stattgefunden. Im Rechtsausschuss in der letzten Woche stand das Thema auf der Tagesordnung und wurde behandelt. Dort wurden von der Landesregierung die Ergebnisse dieser Anhörung vorgestellt.

Allerdings haben Sie bereits vor dieser Sitzung einen Antrag zu diesem Thema gestellt, noch bevor das Ergebnis der Anhörung im Rechtsausschuss vorgestellt werden konnte. Das ist nicht verboten, das ist zu akzeptieren, aber dennoch zu hinterfragen. Ganz ehrlich: Wir finden dieses Verfahren unüblich und unkollegial.

Ich komme aber nicht umhin, einen Punkt aus der Anhörung anzusprechen, den Sie umgehen, indem Sie ihn gar nicht erwähnen: Alle Sachverständigen haben kritisiert, dass der Ambulante Soziale Dienst der Justiz auch psychosoziale Prozessbegleitung macht. Die Kritik ging in die Richtung, dass es nicht sein könne, dass der ASD sowohl Täter‑ als auch Opferarbeit leistet. Soweit ich weiß, geschieht dies zum Beispiel in Niedersachsen auch nicht.

Ich selbst und auch meine Fraktion haben darauf noch keine abschließende Antwort. Ich finde aber, dass wir diese Thematik im Rechtsausschuss weiter diskutieren müssen. Das sind wir den Sachkundigen, die an der Anhörung teilgenommen haben, schuldig, und unsere Diskussion wird es beleben.

Ich bin gespannt, wie das Ministerium uns im Rechtsausschuss weiterhin informieren wird. Wie bereits gesagt: Wir halten das vorgeschlagene Instrument für äußerst wichtig. Wir stimmen deshalb natürlich der Überweisung in den Rechtsausschuss zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Bongers. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD Herr Abgeordneter Röckemann das Wort.

Thomas Röckemann (AfD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Noch im Dezember 2015 wurde die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung als Meilenstein für den Opferschutz gefeiert, und seitdem sind beinahe zwei Jahre vergangen. Es ist an der Zeit, Nabelschau zu halten, und diese Nabelschau, meine sehr geehrten Damen und Herren von Union und SPD, fällt leider nicht positiv aus.

Zur Sache: Da es auch infolge der grenzenlosen Politik der Bundesregierung aus CDU und SPD immer mehr Opfer schwerer und schwerster Gewalttaten gibt, hat sich die Bundesregierung augenscheinlich entschlossen, den Opfern ihren Gang vor Gericht zu erleichtern bzw. überhaupt erst möglich zu machen.

Wir kennen es ja zur Genüge, dass viele Opfer derart eingeschüchtert werden – sei es durch Erpressung, Nötigung, Bedrohung oder physische Präsenz der Familien der Täter –, dass sie, die Opfer der schweren Straftaten, ihr Aussageverhalten entsprechend abändern und häufig schweigen oder gar die Unwahrheit sagen.

Dadurch leidet nicht nur das Verfahren, sondern es findet insbesondere eine weitere seelische Verletzung der Opfer statt. Dabei hat es der Katalog des § 406g StPO in Verbindung mit § 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO in sich. Der Rahmen reicht schließlich von Sexualdelikten über gefährliche Körperverletzungen bis hin zu Raubdelikten. Es geht also um schwerste personenbezogene Gewaltkriminalität. Deshalb war der Ansatz des Gesetzes vom Prinzip her richtig: Ohne Opfer, die als Zeugen aussagen, ist den Tätern kaum noch beizukommen.

Es ist kein Geheimnis, dass gerade in Nordrhein-Westfalen als dem größten Bundesland mit einer entsprechend hohen Kriminalität viele dieser Katalogstraftaten mit entsprechend vielen Opfern begangen werden. Allein im Jahre 2018 gab es 2.138 Fälle der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und des sexuellen Übergriffs in besonders schweren Fällen – und das ist nur ein einziger Deliktsbereich aus dem Katalog.

Trotzdem gab es im Jahre 2018 gerade einmal 150 Abordnungen von ausgebildeten Verfahrensbegleitern – deren Anzahl im März 2019 mit 151 angegeben ist. An vorhandenen Kapazitäten mangelt es bei den zuvor benannten Zahlen als Maßstab daher nicht.

Woran liegt es also, dass das Angebot nicht angenommen wird? Liegt es an den Opfern, die nicht in der Lage sind, einen einfachen Antrag zu stellen? Ist der Straftatenkatalog nicht ausreichend? Müssen weitere Delikte wie einfache Körperverletzung mit einbezogen werden? Benötigt es eines anderen Verfahrens, um die Opfer besonders auf die Möglichkeit der Verfahrensbeteiligung hinzuweisen? Oder sollen Formulare in möglichst einfacher Sprache und/oder in Fremdsprachen geschaffen werden? Schließlich besitzen ausländische Opfer häufig nicht das entsprechende Bildungsniveau und/oder sprechen nur rudimentär Deutsch.

Nicht dass wir uns falsch verstehen, meine Damen und Herren Kollegen: Was ich sage, ist kein billiger Populismus auf dem Rücken der Opfer. Es ist die Realität und größtenteils Ihrem Antrag entlehnt.

Genau vor diesen Realitäten verschließt sich Ihr Schaufensterantrag, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, dem sich die Grünen jetzt auch angeschlossen haben. Sie versuchen, ein Gesetz zu retten, das gut gemeint, aber nicht gut gemacht ist.

Anstatt über kostenintensive Aufklärungsblättchen oder die Umbenennung der psychosozialen Prozessbegleitung nachzudenken, hätten Sie doch Nägel mit Köpfen machen sollen. Das ist gar nicht einmal so schwer.

Richtigerweise müssten Sie darauf hinweisen, dass die Antragserfordernis zum Beispiel aus § 406g Abs. 3 Satz 1 abgeschafft wird. Nicht die Opfer müssten in die Lage versetzt werden, einen Antrag richtig zu stellen. Stattdessen müsste es umgekehrt sein: Bei den genannten schweren Katalogstraftaten müsste die Beiordnung von Amts wegen erfolgen – mit der Möglichkeit der Opfer, die Beiordnung mittels Antrags zurückzuweisen.

Dann wird ein Schuh daraus. Dann können die Praktiker vor Ort, nämlich Polizei und Staatsanwaltschaften, mit den Verfahrensbegleitern zusammenarbeiten. Dann würden Opferschutz und Täterverfolgung großgeschrieben. Das wäre ein großer Wurf.

Aber dazu fehlt Ihnen nicht nur der Mumm. Dazu fehlen Ihnen bei der tatsächlichen Masse an Katalogdelikten die Kapazitäten und auch das Geld.

Trotzdem werden wir die Beratung im Ausschuss natürlich kritisch begleiten und stimmen der Überweisung zu. – Schönen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Röckemann. – Als nächster Redner hat für die Landesregierung Herr Minister Biesenbach das Wort.

Peter Biesenbach*), Minister der Justiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 1. Januar 2017 ist der Opferschutz im Strafverfahren mit der sogenannten psychosozialen Prozessbegleitung um ein wichtiges Element bereichert worden. Hinter dieser zunächst recht sperrigen Bezeichnung verbirgt sich ein ganz einfacher und einleuchtender Gedanke: Schwer belastete Opfer sollen, wenn sie das wünschen, im gesamten Strafverfahren von besonders qualifizierten Fachkräften an die Hand genommen und begleitet werden.

Dass Opfer nicht alleine gelassen werden dürfen, ist eine viel bemühte Aussage, die natürlich deshalb nicht weniger richtig ist. Mit der psychosozialen Prozessbegleitung wird dieser Gedanke ganz konkret in die Tat umgesetzt. Opfer erhalten eine speziell ausgebildete Begleitung, die ihnen durch das Strafverfahren hilft, sie stabilisiert und stützt. Davon profitieren – und das ist das Wichtigste – die Opfer.

Aber auch für die Strafjustiz ist es ein unschätzbarer Gewinn, wenn die Opfer, deren Aussage häufig das wesentliche Beweismittel darstellt, professionell aufgefangen werden. Dabei nehmen die gut ausgebildeten und spezialisierten Begleiterinnen und Begleiter auf die Zeugenaussage selbst natürlich keinen Einfluss.

Der Landesregierung ist es ein besonders Anliegen, dass dieses wertvolle Instrument auch tatsächlich bei den Opfern ankommt. In Nordrhein-Westfalen gibt es dafür sehr gute Rahmenbedingungen. Insbesondere steht eine auch im bundesweiten Vergleich einzigartig hohe Anzahl anerkannter Begleiterinnen und Begleiter für die Opfer bereit.

Dass wir solche Rahmenbedingungen haben, ist das Resultat gemeinsamer Anstrengungen vieler gesellschaftlicher Kräfte unter Federführung des Justizressorts. Nicht zuletzt verdanken wir die gute Ausgangslage aber auch der Tatsache, dass alle noch heute im Landtag vertretenen demokratischen Fraktionen an einem Strang gezogen haben, als es im Jahre 2016 um die Umsetzung der bundesgesetzlichen Regelung in unserem Land ging.

Wir müssen nach nunmehr fast drei Jahren allerdings auch feststellen: Bislang ist psychosoziale Prozessbegleitung noch nicht überall gelebter Standard. Die Beiordnungszahlen steigen zwar stetig. Sie stellen uns aber insgesamt noch nicht zufrieden. Das entspricht der Entwicklung, die uns auch aus fast allen anderen Ländern berichtet wird, in denen die Zahlen teilweise sogar rückläufig sind.

Auch wenn die psychosoziale Prozessbegleitung nach den Maßstäben der Strafprozessordnung weiterhin ein recht junges Instrument ist, möchten wir erreichen, dass diese wertvolle Unterstützung möglichst schnell in weiterem Umfang auch tatsächlich bei den Opfern ankommt.

Hier sind wir auf drei Ebenen aktiv:

Erstens. Um die Bekanntheit und Akzeptanz der psychosozialen Prozessbegleitung weiter zu erhöhen, betreibt mein Ministerium kontinuierlich Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Diese werden wir noch weiter verstärken. Die Planungen für eine konzertierte landesweite Aktion und Kampagne laufen.

Zweitens. In der Praxis hat sich gezeigt, dass wir das Verfahren zur Beiordnung und Abrechnung der psychosozialen Prozessbegleitung an einigen Stellen vereinfachen und, soweit möglich, beschleunigen müssen. Auch hieran arbeitet das Ministerium. Unter anderem haben wir bereits den Entwurf eines einfachen Antragsformulars für die Opfer erstellt.

Drittens. Sämtliche Maßnahmen stimmen wir eng mit der Praxis, insbesondere den Fachleuten aus der eigens eingerichteten Koordinierungsstelle Psychosoziale Prozessbegleitung, ab.

Schließlich hat sich gezeigt, dass die bestehenden bundesgesetzlichen Regelungen an einigen Stellen der Klarstellung bzw. Ergänzung bedürfen. Das betrifft beispielsweise die Frage, ob Angehörige von Getöteten einen Beiordnungsanspruch haben, und die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Begleiterinnen und Begleiter die gesetzlich vorgesehene dritte Stufe der Pauschalvergütung abrechnen können.

Auf der jüngst vergangenen Herbstkonferenz haben die Justizministerinnen und Justizminister der Länder daher einhellig die Bedeutung der psychosozialen Prozessbegleitung betont und das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz gebeten, die Notwendigkeit zur Klarstellung und Ergänzung der gesetzlichen Regelungen zu prüfen.

Sie sehen: Wir sind auf vielen Ebenen dabei, dem noch jungen Instrument der psychosozialen Prozessbegleitung weiter zum Durchbruch zu verhelfen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag wirft zu Recht eine Reihe von Fragen auf: Sind Opfer häuslicher Gewalt nicht ebenso schutzbedürftig wie die bis-


her für die Beiordnung vorgesehenen Opfergruppen? Sollten wir es den Gerichten nicht ermöglichen, minderjährigen Opfern von Amts wegen eine psychosoziale Prozessbegleitung beizuordnen? Müssen wir es erwachsenen Opfern von Sexualdelikten tatsächlich zumuten, dass ihre Schutzbedürftigkeit im Rahmen der Beiordnung noch einmal gesondert geprüft wird? – All das wird man sich genau ansehen müssen.

Ich kann Ihnen versichern: In Nordrhein-Westfalen hat der Opferschutz herausragende Bedeutung. Ihn stetig zu verbessern, ist ein besonderes Anliegen der Landesregierung.

Wenn uns der Landtag mit dem vorliegenden Antrag Rückenwind gibt, ist das umso besser. Diesen Rückenwind nehmen wir gerne mit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor, sodass wir am Schluss der Aussprache zum Tagesordnungspunkt 4 angelangt sind.

Wir kommen zur Abstimmung über die Überweisungsempfehlung des Ältestenrates, der uns nahelegt, den Antrag Drucksache 17/7761Neudruck – an den Rechtsausschuss zu überweisen. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit haben wir das Ende unserer heutigen Sitzung erreicht.

Ich berufe das Plenum wieder ein für Mittwoch, 27. November 2019, 10 Uhr.

Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen, nicht allzu arbeitsreichen Nachmittag und ein ebenso schönes und auch nicht allzu arbeitsreiches Wochenende.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 12:40 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.