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Landtag

Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/68

17. Wahlperiode

09.10.2019

 

68. Sitzung

Düsseldorf, Mittwoch, 9. Oktober 2019

Mitteilungen des Präsidenten. 7

Vor Eintritt in die Tagesordnung

Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Transplantationsgesetzes (AG‑TPG) vom 9. November 1999 in der Fassung vom 13. Februar 2016

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/2121

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für
Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/3267. 7

Rücknahme des Gesetzentwurfs. 7

Ergebnis: Rücknahme zulässig. 7

1   Bürgerwehrähnlichen rechtsextremen Gruppierungen Einhalt gebieten

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7584. 7

Verena Schäffer (GRÜNE) 7

Gregor Golland (CDU) 9

Sven Wolf (SPD) 10

Marc Lürbke (FDP) 11

Markus Wagner (AfD) 12

Minister Herbert Reul 14

Dr. Christos Georg Katzidis (CDU) 16

Markus Wagner (AfD) 17

2   Gesetz zur Stärkung der kulturellen Funktion der öffentlichen Bibliotheken und ihrer Öffnung am Sonntag (Bibliotheksstärkungsgesetz)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5637

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für 
Kultur und Medien
Drucksache 17/7513

zweite Lesung. 18

Andreas Bialas (SPD) 18

Bernd Petelkau (CDU) 19

Lorenz Deutsch (FDP) 20

Oliver Keymis (GRÜNE) 21

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 22

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 22

Ergebnis. 23

3   30 Jahre „Friedliche Revolution“ – Lehren für Freiheit und Demokratie

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7540

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7608. 23

Carina Gödecke (SPD) 23

Marco Voge (CDU) 26

Angela Freimuth (FDP) 28

Josefine Paul (GRÜNE) 29

Helmut Seifen (AfD) 31

Alexander Langguth (fraktionslos) 32

Minister Dr. Joachim Stamp. 34

Ergebnis. 36

4   Bürger in NRW vor Bevormundung und Abzocke schützen – Belastungen durch das Klimakabinett stoppen!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7532

In Verbindung mit:

Mit dem Klimaschutzpaket der Bundesregierung können die Klimaziele nicht erreicht werden – Landesregierung muss sich für Nachbesserungen einsetzen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7538

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7606

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7611. 36

Monika Düker (GRÜNE) 36

Christian Loose (AfD) 38

Henning Rehbaum (CDU) 39

André Stinka (SPD) 41

Dietmar Brockes (FDP) 43

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 45

Dr. Christian Untrieser (CDU) 50

Frank Sundermann (SPD) 52

Wibke Brems (GRÜNE) 54

Christian Loose (AfD) 54

Ergebnis. 55

5   30 Jahre Mauerfall – Der friedlichen Wende ein würdiges und angemessenes Andenken bewahren!

Resolution
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7533

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7609. 55

Sven Werner Tritschler (AfD) 55

Dr. Günther Bergmann (CDU) 57

Prof. Dr. Karsten Rudolph (SPD) 59

Angela Freimuth (FDP) 61

Josefine Paul (GRÜNE) 63

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 64

Ergebnis. 66

Worte von Präsident André Kuper zu einem soeben erfolgten Anschlag auf die Synagoge in Halle (Saale) 66

6   Fragestunde

Drucksache 17/7586

Fragen
aus der letzten Fragestunde
Nr. 52 und 53. 66

Mündliche Anfrage 52

des Abgeordneten
Christian Dahm (SPD)

Schriftliche Beantwortung  
(siehe
Vorlage 17/2537)

Mündliche Anfrage 53

des Abgeordneten
Sven Wolf (SPD)

Schriftliche Beantwortung  
(siehe
Vorlage 17/2537)

Mündliche Anfrage 54

der Abgeordneten  
Berivan Aymaz (GRÜNE)

Minister Dr. Joachim Stamp. 67

Mündliche Anfrage 55

des Abgeordneten  
Hartmut Ganzke (SPD)

Minister Herbert Reul 73

7   Jugendkriminalität weiter effektiv bekämpfen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/4442

Beschlussempfehlung und Bericht
des Rechtsausschusses
Drucksache 17/7554

Entschließungsantrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5095

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7607. 78

Angela Erwin (CDU) 78

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD) 79

Christian Mangen (FDP) 80

Stefan Engstfeld (GRÜNE) 81

Thomas Röckemann (AfD) 82

Minister Peter Biesenbach. 83

Ergebnis. 84

8   Der Forstwirtschaft in NRW unbürokratisch helfen – Hilferufe der nordrhein-westfälischen Waldbauern ernst nehmen!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7534

In Verbindung mit:

Nachhaltige Wiederbewaldung schafft klimastarke Wälder – Waldsterben 2.0 verhindern und Waldfunktionen erhalten

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7542

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7610. 84

Andreas Keith (AfD) 85

Annette Watermann-Krass (SPD) 85

Jochen Ritter (CDU) 86

Markus Diekhoff (FDP) 88

Norwich Rüße (GRÜNE) 89

Ministerin Ursula Heinen-Esser 92

Ergebnis. 93

9   Den Beamtinnen und Beamten in NRW die freiwillige Versicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ermöglichen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5057

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/7555. 94

Jochen Klenner (CDU) 94

Christina Weng (SPD) 95

Susanne Schneider (FDP) 95

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 96

Dr. Martin Vincentz (AfD) 98

Minister Lutz Lienenkämper 98

Ergebnis. 99

10 Unsere Kinder vor den Fehlern der Vergangenheit schützen – einen neuen Conterganskandal verhindern!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7537. 99

Dr. Martin Vincentz (AfD) 99

Peter Preuß (CDU) 100

Heike Gebhard (SPD) 101

Susanne Schneider (FDP) 103

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 103

Minister Karl-Josef Laumann. 105

Ergebnis. 106

11 Gesetz zu dem Staatsvertrag über die Hochschulzulassung und zur Neufassung des Hochschulzulassungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/6538

Beschlussempfehlung und Bericht
des Hauptausschusses
Drucksache 17/7552

zweite Lesung. 106

Daniel Hagemeier (CDU) 106

Dietmar Bell (SPD) 107

Angela Freimuth (FDP) 108

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) 108

Helmut Seifen (AfD) 109

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 110

Ergebnis. 111

12 Gesetz zur Änderung des Pensionsfondsgesetzes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/6887

Beschlussempfehlung und Bericht
des Haushalts- und Finanzausschusses
Drucksache 17/7551

zweite Lesung. 111

Bernd Krückel (CDU) 111

Stefan Zimkeit (SPD) 111

Ralf Witzel (FDP) 112

Monika Düker (GRÜNE) 112

Herbert Strotebeck (AfD) 113

Minister Lutz Lienenkämper 113

Ergebnis. 114

13 Fünftes Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7547

erste Lesung. 114

Ministerin Ina Scharrenbach  
zu Protokoll (siehe Anlage 1)

Ergebnis. 114

14 Gesetz zur Reform des Hinterlegungsgesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7548

erste Lesung. 114

Minister Peter Biesenbach  
zu Protokoll (siehe Anlage 2)

Ergebnis. 114

15 Siebtes Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7549

erste Lesung. 114

Minister Herbert Reul 
zu Protokoll (siehe Anlage 3)

Ergebnis. 114

16 Nachwahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Beirats der NRW.BANK

Wahlvorschlag
der Fraktion der CDU
Drucksache 17/7546.
114

Ergebnis. 114

17 Volksinitiative gemäß Artikel 67 der Landesverfassung:
Eingang des Antrags und der gesammelten Unterschriften der Volksinitiative mit der Kurzbezeichnung „Straßenbaubeiträge abschaffen“

Unterrichtungen
des Präsidenten des Landtags
Drucksache 17/7482
Drucksache 17/7556. 115

Ergebnis. 115

18 In den Ausschüssen erledigte Anträge

Übersicht 23
gem. § 82 Abs. 2 GO
Drucksache 17/7564. 115

Ergebnis. 115

19 Beschlüsse zu Petitionen

Übersicht 17/27
gem. § 97 Abs. 8 GO.. 115

Ergebnis. 116

Anlage 1. 117

TOP 13 „Fünftes Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes“ – zu Protokoll gegebene Rede

Ministerin Ina Scharrenbach. 117

Anlage 2. 119

TOP 14 „Gesetz zur Reform des Hinterlegungsgesetzes“ – zu Protokoll gegebene Rede

Minister Peter Biesenbach. 119

Anlage 3. 121

TOP 15 „Siebtes Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen“ – zu Protokoll gegebene Rede

Minister Herbert Reul 121

 


Entschuldigt waren:

Ministerin Yvonne Gebauer

Minister Karl-Josef Laumann

Minister Hendrik Wüst

Sonja Bongers (SPD)  
(ab 13 Uhr)

Susana dos Santos Herrmann (SPD)    
(ab 17 Uhr)

Christina Kampmann (SPD)

Hannelore Kraft (SPD) 
(ab 16:30 Uhr)

Sigrid Beer (GRÜNE)   
(ab 14:30 Uhr)

Arndt Klocke (GRÜNE)

Josefine Paul (GRÜNE)
(ab 18 Uhr)

Roger Beckamp (AfD)

Alexander Langguth (fraktionslos)        
(ab 14 Uhr)

Marcus Pretzell (fraktionslos)

 


Beginn: 10:02 Uhr

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie alle zu unserer heutigen, 68. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch den Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich sechs Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Ich rufe auf:

     Vor Eintritt in die Tagesordnung

Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Transplantationsgesetzes (AG‑TPG) vom 9. November 1999 in der Fassung vom 13. Februar 2016

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/2121

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für
Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/3267

(Unruhe – Glocke)

Die Fraktionen von CDU und FDP haben ihren Gesetzentwurf Drucksache 17/2121 mit Schreiben vom 18. September 2019 zurückgezogen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales bereits seinen Bericht Drucksache 17/3267 erstattet.

Gemäß § 84 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung ist die Rücknahme eines Gesetzentwurfes nach Berichterstattung eines Ausschusses nur zulässig, wenn kein Mitglied des Landtages der Rücknahme widerspricht. – Ich schaue in das Plenum und sehe keinen Widerspruch.

Damit stelle ich fest, dass die Rücknahme des Gesetzentwurfes zulässig ist.

Nun treten wir in die heutige Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1   Bürgerwehrähnlichen rechtsextremen Gruppierungen Einhalt gebieten

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7584

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit Schreiben vom 7. Oktober gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Abgeordneten Frau Schäffer das Wort.

Verena Schäffer*) (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erschreckend, wenn am Tag der Deutschen Einheit Hunderte von Neonazis durch Berlin marschieren und offen rassistische und antisemitische Parolen skandieren und zu Gewalttaten aufrufen. Das ist erschreckend. Dennoch – und das ist das eigentlich Erschreckende – ist es nicht überraschend, dass Neonazis aus Nordrhein-Westfalen in Berlin mitdemonstriert haben.

Schon seit Monaten laufen selbst ernannte Bürgerwehren in nordrhein-westfälischen Städten Patrouille. Die Akteure aus rechtsextremer Szene, rechtsgerichteten Hooligans und Rockern geben vor, für unsere Sicherheit sorgen zu wollen. Aber in Wahrheit geht es ihnen um die Verunsicherung von Teilen der Gesellschaft. Diese Bürgerwehren erhöhen nicht die öffentliche Sicherheit. Nein, ganz im Gegenteil! Sie hetzen gegen Minderheiten und erhöhen das Sicherheitsrisiko für bestimmte Personen im öffentlichen Raum. Das dürfen wir ihnen nicht durchgehen lassen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Diese Bürgerwehren in Essen, in Herne, in Mönchengladbach, in Düsseldorf, in Köln werden zu Recht als Mischszenen bezeichnet, weil sie sich aus einschlägig bekannten Rechtsextremen, rechtsoffenen Hooligans und Rockern zusammensetzen. Ich persönlich finde es nicht verwunderlich, dass sich zentrale Führungspersonen aus der extremen Rechten, aus rechtsextremen Parteien und Organisationen, an diesen Demonstrationen beteiligen.

(Unruhe)

Präsident André Kuper: Frau Schäffer, darf ich Sie kurz unterbrechen? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre nett, wenn wir den Geräuschpegel bitte einmal herunterfahren und der Rednerin Aufmerksamkeit zollen würden. – Bitte schön, Frau Schäffer.

Verena Schäffer*) (GRÜNE): Vielen Dank. – Ich finde es nicht verwunderlich, dass diese Personen aus dem rechtsextremen Lager an diesen Demonstrationen teilnehmen. So richtig verwunderlich finde ich es noch nicht einmal, dass auch Mitglieder der AfD an diesen Demonstrationen teilgenommen haben.

Klar ist aber – das will ich hier ganz deutlich festhalten –: Jeder, wirklich jeder, der bei diesen Demonstrationen mitläuft, nimmt die rechtsextreme, rassistische Motivation so hin. – Das ist für mich völlig inakzeptabel. Diese Personen verabschieden sich mit ihrer Teilnahme von unseren demokratischen Werten.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Ich will auch noch einmal sagen, warum von diesen Gruppierungen, von diesen selbst ernannten Bürgerwehren, wirklich eine Gefahr ausgeht:

Erstens. Die expliziten Gewaltandrohungen, wie wir sie zuletzt in Berlin gehört haben, sind für mich eine neue Qualität der Einschüchterung – auch in Nordrhein-Westfalen.

Zweitens. Es geht um ein enorm breites Spektrum vom rechtsoffenen bis zum geschlossenen rechtsextremen Weltbild, also um einen breiten Zusammenschluss von verschiedenen Szenen, die Gewaltandrohungen und Gewalttaten zumindest dulden. Das erhöht meines Erachtens massiv die Gefahr, dass daraus auch Straftaten und Gewaltdelikte resultieren.

Wir haben in den letzten Monaten schon gesehen, dass es immer mehr Städte gibt, in denen sich diese Gruppierungen bilden. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass diesem Phänomen Einhalt geboten wird. Daher müssen wir sowohl die vorhandenen Szenen zurückdrängen als auch dafür sorgen, dass in Nordrhein-Westfalen keine neuen Gruppierungen entstehen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ich erkenne durchaus an, Herr Reul, dass das Innenministerium die Gefahr benennt und erkannt hat. Ich finde es auch sehr gut, dass wir in diesem Parlament an verschiedenen Stellen eine Mehrheit zum Thema „Rechtsextremismus“ hatten und hier gemeinsam Resolutionen und Anträge zu Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus beschlossen haben.

Aber die Frage ist natürlich, was daraus folgt. Wenn der Innenminister richtigerweise in der WDR-Sen-dung „Westpol“ erklärt, dass Rechtsextreme die treibende Kraft bei diesen Bürgerwehren sind – Herr Reul, Sie haben, glaube ich, gesagt, dass diese Veranstaltungen von Rechtsextremen dirigiert werden –, dann irritiert es mich schon, wenn es im selben Bericht heißt – das können Sie ja vielleicht gleich aufklären –, dass diese Gruppierungen nicht vom Verfassungsschutz nachrichtendienstlich beobachtet werden.

Ich glaube, dass kein Zweifel an der verfassungsfeindlichen Ausrichtung, an der Gewaltbereitschaft und an der Steuerung durch Rechtsextreme besteht. Meines Erachtens liegt hier die Voraussetzung für eine Beobachtung vor. Da bin ich sehr gespannt auf Ihre Erläuterungen, Herr Reul.

Es geht aber nicht nur um die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Der Verfassungsschutz beobachtet erst einmal. Meines Erachtens braucht es allerdings mehr.

Erstens: den Informationsaustausch. Die Analysen und die Informationen müssten vom Verfassungsschutz an die Polizei weitergegeben werden.

Zweitens: die Vernetzung unter den Polizeibehörden. Ich halte eine enge Vernetzung der Polizeibehörden der betroffenen Städte für enorm wichtig. Das heißt auch, dass man sich zum Beispiel über Auflagen bei Demonstrationen unterhält und austauscht, um bestimmte Sprüche und menschenverachtende Parolen zu unterbinden.

Drittens geht es meines Erachtens auch um Polizeipräsenz – natürlich bei den Demonstrationen, aber auch in den Stadtteilen, vielleicht auch durch die Bezirksbeamten, die vor Ort ansprechbar sind, um der Bedrohung durch die Präsenz von Bürgerwehren im Stadtteil entgegenzuwirken.

(Beifall von den GRÜNEN)

Viertens will ich auch noch einmal das Thema „Uniformierungsverbot“ ansprechen. Wir hatten hier vor einigen Jahren eine hitzige Debatte zum Thema „Scharia-Polizei“. Danach gab es Urteile. Aus meiner Sicht muss geprüft werden, ob das Auftreten mit gleichen T-Shirts zum Zweck der Einschüchterung nicht unter das Uniformierungsverbot fällt. Da muss jetzt eine rechtliche Klärung erfolgen.

Ich denke zwar, dass das klar ist, will es aber trotzdem noch einmal sagen: Natürlich steht Rechtsextremen und Verfassungsfeinden das hohe Gut Versammlungsfreiheit in unserer Demokratie zu. Das ist völlig unbestritten. Aber: Diese Demokratie ist wehrhaft. Es ist die Aufgabe des Staates, diese Demokratie mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu schützen. Deshalb braucht es hier entsprechende Maßnahmen vonseiten der Polizei und des Verfassungsschutzes.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Aber auch die Zivilgesellschaft – das ist mir ebenfalls besonders wichtig – hat einen hohen Anteil; denn es geht darum, was man gesellschaftlich hinnimmt, was gesagt werden darf und was nicht, zu welchen Inhalten und zu welchen Positionen Widerspruch erfolgen muss.

Ich bin froh, dass wir in Nordrhein-Westfalen eine Zivilgesellschaft haben, die diese besorgniserregende Entwicklung der Bürgerwehren eben nicht hinnimmt, sondern immer wieder auf die Straße geht und dagegen demonstriert.

Ich durfte selbst am 14. September 2019 – Frank Müller, der Kollege von der SPD, war auch die gesamte Zeit da – bei der Demonstration in Essen-Steele sein. Ich habe mir das kurz angeschaut, weil es mich interessiert hat. Ich finde es einfach großartig, wenn Menschen sagen: Das nehmen wir nicht hin; dagegen gehen wir auf die Straße.

Es geht für uns politisch darum, dafür zu sorgen, dass diese Zivilgesellschaft gestärkt und gestützt wird. Das ist unsere Aufgabe als Demokratinnen und Demokraten.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die CDU-Fraktion erteile ich dem Abgeordneten Herrn Golland das Wort.

Gregor Golland (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Frau Schäffer, Sie haben recht: Wir müssen Extremisten bekämpfen.

Aber wir bekämpfen Extremisten jeglicher Couleur. Ich würde mir wünschen, dass Sie auch so leidenschaftlich argumentierten, wenn es um das Vermummungsverbot auf der linken Seite geht.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD – Zurufe von Stefan Zimkeit [SPD] und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] – Weitere Zurufe)

– Jetzt beruhigen Sie sich doch.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Nein, tue ich nicht!)

Als Demokraten in diesem Hohen Hause beobachten wir die Entwicklung von bürgerwehrähnlichen, mitunter rechtsextremen Gruppierungen in Nordrhein-Westfalen mit Wachsamkeit und Sorge.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das sehe ich aber anders!)

Als Demokraten verurteilen wir gemeinsam dieses Phänomen, und als Demokraten verteidigen wir unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie aus tiefster Überzeugung mit Konsequenz und Entschlossenheit.

(Beifall von der CDU)

Der Staat ist die einzige demokratisch legitimierte Instanz, die das Gewaltmonopol innehat und ausüben darf. Daran gibt es hier wohl keinen Zweifel. Niemand sonst – weder selbst ernannte Bürgerwehren, Hooligans, Rechtsextremisten, Reichsbürger, gewalttätige Aktivisten, Linksextremisten, kriminelle Familienclans noch religiös verbrämte Scharia-Polizisten – darf über die Regeln unseres Zusammenlebens bestimmen.

Die CDU-Fraktion ist mit der Landesregierung fest entschlossen, derartigen Antidemokraten, Fanatikern, Extremisten und Straftätern mit einer konsequenten Nulltoleranzstrategie entgegenzutreten. Dafür rüsten wir unsere Sicherheitsbehörden seit nunmehr über zwei Jahren mit den notwendigen personellen und materiellen Ressourcen aus.

Wir investieren viel Zeit, Geld und Kraft, um Nordrhein-Westfalen sicherer zu machen. Wir geben mit Gesetzen, Erlassen und Verordnungen Polizei, Verfassungsschutz und Justiz die dringend erforderlichen Befugnisse und Handlungsspielräume. Vor allem aber geben wir ihnen die politische Rückendeckung, die sie so lange schmerzlich vermisst haben.

(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos])

Zum neuen Stil der Landesregierung gehört das offene und direkte Ansprechen von Problemen und Herausforderungen des Rechtsstaates. Innenminister Herbert Reul nennt die Dinge beim Namen und sucht nach Lösungen, ohne leere Versprechungen zu machen – so auch in diesem Fall. Er hat sich klar geäußert.

Aber nicht nur ihm, sondern uns allen sollte die Entgrenzung dieser Szene Sorge bereiten. Es kommt zu zunehmender Vermischung von vermeintlich normalen Bürgern mit Rechtsextremisten. Eine klare Distanzierung findet nicht statt – übrigens ein Tatbestand, der auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums bei vermeintlichen Aktivisten und Linksextremisten festzustellen ist.

Der Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen hat in seinem Bericht 2018 ausführlich über diese gefährliche Mischszene berichtet. Es gibt einen umfangreichen Austausch zwischen den Sicherheitsbehörden über bekannte Personen und Gruppierungen. Die NRW-Polizei greift gemäß ihrer neuen Linie konsequent und entschlossen bei Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein.

Überall dort, wo jemand meint, eine höhere moralische Legitimation zu haben, womit er sich über das Gesetz stellt, Recht selbst in die Hand nimmt, Straftaten als zivilen Ungehorsam verharmlost, Menschen bedroht und einschüchtert oder Gewalt ausübt, muss der Rechtsstaat umgehend die Rote Karte zeigen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Wehret den Anfängen! Das sind wir den anständigen Bürgerinnen und Bürgern schuldig, die von uns als verantwortlichen Politikern erwarten, Recht und Gesetz einzuhalten und durchzusetzen.

(Unruhe – Glocke)

Neben repressiven Maßnahmen ist es aber auch besonders wichtig, die Menschen zu informieren, aufzuklären und zu warnen, sich nicht vor den Karren spannen zu lassen bzw. sich klar zu distanzieren und diese Gruppen zu ächten und zu meiden. Ebenso bedarf es Aussteigerprogrammen und Hilfen für Menschen, die sich geläutert aus der Szene lösen wollen.

Hier hilft nur ein ganzheitlicher Ansatz, den wir mit unserer Politik klar und deutlich verfolgen. Wir haben die Feinde unserer offenen, demokratischen und freien Gesellschaft fest im Blick, und wir werden sie mit legitimen Mitteln und Methoden entschieden bekämpfen. Dazu leisten Legislative, Exekutive und Judikative jeden Tag ihren Beitrag.

Nordrhein-Westfalen ist ein weltoffenes und liebenswertes Land. Das werden wir uns auch von rechten Bürgerwehren nicht nehmen lassen.

(Beifall von der CDU)

Stehen wir hier zusammen als Demokraten, aufrecht für unser Land und gegen jede Form von Extremismus! Denn jeder Extremist ist Mist. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Herr Wolf das Wort.

Sven Wolf (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist wirklich ein gutes Zeichen, dass wir als Demokraten heute hier über die Gefahr der rechtsextremen Bürgerwehren sprechen. Ich danke daher den Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dafür, dass sie diesen Antrag auf eine Aktuelle Stunde eingebracht haben.

Diese Mischszene aus Rechtsextremen, Hooligans und Rockern vernetzt sich zusehends. Bei den Aufmärschen werden demokratiefeindliche und fremdenfeindliche Parolen skandiert. Eine Trennung zwischen der rechtsextremen Szene und den Wutbürgern wird bewusst nicht gezogen, oder diese Vermischung wird sogar in Kauf genommen.

Diese Entgrenzung ist aus meiner Sicht die eine Gefahr. Die zweite große Gefahr ist aber die Gewaltaffinität dieser Gruppen.

Mein Kollege Alexander Vogt hat mir eben noch einmal von dem gestrigen Spaziergang in Herne berichtet. Auch da ist es wieder zu Gewaltübergriffen gekommen.

Sie, Herr Minister, haben die Zahlen auch sehr anschaulich dargestellt. Sie sprechen von einem harten Kern von rund 250 Personen, die aber bereit und in der Lage sind, bis zu 700 Personen zu mobilisieren.

Ich halte die Gefahr, die von diesen rechten Netzwerken ausgeht, für eine der größten Gefahren für die innere Sicherheit in unserem Land.

(Beifall von der SPD und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen handeln. Frau Kollegin Schäffer hat schon einige Anregungen gegeben. Ich will das gerne ergänzen.

Wir dürfen gerade die Kommunen bei diesen Herausforderungen nicht alleine lassen. Dazu haben wir einen sehr klugen Vorschlag gemacht. Wir haben Ihnen, Herr Minister, vorgeschlagen, das Wegweiser-Programm auf alle Extremismusbereiche auszuweiten, damit es Ansprechpartner für die Kommunen vor Ort gibt.

Ich finde es genauso gut, dass der Verfassungsschutz diese Szene sehr genau in den Blick nimmt und beobachtet und uns als Zivilgesellschaft über diese Entwicklungen berichtet.

Wir sollten aber auch etwas Zweites tun. Wir wissen ganz genau, wie die Abläufe sind. Zunächst beginnt es mit der Verrohung im Internet, in den sozialen Netzwerken. Dann startet die Vernetzung in der realen Welt. Genau diesen Punkten müssen wir als Demokraten entschlossen entgegentreten. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Wutbürger oder besorgter Bürger tarnen sich Extremisten. Diesen Deckmantel müssen wir lüften, damit niemand auf diese Tricks hereinfällt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Populisten und Extremisten agieren weltweit, europaweit, aber auch in unserem Land immer gleich. Sie greifen berechtigte Sorgen auf. Sie geben einfache Scheinantworten. Sie suchen sich Sündenböcke in der Gesellschaft, am besten kleine Gruppen, denen sie die Schuld in die Schuhe schieben. Das ist besonders gefährlich.

Diese Bürgerwehren machen noch etwas: Sie diffamieren unsere rechtsstaatlichen und demokratischen Institutionen. Damit diffamieren sie uns alle, die wir hier täglich verantwortungsvoll arbeiten, um Lösungen – und keine Scheinantworten – zu bieten.

Die Bürgerwehren glauben, sie seien der wahre Staat. Sie glauben, sie seien die wahre Polizei. Sie wollen eine Paralleljustiz aufbauen. Dem und auch der Unterwanderung unserer demokratischen Institutionen müssen wir entschieden entgegentreten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Masche ist immer die gleiche. Es wird ein aktuelles Thema aufgegriffen. Es werden Bürger zum Gedenken an dieses Ereignis eingeladen. Dabei geht es den Extremisten aber nicht ernsthaft darum, Sorge und mitfühlende Anteilnahme mit Opfern von Straftaten zu zeigen. Vielmehr wollen sie dieses Leid instrumentalisieren und Bevölkerungsgruppen stigmatisieren. Dann schlägt das wie gestern in Herne zu Gewaltaufrufen und auch tatsächlich zu Gewalttaten um.

Herr Minister Reul, Sie haben in den unterschiedlichen Berichten sehr anschaulich geschildert, wie diese Mischszene inzwischen in Nordrhein-Westfalen agiert. Sie haben das sehr richtig analysiert und dargestellt. Sie haben auch darauf hingewiesen, dass die Rechte, die Identitäre Bewegung und auch Mitglieder der NPD dabei sind und dass es insbesondere diejenigen sind, die hetzen und die Stimmung aufheizen. Besonders gefährlich ist Folgendes: Diese Gruppen agieren sehr schnell und schüren damit den Eindruck, dass es tatsächlich eine große Gruppe ist, die hier versucht, Aufmerksamkeit zu bekommen.

Genau dieses Vernetzungsmanöver enttarnt diese Gruppen aber und zeigt, dass es sich tatsächlich um Teile einer rechtsextremistischen Struktur handelt – und eben nicht um Bürgerinnen und Bürger, die sich ernsthaft um die Sorgen und Nöte vor Ort kümmern wollen.

Es gibt auch viele – Frau Schäffer hat das angesprochen –, die diese Masche durchschauen und dann selbst auf die Straße gehen, ihr demokratisches Recht auf Demonstration nutzen und sich dagegenstellen.

Es muss heute auch der Appell an uns alle sein, dass wir hier gemeinsam ein klares Zeichen setzen, dieses Agieren enttarnen, die Menschen aus der Mischszene herausholen, die dort versehentlich hineingeraten sind, und deutlich machen, mit wem sie da eigentlich mitlaufen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Einzige, der das Gewaltmonopol in unserer Gesellschaft hat, ist der demokratische Rechtsstaat selbst – und niemand anders.

(Beifall von der SPD)

Eine Paralleljustiz oder eine Parallelpolizei lehnen wir ab. Das kann nur gelingen, wenn wir mit rechtsstaatlichen Mitteln diese Akteure in ihre Schranken weisen und heute gemeinsam als Demokraten hier ein klares Zeichen setzen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP-Fraktion hat nun der Abgeordnete Lürbke das Wort.

Marc Lürbke (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Keine Frage: Rechtsextremen müssen wir Einhalt gebieten, und zwar konsequent und geschlossen. Denn die selbst ernannten Bürgerwehren schaffen keine Sicherheit oder Ordnung – das wollen sie auch gar nicht –, sondern sie schaffen gezielt Verunsicherung in der Bevölkerung und Fremdenhass.

Die überwiegende Zahl der Bürgerwehren aus den vergangenen Jahren konnte zweifelsfrei dem rechten Spektrum zugeordnet werden. Der aktuelle Verfassungsschutzbericht spricht da eine relativ deutliche Sprache. Deshalb muss klar sein: Das Geschäftsmodell dieser in schwarz gekleideten Gestalten ist nicht Sicherheit, sondern das genaue Gegenteil. Das muss man immer wieder deutlich sagen.

In Nordrhein-Westfalen dulden wir keine Selbstjustiz. Das Gewaltmonopol liegt einzig und allein beim Staat. Wir dulden keine Fremdenfeindlichkeit und keinen Rechtsextremismus, ganz egal, ob er sich nun hinter Bürgerwehren versteckt oder bei Hooligans, Rockern oder Reichsbürgern zu finden ist.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gefährliche an diesen Bürgerwehren ist weniger, dass irgendwelche halbseidenen Gestalten, die man als normal denkender Mensch niemals für seine eigene Sicherheit einstellen würde, durch die Straßen marschieren, sondern liegt vor allem darin, dass mit diesen Bürgerwehren und Gruppierungen gezielt – und sogar ganz bewusst und kalkuliert – eine brandgefährliche Mischszene entsteht.

Langjährig aktive, auf Gewalt orientierte Rechtsextremisten vermischen sich mit unzufriedenen und neuen Gesichtern in der rechtsextremen Szene. Dann entsteht diese hochexplosive Mischung aus Rechten und Rockern bis hin zu Wutbürgern und Hooligans. Wir alle haben die Hogesa-Ausschreitungen in Köln ja noch in guter – oder, besser gesagt, in schlimmer – Erinnerung.

Damit das klar ist – das möchte ich ganz deutlich sagen –: Dieser Entwicklung schauen wir natürlich nicht einfach zu. Das braucht auch keiner zu glauben. Allen Formen des Extremismus und Radikalismus treten wir in Nordrhein-Westfalen entgegen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Für mich macht es überhaupt keinen Unterschied, ob jemand als Rechts-, Links- oder sonstiger Extremist Gewalt anwendet, sie verherrlicht, zu Gewalt aufruft oder sich mit Extremisten zeigt oder verbündet. Das alles ist nicht zu akzeptieren, und zwar unter gar keinen Umständen.

(Beifall von der FDP)

Deshalb treibt es mich um, dass sich diese Extremisten immer mehr unter die Leute mischen. Da müssen wir sehr wachsam sein. Es ist übrigens ein Phänomen, das wir nicht nur im Rechtsextremismus, sondern auch im Linksextremismus finden, dass versucht wird, die Grenzen zu vermischen, ganz bewusst und gezielt die Ränder auszufransen und auch die bürgerliche Mitte anzusprechen. Man geht da oftmals völlig neue Wege.

Ich habe immer gesagt, dass wir der rechten Szene konsequent auf den Springerstiefeln stehen müssen. Das Problem ist nur: Die rechte Szene trägt heutzutage ja fast gar keine Springerstiefel mehr. Die Vermischung reicht von Turnschuhen bis vielleicht zum im Anzug steckenden Bänker, der mit der Identitären Bewegung sympathisiert.

Rechte Gruppierungen haben längst offensive, ganz perfide Strategien, um bislang nicht zur rechten Szene gehörende Bürger anzulocken. Sie tun das durch die Ausrichtung von Festivals, Kampfsportevents, Rockkonzerten und anderen Konzerten aller Art. Sie versuchen das natürlich auch durch die Unterwanderung der sogenannten Bürgerwehren, als besorgte Bürger.

Meine Damen und Herren, man muss außerdem sagen, dass diese Mischszene immer weiter geht – übrigens bis ins Parlament. Auch bekannte Mitglieder der AfD – das haben wir in der vorletzten Sitzung des Innenausschusses gehört – nehmen gerne mal an Demonstrationen dieser sogenannten Mischszene teil.

Im Bericht des Innenministeriums für die Innenausschusssitzung am 26. September 2019 heißt es beispielsweise zum Tagesordnungspunkt „Mischszenen von Rockern, Hooligans und Rechtsextremen“ – Zitat –:

„Bei einer Veranstaltung von AfD-Bundestagsabgeordneten am 06.02.2019 in Mönchengladbach hat ,Mönchengladbach steht auf‘„

– das ist eine dieser Bürgerwehren, und zwar nicht nur irgendeine, sondern die des Hogesa-Gründers –

„in der Nähe eine Versammlung abgehalten, um die Partei vor vermeintlichen Angriffen von Gegendemonstranten zu schützen. Ob es dazu Absprachen mit der AfD gab, ist der Landesregierung nicht bekannt.“

(Helmut Seifen [AfD]: Man hätte nur fragen müssen!)

Das ist ein Beispiel von vielen. Das alles kann natürlich immer ein riesiger Zufall sein. Wenn es aber kein riesiger Zufall ist, dann muss man Ihnen, liebe AfD, wohl eines mal wieder mit auf den Weg geben: Sie sind Teil dieser Entgrenzungsstrategie von Rechtsextremisten. Sie wirken da mit.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Manche von Ihnen – wie Herr Höcke mit seinem unsäglichen „Flügel“ – machen das ganz bewusst und zielgerichtet durch Aussagen, durch Sprache. Im Grunde genommen macht es die ganze AfD, weil sie offenbar keinerlei Interesse daran hat, die klare Grenze zu Rechtsextremisten zu ziehen. Das gehört zur Wahrheit und zur Problembeschreibung heute auch dazu.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und Verena Schäffer [GRÜNE])

Eines muss schließlich klar sein: Wer sich mit selbst ernannten Bürgerwehren einlässt, der hat es am Ende nicht mit besorgten Bürgern zu tun, die vielleicht aus Langeweile irgendwo im Wohnbezirk Falschparker kontrollieren wollen, sondern mit Leuten, die das Gewaltmonopol des Rechtsstaates ganz grundsätzlich missachten und ihre eigenen Gesetze und Ideologien durchsetzen wollen. – Dem werden wir uns klipp und klar entgegenstellen.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und Verena Schäffer [GRÜNE])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann deutlich sagen: Wenn in Essen, Mönchengladbach, Düsseldorf oder Köln Gruppen von Rockern, Hooligans oder Türstehern patrouillieren, die damit angeblich die öffentliche Sicherheit verbessern wollen, dann sorgt das nicht für mehr Sicherheit. Im Gegenteil: Es schafft Angst.

Deshalb müssen wir noch besser darin werden, solche Trüppchen medienwirksam aufzudecken und allen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land verständlich zu machen: In Nordrhein-Westfalen und in ganz Deutschland ist für die öffentliche Sicherheit die Polizei zuständig, und die macht ihren Job gut.

Jedenfalls braucht es ganz sicher keine „Kölsche Mitte“, keine „Steeler Jungs“ und auch keine „Bruderschaft Deutschland“; denn die haben ganz anderes im Sinn. Damit werden wir sie nicht durchkommen lassen. – Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die AfD-Fraktion erteile ich dem Abgeordneten Herrn Wagner das Wort.

Markus Wagner (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen wollen heute über Bürgerwehren und über Extremisten sprechen. Man könnte meinen, es ginge um die Tausende von Chaoten von „Ende Gelände“, „Extinction Rebellion“ oder anderen vermeintlich grünen Bürgerwehren unter Einfluss von Extremisten.

Aber nein, es geht Ihnen um – laut Innenminister Herbert Reul – wenige überschaubare Gruppen von etwa 200 bis 300 Menschen, bei denen etwa ein Drittel Bezüge zum Rechtsextremismus aufweist.

Liebe Grünen-Fraktion, ich bin ganz bei Ihnen: Extremismus geht gar nicht. – Wenn also Leute mit rechtsextremen Bezügen demonstrieren oder gar auf Streife gehen wollen, dann muss man selbstverständlich genau hinsehen und dort, wo Straftaten passieren, auch klare Kante zeigen. Das ist für uns als Partei der inneren Sicherheit und des Gewaltmonopols des Staates keine Frage. So weit sind wir uns zumindest in diesem Fall einig.

(Beifall von der AfD)

Nun zeigt sich der Minister besorgt, dass es sich um eine vom Verfassungsschutz sogenannte Misch-szene handelt, also um eine Gruppierung, in der Extremisten und Nichtextremisten zusammenarbeiten und gemeinsam Aktionsformen realisieren. In der Tat ist es bedenklich, wenn sich solche Mischszenen bilden, bei denen der Zweck die Mittel heiligt und sowohl das Vertrauen in den Rechtsstaat als auch der antitotalitäre Grundkonsens erodieren.

Allerdings: Mischszene – da war doch was. Das kennen wir nämlich seit Jahren von links. In unschöner Regelmäßigkeit marschieren SPD und Grüne mit Linken, DKP, MLPD, Antifa und anderen linksextremen Demokratiefeinden.

(Der Abgeordnete hält ein DIN-A4-Blatt mit einem Foto hoch.)

Zuletzt vor wenigen Monaten hier vor dem Landtag: Da steht die Mischszene von Stalinisten der MLPD, der DKP und anderen zusammen mit Frau Düker von den Grünen. Ich frage mich: Wann wird die Mischszene der Grünen eigentlich endlich ein Fall für den Verfassungsschutz?

(Beifall von der AfD)

Wann distanzieren Sie sich endlich von Ihren linksradikalen Freunden, mit denen Sie demonstrieren und zu gemeinsamen Aktionen aufrufen?

(Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

Kommen wir aber zurück zu den Bürgerwehren.

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Ja!)

Diese waren eigentlich mal etwas ganz Ehrenwertes. Im 19. Jahrhundert verteidigten sie vielerorts ihre Heimatstädte. Noch heute gibt es auch in Nordrhein-Westfalen viele Vereine, die das Brauchtum der alten Bürgerwehren pflegen.

Klar ist aber auch, dass sich Bürgerwehren mit der zunehmenden Verlagerung des Gewaltmonopols auf den demokratischen Rechtsstaat und damit die Polizei eigentlich überlebt haben – zumindest sollten sie das, so der Rechtsstaat denn tatsächlich durchgesetzt wird. Sie alle hier im Haus von Schwarz, Rot, Grün und Gelb haben aber bei vielen Bürgern das Vertrauen in den funktionierenden Rechtsstaat massiv erschüttert.

Ich rede gar nicht von den Terroranschlägen – den verübten und den gerade noch vereitelten. Ich rede gar nicht von den spektakulären Fällen, bei denen neuerdings Macheten und Äxte zum Einsatz kommen. Ich rede von der ganz normalen Alltagserfahrung, wo sich die Menschen auf den Straßen und Plätzen oder in U- und S-Bahn unwohl und unsicher fühlen, wo sie lieber die Straßenseite wechseln, wo sie lieber nicht ins Freibad gehen, wo sie lieber schweigen, wenn sich daneben benommen wird, weil man sofort assoziiert: Die könnten zutreten; die könnten ihre Cousins holen.

Damit wir uns richtig verstehen: Kriminalität hat es immer gegeben und wird es wohl auch immer geben. Der Mensch ist eben von Natur aus nicht nur gut, sondern auch zu Bösem fähig. Und natürlich sind das auch Deutsche, Franzosen oder Amerikaner. Aber dieser massive Verlust an Heimatgefühl, an dem Gefühl, sich im anderen wiederzuerkennen, die berechtigte Sorge, dass die Qualität der Gewalt und deren Hemmschwelle eine andere ist, ist eben klar mit der Grenzöffnung seit 2015 verknüpft.

Ich will auch klar sagen: Natürlich ist nicht jeder Ausländer und Zuwanderer ein Krimineller. Die Mehrheit ist es nicht. Aber es gehört zur Wahrheit, dass Migranten überproportional kriminell sind. Dass CDU, SPD, FDP und Grüne so gut wie nichts dagegen unternehmen, bringt viele Menschen auf die Palme und damit auch in eine unheilige Allianz mit Leuten, mit denen sie nicht zusammengehen sollten.

Es gehört zu unseren Aufgaben als AfD, die von Ihnen im Stich gelassenen Bürger, die sich zu Recht um ihre Sicherheit, ihre Freiheit und ihren Wohlstand sorgen, weiter von Demokratie und Rechtsstaat zu überzeugen. Niemand ist Extremist, weil er sieht, dass angebliche Hartz-IV-Empfänger in fetten Karren zum Sozialamt fahren. Niemand ist rechtspopulistisch, wenn er nicht nachts die Straßenseite wechseln will, weil illegale Einwanderer ihm den Weg versperren. Niemand ist eine Rassistin, nur weil sie sicher mit der U-Bahn fahren will. Menschen, die das erleben, wollen schlicht und ergreifend nichts weiter als Normalität, eine Normalität, die Sie ihnen genommen haben, ja, eine Normalität, die von Ihnen schon als rechtspopulistisch gebrandmarkt wird.

In ihrer Ohnmacht sollten sich die Menschen aber eben nicht in von gewaltbereiten Hooligans und Rechtsextremisten angeleiteten sogenannten Bürgerwehren versammeln. Da gibt es bessere, demokratische Wege; denn es gibt schon eine Bürgerwehr, eine Bürgerwehr der Demokraten, eine Bürgerwehr hier im Parlament.

(Beifall von der AfD)

Mit der AfD kann sich der Bürger wehren. Wir sind die Bürgerwehr für Demokratie und Rechtsstaat.

(Widerspruch)

Wir sind die Bürgerwehr, die mit parlamentarischen Mitteln die Sicherheit im öffentlichen Raum wieder herstellen wird. Wir werden die Grenzen schützen, so wie wir alle unsere Wohnungstür schützen. Anders als die Landesregierung haben wir den klaren Willen, auch den abzuschieben, der sich nicht an unsere Regeln halten will. – Danke.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Danke schön. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Reul.

Herbert Reul, Minister des Innern: Meine Damen und Herren! Eigentlich wollte ich anders mit meiner Rede anfangen, aber ich muss jetzt doch ein paar Sätze sagen.

Wir alle haben gerade eine interessante Rede gehört. Herr Wagner hat historische Ableitungen vorgenommen von „Was Bürgerwehren einmal waren“ – nach dem Motto: Bürgerwehr ist was Gutes.

Dann kam ein zweiter Teil der Rede, in dem er erklärte, dass die Menschen Vertrauen verloren hätten, weil CDU, FDP, SPD und Grüne, also die sogenannten Altparteien, das Vertrauen verspielt hätten, die Sorgen der Menschen nicht ernst nähmen, sie im Stich ließen und nicht vor den Verbrechern schützten.

(Helmut Seifen [AfD]: Das können Sie doch nicht abstreiten!)

Das ist genau die Mischung, aus der falsche Urteile und dann auch Mischszenen entstehen, meine Damen und Herren. Herr Wagner, das sind ganz böse Worte, die Sie hier gewählt haben.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

So kann man mit dem Problem nicht umgehen. Genau das ist das, was das Problem ausmacht. Natürlich waren Bürgerwehren in der Vergangenheit mal irgendwas Positives. Aber wenn die Typen, die jetzt unterwegs sind, diesen Namen nehmen, dann passiert damit etwas ganz anderes, nämlich eine Vermischung. Dann erweckt das den Eindruck, die Bürger, die Sorgen hätten, können sich dahinter verstecken, und man könnte sagen: Es ist ja nicht ganz so schlimm. – Genau das ist das Problem. Deshalb ist es gut, dass wir heute darüber sprechen. Danke für die Aktuelle Stunde!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es diese Mischszenen gibt. Wir haben zum Verfassungsschutzbericht sowohl im Innenausschuss als auch, als wir ihn der Presse vorgestellt haben, gesagt: Hier gibt es nicht nur eine rechte und eine rechtsextreme Szene, sondern hier gibt es auch – was noch gravierender ist – eine Mischszene. Hier findet etwas statt, was Kollegen ja eben auch schon richtig als Entgrenzung beschrieben haben. Das ist eine Strategie, die verfassungsfeindliche und rechtsradikale Positionen für einen affinen Teil der bürgerlichen, aber eben nicht rechtsextremistischen Bevölkerung anschlussfähig machen soll.

Die Rechten versuchen sich damit von der Stigmatisierung zu lösen. Es wird versucht, diffuse Mischszenen aus Rockern, Hooligans, Türstehern und bei einzelnen Veranstaltungen auch aus ganz unbeteiligten Menschen zu schaffen, die damit gar nichts zu tun haben, die aber Sorge wegen ihrer Sicherheitslage haben und deshalb meinen, sie könnten solchen Leuten, die sich da Bürgerwehr nennen, vertrauen oder sich dahinter verstecken oder die sogar unterstützen.

Ich will mal ein ganz präzises Beispiel nennen: die Identitäre Bewegung. Die bemüht sich wirklich hochspannend, platte Parolen zu vermeiden und stattdessen pseudointellektuell aufzutreten. Aus „Ausländer raus“ wird der angestrebte Prozess der „Remigration“. Hier lässt sich in der Regel auch kein martialisches Auftreten beobachten. Hier finden sich keine Bomberjacken, sondern Pullis und T-Shirts, wohl aber oft ein entsprechendes Logo. Also, es gibt schon auch da äußerliche Merkmale. Das ist natürlich dieser Wolf im Schafspelz. Die radikale Ideologie bleibt ja genau dieselbe.

Die angesprochenen Bürgerwehren versuchen, den Staat als überfordert, die Sicherheit als gefährdet darzustellen, nur um dann im nächsten Schritt als selbst ernannte Bewahrer der Ordnung aufzutreten, um selbst Abhilfe zu schaffen, sich zu legitimieren – als seien sie diejenigen, die für Ordnung sorgen.

Herr Wagner, die letzte Hälfte Ihrer Rede hätten Sie besser nicht gehalten. Es tut mir richtig leid, aber Sie haben es gesagt. Genau diese Argumentation haben Sie eben auch geliefert. Das ist ein Fehler. Dann gehen diese Bürgerwehren raus und handeln. Sie reden nicht nur, sondern handeln. Dann machen sie Patrouillen – teils in uniformähnlicher Kleidung, oft deutlich aggressiv. Das nennt man dann „Spaziergänge“, damit es fröhlich klingt. „Spaziergänge“ – na ja, das will ich nicht vertiefen.

Diese Gruppen waren es auch, die in Berlin skandiert haben: „Wenn wir wollen, schlagen wir euch tot!“ – Das waren aber auch diese Leute, die „Spaziergänger“. Nicht alle, aber eben einige.

Sie wissen, dass ich wirklich behutsam formuliere, wenn es aber nötig ist, auch klar rede. Ich will ganz klar feststellen: Die Wölfe haben ihren Schafspelz längst abgelegt, und zwar öffentlich. Hier wird eine Gewaltbereitschaft gezeigt, die uns erschrecken lässt. Hier wird die Macht auf der Straße proklamiert, die wir weder in der Sache akzeptieren noch in dieser Art und Weise tolerieren können.

Ich habe eine glasklare Botschaft an diese Radikalen, an diese Kriminellen, an diese neuen Kriminellen: Das Sagen auf der Straße hat immer die Staatsgewalt, und zwar im gewählten Auftrag durch den Souverän und im Dienst des Souveräns, nämlich der Bürger, meine Damen und Herren, und sonst keiner!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich habe auch eine Botschaft an die „normalen“ Bürger, die sich Sorgen machen, die vielleicht unpolitisch sind, die aber auf Kundgebungen mitlaufen, die von diesen Rechtsextremisten dirigiert werden. Lassen Sie sich vom Gehabe, lassen Sie sich auch von deren Sorgen nicht vereinnahmen! Grenzen Sie sich ab, machen Sie da nicht mit!

Wir versuchen, den nachdenklichen Bürgern, den unbescholtenen Bürgern und auch der Öffentlichkeit Anhaltspunkte zu liefern, indem wir die Hintergründe dieser Bürgerwehren aufdecken, zum Beispiel im Verfassungsschutzbericht, zum Beispiel in solchen Debatten. Ja, wir haben das Phänomen längst im Blick, und zwar seit Jahren.

Hinter dieser Gruppe, die sich aus Rechtsextremisten, Hooligans, Rockern und sogenannten Wutbürgern zusammensetzt, steht das verbindende Element der Fremden- und Islamfeindlichkeit. Sie legen Wert auf öffentliche Präsenz, machen „Spaziergänge“ – das klingt bürgerwehrähnlich und fröhlich, ist aber ein uniformes Auftreten, was auch einschüchtern soll. Insofern ist die Frage, wann der Punkt erreicht ist, bei dem wir auch bei dem Thema der Uniformen handeln können, eine wichtige Frage, aber leider juristisch nicht ganz einfach.

Im Weiterziehen – das ist heute in der „FAZ“ zu lesen – applaudiert die ganze dunkle Formation rhythmisch-drohend. Das ist doch ein klarer Hinweis darauf. Quer über den Platz in Essen-Steele erfolgen martialische Aufrufe.

Diese zur Schau getragene Gewaltbereitschaft gibt Anlass zur Sorge. Es wurde eben schon gesagt: Die Gruppen aus 250 Mitgliedern bzw. Sympathisanten werden dadurch groß, dass sie jetzt zusammenkommen und zu den Terminen der anderen gehen. Dann werden aus 250 Teilnehmern 700. Damit werden diese kleinen lokalen Gruppen problematisch – erst recht, weil sie sich entgrenzen. Das ist das Allerbedeutendste und Wichtigste.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Wir beobachten die schon längst mit dem Verfassungsschutz.

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Aber auch nachrichtendienstlich?)

Wir beobachten die mit den Mitteln des Verfassungsschutzes da, wo wir das rechtlich zulässig können, auch wenn es Mischszenen sind, und zwar diejenigen, die rechtsextremistisch sind. – Frau Schäffer, Sie werden es verstehen, ich werde hier nicht erzählen, wie wir das machen. Das kommt nicht infrage.

(Beifall von der CDU und der FDP – Verena Schäffer [GRÜNE]: Offen oder nachrichtendienstlich, das können Sie schon sagen!)

Aber Sie können davon ausgehen, dass wir das im Blick haben. Es macht nur wahrscheinlich keinen Sinn, jeden Tag darüber zu reden. Sonst wüssten wir ja vieles nicht, was wir heute wissen. Über die Mittel wird natürlich nicht geredet. Ich bin aber bereit, im Ausschuss darüber zu sprechen, wie wir Wege finden, um da weiterzukommen.

Wir sind übrigens auch mit den betroffenen Städten im Dialog. Das ist auch nichts Neues. Wir wollen versuchen, dass alle rechtlichen Mittel, die verfügbar sind, auch genutzt werden. Aber die Anmelder und die führenden Köpfe dieser Mischszenen sind top beraten, auch anwaltlich gut beraten. Sie wissen ganz genau, was sie machen müssen und nicht machen dürfen, um Versammlungsverbote zu vermeiden. Clever sind die schon. Daher ist es nicht so ganz einfach, zu verbieten. Wir müssen das im Auge behalten, wir müssen alle Mittel ausnutzen. Wir müssen vor allem darüber nachdenken, wo und wie wir noch zusätzliche Perspektiven haben.

Meine Redezeit ist zu Ende. Aber einen Hinweis möchte ich noch geben: Natürlich müssen wir auch alles tun, um Aussteiger aus dieser Szene zu gewinnen. Wir haben mit dem Programm „Spurwechsel“ bereits 186 Menschen aus den Fängen des Rechtsextremismus befreit. Wir sind nicht aus Versehen auf einschlägigen Messen. Wir haben bei der Trainerfortbildung des VIR bereits 100 Menschen geschult, um mit rechtsaffinen Jugendlichen umgehen zu können.

Bei der Weiterentwicklung des „Wegweisers“ bitte ich darum, ein wenig nachzudenken. Wir wollen das Programm „Wegweiser“ flächendeckend ausweiten. Hinsichtlich der Frage, ob wir in einer Institution alle Extremismusformen anpacken oder ob wir es differenziert machen, möchte ich schon auf den Rat der Fachleute hören, die sagen: Macht es differenziert, das ist vernünftiger.

Etwas ist wichtig: Rechtsextremismus, rechter Terror haben in NRW keinen Platz, übrigens genauso wenig wie linker Extremismus oder Islamismus. Diese Landesregierung hat eine Leitlinie, und die heißt: Null Toleranz, und zwar gegen alle: Null Toleranz für die Steeler Jungs, für die Bruderschaft Deutschland oder wie sich die Burschen sonst auch nennen mögen.

Last but not least: Gegen Abend haben wir bei der Herner Veranstaltung gegen einen von denen ein Strafverfahren eingeleitet. – Insofern: Die nordrhein-westfälische Polizei handelt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Für die CDU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Dr. Katzidis das Wort.

Dr. Christos Georg Katzidis (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bürgerwehrähnliche rechtsextremistische Gruppierungen haben nach unserer Auffassung als CDU-Landtagsfraktion hier in unserer Gesellschaft keinen Platz und auch nichts zu suchen.

(Beifall von der CDU und Dietmar Brockes [FDP])

Was ich hier gerade auch von der AfD-Fraktion wieder gehört habe, hat mich, wie ich feststellen muss, doch sehr erschüttert. Herr Wagner hat hier davon gesprochen, dass der Staat massiv Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern verspielt habe und dass das Vertrauen der Bürger in den Staat massiv erschüttert sei.

Vor meiner Wahl in den Landtag war ich 26 Jahre im Polizeivollzugsdienst, und ich muss sagen: Ich habe in der Zeit noch kein größeres Vertrauen aus den Sicherheitsbehörden gegenüber einer Regierung erlebt, wie das jetzt im Moment der Fall ist, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Das Gleiche gilt im Übrigen auch hinsichtlich der Bürgerinnen und Bürgern draußen auf der Straße.

Herr Wagner, Ihren pauschalen Behauptungen, die Sie immer in den Raum stellen, möchte ich ein paar konkrete Dinge entgegenhalten:

Wir haben den Etat des Innenministeriums jetzt zum dritten Mal in Folge gesteigert, und zwar auf 6,3 Milliarden Euro. Wir haben die personelle Situation massiv verbessert. Das wirkt sich noch nicht aus, weil das Studium drei Jahre dauert und somit erst ab dem nächsten Jahr mehr Personal draußen auf der Straße sein wird. Des Weiteren haben wir die Ausstattung verbessert und die rechtlichen Befugnisse der Polizei ausgeweitet. Und wir beschäftigen uns auch mit dem Verfassungsschutz. Es ist also ganz viel gemacht worden.

Diese Landesregierung und dieser Innenminister genießen draußen auf der Straße ein Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern und bei den Sicherheitsbehörden, wie es nie zuvor der Fall gewesen ist.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Auch wenn Sie hier immer und immer wieder dieselbe Leier von der Ausländerkriminalität spielen – und das ist nur ein Baustein der Propaganda, die Sie hier betreiben –, wird es nicht besser, und es wird auch objektiv nicht mehr.

Ein anderer Propagandabaustein, über den hier noch gar nicht gesprochen worden ist, ist die virtuelle Propaganda, die Sie betreiben, die nämlich solchen Bürgerwehren vorausgeht, indem Sie Einzelfälle von Straftaten aus der Medienlandschaft herauspicken und bundesweit virtuell verbreiten, immer mit dem Zusatz, es gäbe Ausländerkriminalität, Ausländerkriminalität, Ausländerkriminalität und nichts anderes. Sie zeichnen ein Bild, das nicht der Realität entspricht, und das ist unsäglich.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Genau das spaltet eine Gesellschaft in besonderem Maße. Ich würde mir wünschen, dass Parlamentarier nicht unsere Gesellschaft spalten, und schon gar nicht bei einem so wichtigen Thema. Ich glaube, wir alle oder zumindest die meisten von uns haben doch eine Meinung, was den Extremismus angeht. Das hoffe ich jedenfalls. Verbal gemäßigt heißt noch lange nicht tatsächlich gemäßigt.

Ich würde mir wünschen, dass wir bei diesem Thema, aber auch bei allen anderen Themen im Extremismusbereich wirklich an einem Strang ziehen.

Frau Schäffer hat einige Dinge angesprochen, die ich uneingeschränkt unterstützen kann: Infoaustausch, Analyse, Vernetzung, Polizeipräsenz in den Stadtteilen. Ich hätte mir in dem Zusammenhang nur gewünscht, dass 2012 davon etwas in Ihrem Koalitionsvertrag gestanden und Sie in der Hinsicht damals schon mehr gemacht hätten. Dann wäre das Problem jetzt vielleicht nicht so groß.

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Die Bürgerwehr gibt es noch gar nicht so lange! In Ihrem Koalitionsvertrag steht gar nichts von dem Thema! Das ist doch eine Frechheit!)

– In unserem Koalitionsvertrag steht auf Seite 61 etwas von Vereinsverboten, von konsequenter Strafverfolgung, von gezielter Bekämpfung von Reichsbürgern, von Programmen in Schulen und anderen Dingen. Wir zeigen also auch da ganz deutlich, dass wir nicht nur etwas tun wollen, sondern auch etwas tun, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen.

(Nadja Lüders [SPD]: Weil man es aufschreibt?)

Und das sollten wir wirklich alle gemeinsam tun.

Frau Schäffer, erfreulicherweise und richtigerweise gibt es – und deswegen ist es gut, dass Sie eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt haben; Herr Minister Reul hat das auch gesagt – einen Konsens im Hinblick darauf, dass dieses Problem des Rechtsextremismus, aber auch der rechtsextremistische Bürgerwehren eine große Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt. Da bin ich ganz bei Herrn Wolf, der das in seiner Rede angesprochen hat. Auch darüber herrscht sicherlich ein uneingeschränkter Konsens.

Wir sollten zukünftig gemeinsam enger an einem Strang ziehen, um diese Spaltung der Gesellschaft, die von Einzelnen und Gruppierungen immer wieder forciert wird, zu unterbinden und gemeinsam zu bekämpfen.

Aber – und das haben die Kollegen Golland und Lürbke auch gesagt –: Echte Demokraten, meine sehr geehrten Damen und Herren, grenzen sich von allen Extremisten ab bzw. sollten sich von allen Extremisten abgrenzen, und zwar auf beiden Seiten und auch in anderen Bereichen. Ich finde, das sollten wir auch tun.

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir uns als demokratische Parlamentarier wirklich in allen Extremismusbereichen klar und unmissverständlich abgrenzen, an einem Strang ziehen und dafür sorgen, dass es in der Bundesrepublik Deutschland keine Selbstjustiz gibt. Diese ist objektiv gesehen auch überhaupt nicht notwendig, weil wir einen handlungsfähigen und funktionierenden Staat haben und dieses Phänomen und andere Extremismusphänomene gemeinsam bekämpfen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die AfD-Fraktion hat sich noch einmal der Abgeordnete Herr Wagner zu Wort gemeldet.

Markus Wagner (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Lürbke, Sie stellen sich hierhin und versuchen, Absprachen zwischen einer sogenannten Bürgerwehr in Mönchengladbach und dem dortigen Kreisverband im Rahmen eines Bürgerdialogs vor Bundestagsabgeordneten zu konstruieren.

Im Rahmen Ihrer anscheinend nicht erfolgten Recherchen zu diesem Thema hätten Sie relativ schnell erkennen können, dass sich der Kreisverband Mönchengladbach bereits im Vorfeld dieser Veranstaltung am 01.02.2019 von eben dieser Bürgerwehr und dem, was sie vorhat, distanziert hat, indem der Kreisverband klar gesagt hat – das können Sie auf Facebook nachlesen; ich kann es Ihnen gleich geben; ich habe es nämlich auf dem Handy –, dass er einen solchen Schutz nicht braucht. Den Schutz unserer Partei und unserer Veranstaltungen vor gewaltbereiten Antifa-Chaoten erledigt die Polizei und nicht irgendwelche Bürgerwehren, meine Damen und Herren.

(Beifall von der AfD – Zuruf von Ralph Bombis [FDP])

Herr Reul, wenn Sie sagen, die Benennung der Realität begünstige die Entstehung solcher Mischszenen aus Rechtsextremisten und Nichtextremisten, kann ich Ihnen nur entgegenhalten: Wer die Realität verleugnet und nicht benennen will, der begünstigt die Entstehung solcher Mischszenen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der AfD – Herbert Reul, Minister des Innern: Das machen wir doch gar nicht!)

Herr Katzidis, bei allem Respekt: Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist bereits dort erschüttert, wenn beispielsweise in einer 50.000-Einwohner-Stadt wie Bad Oeynhausen, meiner Heimatstadt, die Polizeiwache aufgrund Personalmangels nachts geschlossen hat oder wenn in einem Flächenkreis wie dem Altkreis Lübbecke nachts zwei Polizeifahrzeuge unterwegs sind, die für die Sicherheit der Bürger sorgen sollen. Sie können mir doch nicht erzählen, dass dies das Vertrauen in den Rechtsstaat und in die Sicherheit stärkt, meine Damen und Herren. Das tut es ganz sicher nicht.

Aber auch wenn es um den Kampf gegen vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten geht, nehmen Sie es hier im Haus nicht allzu genau. Im Gegensatz zu uns gibt es für Sie nämlich gute und schlechte Rechtsextremisten. Man könnte fast meinen, Ihre Motive seien rassistisch, denn wenn es um türkische Rechtsextremisten geht, dann geben Sie sich nämlich gerne die Klinke in die Hand.

Die „WeLT“ von vorgestern titelt – ich zitiere –: „CDU, SPD und Grüne zu Besuch bei türkischen Rechtsextremisten“.

(Helmut Seifen [AfD]: Hört, hört!)

Von einer tollen Begegnung faselt zum Beispiel der SPD-Fraktionsvize Wolf in der rechtsextremen Moschee in Remscheid, die von den Grauen Wölfen betrieben wird.

Die „WeLT“ schreibt weiter – ich zitiere erneut –:

„Als Graue Wölfe bezeichnen sich die Anhänger der „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine“ … Sie werden vom Verfassungsschutz beobachtet und als rassistisch, extrem nationalistisch und antisemitisch eingestuft. Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz attestiert den Grauen Wölfen eine Ideologie, die vom Glauben an ‚die Überlegenheit der türkischen Rasse‘ und von ‚Führerkult‘ geprägt sei. Manche Anhänger schreckten auch nicht vor körperlicher Gewalt gegen Andersdenkende und Angehörige von Minderheiten zurück.

Dennoch besuchten Remscheids Oberbürgermeister Burkhard Mast-Weisz (SPD) und Sven Wolf, der SPD-Fraktionsvize im Düsseldorfer Landtag, am vergangenen Donnerstag die Remscheider Ülkü-Ocagi-Moschee … Auch das CDU-Stadtratsmitglied Ottmar Gebhardt erschien dort. Mehrere Gäste wollen vor Ort zudem einen Beigeordneten der Grünen gesehen haben.“

Was haben wir denn da? Ist das eine freundschaftliche Mischszene aus alten Parteien – also aus denen, die vorgeben, die einzigen Demokraten hier im Hause zu sein – und türkischen Rechtsextremisten und Islamisten?

Aber ob das den Verfassungsschutz interessiert – oder besser gesagt: interessieren darf –, wo doch der Innenminister der CDU angehört? Herr Reul, wann lesen wir denn von diesen Mischszenen? Im nächsten Verfassungsschutzbericht? Das würde mich interessieren. Vielleicht kommt da ja mal was.

(Helmut Seifen [AfD]: Ja, genau!)

Herr Wolf samt SPD-Fraktion: Warum sind türkische Nazis eigentlich Ihre Freunde? Können Sie uns das mal erklären?

(Berivan Aymaz [GRÜNE]: Das ist keine Frage, die Sie hier stellen dürfen! Diese Frage stellen andere!)

– Als AfD, Frau Aymaz, sind wir nicht nur gegen deutsche Neonazis, sondern auch gegen die türkischen Rassisten hier im Land.

(Berivan Aymaz [GRÜNE]: Lenken Sie doch nicht ab!)

Genau das unterscheidet uns von Ihnen, Frau Aymaz, denn Sie haben da keine Berührungsängste. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Danke, Herr Abgeordneter Wagner. – Weitere Wortmeldungen liegen in der Aussprache zur Aktuellen Stunde nicht vor. Damit schließe ich die Aktuelle Stunde.

Ich rufe auf:

2   Gesetz zur Stärkung der kulturellen Funktion der öffentlichen Bibliotheken und ihrer Öffnung am Sonntag (Bibliotheksstärkungsgesetz)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5637

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses für   
Kultur und Medien
Drucksache 17/7513

zweite Lesung

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Abgeordneter hat für die CDU-Fraktion Herr Kollege Petelkau das Wort.

(Der Abgeordnete befindet sich nicht im Saal.)

– Herr Petelkau ist nicht da. Sind Sie damit einverstanden, dass wir dann mit Herrn Kollegen Bialas von der SPD-Fraktion fortfahren? – Ihn habe ich zumindest gesehen.

(Bodo Löttgen [CDU]: Aber selbstverständlich!)

Damit hat Herr Kollege Bialas das Wort. – Manchmal ist eine Debatte viel eher beendet, als die ursprüngliche Termin‑ und Zeitplanung es vorsah.

Andreas Bialas (SPD): Wenn die CDU schon freundlich nickt, dass ich vor dem Antragsteller reden darf, mache ich das selbstverständlich gerne.

Die Ruhe am Sonntag ist für Arbeiterinnen und Arbeiter ein sehr hohes Gut. Das Grundgesetz schützt den Sonntag. Ausnahmen diesbezüglich regelt der Bund in einem Sonn‑ und Feiertagsgesetz. Darin sind Aktivitäten und unterstützende Aktivitäten für Sport und Freizeit, Theater, Museen, Kinos, Gaststätten etc. vorgesehen. Ausnahmen regelt auch das Land.

Bisher waren hier die Bibliotheken nicht eingeschlossen – wobei das nicht ganz richtig ist: Wir können Bibliotheken öffnen und dort Kaffee anbieten und Wachpersonal hinstellen; wir können am Sonntag aber keine Bibliotheksfachkraft vor Ort arbeiten lassen. Der vorliegende Gesetzentwurf ändert dies.

Dass Bibliotheken auch am Sonntag geöffnet werden und dort auch Fachkräfte arbeiten können, ist übrigens schon seit Jahren eine Forderung des Bibliotheksverbandes.

Auch die Interessensvertretung der Bibliothekarinnen und Bibliothekare fordert dies also schon seit Langem, und zwar, weil Bibliotheken sich doch häufig von dem Bild von Bibliotheken unterscheiden, das manche noch im Kopf haben. Sie haben sich in den letzten Jahren immens geändert.

Es gibt einen Passus vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags, der im Grundsatz zu dem entsprechenden Artikel im Grundgesetz sagt:

„Er sichert mit seinem Schutz eine wesentliche Grundlage für die Rekreationsmöglichkeit des Menschen und zugleich für ein soziales Zusammenleben und ist damit auch Garant für die Wahrnehmung von Grundrechten, die der Persönlichkeitsentfaltung dienen.“

Wenn das das Ziel des Sonntags ist und die Bibliotheken gerade Einrichtungen sind, die dies ermöglicht, stehen wir in einem Widerspruch, den wir auflösen sollten, was wir nun auch tun.

Das heißt, die Bibliotheken sind Orte der Rekreationsmöglichkeiten und des Zusammenlebens. Ich habe es übrigens schon immer so verstanden, dass das auf Bibliotheken eher zutrifft als zum Beispiel auf Spielotheken oder Ähnliches, die ohne Probleme am Sonntag geöffnet haben können.

Bibliotheken sind aber auch Orte der Bildung, und zwar gerade am Sonntag auch in Zeiten, zu denen die ganze Familie daran teilhaben kann und nicht nur Einzelpersonen. Wenn also Familien zusammenkommen und das Buch und Bildung eine Rolle spielen, ist das äußerst zu begrüßen.

Wer in letzter Zeit noch nicht in einer Bibliothek war, sollte dies einmal in einer Zeit nachholen, zu der mehrere frei haben. Bibliotheken sind also im Grunde genommen Freizeitparks für den Kopf.

Gerechtfertigt wird die Öffnung am Sonntag also dann, wenn besonders hervortretende Bedürfnisse der Bevölkerung eine Rolle spielen. Das ist hier meiner Meinung nach der Fall. Insofern begrüßen wir dieses Gesetz und werden ihm gleich auch zustimmen.

Natürlich kann ich nicht verhehlen – und das ist auch richtig so –, dass die SPD diesbezüglich sehr kontrovers diskutiert, weil es hier natürlich auch um die Arbeitsrechte der Bibliothekarinnen und Bibliothekare geht.

Wir haben dazu eine Anhörung durchgeführt, die dem Gesetzesvorhaben insgesamt wohlwollend gegenüberstand. Sie hat uns aber durchaus auch Aufgaben mitgegeben. Auch wenn wir das Gesetz heute verabschieden, heißt das also nicht, dass wir nicht noch vor Herausforderungen stehen.

Das gilt gerade für die Frage der Ausgestaltung der Umsetzung, denn dieser besondere Nutzen am Sonntag muss immer eine Rolle spielen und real nachgewiesen werden.

Außerdem ist finanzielle Unterstützung auch des Landes nötig, weil die öffentlichen Bibliotheken in kommunaler Trägerschaft häufig nicht unbedingt die reichsten Einrichtungen sind. Wenn jetzt zusätzliche Öffnungszeiten angeboten werden, entstehen natürlich auch entsprechende Problematiken.

Wir sollten möglichst allen Kommunen in diesem Land diese Möglichkeit geben, damit wir in der kommunalen Landschaft nicht nur einzelne Punkte haben, wo man es sich gerade leisten kann.

Bibliotheken sind soziale Orte, Bildungsorte, Kulturorte. Halbmodern würden wir sagen: Sie sind Dritte Orte. – Das ist richtig so. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bialas. – Jetzt hat der Abgeordnete Petelkau für die CDU-Fraktion das Wort.

Bernd Petelkau*) (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen Bibliotheken als Begegnungsorte attraktiver machen. Das ist der Hintergrund unserer Gesetzesinitiative.

Mit dieser Initiative ermöglichen wir die Öffnung der öffentlichen Bibliotheken auch an Sonn‑ und Feiertagen. Bislang müssen Bibliotheken anders als andere kulturelle und freizeitliche Einrichtungen an Sonn‑
und Feiertagen geschlossen bleiben. Mit dem Bibliotheksstärkungsgesetz kann jede Bibliothek selbst entscheiden, ob die Sonntagsöffnung für sie infrage kommt oder nicht.

Man könnte vermuten, dass Bibliotheken als physische Räume überflüssig werden, so die Befürchtung einiger Bibliotheksverbände und vieler Literaturliebhaber. Aber oder vielleicht auch gerade in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung möchten sich Menschen nach wie vor begegnen. Mit unserem Gesetzentwurf tragen wir diesem Bedürfnis Rechnung.

Es bleibt wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Lebensumfeld öffentlich zugängliche Orte für den Informationsaustausch, den Informationszugang, das Lernen, die Begegnung und den Austausch finden.

Auch – das ist sicherlich in unserem Hause besonders wichtig – die staatsbürgerliche Bildung und die demokratische Willensbildung und Teilhabe sind wichtige Aspekte, die zu berücksichtigen sind.

Dieser Ansatz der kulturellen Versorgung der Bürgerinnen und Bürger muss insbesondere im ländlichen Raum gestärkt werden. Dort sind Bibliotheken soziale und generationenübergreifende Treffpunkte für die Menschen, quasi ein öffentliches Wohnzimmer.

Es muss den Menschen möglich sein, dieses Wohnzimmer gerade dann aufzusuchen, wenn sie familiär die Möglichkeit haben, dieses zu nutzen, und das sind in einer Arbeitsgesellschaft nun einmal besonders die Sonn‑ und Feiertage.

Diese Plätze der Begegnung, die neben der privaten Wohnung einerseits und der Schule und dem Arbeitsplatz andererseits auch als Dritte Orte bezeichnet werden, sind für eine Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen in ihren Städten und Gemeinden zentral.

Deshalb sind die Bibliotheken – es ist wichtig, das einmal zu betonen – viel mehr als Archive und staubige Lagerstätten, wie sie oft verschrien sind. Vielmehr laden sie Menschen ein, auf der Suche nach Information und Medien zu verweilen, sich vielfältig anregen zu lassen und einander zu begegnen.

Unsere Bibliotheken sind Treffpunkte für Jugendliche. Es werden Veranstaltungen für Familien mit Kindern und für ältere Menschen angeboten. Wo sonst trifft man sich niederschwellig und spontan, wenn nicht auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Einrichtungen, wie es die Bibliotheken, Museen und Volkshochschulen sind? Wir begrüßen und fördern diese wichtigen Erfahrungen nicht kommerzieller Geselligkeit und des sozialen Austauschs.

Neben ihrer Informationsfunktion haben öffentliche Bibliotheken aber auch einen Bildungsauftrag. Sie sind Bildungseinrichtungen der Leseförderung und Medienkompetenz. Sie wirken gesellschaftlich integrativ auch hinsichtlich der Besucherinnen und Besucher mit Migrationshintergrund. Das ist ein besonders wichtiger Aspekt.

Öffentliche Bibliotheken sind mit ihren Medienangeboten und Veranstaltungen vor allem aber auch Kulturorte. Es gibt Lesungen, Theater, Vorträge, Spielnachmittage. Kultur öffnet neue Horizonte. Kultur ist vielfach der Kitt unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir diese wichtigen Kulturorte, an denen sich Gesellschaft ihrer selbst bewusst wird, fördern.

Wir schaffen daher die Möglichkeit, neue Potenziale aufzuzeigen und die Vorteile für die Nutzerinnen und Nutzer offensichtlich zu machen, die innerhalb der Woche keine Zeit haben, diese Orte aufzusuchen.

Durch die Beschränkung auf sechs zusätzliche Stunden an einem Sonntag stellen wir sicher, dass auf die Sonntagsruhe nicht gänzlich verzichtet wird, dass weiterhin die Gelegenheit zum Besuch von Gottesdiensten und Ähnlichem besteht.

Mit unserem Bibliotheksstärkungsgesetz wollen wir einerseits Rechtssicherheit schaffen, andererseits aber auch neue Potenziale und neue Spielräume bieten.

Ich freue mich, dass wir in den bisherigen Beratungen – sowohl in der Sachverständigenanhörung als auch in der Beratung im Ausschuss – eine breite Zustimmung gefunden haben und möchte mich für die konstruktive Zusammenarbeit bei den anderen Fraktionen recht herzlich dafür bedanken, dass wir hier gemeinsam ein wichtiges neues Projekt für den Kulturstandort Nordrhein-Westfalen auf den Weg bringen.

Wir fördern mit diesen und weiteren Orten des Austauschs und der kulturellen Bildung den gesamten Kulturstandort NRW. Deshalb freue ich mich, dass Sie heute zustimmen werden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Petelkau. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Deutsch.

Lorenz Deutsch (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stärken heute die öffentlichen Bibliotheken im Land und die Rolle, die sie in unserer Gesellschaft spielen können.

Wir tun das, weil sie schon lange nicht mehr einfach Ausleihstationen für Bücher sind, was mancher vielleicht immer noch mit dem Begriff verbindet, was aber seit 15 bis 20 Jahren nicht mehr der Fall ist.

Diese Institutionen sind vielmehr Vorreiter einer Entwicklung dessen, was wir einmal unter dem Begriff „Dritte Orte“ gefasst haben, indem sie – eben ist der Begriff des öffentlichen Wohnzimmers gefallen – für die Gesellschaft Gelegenheiten bieten, niederschwellig und konsumfrei zusammenzukommen.

Deswegen beginnen wir das Gesetz mit einer Funktionsbeschreibung. Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt dessen, was wir unter Stärkung unserer Bibliotheken verstehen, wofür die Bibliotheksszene schon lange gestritten hat, nämlich genau diesen Wandelprozess anzuerkennen und gesetzlich niederzulegen.

Sie sind eben Orte der Begegnung und der Kultur. Es geht um Bildung, es geht um Leseförderung, es geht um Informationskompetenz, das, was im digitalen Zeitalter nicht nur einfach der Anfängerkurs „Wie bediene ich das Internet?“ ist, sondern etwas, was sehr viel tiefer geht.

Die großen Informationsmöglichkeiten, aber auch Fehlinformationsmöglichkeiten des Internets müssen vermittelt werden. Da braucht unsere Gesellschaft Unterstützung, und Bibliotheken sind vornehme Orte, das mit ihrem Fachpersonal zu leisten.

Weil Bibliotheken so funktionieren, weil sie das für die Gesellschaft bieten, macht es auch Sinn, sie sonntags öffnen zu lassen. Damit haben die Menschen – wenn sie Zeit haben, zum Beispiel Familien, gemeinsam in die Bibliotheken zu kommen, wenn Berufstätige, nachdem sie samstags ihre anderen Erledigungen gemacht haben, sonntags die Muße haben – die Möglichkeit, sich zu bilden, diese Informationsangebote wahrzunehmen, andere zu treffen, Kulturangebote, die in Bibliotheken angeboten werden, und Veranstaltungen zu besuchen.

Deswegen ist das hier auch keine Erschütterung des Sonntagsschutzes, sondern basiert im Gegenteil auf dem Schutz des Sonntags. Weil die Menschen sonntags genau dafür Zeit haben, macht es Sinn, so wie die Theater, die Museen und andere Kultureinrichtungen auch die Bibliotheken für diese Nutzung zur Verfügung zu stellen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dabei kommt es jetzt natürlich auf jede einzelne Bibliothek an, auch auf die Kommunen, die Träger dieser Bibliotheken sind, diese neuen Möglichkeiten – ich betone: Es ist eine Möglichkeit, kein Zwang – zu nutzen.

Das kann man über flexible Modelle tun, vielleicht im Personaleinsatz. Es gibt inzwischen tolle Techniken in Richtung „Open Library“. Das heißt, dass man Bibliotheken öffnen und sich mit dem Ausweis selbst in die Bibliotheken lassen kann – aber natürlich nicht am Sonntag.

Wir haben es gerade ermöglicht, dass Fachpersonal am Sonntag arbeiten kann. Herr Bialas hat die Widersprüche dieser Dinge schon ausgeführt.

Man könnte aber vielleicht andere Randzeiten über „Open-Library-Modelle“ personalfrei gestalten und so Kapazitäten schaffen. Aber solche Modelle alleine werden keine Lösung bringen, sondern es wird auch auf Geld ankommen.

Vonseiten des Landes haben wir uns verabredet, für Projekte an Sonntagen Geld zur Verfügung zu stellen. Die Wege werden wir noch ermitteln, aber es auch die Kommunen müssten jetzt sagen: Ja, unsere Bibliothek leistet diese großartige Arbeit, und wir möchten das auch möglich machen.

Dabei wird es auch um Geld gehen. Ich bitte alle Kollegen, in ihren Kommunen dafür zu werben, jetzt in den Haushaltsberatungen so viel, wie in den einzelnen Kommunen machbar, tatsächlich für diese Institutionen zu schaffen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Schließlich möchte ich noch auf etwas hinweisen, was uns hier im Landtag besonders stolz machen kann: Nordrhein-Westfalen ist Vorreiter in diesem Projekt, das bundesweit seit vielen Jahren diskutiert wird, aber bei dem man bundesweit zu keinem Ergebnis gelangt ist.

Eigentlich müsste man es im Bundesarbeitszeitgesetz regeln. Dafür findet sich bislang keine Mehrheit. Das mag sich ändern, wenn sich jetzt hier im größten Bundesland diese Möglichkeit eröffnet. Das erregt bundesweit Aufsehen; man kann sehr viel dazu lesen.

Ich glaube, dass auch im Bundestag jetzt ein neues Nachdenken einsetzen kann, diese Grundlagen zu schaffen. Wenn das eine Funktion unserer Initiative wäre, hätten wir nicht nur für NRW Wichtiges geleistet.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich möchte mich ebenso, wie Bernd Petelkau das gerade schon getan hat, für die sachliche und konstruktive Debatte bedanken, die uns im Ausschuss und auch in der vorherigen Debatte im Plenum begleitet hat. Ich freue mich über die breite Unterstützung und dass wir jetzt mit diesem Projekt tatsächlich auf den Weg kommen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Deutsch. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Keymis.

Oliver Keymis (GRÜNE): Vielen Dank. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist eine schöne Entscheidung, die wir gleich gemeinsam treffen. Sie ist wichtig und richtig.

Das Wichtigste ist heute schon vom Präsidenten des Bibliotheksverbands genauso wie von den kulturpolitischen Sprechern, Herrn Bialas und Herrn Petelkau, gesagt worden; das haben sie alles richtig beschrieben.

Kollege Deutsch in seiner Art hat genau das gesagt, was man dazu sagen muss, nämlich dass wir uns im Kultur- und Medienausschuss einig waren, dass wir diesen Entwurf für richtig halten.

Was sollen die Grünen dazu groß sagen? – Deswegen sind wir im Moment auch nicht alle hier. Bei uns steht es im Wahlprogramm, und jetzt wird es auch noch umgesetzt. Da kann man fast nur sagen: Vielen Dank, dann machen wir es auch so, wie es umgesetzt wird.

Insofern bedanke ich mich bei allen, die daran gearbeitet, diesen Entwurf vorgelegt haben und uns heute die Möglichkeit geben, das gemeinsam zu verabschieden.

Ich will noch auf einen Punkt hinweisen und ihn unterstreichen, den Herr Kollege Deutsch schon aufgegriffen hat: Wenn man Politik macht, ist das Schwierigste immer das Geld; es gibt in der Regel zu wenig davon, obwohl wir über relativ große Mittel verfügen. Erfreulicherweise, Frau Ministerin, ist gerade Ihr Kulturetat im Moment einer, der immer um ein gewisses Stück aufwachsen darf.

Ich bin froh, dass Sie jetzt alle hier sitzen: der Ministerpräsident, der Finanzminister und die Kulturministerin in einer Reihe.

(Heiterkeit)

Das ist einfach die Gelegenheit, es noch einmal zu sagen: Weiter so! Entscheidend ist, dass ihr für die Kultur noch mehr investiert, denn dann könnt ihr diese tollen Vorhaben wie dieses Gesetz zum Beispiel unterstützen.

Es gibt viele andere Dinge im Land. Ich kann alle nur ermutigen, in den Bereich zu investieren. Es ist ein Bindemittel für eine Gesellschaft, die an vielen Stellen auseinanderfällt. Dazu gehören ganz besonders unsere Bibliotheken.

Die Sonntagsöffnung der Bibliotheken ist auch faktisch unumstritten, bis auf einzelne Kreise, die das aus arbeitsrechtlicher Sicht betrachten. Das kann man aber lösen, wenn man den Menschen, die da arbeiten, zum Beispiel vernünftige finanzielle Ausgleiche anbietet. Das gehört eben dazu, und da sollte sich das Land in Verbindung mit den Kommunen, die die Bibliotheken tragen, entsprechend einbringen.

Wenn ich es gerade richtig gehört habe, Herr Kollege Deutsch, ist das schon von der Regierung aus in der Diskussion. Sagen wir mal: Die Koalitionsfraktionen im Rahmen der Haushaltsberatungen diskutieren das bereits. Dazu kann ich nur ermutigen, denn dann kommt so eine Lösung auch gut an. Es ist sonst auch niemandem erklärbar, warum Theater, Opernhäuser und auch Balletthäuser sonntags geöffnet haben, Bibliotheken aber nicht.

Also, unsere Zustimmung haben Sie. – Ich bedanke mich bei allen und freue mich auf eine gemeinsame Abstimmung.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Keymis. – Für die AfD-Fraktion spricht Frau Kollegin Walger-Demolsky.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen und Herren! Sie haben schon gehört: Alle sind sich einig; das ist ein gutes Gesetz, jetzt auch noch flankiert von einer finanziellen Unterstützung für die, die projektieren und etwas verändern müssen, um überhaupt mitzumachen.

Ich glaube, das ist besonders für Herrn Bialas und für mich wichtig gewesen. Ich möchte Ihnen einfach mal erklären, warum.

Das Erste, was ich politisch gemacht habe, war, sachkundiger Bürger im Kulturausschuss der Stadt Bochum zu sein. Die erste Sitzung dieses Kulturausschusses beschäftigte sich damit, die Öffnungszeiten unserer Bibliothek drastisch zu reduzieren. Das war ein Vorschlag der Verwaltung.

Die Verwaltung wollte, ich glaube, am Samstag oder am Montag die Öffnungszeiten reduzieren und in den Ferien komplett schließen. Und warum? – Weil die Verwaltung die Aufgabe hatte, Sparziele zu erreichen, dem Haushaltsvorbehalt, der auf Haushalten wie dem der Stadt Bochum, der Stadt Duisburg und anderer Städte liegt, angemessen zu begegnen.

Ich war entsetzt. Dass man diese Ziele gerade im Kulturbereich bei Bibliotheken, bei Orten des Begegnens, bei Orten der Bildung erreichen wollte, war für mich undenkbar. Tatsächlich gab es da – denn das ist ja alles fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit gewesen; das sieht ja keiner – einen Konsens. Auch die anderen Parteien waren mit mir einer Meinung: Das geht nicht.

Der Antrag der Verwaltung wurde abgelehnt, Gott sei Dank. Aber bei dem neuen Bibliotheksöffnungsgesetz sehe ich, dass genau diese Städte Schwierigkeiten haben werden, mitzumachen.

Aber auch in dem Punkt hat die Regierung die Kritik, die Bedenken aufgenommen und stellt jetzt zumindest projekttechnisch Hilfen in Aussicht.

Hilfen dürfen sich aber nicht auf Finanzielles beschränken. Vielleicht muss auch noch ein bisschen Druck dahinter: Druck von den Abgeordneten, keine Frage – da hilft mein Druck am allerwenigsten; das denke ich mir –, aber vielleicht auch Druck von der Regierung.

Tun Sie etwas dafür, dass es keine neuen Differenzen, keine neuen Unterschiede zwischen reicheren und ärmeren Städten gibt. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Walger-Demolsky. – Jetzt habe ich als nächste Rednerin noch die Ministerin für Kultur und Wissenschaft, Frau Pfeiffer-Poensgen, anzukündigen. Bitte schön, Frau Ministerin.

Isabel Pfeiffer-Poensgen*), Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Natürlich freue ich mich darüber, dass es hier so eine große Zustimmung zu dem Entwurf für das Bibliotheksstärkungsgesetz gibt. Das ist ja nicht immer so.

Es gibt aber einen großen Konsens, etwas in allen Bereichen der Bildung zu tun. Die Bibliotheken sind nun einmal die am meisten frequentierten Kultureinrichtungen, die es überhaupt gibt und die es auch Gott sei Dank flächendeckend gibt.

Deswegen war diese Initiative zur Sonntagsöffnung natürlich genau richtig und wichtig. Es wurde schon gesagt: Sie wurde ja auch in Teilen schon seit Jahren diskutiert. Das hatte sich alles etwas festgefahren.

Ich finde es sehr gut, dass wir das jetzt hier gemeinsam verändern. Ich muss jetzt nicht mehr über die Bedeutung der Bibliotheken reden; das ist hier vielfach schon erwähnt worden.

Aber klar ist auch: Es gab ein merkwürdiges Ungleichgewicht nicht nur innerhalb der Kultur zu Museen und Theatern. Es gibt ja viele Matineeveranstaltungen auch beispielsweise in Theatern, die nie überhaupt zur Debatte standen, Gott sei Dank nicht zur Debatte standen.

Es gibt auf der anderen Seite alle möglichen – wie Sie es eben sagten, Herr Bialas – Spielotheken, Videotheken, für die etwas anderes galt als für eigentlich den Ort, der niedrigschwellig ist für Kinder, Jugendliche und auch ganze Familien vor allen Dingen, um am Sonntag eben gemeinsam die Angebote einer Bibliothek wahrzunehmen.

Dabei geht es eben nicht nur eine Bibliothek, die einfach offen ist und in der man an die Regale kann – um es mal etwas praktisch zu benennen –, sondern die Angebote für die interessierten Familien macht. Das war sozusagen überfällig. Ich freue mich sehr, dass wir das jetzt anstoßen.

Wir müssen natürlich auch in einen ordentlichen Dialog mit allen Trägern darüber eintreten, wie das jeweils auch zu realisieren ist. Dabei wollen wir gerne helfen, soweit uns das in irgendeiner Form möglich ist.

Insofern kann ich nur hoffen, dass wir jetzt die Dinge, über die wir nun auch ausführlich im Ausschuss gesprochen haben, recht bald in die Tat umsetzen.

Wir reden hier auch ansonsten – das wurde hier eben auch schon angesprochen – über das ganze Thema „Dritter Ort“ gerade auch in der Fläche in den ländlicher geprägten Räumen. Auch da spielen Bibliotheken eine wichtige Rolle.

Wir können damit auch erreichen, dass sie vielleicht zusätzliche Funktionen bekommen, um sich auch als unkomplizierte Treffpunkte für die Menschen der jeweiligen Region entwickeln zu können.

Insofern freue ich mich, wenn wir heute hier einen entscheidenden Schritt machen, um die Bibliotheken dahin zu bringen, wo sie hingehören, nämlich auch ein Sonntagsausflugsziel für ganze Familien zu sein. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU, der FDP und Andreas Bialas [SPD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in Drucksache 17/7513, den Gesetzentwurf Drucksache 17/5637 unverändert anzunehmen. Wir stimmen also jetzt ab über den Gesetzentwurf selbst und nicht über die Beschlussempfehlung.

Wer stimmt dem Gesetzentwurf zu? – Die CDU, die SPD, die FDP, die Grünen, die AfD-Fraktion und der fraktionslose Abgeordnete Langguth. Wer ist dagegen? – Das kann ja dann eigentlich keiner mehr sein. – Wer enthält sich? – Niemand enthält sich. Damit ist der Gesetzentwurf Drucksache 17/5637 einstimmig angenommen und in zweiter Lesung einstimmig verabschiedet worden. Danke schön.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der AfD)

Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich jetzt schon hier sitze. Es ist unüblich, dass man während des eigenen Tagesordnungspunktes die Sitzungsleitung übernimmt. Das war notwendig, weil ich jetzt die Kollegin Gödecke zum nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe. Ich bitte dafür um Verständnis; das machen wir sonst nicht, aber das war in dem Fall nicht anders zu lösen. Frau Freimuth wird ja auch gleich sprechen; insofern haben wir das so geregelt.

Ich rufe auf:

3   30 Jahre „Friedliche Revolution“ – Lehren für Freiheit und Demokratie

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7540

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7608

Die Aussprache ist eröffnet. Nun spricht für die SPD-Fraktion Frau Kollegin Gödecke.

Carina Gödecke (SPD): Leipzig, 9. Oktober 1989. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Nikolaikirche finden schon seit mehreren Jahren wöchentlich Friedensgebete statt. Seit der Aufdeckung der Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 ist die Beteiligung an diesen Friedensgebeten kontinuierlich angestiegen.

Am späten Nachmittag des 9. Oktober 1989 versammeln sich rund 9.000 Menschen in den vier großen Kirchen der Leipziger Innenstadt. Zum ersten Mal war es nicht nur die Nikolaikirche, die ihre Pforten für das Montagsgebet, für diese Form des friedlichen Widerstands gegen das DDR-Unrechtsregime, öffnete.

Kirchen waren zu allen Zeiten und an allen Orten, auch in der DDR, besondere Schutzräume. Deshalb hatte Pfarrer Christian Führer vorsorglich und vorausahnend darum gebeten, dass an diesem Montag auch weitere Kirchen Friedensgebete abhalten mögen. Pfarrer Christian Führer wusste genau, warum er das tat; denn Woche für Woche waren mehr und mehr Menschen gekommen. Woche für Woche war der Mut der Menschen größer geworden. Der Wille derer, die die Kirchen besuchten, der Wille der Demonstranten, der Wille des Volkes, sich gegen die Staatsmacht aufzulehnen, wuchs unübersehbar.

An diesem Montag sollte der Platz in der Kirche aber bei Weitem nicht reichen – trotz der unübersehbaren und offensichtlich ernst gemeinten Drohgebärden der DDR-Regierung: Gegen Mittag wurde die Leipziger Innenstadt geräumt. Geschäfte, Gaststätten, Schulen und Kindergärten wurden geschlossen. Schwer bewaffnete Einheiten von Polizei, Volksarmee und Staatssicherheit waren aufgezogen. Gerüchte über zusätzliche Blutkonserven in Krankenhäusern, über viele in Bereitschaft stehende Chirurgen, sogar über bereitstehende Leichenwagen waren zu hören.

Und trotzdem machten sich Tausende auf den Weg, nicht nur in Leipzig, sondern auch in vielen anderen Städten der DDR – Tausende, die mutig und entschlossen, im Bewusstsein um die Gefahr, in die sie sich begeben würden, für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie aufgestanden sind, die sich für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie an der – wie wir heute wissen und voller Dankbarkeit feststellen – friedlichen Revolution beteiligt haben, einer Revolution, einem Volksaufstand, dessen friedlicher Ausgang aber nicht absehbar und schon gar nicht gewiss war.

Es waren Menschen wie die junge Familie vor der Nikolaikirche, von der der Schriftsteller, Liedermacher und Mitorganisator der Friedensgebete, Martin Jankowski, erzählt hat. Er, Jankowski, trifft am Nachmittag des 9. Oktober 1989 eine junge Familie vor der Nikolaikirche. Er fragt sie, ob sie auch zum Friedensgebet gehen wollten. Die Frau, die ihre kleine Tochter an der Hand hält, antwortet ihm, dass sie darauf warten würden, dass es losgehe.

Da am Kirchenportal aber bereits das Schild mit der Aufschrift „Überfüllt“ hängt und die Familie somit nicht mehr in den Schutz der Kirchenräume gelangen kann, warnt er sie. Jankowski hat die Vorfälle in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor Augen, den Beifall Honeckers dazu in den Ohren, die wohlwollende Zustimmung von Egon Krenz im Blick. Er weiß also, dass die DDR-Regierung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu allem entschlossen war.

Seine Warnung, dass man mit den kleinen Kindern doch besser nach Hause gehen möge, weil vielleicht geschossen werde, beantwortete der Familienvater entschlossen mit: wissen wir. – „Wissen wir“, und dann schiebt der junge Vater den Kinderwagen mit dem zweiten Kind weiter, hin zu den Tausenden vor der Kirche wartenden Demonstranten. Die junge Familie reiht sich ein, wird Teil des Widerstandes.

Es ist eine Geschichte, liebe Kolleginnen und Kollegen, die uns, die wir in Westdeutschland gelebt, gearbeitet und zur Schule gegangen sind, nicht unberührt lassen kann, eine Geschichte, die unter die Haut geht und den großen Mut, den fast an Verzweiflung grenzenden Willen der Menschen in Leipzig, Dresden, Plauen, Berlin, Karl-Marx-Stadt, Halle und vielen weiteren Orten mehr als deutlich macht. Friedlicher Widerstand bekommt damit ein Gesicht: Vater, Mutter und zwei Kinder.

Wegen dieser uns unbekannten jungen Familie, wegen der vielen Tausend weiteren Menschen, die den 9. Oktober 1989 zum entscheidenden Tag im Widerstand gegen das DDR-Regime gemacht haben, stehe ich heute hier und darf für meine Fraktion reden.

Diese junge uns unbekannte Familie und alle, die mit Kerzen in den Händen die Kirche verlassen haben, haben dafür gesorgt, dass sich an diesem Tag entschied, dass die Revolution friedlich und erfolgreich sein würde. Als Pfarrer Führer die Kirchentür öffnete, sah er den Vorplatz schwarz von Menschen und hell von Kerzen. Am Ende waren es mehr als 70.000 Menschen, die besonnen, mit Kerzen in den Händen und dem Ruf „Keine Gewalt!“ ungehindert über den Ring um die Leipziger Innenstadt bis zur Stasizentrale ziehen konnten.

Es blieb auch deshalb ruhig und sicher, weil der Chef der Volkspolizei um 18:25 Uhr den Rückzug der bewaffneten Einheiten befohlen hatte – allerdings erst, nachdem weder die Ostberliner Führung noch die örtliche SED-Spitze den Befehl zum Einsatz gewagt hatten.

Das Regime hatte kapituliert, und die friedliche Revolution war endgültig nicht mehr aufzuhalten. Bürger hatten mit Kerzen und Gebeten begonnen, ihre Freiheit zu erstreiten. Die Selbstdemokratisierung der DDR durch die Massenproteste nahm ihren unumkehrbaren Lauf.

Am nächsten Montag waren es allein in Leipzig schon 120.000 Demonstranten, am Montag darauf noch viel mehr. Am 4. November 1989 zählte man in Ostberlin mehr als 500.000 Demonstranten. Und fünf Tage später, am 9. November 1989, kam es dann zur Liveübertragung der Pressekonferenz von Günter Schabowski, in der er, ungewollt oder unbedacht, die sofort geltende Reisefreiheit verkündete.

Was danach geschah, haben wahrscheinlich alle von uns in unauslöschbarer Erinnerung: In dieser Nacht machten sich die Menschen erst zögernd und ungläubig, aber voller Hoffnung und Erwartung auf den Weg zu den Grenzübergängen. Am Kontrollpunkt Bornholmer Straße sind es anfangs Hunderte, innerhalb kürzester Zeit aber 20.000 Menschen, die fordern: „Tor auf, Tor auf!“

Nach einer halben Stunde kapitulierten die Grenzkontrolleure. Dann war die innerdeutsche Grenze gebrochen. Die Mauer, das Symbol der Teilung, war offen, war gefallen.

Ich selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe den 9. November1989 so erlebt:

Die ganze Nacht hindurch habe ich mit meinem Vater – Jahrgang 1927, als blutjunger Mann noch in den Krieg geschickt, nach Kriegsende in Gefangenschaft gekommen, seiner Jugend und Bildungsmöglichkeiten beraubt – gebannt und ungläubig Fernsehen geschaut. Und als mein Vater – immerhin ein Mann von Mitte 60 – still weinte und gar nicht aufhören konnte, da wusste ich, spürte wahrscheinlich, was gerade passierte: das Ende der deutschen Teilung – für mich ein politisches Wunder.

Die deutsche Teilung, eine Folge des verheerenden und mörderischen Zweiten Weltkrieges, das undemokratische DDR-Regime, die innerdeutsche Mauer, ein Symbol für Unfreiheit und den Kalten Krieg, ein Ort an dem Menschen erschossen wurden und starben, weil sie in Freiheit und Demokratie leben wollten, all das war von innen, von entschlossenen und mutigen Menschen ohne jedes Blutvergießen zum Einsturz gebracht worden.

Der Tag, der die Wende brachte, war der 9. Oktober 1989, also genau heute vor 30 Jahren. Es war der 9. Oktober 1989, der den Weg bereitet und frei gemacht hat für Massendemonstrationen in der gesamten DDR, die den Rücktritt Honeckers und die Maueröffnung möglich gemacht haben.

Genau deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Wir wollen daran erinnern, und wir wollen danken. Deshalb werden wir uns gleich auch nicht über die Forderungen im Entschließungsantrag der Regierungskoalitionen streiten. Nein, wir erinnern und danken heute, am 9. Oktober 2019, den Menschen, die den Mut hatten, sich der bewaffneten Staatsmacht entgegenzustellen, die den Mut hatten, zu Hunderttausenden für ein freies Leben in einer Demokratie auf die Straße zu gehen. In unseren Dank schließen wir ausdrücklich unsere Nachbarn in Osteuropa ein.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktionslos])

Aber neben dem Dank geht es heute, am 9. Oktober 2019, auch darum, zu erinnern – an diejenigen, die in der DDR großes und bitteres Unrecht erlitten haben, diejenigen, die als Regimekritiker galten und verhaftet wurden, diejenigen, denen alle beruflichen Ausbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten genommen wurden, diejenigen, die bespitzelt und denunziert wurden, diejenigen, die als Familienmitglieder in Sippenhaft genommen wurden, diejenigen, die nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihres Lebens beraubt wurden.

Und wir erinnern an die vielen Heimkinder und das Schreckliche, das ihnen widerfahren ist. Vor allem erinnern wir an diejenigen, denen ihre Kinder weggenommen und gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben wurden. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, warten noch Aufgaben auf uns. Da gilt es hin- und nicht wegzuschauen.

Die Erinnerung an die Teilung, den Mauerbau, den Kalten Krieg, das Unrecht, die Unfreiheit, die Mauer- und Fluchttoten und vor allem an das Ende der DDR ist noch frisch. Zeitzeugen gibt es zu Hundertausenden. Deshalb ist es gut und richtig – das gehört zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert –, die Auseinandersetzung mit der deutschen Teilung und ihrem Ende noch stärker in unsere Bildungsarbeit aufzunehmen und dort zu verankern. Es ist unsere Pflicht, bestehende Wissensdefizite zu beheben. Auch das wollen wir mit unserem Antrag erreichen.

Vor allem ist es unsere Verpflichtung, die gesamteuropäische Dimension der Ereignisse, die zur Überwindung des Kalten Krieges und zur deutschen Wiedervereinigung geführt haben, stärker in den Blick zu nehmen.

Letztlich geht es um den untrennbaren Zusammenhang zwischen Freiheit und Demokratie, und zwar nicht nur im Erinnern an die Jahre 1989 und 1990, sondern auch mit Blick auf das Hier und Heute.

Am 9. Oktober 2019 geht es zugleich um das, was heute geschieht: auf den Straßen, in den Sälen, in den Schulen, in den Parlamenten. Es geht darum, die Demokratie zu verteidigen – eine Demokratie, die nicht von allein gekommen ist und nicht automatisch für alle Ewigkeiten bleibt. Es geht darum, das rechtspopulistische, die Demokratie und unsere Gesellschaft gefährdende Entwicklungen deutlich zu benennen und ihnen gemeinsam entschieden entgegenzutreten.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Das entschiedene Entgegentreten sind wir den mutigen Menschen des Jahres 1989 schuldig. Das sind wir aber auch unseren Kindern und Enkelkindern schuldig.

Den mutigen Menschen der Jahre 1989 und 1990 sind wir zur größten Dankbarkeit verpflichtet. Sie sind es, denen wir den Zusammenbruch des Systems DDR, das Ende des Unrechtsregimes, den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung zu verdanken haben – Menschen, die im Unterschied zu vielen, die es heute skandieren, völlig zu Recht sagen durften und sagen dürfen: „Wir sind das Volk.“ Der mutige und zugleich Mut machende Ruf „Wir sind das Volk“ war und bleibt nämlich die Forderung nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Jeder, der heute „Wir sind das Volk“ skandiert und dabei gleichzeitig den Hitlergruß zeigt, Galgen für Politiker mitführt, von einer tausendjährigen Zukunft redet, antisemitische Parolen brüllt, Migranten als Parasiten und Schmarotzer bezeichnet, in parlamentarischen Debatten das populistische Muster „Wir, das Volk, gegen euch, die etablierten Eliten“ bedient, um extrem rechtsnationales Gedankengut zu verbreiten, Ängste zu schüren und Stimmung zu machen, der missbraucht diese Botschaft der friedlichen Revolution.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Wer das tut, missbraucht bewusst und in voller Absicht, und das ist populistisch. Aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir nicht hinnehmen; das lassen wir nicht zu. Dazu sagen wir gemeinsam entschieden Nein.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Die friedliche Revolution des Jahres 1989 und der Fall der Mauer sind für alle Zeiten unsere Verpflichtung, für Demokratie, Menschlichkeit und Freiheit einzutreten – Werte, die weder an den Grenzen unseres Landes haltmachen noch an der Hautfarbe von Menschen festzumachen sind.

Die friedliche Revolution des Jahres 1989, der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung sind unsere Verpflichtung, für Frieden und Freiheit, für ein gemeinsames Europa, für soziale Gerechtigkeit und schlichtweg für mehr Menschlichkeit einzustehen und aufzustehen.

Deshalb dürfen Ausgrenzung, Spaltung, Hetze und Intoleranz keinen Platz haben – niemals.

(Anhaltender Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kollegin Gödecke. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Voge.

Marco Voge (CDU): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenige Tage nach dem 3. Oktober und kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November durch die friedliche Revolution bin ich froh, dass wir heute über dieses Thema in diesem Hohen Haus debattieren.

Hierzu möchte ich Ihnen eine höchstpersönliche Geschichte erzählen. Meine Familie väterlicherseits kommt gebürtig aus dem alten Ostpreußen. Sie ist geflüchtet vor den Russen und hat sich in der DDR eine neue Existenz aufgebaut, in der Nähe von Rostock, wo mein Vater geboren worden ist.

Meine Großmutter hat dort mit ihren Schwiegereltern auf einem Kotten gelebt, hat die Schwiegereltern mitversorgt, hatte drei kleine Kinder. Sie mussten, wie es damals in dem Arbeiter- und Bauernstaat üblich war, alles, was sie produzierten, an die Städte abgeben.

Doch das ganze System mit der Beaufsichtigung der Kinder, das wohlfeil ausgedacht war, funktionierte nicht. Daraufhin hat sie damals einen Brief an Walter Ulbricht geschrieben. Kurz danach stand die Stasi bei ihr auf dem Kotten. Sie sind einfach, wie man bei uns im Sauerland sagen würde, in die Diele reinmarschiert. Meine Oma hat sie dann resolut wieder rausgeschickt und gesagt: Klopfen Sie an! Dann lasse ich Sie herein, und Sie können Ihr Anliegen vortragen. – Vielleicht können Sie sich die Bilder vorstellen, wie es damals war, als ein Stasimann mit schwarzem Lodenmantel bei meiner Oma in der Diele stand.

Daraufhin ist meine Oma 1957 mit ihren drei Kindern – sie war schwanger mit meiner jüngsten Tante – über die damals noch offene Grenze in Berlin geflüchtet. Meinen Opa hat sie zurückgelassen. Er ist dann im Stasiknast in Rostock eingebuchtet worden. Nach kurzer Zeit hat er ihn wieder verlassen dürfen und ist meiner Oma nachgefolgt.

Damit möchte ich sagen: Das, was in den letzten Tagen immer mal wieder in der Presse gestanden hat – meine persönliche Familiengeschichte hat mich bis heute geprägt, das treibt mich politisch bis zum heutigen Tage an –, möchte ich auf deutschem Boden nicht noch einmal erleben.

Die DDR war ein Unrechtsstaat, und wer etwas anderes behauptet … Das ist das, was wir als Demokraten – Kollegin Gödecke hat es gerade in etwas anderen Worten erwähnt – verhindern möchten.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und der AfD)

90.000 hauptamtliche Mitarbeiter, 190.000 inoffizielle Mitarbeiter, Personen der Staatsführung und der SED – alle haben davon gewusst, alle sind mitschuldig.

Das Privatleben wurde ausspioniert. Wenn das kein Unrecht ist, dann weiß ich auch nicht, was es ist.

Zwangsadoptionen, 250.000 politische Gegner einfach weggesperrt – wenn das kein Unrecht ist, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.

Stasi, Stacheldraht, Schießbefehl – all das ist Unrecht, und all das hat sich in der DDR zugetragen.

Ich möchte hervorheben: Es war nicht die Bevölkerung. Nein, es war die DDR. Der Staat DDR war ein Unrechtsstaat.

Ich möchte ganz bewusst dazu sagen: Wenn das von Linken oder der SPD abgemildert wird, dann ist das ein Schlag ins Gesicht der Opfer.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD)

Wer das Ganze noch weiter relativiert, noch weiter aushöhlt, dem empfehle ich einen Besuch in der Stasizentrale in der Normannenstraße in Berlin, im Stasiknast in Hohenschönhausen oder am Grenzübergang Bernauer Straße.

Ich möchte noch einmal besonders betonen: Ich möchte niemals wieder solch einen Unrechtsstaat auf deutschem Boden haben.

(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos])

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege Voge, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Zimkeit von der SPD-Fraktion?

Marco Voge (CDU): Selbstverständlich.

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Zimkeit.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Herr Kollege, ich teile vollkommen Ihre Bewertung zur DDR. Da Sie aber jetzt parteipolitische Fragen in die Debatte eingefügt haben, möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie auch noch eine Bewertung der Rolle der Ost-CDU in diesem Unrechtsregime vornehmen möchten?

Marco Voge (CDU): Herr Kollege Zimkeit, ich habe überlegt, wie ich darauf antworte, und habe ein schönes Zitat Ihres ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden gefunden. Er sagte:

„Nicht jeder Unrechtsstaat ist zwangsläufig eine Diktatur. Aber jede Diktatur ist immer zugleich ein Unrechtsstaat.“

Ich glaube, das ist Antwort genug darauf.

(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos] – Stefan Zimkeit [SPD]: Das ist keine Antwort auf die Frage! – Zuruf von der SPD: Traurig ist das!)

– Ich habe das hier, glaube ich, in aller Demut gesagt.

Aber wie kam es dazu? Das, was sich im Jahr 89/90 ereignet hat, haben wir, glaube ich, großen Staatsmännern zu verdanken. Ich erinnere an den 30. September 1989, Prager Botschaft, die Aussage von Hans-Dietrich Genscher: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Der Rest war nicht mehr zu hören.

Ich erinnere auch, Kollegin Gödecke hat es gerade gesagt, an die Pressekonferenz von Schabowski am 9. November 1989. An diesem Tag müssen wir daran erinnern, was Helmut Kohl aufgrund seiner Beziehung zu Gorbatschow gemacht hat. Das müssen wir heute noch einmal hervorheben. Deswegen haben wir die deutsche Einheit überhaupt erst erreichen können.

Wir müssen uns – ich glaube, ich darf hier für das ganze Haus sprechen – vor den mutigen Bürgern, die an den Montagsdemos und Gebeten teilgenommen haben – Carina Gödecke hat die Geschichte gerade etwas ausführlicher erzählt – verneigen und uns bei ihnen bedanken. Sie haben diese friedliche Revolution möglich gemacht. Dank dieser Leute stehen wir heute da, wo wir stehen.

Abschließend darf ich hinzufügen: Ich bin froh, dass wir die Mauer in Deutschland heute nicht mehr haben. Was wäre, wenn es die Mauer noch gäbe? Es würde die Einheit nicht geben, die Menschen würden immer noch in Unfreiheit leben.

Was wäre der DDR passiert? Sie wäre wirtschaftlich zugrunde gegangen, Das möchte ich mir, ehrlich gesagt, nicht ausmalen. Wir können aber abschließend keine Antwort darauf geben.

Ich bin aus diesem Grund der festen Überzeugung, dass es den Menschen in den neuen Bundesländern – so neu sind sie gar nicht mehr – heute besser geht.

Aber ich möchte einen anderen Punkt in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen. Ich möchte nicht verhehlen, dass es Umfragen gibt, die mittlerweile antidemokratische Entwicklungen zutage bringen, was bei mir durchaus beklemmende Gefühle auslöst. Es ist, glaube ich, ein großer Wert, dass es eine Demokratie gibt und dass die Menschen aus der ehemaligen DDR heute in Freiheit leben können. Alles andere – Carina Gödecke ist auch gerade darauf eingegangen – möchten wir nicht mehr erleben.

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir uns gerade in diesem Parlament mit dem Thema „Demokratie“ beschäftigen. Wir haben dazu eine Enquetekommission zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie eingesetzt. Das ist der Ort, an dem wir darüber diskutieren wollen: Wie wollen wir unsere Zukunft demokratisch weiter ausbauen? Wie müssen wir auf Strömungen reagieren? Es ist unsere Aufgabe als Parlamentarier, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie wir unsere Demokratie nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern ganz konkret hier in Nordrhein-Westfalen zukunftsfest machen.

Um noch kurz auf die Anträge einzugehen: Thema „Gedenkstätten“. Wir steigen ja noch vertieft in die Haushaltsberatungen ein. Wir haben Gedenkstätten, und deswegen bin ich froh über den Antrag: Gedenkstättenfahrten von Schülern werden mit 500.000 Euro gefördert, im nächsten Jahr – so steht es im Haushaltsentwurf – mit 1 Million Euro. Es geht nicht nur um NS-Gedenkstätten, sondern auch um solche für Opfer des Sozialismus. Darüber bin ich froh.

Ich werbe noch einmal für unseren Entschließungsantrag. Zum Antrag der SPD enthalten wir uns. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Voge. – Nun spricht Frau Kollegin Freimuth für die FDP-Fraktion.

Angela Freimuth (FDP): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass wir uns aufgrund des Antrags der sozialdemokratischen Fraktion in diesem Hause noch einmal mit der Überwindung der politischen Teilung unseres Kontinents und unseres Landes auseinandersetzen können, auch mit den sich daraus ergebenden aktuellen Herausforderungen.

Die Ausgangslage ist, das ist schon dargestellt worden, im Antrag zutreffend beschrieben, bei Weitem keine Selbstverständlichkeit, wie wir an anderer Stelle noch feststellen werden.

Natürlich können in einem solchen Antrag nicht alle ineinandergreifenden Wendepunkte dargestellt werden, die letztlich zum Fall bzw. zur Durchlässigkeit der Mauer führten und die den Weg freimachten für den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes.

Wir sind nun aber nicht in einem historischen Seminar. Erwähnenswert sind in jedem Fall die Beiträge nicht nur der Bündnispartner, insbesondere der USA, Großbritanniens und Frankreichs, sondern auch des damaligen Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michael Gorbatschow.

Auch unter Ziffer II des Antrags der Sozialdemokraten ist viel Zutreffendes dargestellt. Heute, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution, droht dem Lebenswerk vieler Menschen, die sich unter Gefahr für Leib und Leben für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit eingesetzt haben, wieder Gefahr, weil antiliberale Kräfte des Rückschritts diese Werte im In- und Ausland bedrohen.

Ich sage ganz klar für die FDP-Fraktion: Wir werden nicht tatenlos zusehen, wenn jene Kräfte das Erbe der wechselvollen deutschen und europäischen Freiheitsgeschichte abwickeln und die Dialogfähigkeit sowie die Toleranz unserer freiheitlichen Gesellschaft negieren wollen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur bietet die Chance, diese Gefahren in der Gegenwart zu erkennen. Wir haben dafür zu sorgen, dass in Deutschland jetzt und in Zukunft eine lebendige und vielfältige Gemeinschaft in Frieden, Freiheit und Freundschaft mit unseren Nachbarn und Partnern leben kann. Deswegen kommen der Bildung, Erinnerung und Aufklärung zu Recht eine hohe Bedeutung zu.

Allerdings – das ist dann der Bereich, der einen irritierenden Zungenschlag in Ihren Antrag bringt, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, weshalb wir uns auch der Stimme enthalten werden – sind Ihre Aufforderungen an die Landesregierung nicht erforderlich. Sie erkennen nicht an, was bereits auf den Weg gebracht wurde.

Bei der Umstellung und Überarbeitung der Kernlehrpläne für das Gymnasium von G8 auf G9 und auch bei der Konzeption der Stundentafeln wurde ausdrücklich darauf geachtet, die historisch-politische Bildung zu stärken und gleichzeitig das neue Fach Wirtschaft/Politik aufzunehmen.

Bei der anstehenden Überarbeitung der weiteren Kernlehrpläne wird die historisch-politische Bildung ebenfalls gestärkt.

In den Haushalt 2018 wurden von CDU und FDP, von uns als Haushaltsgesetzgeber insgesamt – da haben, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, auch die Fraktionen von SPD und Grünen zugestimmt –250.000 Euro für Gedenkstättenfahrten eingestellt. Für 2019 wurde der Betrag auf 500.000 Euro verdoppelt. In dem augenblicklich in der Diskussion befindlichen Etatentwurf für das Jahr 2020 verdoppelt sich die Summe erneut auf dann 1 Million Euro. Denn wir wollen die Schulfahrten zu Mahn- und Gedenkstätten auch weiterhin ermöglichen.

Angesichts der aussterbenden Zeitzeugengeneration nationalsozialistischen Unrechts kommt zum Beispiel gerade der Zusammenarbeit mit den Mahn- und Gedenkorten im In- und Ausland eine besondere Bedeutung zu.

Ausdrücklich gewünscht und ausdrücklich mit einbezogen ist die Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht, die Einbindung der Gedenkorte des DDR-Unrechts und die Zusammenarbeit mit den Zeitzeugen, die wir Gott sei Dank noch zahlreich haben. Diese Arbeit wollen wir intensivieren.

Ich möchte mich bei den Lehrkräften in unserem Land ebenso wie bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der außerschulischen Bildungsträger herzlich für die vielen kreativen, interdisziplinären Konzepte zur Aufklärung, Erinnerung und Bildung insbesondere für junge Menschen bedanken.

Der Philosoph Elmar Kupke hat einmal gesagt: „Demokratie ist die Staatsform, die keiner mitbekommt, wenn sie nicht fehlt.“

Meine Damen und Herren, Bürgerrechte, Menschlichkeit, eine Demokratie mit freien, geheimen Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit, Gewaltenteilung und ein Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz sind Grundlagen einer freien, weltoffenen Gesellschaft. Ich wünsche mir für unsere Kinder und Kindeskinder, dass sie darin leben können.

Damit das so wird und damit das auch so bleibt, ist es notwendig, dass wir alle jeden Tag erneut dafür kämpfen und streiten, damit auf unserem Kontinent nie wieder ein Unrechtsstaat entstehen kann. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kollegin Freimuth. – Als Nächste spricht für die grüne Fraktion Frau Kollegin Paul.

Josefine Paul*) (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der 9. Oktober 1989 – heute genau vor 30 Jahren – markiert vielleicht den eigentlichen Wendepunkt in der jüngeren deutschen Geschichte. An diesem Abend – das ist bereits mehrfach beschrieben worden – gingen 70.000 Menschen in Leipzig für Freiheit und Demokratie auf die Straße. An diesem Abend entschied sich nicht nur, dass die DDR vor einer revolutionären Wende stand; vor allem entschied sich an diesem 9. Oktober, dass diese Revolution friedlich verlaufen würde.

Die Führung der DDR beschloss, nicht auf eine gewaltsame Niederschlagung der Proteste zu setzen. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk spricht davon, dass an diesem Abend das Regime de facto kapitulierte.

Dabei war ein friedlicher Ausgang der Demonstration und damit der gesamten Revolution keineswegs vorherzusehen. Noch im Juni hatte die DDR-Führung die blutige Niederschlagung des Protests auf dem Pekinger Tian’anmen-Platz begrüßt. Die Botschaft dahinter verstanden viele als klare Drohung gegen die Protestbewegung im eigenen Land.

Deshalb herrschte am 7. Oktober 1989 in erster Linie eine große Anspannung. Würden die Machthaber der DDR auch zu einer „chinesischen Lösung“ greifen?

Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass dies nicht passierte und damit eine friedliche Revolution möglich geworden war. Ich möchte sehr deutlich betonen, dass dies die einzige friedliche Revolution in der deutschen Geschichte gewesen ist.

Die Wendung der Geschichte kam aber nicht aus dem Nichts. Den ersten großen Erfolg feierte die Opposition im Mai 1989; denn da waren die Kommunalwahlen vom 7. Mai als eine Art Wahlfarce enttarnt worden. Eigentlich – das muss man im Unrechtsstaat der DDR leider so konstatieren – war das keine außergewöhnliche Geschichte. Nur: Diesmal konnten die Oppositionsgruppen nachweisen, dass die Ergebnisse systematisch gefälscht worden waren. Das stärkte die Opposition.

Ein weiterer Katalysator für die Ereignisse in Sommer und Herbst 1989 war, dass im Sommer 1989 viele Menschen die DDR verließen. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir vor wenigen Tagen alle noch einmal die Bilder von der Prager Botschaft sehen konnten, von deren Balkon Hans-Dietrich Genscher am 30. September die Ausreisemöglichkeit für die Menschen, die auf dem Gelände ausgeharrt hatten, verkündete.

Am 9. November fiel dann die Mauer – ein Ereignis, das sich aufgrund seiner Bilder und der friedlichen und freudigen Begegnungen von Ost und West fest ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat.

Der Fall der Mauer und die deutsche Einheit wären aber nicht ohne die friedliche Revolution und die mutigen Menschen, die sich selbst befreiten, möglich gewesen. Zu oft aber verblasst dieser entscheidende Beitrag zur Demokratiegeschichte unseres Landes hinter den großen Daten des 9. November und des 3. Oktober. Dabei ist die friedliche Revolution ein Lehrstück der deutschen Geschichte für Demokratie und Freiheit, und das nicht nur im Osten unserer Republik.

Nicht nur die Geschichte der DDR als Unrechtsstaat und die Erinnerung an die Opfer der zweiten deutschen Diktatur im 20. Jahrhundert – darauf ist zu Recht schon vielfach hingewiesen worden – müssen fester Bestandteil von Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur sein. Die Geschichte der friedlichen Revolution darf und muss einer gesamtdeutschen Geschichte werden. Die deutsche Einheit ist nämlich kein Ostprojekt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren, 30 Jahre nach friedlicher Revolution und Mauerfall wird vielfach über die deutsche Einheit Bilanz gezogen. Nicht weiter überraschend fällt diese Bilanz nicht nur zwischen dem Osten und dem Westen, sondern generell natürlich auch zwischen den Menschen und ihren unterschiedlichen Erfahrungen unterschiedlich aus.

Geschichte hat auch immer etwas mit Begegnungen zu tun. Auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution braucht es noch immer Anlässe für Begegnung, gegenseitigen Austausch und damit auch Beiträge zum gegenseitigen Verständnis.

Manchmal passieren dann ganz erstaunliche Dinge. Im Landtagswahlkampf in Sachsen kam es zu einer „rheinischen Versöhnungsgeschichte“; denn die Grünen-Kreisverbände von Köln und Düsseldorf fuhren gemeinsam zu den grünen Kolleginnen und Kollegen nach Chemnitz, um sie im Wahlkampf zu unterstützen. Ist es nicht eine schöne Geschichte, wenn es Chemnitz schafft, dass Köln und Düsseldorf gemeinsam dort ein Projekt angehen?

(Beifall von den GRÜNEN)

Manchmal kommt es also zu kleinen lustigen Begebenheiten, die bei aller Ernsthaftigkeit des Ereignisses vielleicht auch zur Sprache kommen dürfen.

Die deutsche Einheit war mit dem 3. Oktober – und auch mit der kleinen Geschichte von Köln und Düsseldorf in Chemnitz – aber nicht abgeschlossen. Im Gegenteil! Die eigentliche Arbeit fing damals natürlich erst an.

Die Wendezeit ist für die Menschen im Osten Deutschlands eine Zeit von Hoffnung und Aufbruch, aber auch von Brüchen gewesen. Vor allem die Wirtschaft und damit der Arbeitsmarkt brachen mehr oder weniger zusammen. Aus der Arbeitsgesellschaft der DDR wurde die Transformationsgesellschaft der neuen Länder. Mit der Arbeit verloren viele Menschen auch ihr soziales Gefüge. Der Betrieb war in der DDR nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Lebensort.

Zur deutschen Geschichte nach 1989 gehören auch diese Geschichten und Erfahrungen. Es ist nicht zuletzt die Geschichte eines gigantischen Strukturwandels. Wer wüsste nicht auch Geschichten und Gemeinsamkeiten zum Thema „Strukturwandel“ zu erzählen, wenn nicht wir in Nordrhein-Westfalen? Vielleicht sind auch das Anknüpfungspunkte für gemeinsame Erfahrungen und für einen gemeinsamen Austausch von Erzählungen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dabei muss man konstatieren, dass dieser gigantische Strukturwandel im Osten vielleicht in der gesamtdeutschen Zeitgeschichte durchaus ein Nischendasein führt und möglicherweise hinter anderen Strukturwandelprozessen in der westdeutschen Geschichte verblasst.

Das Zeitgeschichtliche Form Leipzig hat diesen Transformationsleistungen in seiner Dauerausstellung Raum gegeben. Denn der Einheitsprozess endet, wie schon gesagt, eben nicht mit dem 3. Oktober.

Vielleicht fängt damit eine gesamtdeutsche Geschichte erst richtig an. Diese ist es wert, beispielsweise im Geschichtsunterricht auch hier, tief im Westen, mehr beachtet zu werden.

Darüber, ob dieser Diskussionsprozess trotz aller Verweise der NRW-Koalition schon am Ende ist, sollten wir gemeinsam noch einmal sprechen. Es ist richtig, dass diese Bereiche auch in der historischen und politischen Bildung gestärkt werden. Aber der Diskussionsprozess über den Weg dorthin und darüber, wie intensiv wir bestimmte Bereiche bearbeiten, ist sicherlich noch nicht am Ende.

Martin Sabrow konstatiert:

„Die Zäsur von 1989 hat jedenfalls in Deutschland keine generationelle Prägekraft entfaltet. … ,1989‘ ist also ein … bis heute vieldeutiger und unscharf markierter Erinnerungsort.“

Ich denke darüber nach, ob das denn so ist, ob es also etwas ist, was keine gemeinsame Prägekraft entfaltet hat, und darüber, was das denn dann für eine gesamtdeutsche Demokratiegeschichte heißt. Ich habe mich gefragt, warum in vielen ostdeutschen Parlamenten zum 9. November oder zum 3. Oktober Gedenkveranstaltungen stattfinden, aber nicht in jedem deutschen Landesparlament. Ist es nicht eigentlich eine gesamtdeutsche Erzählung?

Nächstes Jahr feiern wir 30 Jahre deutsche Einheit. Das wäre doch eine gute Gelegenheit, auch hier in Nordrhein-Westfalen einmal zu überlegen: Was hat das eigentlich mit uns gemacht? Was bedeuten 30 Jahre deutsche Einheit denn für uns? Welche Erfahrungen haben wir damit gemacht?

Vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, zu diesem Anlass auch hier eine genauere Betrachtung, eine Veranstaltung, eine Feierstunde zu machen, um gemeinsam daran zu erinnern und gemeinsam zu reflektieren, was das eigentlich für uns als Gesamtdeutschland bedeutet.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Auf einem Plakat aus dem Herbst 1989 war „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ zu lesen. Diese Forderung ist auch heute noch aktuell; denn Vielfalt, Offenheit und Demokratie sind auch heute wieder – vielleicht waren sie es auch immer – Felder der Auseinandersetzung und der gesellschaftlichen Aushandlung.

30 Jahre friedliche Revolution sind nicht nur ein Grund, historisch zurückzublicken und möglicherweise gemeinsam Perspektiven auszuloten, die diese geschichtsträchtigen Momente mit sich gebracht haben. Vielmehr lohnt es sich meiner Meinung nach auch, von dort einen Blick nach vorne zu werfen, darauf aufzusetzen und festzuhalten, dass diese 30 Jahre friedliche Revolution und der damit verbundene Kampf der Menschen um Meinungsfreiheit und Demokratie uns nicht zuletzt daran erinnern können und daran erinnern müssen, welch großen Wert es hat, dass wir in unserer Gesellschaft heute genau diese Diskussion über Offenheit und die Art und Weise, wie wir zusammen leben wollen, führen können. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Jetzt spricht für die AfD-Fraktion Herr Seifen.

Helmut Seifen (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Montag, der 9. Oktober 1989, heute vor 30 Jahren, war ein schicksalsträchtiger Tag für unser Land, das damals in zwei Staaten geteilt war.

Es war ein Tag voller Anspannung und fiebernder Erregung. Die Bewohner Deutschlands schienen den Atem anzuhalten; alle Sinne waren zum Zerreißen angespannt. Bereits morgens in der Frühe dieses Tages sendeten alle Rundfunkanstalten die große Furcht durch den Äther; denn den Menschen in Deutschland standen noch die Bilder vom Tiananmen-Platz vor Augen, wo am 4. Juni 1989 die Führung des kommunistischen Chinas seine Soldaten mit brutaler Härte gegen protestierende Studenten vorgehen und mit scharfer Munition in die Menge schießen ließ. Zahlreiche Tote und Verletzte waren damals zu beklagen.

Abgesandte der DDR-Führung waren danach nach China gereist, um sich die dortigen Erfahrungen zunutze zu machen. Nun, am 9. Oktober 1989, zog die DDR-Führung in Leipzig ebenfalls ein Großaufgebot an Soldaten und Volkspolizisten zusammen, um offensichtlich gegen die Demonstranten vorzugehen.

Dass kommunistische Regierungen mit brutaler Gewalt rücksichtslos gegen ihre Bürgerinnen und Bürger vorgehen, wenn gegen sie protestiert und ihre Macht infrage gestellt wird, haben sie seit dem Bestehen von kommunistischen Staaten immer wieder bewiesen:

Angefangen bei der Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands 1921 durch Lenin mit Tausenden von Toten über die fürchterlichen Verfolgungen missliebiger Personen in der Stalinära mit Millionen Toten bis zu der Niederschlagung der Volksaufstände am 17. Juni 1953 in der DDR und am 23. Oktober 1956 in Ungarn sowie der Niederschlagung des Prager Frühlings mit dem Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in der Tschechoslowakei haben kommunistische Regierungen immer wieder ihre Brutalität gezeigt, wenn es darum ging, die eigene Macht gegen berechtigte demokratische Forderungen zu behaupten.

So war der 9. Oktober 1989 die letzte Gelegenheit für die DDR-Führung, ihre vormalige Autorität wiederherzustellen. Deshalb war die Befürchtung, dass es am Abend des 9. Oktobers 1989 in den Straßen Leipzigs zu einem ähnlichen Zusammenstoß zwischen den Demonstranten und den Polizeikräften wie in China mit vielen Toten und Verletzten kommen könnte, mehr als berechtigt.

Die Montagsdemonstrationen in Leipzig hatten sich nämlich seit dem 25. September zu einer machtvollen Gegenbewegung zur Parteidiktatur der SED entwickelt. In den Monaten nach den gefälschten Wahlen im Mai des Jahres 1989 hatten die seit 1982 veranstalteten Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche immer mehr Zulauf erhalten und auch ihren Charakter geändert. Die Absetzbewegungen seit dem Sommer 1989 über die Nachbarstaaten Ungarn oder Tschechoslowakei in die Bundesrepublik Deutschland sorgten zudem für erhebliche Aufgeregtheiten.

Nun wurde der Anspruch der Kommunisten, im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit zu sein und dementsprechend den Menschen vorschreiben zu können, wie sie zu leben hatten, durch die Demonstranten in Leipzig in Abrede gestellt. Dies war ein ungeheurer Vorgang – Menschen, die in freiheitlichen Verhältnissen groß werden, können sich dessen Ungeheuerlichkeit gar nicht vorstellen –; denn in den kommunistischen Staaten galt und gilt bis heute die Zeile des Dichters Louis Fürnberg „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“. Dieser Refrain wurde gesungen – und er wurde ernst genommen; man kann es sich nicht vorstellen.

Diesem Unfehlbarkeitswahn, der jeder menschlichen Vernunft und jeder aufklärerischen Diskurstheorie widerspricht, setzten die Kommunisten auch noch einen Allmachtswahn an die Seite. Der Schriftsteller und DDR-Kulturminister Johannes Robert Becher fasste diesen Allmachtswahn in einem seiner Gedichte mit den folgenden Worten zusammen – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –:

„Du großes Wir, Du unser aller Willen:        
Dir, Dir verdanken wir, was wir geworden sind!“

Und weiter:

„Lass Dich voll Stolz, voll Stolz lass Dich bekennen:       
Dir alle Macht, der Sieg ist Dein, Partei!“

Diesen Anspruch auf Allwissenheit und Allmacht wussten die Kommunisten auch in der DDR rigoros durchzusetzen.

Wer den Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 1994 Drucksache 12/7820 mit dem Titel „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ liest, kann ahnen, welchen Unrechtscharakter dieser totalitäre Staat hatte.

Dort werden die Opfergruppen in Schädigungen an fünf verschiedenen Rechtsgütern eingeteilt: erstens Leben, zweitens Körper und Gesundheit, drittens Freiheit und Menschenwürde, viertens Eigentum, Vermögen, Einkommen und fünftens berufliches Fortkommen.

Da kann man solche Ungeheuerlichkeiten lesen wie: Tötung an der Mauer, staatliche Auftragsmorde im In- und Ausland, Tötung unter aktiver ärztlicher Mithilfe, bewusste Verweigerung von ärztlicher bzw. medikamentöser Betreuung sowie gezielt eingesetzte Schädigung insbesondere durch operative Maßnahmen, Zwangsadoptionen, planmäßige psychische Pressionen auf politische Gegner und Andersdenkende, Einweisung in Arbeitslager sowie Eingriffe in Bildung und Ausbildung.

Hinter diesen dürren Worten steht eine Vielzahl von Menschenschicksalen mit Qualen und Leiderfahrungen. Ich frage mich manchmal, was ein Staat bzw. die Regierung eines Staates denn darüber hinaus noch tun muss, ehe man diesen Staat einen Unrechtsstaat nennen kann.

(Beifall von der AfD)

Die DDR war ein Unrechtsstaat, wie er im Buche steht. Wer das bezweifelt und in Abrede stellt, verhöhnt die Opfer dieser Diktatur und verharmlost die Verbrechen, die in seinem Namen begangen worden sind.

Ich habe es als sehr wohltuend empfunden, dass meine Vorredner genau diesen Begriff für die DDR verwandt haben.

Von der Not und Angst, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, welche die Demonstranten vom 9. Oktober 1989 angesichts dieser durchaus bekannten zum Teil verbrecherischen Unterdrückungsmethoden hatten, liest man leider in Ihrem Antrag nichts. Sie beschreiben die Demonstration vom 9. Oktober 1989 fast wie einen Spaziergang, den man mal unternimmt, wenn man sonst nichts anderes vorhat und der Öffentlichkeit die eigene Befindlichkeit mitteilen will.

In seiner läppischen Art wird Ihr Antrag den Menschen nicht gerecht, die sich damals mit all ihrem Mut für die Freiheit und unsere Nation eingesetzt haben, obwohl sie die Befürchtung haben mussten, Leib und Leben zu riskieren.

Frau Gödecke hat das in ihrer Rede zum großen Teil berichtigt. Diese Rede kann ich im ersten Teil sehr wertschätzen. Allerdings haben Sie es dann auch nicht versäumt, wieder in diese alte Hetze gegen irgendwelche Leute und Parteien einzustimmen, die auch hier im Parlament sind. Das bedaure ich außerordentlich. Eigentlich hätten Sie das nicht nötig gehabt.

Mit dem Ruf „Wir bleiben hier!“ leiteten die Leute damals den Stopp der Massenflucht ein und wendeten die revolutionäre Energie nach innen. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ erinnerten sie die Regierenden daran, dass nicht eine Partei, sondern das Volk der Souverän ist, von dem jede Regierung ihre Legitimation erhält. Mit dem Ruf „Wir sind ein Volk!“ bekannten sie sich zur deutschen Nation, zu Deutschland als ihrem Vaterland.

Dieses Bekenntnis galt gestern wie heute und ruft uns eine wichtige anthropologische Konstante wieder ins Bewusstsein: Nation und Staatsvolk brauchen die Menschen auch in einer globalisierten Welt zur eigenen Lebensorientierung und um das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit erleben zu können.

(Beifall von der AfD – Zuruf von Norwich Rüße [GRÜNE])

Die demonstrierenden Bürger vom 9. Oktober 1989 können wir deshalb anderen Helden deutscher Geschichte an die Seite stellen: den Freiheitskämpfern von 1813, den Revolutionären von 1848 und den Widerstandskämpfern in der Zeit des Nationalsozialismus.

Der Antrag der SPD wird dieser Leistung aber nicht einmal in Ansätzen gerecht. Fangen Sie endlich an, die Menschen in diesem Land zu achten und zu respektieren. Deswegen werden wir den Antrag ablehnen.

Zu dem Entschließungsantrag der CDU werden wir uns enthalten, weil Sie sich in Ihrem Punkt 7 mal wieder dem grünen Zeitgeist angedient haben. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Seifen. – Jetzt spricht der fraktionslose Abgeordnete Herr Langguth.

Alexander Langguth (fraktionslos): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich unterstütze Ihren vorliegenden Antrag, liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD, mit vollem Nachdruck. Sie fordern darin, aus dem Untergang der SED-Diktatur und dem Unrechtsregime der DDR Lehren für Freiheit und Demokratie zu ziehen. Sie fordern weiter eine deutsche Erinnerungskultur, um die Erinnerung an die Opfer der zweiten deutschen Diktatur lebendig zu halten. Meine volle Unterstützung für diese Forderung, die doch im Kern von nichts anderem als von den realen zeitgenössischen Tatsachen ausgeht!

Die Liste der Todesopfer allein an der Mauer in Berlin ist trauriger Beweis für die Unmenschlichkeit des SED-Unrechtssystems. Sie enthält 126 erdrückende Einzelbeweise.

Angesichts dieser unbestreitbaren Unrechtsfaktoren macht es mich regelrecht fassungslos, wenn ich lesen muss, dass Manuela Schwesig – das ist heute schon mehrfach angesprochen worden –, immerhin Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns und bis vor Kurzem sogar noch kommissarische Bundesvorsitzende Ihrer Partei, dieser Tage sagt, man solle die DDR nicht als Unrechtsstaat bezeichnen. Dann muss ich Sie allen Ernstes fragen: Als was denn sonst, wenn wir eine Diktatur schon nicht mehr als Unrechtsstaat bezeichnen dürfen?

Hier ist deutlich zu erkennen, dass Ihr Antrag, aus der DDR-Diktatur Lehren für Freiheit und Demokratie zu ziehen, dringend notwendig und hochaktuell ist, und zwar leider – das bedaure ich außerordentlich –anscheinend gerade auch in Ihren Kreisen.

(Zuruf: Unsinn!)

Allen, die heute anfangen, die Verbrechen der DDR zu verharmlosen und zu relativieren, und sei es nur aus Unwissenheit oder Wissensdefiziten, möchte ich empfehlen: Besorgen Sie sich die Liste der Mauertoten mit Namen, Datum ihres gewaltsamen Todes und ihrem damaligen Alter. Das wird Ihren Blick auf die Realität schärfen; das garantiere ich Ihnen.

Gestatten Sie mir, dass ich aus dieser Liste, einem chronologischen Zeitdokument, willkürlich einige Namen vorlese, um einen Anstoß zum ernsten Nachdenken auch über dieses traurige Kapitel der deutschen Geschichte zu geben. Ich beginne:

Ida Siekmann, 58; Günter Litfin, 24; Roland Hoff, 27; Rudolf Urban, 47; Olga Segler, 80; Bernd Lünser, 22; Udo Düllick, 25; Werner Probst, 25; Lothar Lehmann, 19; Dieter Wohlfarth, 20 Jahre.

Ingo Krüger, 21; Georg Feldhahn, 20; Dorit Schmiel, 20; Heinz Jercha, 27; Philipp Held, 19; Klaus Brueske, 23; Peter Böhme, 19; Horst Frank, 19; Lutz Haberlandt, 24; Axel Hannemann, 17 Jahre.

Erna Kelm, 53; Siegfried Noffke, 22; Peter Fechter, 18; Hans-Dieter Wesa, 19; Ernst Mundt, 40; Anton Walzer, 60; Horst Plischke, 23; Ottfried Reck, 17; Günter Wiedenhöft, 20; Hans Räwel, 21 Jahre.

Horst Kutscher, 31; Peter Kreitlow, 20; Wolf-Olaf Muszynski, 16; Peter Mädler, 19; Siegfried Widera, 22; Klaus Schröter, 23; Dietmar Schulz, 24; Dieter Berger, 24; Paul Schultz, 18; Walter Hayn, 25 Jahre.

Adolf Philipp, 20; Walter Heike, 29; Norbert Wolscht, 20; Rainer Gneiser, 19; Hildegard Trabant, 37; Wernhard Mispelhorn, 18; Hans-Joachim Wolf, 20; Joachim Mehr, 19; Christian Buttkus, 21 Jahre.

Ulrich Krzemien, 24; Hans-Peter Hauptmann, 26; Hermann Döbler, 42; Kraus Kratzel, 25; Klaus Garten, 24; Walter Kittel, 23; Heinz Cyrus, 29; Heinz Sokolowski, 47; Erich Kühn, 62; Heinz Schöneberger, 27 Jahre.

Dieter Brandes, 19; Willi Block, 31; Lothar Schleusener, 13; Jörg Hartmann, 10; Willi Marzahn, 21; Eberhard Schulz, 20; Michael Kollender, 21; Paul Stretz, 31; Eduard Wroblewski, 33; Heinz Schmidt, 46 Jahre.

Karl-Heinz Kube, 17; Max Willi Sahmland, 37; Franciszek Piesik, 24; Elke Weckeiser, 22; Dieter Weckeiser, 25; Herbert Mende, 29; Bernd Lehmann, 18; Siegfried Krug, 28; Horst Körner, 21; Johannes Lange, 28 Jahre.

Klaus-Jürgen Kluge, 21; Leo Lis, 45; Eckhard Wehage, 21; Christel Wehage, 23; Heinz Müller, 27; Friedhelm Ehrlich, 20; Gerald Thiem, 41; Helmut Kliem, 31; Hans-Joachim Zock, 30 Jahre.

Christian-Peter Friese, 22; Rolf-Dieter Kabelitz, 19; Wolfgang Hoffmann, 28; Werner Kühl, 22; Dieter Beilig, 30; Horst Kullack, 23; Manfred Weylandt, 29; Klaus Schulze, 19; Holger H., 1 Jahr; Volker Frommann, 29 Jahre.

Horst Einsiedel, 33; Manfred Gertzki, 30; Burkhard Niering, 23; Czeslaw Kukuczka, 39; Johannes Sprenger, 68; Herbert Halli, 21; Lothar Hennig, 21; Dietmar Schwietzer, 18; Henri Weise, 22; Wladimir Odinzow, 18 Jahre.

Marienetta Jirkowsky, 18; Hans-Peter Grohganz, 32; Johannes Muschol, 31; Hans-Jürgen Starrost, 26; Thomas Taubmann, 26; Lothar Fritz Freie, 27, Silvio Proksch, 21; Michael-Horst Schmidt, 20 Jahre.

Rainer Liebeke, 34; Manfred Mäder, 38; René Gross, 22; Michael Bittner, 25; Lutz Schmidt, 24; Ingolf Diederichs, 24; Chris Gueffroy, 20; Winfried Freudenberg, 32 Jahre.

Ich bedanke mich beim Präsidenten dafür, dass ich diese Liste zu Ende vortragen durfte, und empfehle Ihnen, vielleicht einmal mit Frau Schwesig zu reden. – Danke.

(Beifall von Frank Neppe [fraktionslos])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Langguth.

Ich finde, dass man das Vortragen solcher Listen nicht unterbrechen kann. Aber das war an dieser Stelle meine persönliche Entscheidung. Ich bitte dafür um Verständnis. Wir waren in der Aktuellen Stunde aber sehr schnell. Insofern hatten wir auch die Zeit, die komplette Liste als Anstoß zum Gedenken mit aufnehmen zu können. Das tun wir natürlich auch.

Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Herr Präsident, ich freue mich darüber, dass Sie einen ausgesprochen angemessenen Umgang damit gefunden haben. Vielen Dank dafür, dass Sie den Vortrag der Liste hier nicht unterbrochen haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute vor 30 Jahren, am 9. Oktober 1989, wurde das Schicksal der DDR entschieden. Heute jährt sich zum 30. Mal der entscheidende Höhe- und Wendepunkt der friedlichen Revolution 1989 in der DDR.

Der bereits von unserer Vizepräsidentin Gödecke angesprochene Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, hat es auf den Punkt gebracht: „Die DDR war am Abend des 9. Oktober nicht mehr dieselbe wie am Morgen.“

Die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig läutete das Ende der SED-Diktatur ein; denn nicht die erwarteten 10.000, 20.000 oder vielleicht 25.000 Demonstranten kamen, nachdem zwei Tage vorher in Plauen bereits 17.000 Menschen demonstriert hatten, sondern es kamen 70.000 Menschen. Und es blieb friedlich.

Wir vergessen heute schnell, in welcher Bedrohungssituation sich die Demonstranten befanden, wie real die Möglichkeit eines neuen 17. Juni 1953, einer erneuten Niederschlagung, war. Die Bürgerinnen und Bürger hatten noch die Bilder vom Massaker in China am Tian’anmen-Platz im Kopf, und sie sind trotzdem auf die Straße gegangen.

Frau Kollegin Gödecke hat vorhin ausgeführt, wie die Bedrohungslage war, auch was die Hinweise an Krankenhäuser anging, die bereits mit Blutkonserven, zusätzlichen Betten und Chirurgen Vorsorge getroffen hatten für die von Stasi und Partei angedeutete Niederschlagung der sogenannten Konterrevolution. Man hatte ja entschieden, an dem Tag ein Fanal zu setzen.

Trotzdem sind die Bürgerinnen und Bürger zu den Friedensgebeten in den Kirchen, in die Nikolaikirche und in andere Kirchen, gegangen. Ich glaube, dass sich die Verantwortlichen dort auch wirklich verantwortlich gezeigt und von vornherein gesagt haben – und das war das Entscheidende –: Für uns gilt an diesem Tag der Satz „Keine Gewalt!“. Und das Interessante ist, dass der langjährige Präsident der Volkskammer im Rückblick gestanden hat: „Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Eingeständnis des seinerzeit dritthöchsten Mannes in der DDR bringt es auf den Punkt: In der Friedfertigkeit des Protests am 9. Oktober lag der eigentliche Schlüssel zum Erfolg. Die staatlichen Kräfte hatten sich in den Tagen zuvor auf schwere, gewaltsame Auseinandersetzungen eingerichtet und unverhohlen gedroht. An anderer Stelle im Land sind zahlreiche Menschen von Sicherheitskräften der DDR geschlagen und verhaftet worden. Auch an diese Menschen sollten wir an dem heutigen Tag ganz besonders erinnern. Trotzdem ist die Masse der Bürgerinnen und Bürger friedlich geblieben, hat sich nicht provozieren lassen und hat eben dadurch die SED-Gewaltherrschaft gebrochen.

Wir sollten nicht vergessen, dass dieses Erbe auch ein Auftrag ist, dass alles, was damals in diesen schwierigen Wochen und Monaten errungen wurde, nicht selbstverständlich ist und dass wir alle etwas tun müssen, damit die Errungenschaften von Einigkeit und Recht und Freiheit weiterhin unsere Gesellschaft und unser Leben prägen und auch das unserer Kinder, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktionslos])

Ich will es noch einmal ganz deutlich sagen: Die Menschen in Ostdeutschland haben in jenen Tagen und vor allem am 9. Oktober 1989 im Aufstand gegen diese Diktatur Leib und Leben riskiert. Wer heute von der Bundesrepublik Deutschland als einer DDR 2.0 spricht, wer behauptet, in unserem Land sei die Meinungsfreiheit eingeschränkt, und wer die Europäische Union als EUdSSR verunglimpft, dem fehlen nicht nur historisches und politisches Urteilsvermögen, sondern er versündigt sich auch an all den mutigen Männern und Frauen, die heute vor 30 Jahren für genau diese Meinungsfreiheit Leib und Leben riskiert und damit den Einsturz einer Diktatur ermöglicht haben.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktionslos])

Eine Diktatur ist immer ein Unrechtsstaat. Hier darf es keine Relativierung geben. Die Einordnung als Unrechtsstaat bedeutet aber eben nicht, dass die Biographien der Bürgerinnen und Bürger der DDR abgewertet werden dürfen. Ganz im Gegenteil! Sicher liegt es manchmal auch an einer gewissen Hochnäsigkeit von uns Westdeutschen, dass wir auch 30 Jahre nach dem Mauerfall starke Friktionen in unserer Gesellschaft haben.

Natürlich – und das ist hier zu Recht angesprochen worden – war es eine historische Leistung von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, die Chance der Einheit gemeinsam mit den europäischen Partnern, gemeinsam mit dem westlichen Bündnis und gemeinsam mit Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse zu nutzen. Aber die friedliche Revolution selbst, den Mauerfall, haben die Bürgerinnen und Bürger der DDR selbst erzwungen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktionslos])

Und was besonders imponiert: Sie haben ihn friedlich erzwungen. Neben dem Ruf „Wir sind das Volk“ erklang auch immer wieder „Keine Gewalt!“. Was anfangs natürlich die Aufforderung an das Regime gewesen ist, nicht zu schießen und nicht zu knüppeln, richtete sich später auch an die Mitdemonstranten, um etwa von Racheakten bei der Besetzung von Stasizentralen abzusehen. Es ging den Demonstrantinnen und Demonstranten eben nicht darum, mit Gewalt ihre Position zu verstärken, sondern um Dialog.

Statt „Stasi in den Knast!“ ertönte oft das tiefgründige und humorvolle „Stasi in die Produktion!“. Gegründet wurden keine Bürgerwehren, sondern runde Tische. Und die Kultur der runden Tische setzte auf Dialog, auf das Gespräch mit den Andersdenkenden, mit den privilegierten SED-Funktionären, die den Unrechtsstaat vertraten.  

Gerade in der heutigen Zeit, in der sachliche Auseinandersetzungen immer schwieriger werden und viele immer mehr dazu neigen, den Andersdenkenden von vornherein als Gegner zu sehen, sollten wir vielleicht an diesem 9. Oktober einmal innehalten und uns fragen, ob wir von dieser großartigen, weil friedlichen ostdeutschen Revolution nicht etwas lernen können: zuzuhören, sich auf die Argumente des Anderen einzulassen und nicht in jedem abweichenden Mitdiskutanten direkt entweder den „linksversifften Gutmenschen“ oder den „Nazi“ zu sehen.

Gerade wenn wir Populisten und Extremisten konsequent bekämpfen wollen, dürfen wir Demokraten diejenigen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die uns unbequeme Positionen vertreten, nicht leichtfertig in die linke oder rechte Ecke stellen. Ich glaube, ein bisschen mehr „runder Tisch“ in unseren Köpfen würde der politischen Kultur in unserem Land guttun.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos] – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, der Geist der Gewaltfreiheit, der sich am 9. Oktober behauptet hat, hat schließlich auch die friedliche Grenzöffnung und den Fall der Mauer ermöglicht. Wenige Tage zuvor, am Abend des 30. September, hatte Hans-Dietrich Genscher den Tausenden DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft die Ausreise in die Bundesrepublik ermöglicht und verkündet. Auch hier bahnte sich der Wunsch nach Freiheit einen friedlichen Weg.

Diese Gewaltfreiheit hat sich übertragen – auch das gehört zur historischen Betrachtung dazu –: Kein DDR-Grenzer hat in jenen Wochen geschossen. Natürlich muss an die Namen der Maueropfer erinnert werden – deshalb fand ich es auch richtig, sie hier zu nennen – und das Geschehen weiter kritisch aufgearbeitet werden. Es gehört aber eben auch dazu, dass sich in diesen Tagen die Gewaltfreiheit übertragen hat und auch bei den Grenztruppen die Vernunft und die Menschlichkeit über die Gewalt gesiegt haben.

Die friedlichen und gewaltfreien Massenproteste, die am 9. Oktober in Leipzig ihren Höhepunkt erreichten, trafen auf eine völlig überforderte Clique in der SED, sodass die Mauer am 9. November 1989 dann Geschichte wurde – wir alle kennen die berühmte Pressekonferenz und die Konsequenzen – und die Möglichkeit entstand, die Grenzübergänge ungehindert überschreiten zu können. Dann wurde der Weg frei zur deutschen Einheit, die sich am 3. Oktober vollendete.

Wir feiern als Bundesrepublik Deutschland den 3. Oktober als Nationalfeiertag. Der 3. Oktober als Tag der formalen Vereinigung ist natürlich auch ein nachvollziehbares Datum. Doch muss ich ehrlich sagen, dass ich diese Feiern häufig ein Stück weit als steril empfinde. Der Grund liegt meiner Meinung nach darin, dass der 3. Oktober im Grunde das Ergebnis war – das Ergebnis von dem, was vorher gewesen war, das Ergebnis von vielen mutigen Männern und Frauen auf der Straße und von vielen wichtigen und mutigen politischen Entscheidungen nicht nur im Jahr 1989, sondern die internationale Entspannungspolitik betreffend auch in den Jahren davor.

Der eigentliche Feiertag ist aus meiner Sicht der heutige Tag, der 9. Oktober, als der entscheidende Wendepunkt in der gesamtdeutschen Geschichte. Es ist der Tag, an dem der Mut über die Angst siegte, der Tag, an dem mutige Frauen und Männer der Freiheit den Weg bahnten.

Das soll uns mahnen, den heutigen Tag – anders, als es bisher der Fall ist – in Erinnerung zu bewahren. Das ist ein Auftrag an uns alle, und es ist auch ein Auftrag an die Vertreter der Medien. Als ich heute Morgen das Frühstücksfernsehen gesehen habe, habe ich mich gewundert, welch marginale Randbetrachtung dieser Tag dort erfahren hat.

Er sollte uns aber vor allem auch eine Mahnung in der Frage sein, wie wir insgesamt miteinander umgehen, wie wir uns gegenseitig zuhören. Denn nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd und zwischen den Demokraten in den unterschiedlichen Schattierungen tut es uns gut, einander zuzuhören. Denn Zuhören ist die Grundlage für Dialog, und Dialog ist die Grundlage für Fortschritt in Freiheit. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Alexander Langguth [fraktionslos])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, sodass wir nun zur Abstimmung über die beiden vorliegenden Anträge kommen.

Wir stimmen zunächst ab über den Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/7540. Die antragstellende Fraktion hat direkte Abstimmung beantragt. Wer stimmt dem Inhalt des Antrags zu? – Die SPD-Fraktion sowie Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Die AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – CDU, FDP, Herr Langguth und Herr Neppe, fraktionslos, enthalten sich.

Damit ist der Antrag Drucksache 17/7540 mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU, FDP und der beiden fraktionslosen Abgeordneten gegen die Stimmen der AfD angenommen.

(Beifall von der SPD)

Wir stimmen zweitens ab über den Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/7608. Auch über diesen Entschließungsantrag ist direkt abzustimmen. Wer stimmt zu? – CDU, FDP, SPD sowie die beiden fraktionslosen Abgeordneten Neppe und Langguth stimmen diesem Entschließungsantrag zu. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und AfD-Fraktion ist der Entschließungsantrag Drucksache 17/7608 einstimmig angenommen.

Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts angelangt. Ich rufe auf:

4   Bürger in NRW vor Bevormundung und Abzocke schützen – Belastungen durch das Klimakabinett stoppen!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7532

In Verbindung mit:

Mit dem Klimaschutzpaket der Bundesregierung können die Klimaziele nicht erreicht werden – Landesregierung muss sich für Nachbesserungen einsetzen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/7538

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7606

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7611

Die Aussprache ist eröffnet, und als Erste spricht für die grüne Fraktion die Fraktionsvorsitzende, Frau Düker.

Monika Düker*) (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Frage steht im Raum: Reicht das sogenannte Klimapaket der Großen Koalition in Berlin aus, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen? Die Antwort lautet schlicht und einfach: Nein, das tut es nicht.

Acht Monate nach Vorlage des Berichts der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ – das ist einen Monat mehr, als die Kommission selber brauchte, um ein Ergebnis zu erarbeiten – haben wir zwar kein Gesetz, das eigentlich notwendig wäre, aber zumindest ein Ergebnis des sogenannten Klimakabinetts. Acht Monate nach Vorlage des Kommissionsberichts kann man dieses Paket nur als Dokument des Politikversagens bezeichnen, denn es ist zulasten der nachfolgenden Generation, und wir werden damit die Klimaschutzziele krachend verfehlen. Das sieht auch eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland so. 53 % der Menschen in Deutschland sagen: Das ist unzureichend!

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch die Wissenschaft ist sich ziemlich einig. Ottmar Edenhofer vom Potsdam Institut sagte bei Anne Will am Sonntagabend danach: Die Klimaziele werden nicht erreicht. Politik ist zwar die Kunst des Möglichen, hat aber versäumt, das Notwendige möglich zu machen. – Das ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten.

Bemerkenswert ist, dass an dem Tag, an dem das Klimakabinett das entschieden hat, 1,4 Millionen Menschen in Deutschland auf der Straße standen. Beim Kampf gegen die Atompolitik waren es nicht so viele. Das hat selbst der Kampf um den Atomausstieg nicht geschafft. 1,4 Millionen Menschen auf der Straße setzen sich für mehr Klimaschutz ein. Dieser Rückenwind war eine einmalige Chance, genau das, was von der Wissenschaft und den Menschen im Land erwartet wird, möglich zu machen. Natürlich hat Angela Merkel recht: Es geht um nicht weniger als um eine Menschheitsherausforderung. – Sowohl die Große Koalition in Berlin als auch Schwarz-Gelb hier im Land sind an ihren eigenen Ansprüchen krachend gescheitert.

(Beifall von den GRÜNEN)

Weil die Redezeit nicht ausreicht, all das aufzuzählen, was fehlt, nur das aus unserer Sicht Relevanteste:

Erstens und vor allem Richtung SPD: Das Ganze ist nicht sozial gerecht. Wenn durch eine CO2-Beprei-sung eine Mehrbelastung entsteht, dann muss zwingend eine Pro-Kopf-Rückerstattung erfolgen, um erstens Akzeptanz, zweitens Anreize für eine Einsparung zu schaffen und drittens soziale Brüche zu verhindern. Hier ist etwas konzeptionell grundfalsch angelegt. Im Übrigen hat das Gutachten, das die Regierung selbst in Auftrag gegeben hat, genau das festgestellt, aber es wurde nicht umgesetzt.

Und dann kommt die Pendlerpauschale. Erstens ist die Pendlerpauschale eine Überkompensation und zweitens profitieren die falschen, nämlich die Besserverdienenden, und nicht diejenigen, die wenig Geld in der Tasche haben. Das ist der größte strukturelle Fehler an diesem Klimapaket.

(Beifall von den GRÜNEN)

Zweitens. Es ist völlig wirkungslos und ambitionslos,

(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

mit einer Bepreisung von 10 Euro an den Start zu gehen. Herr Brockes, Sie kennen doch die Berechnungen. Eine Tonne CO2 wird vielleicht nicht Sie und mich, aber unsere nachfolgenden Generationen 180 Euro Folgekosten kosten. Deswegen sind 10 Euro ein völlig falscher Einstieg in die CO2-Bepreisung. Das reicht auf keinen Fall aus.

Drittens. Ein ganz großer Fehler ist, dass hier mit der Neuausrichtung der Verkehrspolitik nicht begonnen wurde. Es ist ein Sektor, der bei den Klimazielen nicht nur nichts erreicht hat, sondern in dem die Emissionen sogar noch steigen. Gerade in diesem Sektor ist es völlig unzureichend, lediglich eine Mehrwertsteuersenkung im Bereich der Bahn vorzunehmen und die Kfz-Steuer irgendwie an die CO2-Emissionen zu koppeln, und das in dieser Pauschalität. Das ist ja nicht verbranntes CO2, sondern das wird auch für ein Auto bezahlt, das vielleicht nicht fährt. Das reicht bei Weitem nicht aus für das, was wir brauchen, um eine Mobilitätswende zu erreichen.

Selbstverständlich braucht es Anreize – davon gibt es viel zu wenige in dem Paket –, aber gerade bei der Mobilitätswende braucht es auch einen ordnungsrechtlichen Rahmen mit einem klaren Fahrplan zur Beendigung des Verbrennungsmotors. Auch hier lautet das Fazit: zu wenig, zu unverbindlich, zu viel Klein-Klein. – Die Bevölkerung und die Wissenschaft sagen zu Recht: Das reicht nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Schön, dass die SPD heute unsere Kritik im Wesentlichen teilt. Unverständlich, liebe Kollegen von der SPD, ist, warum Sie das als Regierungspartei in Berlin nicht umsetzen. Geradezu unverständlich, Herr Pinkwart, finde ich Ihre Äußerung und die des Ministerpräsidenten nach der Vorstellung, dass Sie das alles zu ambitionslos fänden, da fehlten konkrete Impulse, das sei nicht ausreichend. Dann sagen Sie uns doch bitte heute, was Sie im Bundesrat tun, um daran etwas zu ändern. Dem Antrag der Koalitionsfraktionen konnte ich das nicht entnehmen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin Düker, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Monika Düker*) (GRÜNE): Bitte.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Deppe, Sie haben das Wort.

Rainer Deppe (CDU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Düker, Sie haben sich eben mit der Pendlerpauschale auseinandergesetzt. Ich hoffe nicht, dass Sie wie Herr Harbeck auch nicht wissen, wie die zustande kommt.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Wie kommt die denn zustande?)

Sie sind ja Düsseldorferin. Ein Großteil der Menschen wohnt jedoch nicht in Kernstädten und in Großstädten. Können Sie dem Haus einmal erklären, warum Menschen, die weite Wege zur Arbeit pendeln, nach Ihrer Aussage zu den Besserverdienenden gehören? Hier verweise ich nur auf das Bergische Land, in dem ich wohne und wo ich sehe, welchen Siedlungsdruck von Menschen wir haben, die sich das Wohnen in Köln nicht mehr leisten können und deshalb weiter von der Stadt wegziehen. Wie kommen Sie zu dem Ergebnis, man würde damit ausgerechnet die Besserverdienenden unterstützen? Die Frage an Sie: Haben Sie nicht zu sehr einen Blick aus der Sicht der besserverdienenden Großstädter?

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Deppe. Ich empfehle an der Stelle die Lektüre der Geschäftsordnung bezüglich einer kurzen Zwischenfrage. – Jetzt hat Frau Kollegin Düker die Möglichkeit zur Beantwortung.

Monika Düker*) (GRÜNE): Herr Deppe, die Antwort für die Pendler im ländlichen Raum – ich bin im ländlichen Raum groß geworden, habe dort meine Jugend verbracht und weiß, was dort das Auto bedeutet –

(Rainer Deppe [CDU]: Das haben Sie wohl vergessen!)

ist eine bessere ÖPNV-Anbindung an ihren Arbeitsplatz – das ist doch die zentrale Antwort –,

(Beifall von den GRÜNEN)

damit man ihnen eine Möglichkeit des Umstiegs gibt.

Was die Besserverdienenden angeht, das ist eine andere Debatte.

Wenn ich auf der einen Seite mit einer CO2-Beprei-sung für die Menschen eine Belastung vorsehe – wir wollen alle nicht die Gelbwesten, die es in Frankreich gab, bei uns auf der Straße haben –,

(Marc Herter [SPD]: Aha!)

dann muss es eine Eins-zu-eins-Erstattung und eine Pro-Kopf-Erstattung geben, ob es nun eine Klimaprämie ist, wie es die Kollegen der SPD sagen, oder ein Bürgergeld ist, wie wir sagen. So muss eine Rückerstattung erfolgen.

(Zuruf von Marc Herter [SPD])

Aber wenn man eine Kompensation dieser Mehrbelastung über eine Pendlerpauschale macht, dann passt das nicht zueinander. Dann bekommen nämlich diejenigen, die unter Umständen mit der CO2-Bepreisung hoch belastet sind, weniger Geld zurück als diejenigen, die niedrig belastet sind, die mit der Pendlerpauschale dann eine Überkompensation haben.

Das ist nicht die Steuerung, die wir brauchen. Das heißt, selbstverständlich müssen die Menschen im ländlichen Raum eine bessere Anbindung an ihre Arbeitsplätze haben und dürfen nicht schlechter gestellt werden. Aber wir brauchen vor allen Dingen eine sozialverträgliche akzeptierte CO2-Bespreisung, die – noch einmal – Anreize schafft, CO2 einzusparen und vor allen Dingen akzeptiert wird, weil durch sie keine sozialen Brüche erfolgen. Das ist das strukturelle Hauptproblem dieses Klimapakets.

(Beifall von den GRÜNEN)

Da sind zwei Instrumente übereinandergebracht worden, die nicht übereinander gehören.

Und das fehlt diesem Klimapaket: Es fehlt ein Gesamtkonzept für alle Sektoren. Ich habe noch nicht den Sektor Landwirtschaft erwähnt. Dass die industrielle Massentierhaltung auch etwas mit Klimaschutz zu tun hat, hat Frau Klöckner, glaube ich, bis heute noch nicht verstanden. Ich habe ebenfalls noch nicht den Gebäudebereich erwähnt – auch hier geht es um Sozialpolitik –, wo die energetische Sanierung selbstverständlich stärker steuerrechtlich angerechnet werden muss. Denn das bezahlen dann nämlich die Mieterinnen und Mieter.

(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

Auch hier müssen wir für einen sozialen Ausgleich sorgen, auch hier fehlt es an entscheidenden Stellschrauben.

Also zusammengenommen: Wenn wir die Sektoren ansehen, sind überall kleine Rädchen gedreht und hier ein Förderprogramm und da ein Anreiz gesetzt worden. Aber insgesamt ergibt das doch kein Gesamtkonzept, wie wir miteinander in eine klimaneutrale Zukunft gehen können. Nichts weniger brauchen wir, und nichts weniger gibt uns das Pariser Klimaschutzabkommen auf. Deswegen sage ich: Dieses Konzept hat seine Ziele verfehlt. Die GroKo ist an ihren Ansprüchen gescheitert.

Herr Pinkwart, wenn Sie vor der Haustür weiter an Ihrer Sabotage bei dem Ausbau der erneuerbaren Energien festhalten

(Heiterkeit von der SPD)

– das haben Sie auch schwarz auf weiß –: Mit der Halbierung der Flächen für Windenergie werden Sie keine Verdoppelung erreichen.

(Zuruf von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

Nichts weniger als eine Verdoppelung brauchen wir aber, um das 65-%-Ziel des Anteils erneuerbarer Energien zu erreichen. Das heißt: Hören Sie auf, hier Bekenntnisse abzugeben. Handeln Sie endlich hier in NRW; lassen Sie Ihren Worten endlich Taten folgen!

(Beifall von den GRÜNEN)

Die GroKo in Berlin braucht Gegenwind. Ich hoffe, dass der Gegenwind auch aus Nordrhein-Westfalen kommt. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Als nächster Redner hat für die antragstellende Fraktion des Antrags Drucksache 17/7532 Herr Abgeordneter Loose für die Fraktion der AfD das Wort.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Während Herr Pinkwart immer wieder von technologieoffenen Lösungen redet, fackelt die Bundesregierung nicht lange und verbietet einfach Technologien. Denn die Regierung will den Einbau von Ölheizungen verbieten. Die Regierung allein sagt, dass Gasheizungen gute Heizungen und Ölheizungen schlechte Heizungen sind. Und wenn die Regierung das sagt, dann muss es wohl auch stimmen.

Knapp fünf Millionen Ölheizungen haben wir in Deutschland, und Ölheizungen haben auch Vorteile. So wird Öl aus 30 Ländern importiert, während wir beim Gas von wenigen Ländern abhängig sind. Das heißt, wenn der Russe den Gashahn zudreht, dann stehen die Leute mit einer Gasheizung vor einem Problem, während die Menschen mit einer Ölheizung weiter aus ihrem Tank schöpfen können.

Doch Frau Merkel will die Menschen zwingen, auf Ölheizungen zu verzichten. Wir von der AfD wollen aber, dass die Menschen noch frei sind und selbst entscheiden können. Noch sind wir nicht in der DDR, und dahin wollen wir auch nie wieder zurück.

Zusätzlich zu den Verboten kommen jetzt neue Steuern. Die heißen nur diesmal CO2-Zertifikate, und wieder trifft es die Autofahrer. Dabei haben wir gerade beim Verkehr mit die höchsten Belastungen der Welt. So beträgt allein die Mineralölsteuer inklusive der Mehrwertsteuer umgerechnet bereits jetzt mehr als 300 Euro pro Tonne CO2, Frau Düker. Das ist deutlich mehr als Ihre 180 Euro.

Doch CDU, SPD und Grünen und mit dem Entschließungsantrag auch der FDP reicht das noch nicht. Der Preis muss steigen, höher und höher. Denn schließlich braucht Deutschland Geld. Wer wird das am Ende bezahlen? Die Krankenschwester, die morgens um fünf Uhr zur Arbeit muss, für die übrigens kein Bus fährt, Frau Düker, oder der Malocher in der Fabrik, der um 22 Uhr bei der Nachtschicht sein muss, wo auch kein Bus hinfährt.

Hören Sie doch endlich auf, die Axt an unsere freie Wirtschaft zu legen. Reicht es nicht, dass die Menschen bereits jetzt den höchsten Strompreis bezahlen? Reichen Ihnen nicht mehr als 300.000 Stromsperren jedes Jahr, 300.000 Haushalte, 300.000 Familien, die sich den Strom aufgrund Ihrer Politik nicht mehr leisten können, damit dann der Lehrer seine TV-Anlage auf dem Dach bezahlt bekommt und die Windkraftlobby sich dumm und dämlich verdient?

Wir aber sagen: Nein. Es wird Zeit, dass Sie aufhören, neue Steuern zu erfinden. Fangen Sie endlich an zu sparen. Denn Nachhaltigkeit bedeutet nichts anderes als Sparsamkeit.

Doch – wie gesagt – dem Finanzminister fehlen wohl Gelder, die meistens dann aber nicht der deutschen Bevölkerung zugutekommen, sondern für Griechenlandrettung, Millionen von Migranten oder für einen erhöhten EU-Beitrag genutzt werden, den wir ja demnächst brauchen, wenn der Brexit kommt.

Dabei hat der Finanzminister bereits seit Jahren genügend Finanzmittel. Es gibt Rekordsteuereinnahmen, und aufgrund der Niedrigzinspolitik hat der Finanzminister in den letzten zehn Jahren 370 Milliarden Euro an Zinsen gespart, was letztendlich zulasten der Sparer in Deutschland geht, die ihre Lebensversicherung demnächst vielleicht nur noch zur Hälfte ausgezahlt bekommen, und auch zulasten der Steuerzahler.

Wieder reicht das Geld nicht. Deshalb jetzt der geniale Einfall: CO2-Steuern müssen her, CO2-Steuern auf Benzin und auf Diesel für den Autofahrer, CO2-Steuern auf Diesel für Landwirte – damit werden auch landwirtschaftliche Produkte teurer –, CO2-Steuern für das Heizen, CO2-Steuern für das Fliegen. Und der dumme Michel zahlt es, oder es bleibt halt die Wohnung für die Familie kalt. Denn jede Kritik an dieser Politik wird öffentlich an den Pranger gestellt. Zuletzt traf es den Kabarettisten Dieter Nuhr.

Wer aber eine freie Debattenkultur in einem freien Land haben möchte, der darf Themen nicht tabuisieren. Dazu gehört auch die Kritik an der sogenannten Energiewende. Wer solche Debatten unterdrückt, stellt sich selbst ins Abseits unserer freien Demokratie. Fangen Sie an, sich für eine freie Wirtschaft, für eine Technologieoffenheit und gegen Verbote und neue Steuern zu engagieren. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Loose. – Für die Fraktion der CDU hat nun Herr Abgeordneter Rehbaum das Wort. Bitte sehr, Herr Kollege.

Henning Rehbaum (CDU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Klimapaket der Bundesregierung ist der Einstieg in die konsequente technologieoffene Umstellung der Volkswirtschaft auf CO2-Neutralität in allen Sektoren.

CO2 ist die neue Währung nicht nur bei der Energieerzeugung, sondern auch bei Gebäuden und Mobilität. Wer CO2 spart, wird belohnt. Wer in CO2-sparende Technologie investiert, wird unterstützt.

Wichtig ist, dass auf diesem Weg jeder mitgenommen wird und CO2-Bepreisung europaweit läuft.

Die Grünen haben offensichtlich Angst vor einem Sinken ihrer Umfragewerte und radikalisieren sich zusehends auf dem Rücken von Familien, Pendlern, Rentnern, Eigenheimbesitzern, Unternehmen und Landwirten.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Politik hat die Pflicht, zu Ende zu denken, was ihre Entscheidungen bewirken. Es kann und darf bei der Energiewende nicht darum gehen, kurzfristig Trophäen zu präsentieren, um Umfrageprozente zu gewinnen. Es geht jetzt darum, die Volkswirtschaft einer der größten Industrienationen der Erde umzustellen.

Wir Christdemokraten in Bund und Ländern wollen Bürger und Wirtschaft auf diesem Weg mitnehmen. Wir wollen, dass diese Operation am offenen Herzen unserer Volkswirtschaft dauerhaft gelingt.

Es klingt so einfach, die Kosten für CO2 ad hoc massiv anzusetzen, um den Menschen das Autofahren abzugewöhnen. Aber spielen wir das doch mal durch: Millionen von Bürgern in Nordrhein-Westfalen sind auf das Auto angewiesen, auf dem Land, aber auch in der Stadt. Investitionsentscheidungen sind getroffen worden. Oft sind Darlehen abzuzahlen.

Ein sofortiger vorzeitiger Austausch des gut gebrauchten Pkw hin zu einer kleineren Motorisierung, zu Elektromobilität oder Wasserstoff ist für Otto Normalverbraucher nicht möglich.

Davon abgesehen muss man ernsthaft eine Frage stellen: Ist die vorzeitige Verschrottung mehrerer Millionen mit viel CO2-Ausstoß hergestellter Fahrzeuge auf einen Schlag eigentlich ein positiver oder ein negativer Beitrag zum Klimaschutz?

Gleiches gilt für die Fuhrparks von Handwerkern oder im ÖPNV, die noch nicht abgeschrieben sind. Sollen Zigtausende gut erhaltene Busse und Züge vorzeitig verschrottet und ersetzt werden?

Mit ihren krassen Forderungen erhaschen die Grünen vielleicht Applaus in ihrer Szene, vielleicht sogar ein Prozentpünktchen in den Umfragen; ihre Forderungen würden aber Millionen von Familien, Berufspendler, Rentner, Nahverkehrsbetriebe, Handwerker und Landwirte in finanzielle Schwierigkeiten stürzen, weil sie ihre Fahrzeuge so kurzfristig nicht austauschen können und nicht jedes Dorf im 10-Minuten-Takt an Bus und Bahn angeschlossen werden kann – und das wissen Sie ganz genau.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Auch der Industrie mit ihren rund 1,4 Millionen Beschäftigten allein in Nordrhein-Westfalen müssen wir eine realistische Chance geben, vernünftig in klimafreundliche Technologie zu investieren.

Es ist ganz einfach: Werden Unternehmen jetzt mit einem zu hohen CO2-Preis geschwächt, gehen sie unter oder sie verlassen das Land samt ihres CO2-Ausstoßes. Nur wirtschaftlich starke Unternehmen investieren in Klimaschutz und Arbeitsplätze vor Ort, und das ist unser Ziel.

(Beifall von der CDU und der FDP)

SPD und Grüne haben 2016 den Leitantrag zum Braunkohleabbau bis 2045 verabschiedet und für NRW 2013 mutlose 25 % CO2-Reduktion bis 2020 beschlossen, Totalausfall beim Photovoltaikausbau, mickriger Radwegeausbau, keine Stadtbahnsanierung, keine Reaktivierung von Eisenbahnstrecken, dafür eine massive Klagewelle gegen ihre eigene Windkraftpolitik. Die Klimaschutzbilanz der rot-grünen Landesregierung bis 2017 ist eine große Enttäuschung. Sie hatten Ihre Chance. Sie haben sie nicht genutzt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dafür überschlagen Sie sich jetzt mit werbewirksamen Forderungen: massive CO2-Steuer, sofortiges Verbot von Ölheizungen, Verbot von Verbrennungsmotoren. Die neuesten Verbotsideen der Grünen machen den Menschen Angst und treiben einen Keil in die Gesellschaft.

Die Wissenschaft warnt uns zu Recht vor Klimakipppunkten, und hier ist Entschlossenheit gefragt. Es gibt aber auch gesellschaftliche Kipppunkte, und auch deren Eintreten müssen wir alle verhindern.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sich bei der Bewahrung der Schöpfung feige wegzuducken wie die AfD, ist keine Alternative.

Die SPD wiederum hat Klimachaostage eingeläutet: jeder gegen jeden. Die SPD-Landtagsfraktion fällt mit der heute hastig eingebrachten Forderung nach einer CO2-Steuer, mit der man keine CO2-Mengen steuern kann, und dem Einfrieren der Pendlerpauschale den eigenen Bundesministern Schulze und Scholz, dem Bundesfraktionsvorsitzenden Mützenich und Malu Dreyer in den Rücken und Millionen Berufspendlern in Nordrhein-Westfalen gleich mit.

Wie wir hören, ist nun doch ein Einsparziel für 2040 im Entwurf des Klimaschutzgesetzes von Ministerin Schulze, das heute durch das Bundeskabinett gegangen sein soll, und das ist richtig so.

Der Investitionsvorlauf der Industrie für großtechnische Anlagen beträgt 20, 30 Jahre. Politik muss Unternehmen Planungssicherheit geben, wenn wir von ihnen millionenschwere Investitionsentscheidungen für Klimaschutz und Energieeffizienz wollen.

(Beifall von der CDU)

Die Wirtschaft will ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten, doch sie braucht Investitionssicherheit.

Der Rahmen ist gesetzt; jetzt kommt es auf die Details an. Jetzt ist es wichtig, dass folgende Punkte im Klimapaket enthalten sind, damit die Energiewende gelingt:

die Stärkung der Sektorkopplung, die deutliche Absenkung der EEG-Umlage und der Stromsteuer auf das europäische Minimum, die Abschaffung des 52-Gigawatt-Deckels für Photovoltaik, wie von uns im Bundesrat gefordert, der Abbau der steuerlichen und regulatorischen Hemmnisse für den Mieterstrom, die Abschaffung der doppelten Abgabenbelastung von Energiespeichern, klare Rahmenbedingungen für Gaskraftwerke für dunkle und windstille Tage, die unbürokratische steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung, die faire Lastenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.

Der CO2-Handel muss unbedingt europaweit erfolgen, um Stahl‑, Aluminium‑, Zement‑, Chemie‑, Glas‑ oder Papierherstellung nicht ins Ausland zu vertreiben.

Die jährliche Überprüfungsklausel muss aktiv genutzt werden, um mit jedem Jahr bei unserem Zieldreieck besser zu werden: Bewahrung der Schöpfung, Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze sowie bezahlbare Energie für Familien und Unternehmen.

Das ist unser Kompass für die Energiewende. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Rehbaum. – Es gibt eine Kurzintervention zu Ihrer Rede, angemeldet von der AfD-Fraktion. Die wird Herr Loose durchführen; damit hat er das Wort. Sie werden, wie ich sehe, vom Platz aus antworten, Herr Rehbaum. – Bitte schön, Herr Loose.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Rehbaum! Die Bewahrung der Schöpfung – ja, das wollen wir als AfD. Wenn nicht wir, wer eigentlich dann?

(Zuruf von der SPD: Alle anderen! Alle anderen!)

Sie alle verschwenden Gelder, Milliarden. Sie haben in der Vergangenheit schon 200 Milliarden für die sogenannte Klimarettung verschwendet, ohne eine einzige Tonne CO2 zu reduzieren. Das geht auch noch auf die nächste Generation über, die die EEG-Umlage in den nächsten 20 Jahren bezahlen muss.

Wir empfehlen, sich die Schöpfung vor Ort anzuschauen. Wir wollen zum Beispiel keine Kinderarbeit im Kongo für den Abbau von Kobalt für Elektroautos. Wir wollen keine Wasserverschwendung in Südamerika bei der Gewinnung von Lithium für Elektroautos. Wie wollen keine Hölle auf Erden – wie es so schön beschrieben wird – beim Abbau von Neodym in China.

Damit könnten wir zur Bewahrung der Schöpfung beitragen. Das Einzige, was Sie machen, ist, stur immer nur auf CO2 zu gucken und die Menschen in der Welt im Stich zu lassen. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Rehbaum, bitte schön.

Henning Rehbaum (CDU): Herr Kollege Loose, Sie haben die Frage nach den Rohstoffen und den Abbaumethoden für Batterien angesprochen. Weil das Thema „Recycling“ für Akkus ein so wichtiges Thema ist, hat das Bundesforschungsministerium den Zuschlag für Batterieforschung und ‑fertigung nach Nordrhein Westfalen gegeben und mit 500 Millionen Euro unterstützt. Die nordrhein-westfälische Landesregierung packt noch mal 200 Million Euro drauf.

Der zentrale Punkt, warum der Zuschlag nach Nordrhein-Westfalen ging, ist, dass dort das Thema „Recycling“ ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Genau das ist die Antwort auf Ihre Frage, wie wir die Abbaumethoden für Rohstoffe und die Fertigungsmethoden für Batterien verbessern.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Rehbaum. – Als Nächster spricht für die SPD-Fraktion, Herr Kollege Stinka.

André Stinka (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rehbaum, alle Achtung, ich muss schon sagen. Sie sind doch Sprecher im Wirtschaftsausschuss. Sprechen Sie mal mit Ihrem Wirtschaftsminister. Sie greifen das Klimaschutzgesetz der rot-grünen Landesregierung an. Ihr Minister sagt, durch das Gesetz hätten wir 27 % eingespart – und Sie sagen hier, wir hätten nichts getan.

(Zurufe von Henning Höne [FDP] und Alexander Brockmeier [FDP])

Dass Sie im Bereich von Energie‑ und Klimaschutzpolitik ein Irrfahrer sind, wussten wir schon lange, aber heute haben Sie es noch mal unter Beweis gestellt.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Kein roter Faden, keine klare Linie. Sie ruhen sich auf dem aus, was Rot-Grün hier beschlossen hat, und sagen heute, es sei eine Irrfahrt gewesen.

Sie haben nach zweieinhalb Jahren nichts vorzuweisen, blockieren die Windkraft und reden von Photovoltaik an Baggerseen. Dann stellen Sie sich hier hin und sagen, Sie hätten einen Kompass. – Null. Gar nichts. Wenn, fahren Sie immer vor die Wand mit einem wahrscheinlich nicht mal ordentlichen Diesel, Herr Rehbaum. Das ist Ihre Antwort auf die Klimafrage hier in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Ich will Svenja Schulze hier ausdrücklich loben und habe ihr gestern Abend bei einem Telefonat noch gesagt: Wenn du mit Söder und mit Seehofer verhandeln musst, gehört dir die Solidarität der SPD-Fraktion, denn da scheitern wichtige Maßnahmen im Bau‑ und im Verkehrsbereich und nicht an der Ministerin, die versucht, Klimaziele für alle Sektoren zu organisieren, wie wir sie notwendigerweise auch im Land brauchen. Sprechen Sie mal mit denen. Oder reden Sie mit denen genauso um den heißen Brei herum, wie hier in der Debatte?

(Beifall von der SPD)

Weil die Debatte der letzten Tage und Wochen sehr emotional war, will ich es noch mal darauf herunterbrechen, welche Aufgaben wir eigentlich haben und worüber wir eigentlich reden.

In meinem Redemanuskript steht hier „persönliche Note“: Ich mache darauf aufmerksam, dass ich 1990 in Dülmen im Bereich Klima und Energie angefangen habe. Damals sind alle belächelt worden, die das organisierten. Damals hat VEW noch Anzeigen geschaltet, in denen es hieß, dass Windkraft niemals einen Beitrag zur Energieversorgung leisten werde.

Warum sage ich das heute, Kolleginnen und Kollegen? – Ich will deutlich machen, dass wir uns immer auf einen Pfad begeben und weil es für uns Sozialdemokraten wichtig ist, dass die massiven Herausforderungen, die wir hier angehen müssen, natürlich immer in Dekaden zu denken sind.

Ich weise darauf hin, dass wir mit „Fridays for Future“ – Menschen, die den notwendigen Wandel und einen Fortschrittsmotor in Nordrhein-Westfalen wollen – ins Gespräch kommen müssen.

Wir dürfen aber nie aus den Augen verlieren, dass wir die Menschen auch mitnehmen und sie von unseren Ideen und den Notwendigkeiten überzeugen müssen. Wir müssen verantwortlich und verantwortungsbewusst handeln. Das müssen wir im Dialog organisieren.

Die rot-grüne Landesregierung hat den KlimaDiskurs.NRW eingeführt. Wir reden über den Fortschrittsmotor „Klimaschutz“, damit die Industrie, die Bürgerinnen und Bürger und die Verbände in diesem Land klare Positionen und Linien haben und wissen, was planbar ist und was nicht. Deswegen hat sich Rot-Grün auch für ein Klimaschutzgesetz, gepaart mit einem Klimaschutzplan, entschieden.

Dieser KlimaDiskurs – vielleicht besuchen Sie die Veranstaltung mal – hat die Aufgabe, unterschiedliche Aspekte zusammenzubringen und gemeinsam mit Industrie, Wirtschaft, Bürgerinnen und Bürgern Lösungen zu erarbeiten.

Es war mir wichtig, das heute noch mal zum Einstieg zu sagen, denn wenn wir Sozialdemokraten eines nicht wollen, ist es, dass der Klimawandel und die Debatte darüber die Gesellschaft auseinandertreiben.

Deshalb gehören auch viele Fragen, die die Demokratie angehen oder diesen Klimaschutzplan und die Gesetze, die in Berlin verabschiedet werden, ins Parlament. Es ist viel kritisiert worden, dass der Klimarat entmachtet würde. – Nein, wir sind Parlamentarier und müssen darum streiten, wie wir diese globale Herausforderung angehen.

(Beifall von der SPD)

Klimaschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und wir werden alle umdenken müssen; das habe ich bei meiner letzten Rede zu diesem Thema schon gesagt. Dazu gehört, dass wir den Menschen klar sagen, dass es Akzeptanz für die Lösung geben und diese Akzeptanz organisiert werden muss.

Akzeptanz entsteht, wenn es gerecht zugeht. Die Menschen müssen verstehen, dass es gerecht zugeht und sie nicht benachteiligt werden. Wir werden nämlich mehr Anstrengungen brauchen, als nur einige wenige Prozent.

Frau Düker, Sie hatten das angesprochen:

(Zuruf von Monika Düker [GRÜNE])

Ja, die Menschen unterschreiben das. – Sie haben aber durchaus Sorge, dass sie abgehängt werden. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen.

Wir brauchen eine breite Akzeptanz für diese riesige gesellschaftliche Transformation. Deswegen ist es wichtig, den Menschen klar zu sagen: Klimaschutz wird Geld kosten. Einfache Lösungen wird es nicht geben, und es wird zu Umverteilungen kommen müssen.

Belastungen und Umverteilungen müssen politisch gelenkt werden. Transformation hin zu Treibhausgasneutralität wird es geben, aber sie darf nicht überproportional diejenigen belasten, die im Verhältnis weniger haben.

Deswegen ist für uns Sozialdemokraten die zentrale Frage: Wie können ökonomische Instrumente genutzt werden, um eine breite Akzeptanz für diese gesellschaftliche Veränderung zu organisieren? – Akzeptanz für Klimaschutz und Umweltmaßnahmen ist immer auch eine soziale Frage.

Diese Debatte müssen wir führen, und mir scheint: Sie geht ab und an unter. Einkommen und soziale Lage, nämlich die Möglichkeit an Teilhabe, mehr energiesparende Geräte zu beschaffen, sind ganz entscheidend für die nächsten Jahre, damit dieser notwendige Prozess gelingt.

Wir als Politik haben die Verantwortung dafür, alle Menschen mitzunehmen und sie am Ende nicht abzuhängen. Deswegen müssen wir die Instrumente klar beschreiben und Umweltpolitik gerecht organisieren.

Eine nachhaltige Umwelt‑ und Klimapolitik muss genau aus diesem Grund Umwelt‑ und Klimabelastungen unabhängig von der sozialen Lage gleichmäßig verteilen, denn einen großen CO2-Fußabdruck hinterlassen nicht die Menschen mit geringem Einkommen, sondern eher Menschen mit einem hohen Lebensstandard.

Belastungen von Umweltmaßnahmen, die nicht zu einer sichtbar höheren Umweltqualität führen oder nur bestimmten sozialen Gruppen zugutekommen, verlieren sehr schnell an Akzeptanz. Das ist keine Ausrede, sondern Notwendigkeit von politischem Handeln.

Wir als SPD-Landtagsfraktion – das gebe ich deutlich zu – hätten uns ohne Frage eine höhere CO2-Bepreisung gewünscht. Ich will aber hier noch mal deutlich machen, dass in einer Regierung, in einem parlamentarischen Verfahren ein Kompromiss zu akzeptieren ist.

Trotzdem kämpfen wir weiter für eine andere Bepreisung. Ich habe diese Forderung genau an dieser Stelle vor wenigen Wochen schon mal deutlich gemacht.

Der CO2-Preis ist aber eine Maßnahme, die ihre Lenkungswirkung Stück für Stück entfalten wird. Klimafreundliche Alternativen kosten Geld. Lenkungswirkung bedeutet auch, dass hinter jeder Lenkungswirkung auch eine machbare Alternative bei Pkw-Nutzung, bei ÖPNV, bei Hausbau und Sanierung steht. Wir setzen auf Anreize – auch im Hinblick auf den nächsten regulären Autokauf.

Wir brauchen dringend eine Umstellung in der Landwirtschaft; das ist klar. Aber deswegen ist es sicher richtig, in Gesetze zu fassen, welche Maßnahmen die einzelnen Sektoren beibringen müssen.

Es ist für Wirtschaft sowie Bürgerinnen und Bürger klar, dass sie Planungssicherheit haben. Eine Preisänderung ist nicht das Entscheidende, sondern ein langfristiger, verlässlicher Preispfad.

Für uns Sozialdemokraten ist das Klimapaket der Bundesregierung ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es ist der Anfang eines Prozesses, den wir auf den Weg gebracht haben. Mein Zutrauen in Gesetze ist nach wie vor da, wenn Klimaziele rechtsverbindlich auch für den Wirtschaftsbereich gelten. So haben wir das in Nordrhein-Westfalen gemacht, und das ist, glaube ich, auch der richtige Weg in Berlin.

Wenn wir das Jahr 2030 in den Blick nehmen und auf das Jahr 2019 zurückschauen und sehen, dass die Reduktionsziele erreicht werden, erweist sich manche aktuelle Aufgeregtheit als übertrieben und unsachgemäß.

Wir stehen bis 2030 vor der Aufgabe, im Gebäudebereich 70 % weniger, im Verkehr 40 % weniger und in der Landwirtschaft 30 % weniger CO2 auszustoßen. Wie wir dies erreichen, das ist die spannende Frage, über die wir hier deutlich streiten müssen.

Wir müssen diese fixierten Ziele klar debattieren. Die Umsetzung wird zeigen, wie erfolgreich wir damit sind. Nach jeder Erkenntnis, dass das Vereinbarte nicht ausreicht, wird ein Nachsteuern erfolgen müssen. Kontrollieren und Transparenz sind hierbei sehr wichtige Weichen, die gestellt werden müssen.

Ich bin froh, dass Svenja Schulze den Rücken breit gemacht hat. Dass das in vielen Bereichen nicht ausreicht, glauben wir. Daran arbeiten wir weiter. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass wir, bezogen auch auf meine Biografie, Änderungen erreichen werden, die uns allen nützen werden. – In dem Sinne vielen Dank.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Stinka. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Brockes.

Dietmar Brockes*) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute zwei Anträge der Oppositionsfraktionen vorliegen, die sich mit einer bundespolitischen Diskussion beschäftigen. Um das direkt klar zu sagen: Das ist natürlich absolut legitim.

(Monika Düker [GRÜNE]: Wir sind nun mal das größte Bundesland!)

– Frau Düker, hören Sie einfach mal zu.

Das ist legitim, denn das ist ein wichtiges Thema für Nordrhein-Westfalen. Ich interpretiere das so, dass Sie an der Energie‑ und Klimapolitik der Landesregierung nichts auszusetzen haben und deshalb hier die bundespolitische Diskussion führen. Das begrüßen wir ausdrücklich.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU – Zuruf von den GRÜNEN: Zuhören!)

Der einzige Punkt, den Sie anmahnen, ist, dass Nordrhein-Westfalen seinen Einfluss in Berlin deutlich machen sollte. – Da kann ich Ihnen positiv mitteilen: Das ist viel besser geworden als bei der Vorgängerregierung.

Wir erinnern uns: Als die damalige Ministerpräsidentin Frau Kraft gesagt hatte, sie geht nicht nach Berlin, ist Nordrhein-Westfalen bundespolitisch völlig abgetaucht und hatte keinerlei Bedeutung mehr in Berlin.

(Zuruf von Johannes Remmel [GRÜNE])

– Ja, genau, Herr Remmel. Wenn Nordrhein-Westfalen in Berlin aufgetaucht ist, ist Rot-Grün dort immer mit zwei unterschiedlichen Meinungen aufgetreten. Das hat Nordrhein-Westfalen nur geschadet, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Deswegen sage ich Ihnen ganz deutlich: Damit ist es jetzt zu Ende.

(Zuruf von Johannes Remmel [GRÜNE])

Nordrhein-Westfalen spricht mit einer starken Stimme in Berlin, und das, Frau Düker, hat die Kanzlerin zuletzt noch beim Sommerempfang persönlich gesagt.

(Marc Herter [SPD]: Das ist Amnesie! Sie sind doch schon etwas länger hier, Herr Brockes!)

Wir reden dort und sind auch sehr erfolgreich, wie zum Beispiel auch die Ergebnisse der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung gezeigt haben. Es gab deutliche Sorgen, dass Nordrhein-Westfalen gegenüber den ostdeutschen Bundesländern benachteiligt wird oder das Thema „Versorgungssicherheit“ hinten runterfallen würde.

All das ist nicht eingetreten, weil diese Landesregierung, insbesondere Wirtschaftsminister Professor Pinkwart, einen hervorragenden Job gemacht hat.

Machen Sie sich also keine Sorgen: Nordrhein-Westfalen spricht mit einer starken Stimme im Bund, so wie Sie es zu Ihren eigenen Regierungszeiten nie erlebt haben.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Düker?

Dietmar Brockes*) (FDP): Ich bin gerade erst am Anfang, aber gerne.

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön.

Monika Düker*) (GRÜNE): Danke, Herr Kollege, für die Zulassung der Zwischenfrage. – Anknüpfend an das Bild der einen Stimme: Wie beantwortet denn NRW mit einer Stimme die Frage, ob mit diesem Klimaschutzpaket die Klimaschutzziele von Paris und des Klimaschutzplans 2050 der Großen Koalition erreichbar sind? Was sagt NRW mit der schönen einen Stimme dazu? Es reicht mir ein Ja oder Nein,

(Heiterkeit von Dietmar Brockes [FDP])

nicht „ja, ein bisschen“ oder „nein, vielleicht“, sondern eine klare Aussage.

Dietmar Brockes*) (FDP): Frau Düker, Sie kommen mit Ihrer Frage wieder viel zu früh, wie immer. Sie können es nicht abwarten, genauso wie mit dem Antrag hier.

(Wibke Brems [GRÜNE]: Besser als zu spät!)

Der Antrag beschäftigt sich mit Eckpunkten der Großen Koalition; da sind noch viele Details offen. Deshalb greifen Sie dem, was ich jetzt gleich ausführe, auch ein bisschen vor. Hören Sie geduldig zu; dann können Sie sich vielleicht gleich noch einmal melden. Ich glaube, dass ich Ihnen die Antworten liefern werde.

Ich würde mich jetzt gerne mit Ihrem Antrag konkret beschäftigen; das ist genau der Punkt, den ich gerade ausführen wollte.

Es ist so ein bisschen das Problem der Opposition: Mit solchen Anträgen kommt man entweder zu früh in der Debatte oder zu spät.

(Marc Herter [SPD]: Nach Ihrer Auffassung!)

Hier muss man ganz klar sagen, dass Sie viel zu früh gestartet sind. Wir reden hier über ein Eckpunktepapier. Deshalb können Sie nicht in Ihrem Antrag beklagen, dass es, was zum Beispiel das Zertifikate-system angeht, keine Rechtssicherheit schafft.

Zeigen Sie mir das Eckpunktepapier, das Ihre Fraktion mitunterschrieben hat, das völlige Rechtssicherheit geschaffen hat. Das zeigt ganz deutlich, dass Sie hier viel zu früh losgelaufen sind.

Dann gibt es einige Widersprüche in Ihrem Antrag. Sie beklagen, dass falsche Anreize mit Steuerentlastungen gesetzt werden. Eine Seite weiter reden Sie dann selbst davon, dass steuerliche Anrechenbarkeit von energetischer Gebäudesanierung überfällig ist. – Da stimme ich Ihnen zu; es ist aber ein Widerspruch zu dem, was Sie eine Seite vorher gesagt haben.

Im Übrigen hätten wir diese energetische Gebäudesanierung schon längst, wenn Ihre rot-grüne Landesregierung dies damals im Bundesrat nicht verhindert hätte, weil Sie nicht bereit waren, Ihren Anteil daran zu leisten.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Dann wollen Sie sofort höhere und teurere Standards für Wohnungen – und das angesichts des absoluten Wohnungsmangels in vielen Städten. Die damit verbundenen Kosten sollen alleine die Vermieter tragen. Ich frage Sie: Wer soll dann noch allen Ernstes in diesem Land in Wohnungsbau investieren?

(Beifall von Henning Rehbaum [CDU])

Dann kommt das Thema „Erneuerbare“ in Ihrem Antrag. Da steht nur noch ein Wort: Windenergie. – Sie verkürzen wieder einmal die erneuerbaren Energien rein auf die Windindustrie. Keine andere Art der erneuerbaren Energiegewinnung kommt in Ihrem Antrag vor. Daraus wird deutlich, dass Sie ein reiner Windlobbyverein sind.

(Zuruf von Monika Düker [GRÜNE])

Witzig ist auch, was Sie unter „Feststellungen“ nennen. Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren:

„Maßnahmen, die den natur‑ und menschenverträglichen Ausbau von erneuerbaren Energien behindern, statt zu erleichtern, sind vor diesem Hintergrund abzulehnen.“

Ja, Frau Düker, dieser Satz bedeutet: Sie müssten dem Paket der GroKo und dem Handeln dieser Landesregierung zustimmen, das für Akzeptanz bei der Nutzung der Windenergie sorgt.

(Monika Düker [GRÜNE]: Wo denn?)

Das steht völlig im Widerspruch zu dem, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU – Zuruf von Johannes Remmel [GRÜNE])

Dann komme ich zum Antrag der AfD. Sie kritisieren die Maßnahmen, die bereits zum Klimaschutz ergriffen wurden. Sie listen auf drei Seiten auf, was Sie alles nicht wollen.

Aber, meine Damen und Herren, in keinen einzigen Satz der AfD steht wieder einmal auch nur ein einziger Vorschlag, was Sie für mehr Klimaschutz machen wollen. Nein, es ist klar erkennbar: Sie wollen keinen Klimaschutz. Dann sagen Sie es den Menschen doch auch.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, da ist die Position der NRW-Koalition Gott sei Dank eine deutlich andere: Wir wollen Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen. Wir haben uns auf den Weg gemacht.

Wir haben das, was sich die rot-grüne Vorgängerregierung als Ziel gesetzt hat – 20 % –, deutlich übertroffen. Wir werden hier in Nordrhein-Westfalen bei ca. 30 % CO2-Einsparung gegenüber 1990 landen.

Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis. Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg, wo Ihre grüne Regierung am Werk ist, Frau Düker. Dort hat man sich dasselbe Ziel gesetzt, und man erreicht noch nicht einmal die Hälfte. Man landet gerade einmal bei 12 %. So sieht reale grüne Politik im Gegensatz zu schwarz-gelber Politik hier im Land aus.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU – Zuruf von Frank Sundermann [SPD])

Wir sind bereit, unsere Beiträge zu leisten. Wir begrüßen daher, dass sich auch der Bund auf den Weg gemacht hat. Wir sehen bei einigen Maßnahmen, die auch in unserem Entschließungsantrag aufgeführt sind, dass die Regierung auf einem guten Weg ist.

Das betrifft zum Beispiel die Abschaffung des 52-Gigawatt-Deckels für PV – nichts davon lese ich im grünen Antrag –, den Ausbau der steuerlichen Hemmnisse beim Mieterstrom – finden wir wichtig, haben wir auch schon auf den Weg gebracht und hier gefordert –, die Abschaffung der Doppelbelastung für Energiespeicher oder eben auch die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung.

Meine Damen und Herren, es gibt andere Punkte wie zum Beispiel das sogenannte Zertifikatesystem, die wir weniger ambitioniert finden – im Gegenteil: Was hier für den Non-ETS-Bereich an Zertifikatehandel dargestellt wird, ist mit einem Festpreis, wenn man es sich wirklich anguckt, kein Handel, sondern eine Steuer.

Wir fordern daher, so wie es die Landesregierung bereits in den Bundesrat eingebracht hat, die Einbringungen eines richtigen Handelssystems. Insofern lohnt es sich, die Debatte weiterzuführen.

Machen Sie sich seitens der Opposition keine Sorgen: Nordrhein-Westfalen wird hervorragend in den weiteren Debatten durch diese Landesregierung vertreten. Wir freuen uns darauf, dass wir für unseren Industriestandort Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Brockes. – Jetzt spricht für die Landesregierung Herr Minister Prof. Dr. Pinkwart.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Landesregierung lehnt die vorliegenden Inhalte der Anträge, die von AfD und Bündnis 90/Die Grünen gestellt worden sind, ab. Sie vertritt im Vergleich zum Antrag der AfD eine gänzlich andere Position. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beinhaltet in Teilen richtige Ansätze, ist in seiner Gesamtheit jedoch ebenso abzulehnen.

So oft das Thema „Klimaschutz“ insbesondere von der Fraktion der AfD angesprochen wird, so oft werden wir seitens der Landesregierung betonen – das tue ich hier erneut –, dass sich die Landesregierung zum Klimaschutzabkommen von Paris und den darin festgelegten Zielen bekennt. Aus Sicht der Landesregierung ist ein technologieoffen betriebener Klimaschutz ein Innovationstreiber für den Standort Nordrhein-Westfalen.

Mit ihren innovativen Produkten kann unsere Industrie weltweit führend zum Klima- und Umweltschutz beitragen und gleichzeitig Arbeitsplätze in Deutschland und Nordrhein-Westfalen sichern und ausbauen – und das umso mehr und umso besser, je proaktiver wir das gestalten, statt hier einfach auf der Nein-Sager-Seite, auf der Bremse zu stehen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir halten auch nichts davon, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, zu einer weiteren Radikalisierung der Diskussion zu kommen: hier die sogenannten Klimagegner und da eine zum Teil hochemotional geführte Debatte – es wurde schon angedeutet –, weil wir angeblich überhaupt keine Zeit mehr hätten, zu reagieren. Dann fragt man sich: Was soll denn die Politik noch tun, wenn das alles zu solch radikalen Schritten führen sollte?

Gerade beim Thema „Klimaschutz“ müssen wir die Dinge mit Sinn und Verstand bearbeiten und mit Ambition, aber auch mit Umsicht ans Werk gehen, sonst werden wir die notwendigen Klimaschutzziele in unserer Gesellschaft und vor allen Dingen global sicherlich nicht erreichen.

Vor diesem Hintergrund eines Politikverständnisses der Kunst des Notwendigen und Machbaren begrüßen wir grundsätzlich das im Klimaschutzprogramm 2030 zum Ausdruck gekommene Engagement der Bundesregierung für den Klimaschutz, sehen aber in den einzelnen Maßnahmen – es sind ja sehr viele – doch Unterschiede und auch Kritikpunkte. Das kommt, wie ich finde, in dem Antrag von CDU und FDP ganz hervorragend zum Ausdruck.

Die überwiegende Zahl der Maßnahmen bedarf zunächst der weiteren Konkretisierung und insbesondere einer Wirkungsabschätzung, weil sie letztlich in unterschiedliche Richtungen auf das Klima wirken.

Die Bundesregierung hat mit dem Klimapaket die notwendigen Schritte eingeleitet, um das eigene Klimaschutzziel bis zum Jahre 2030, nämlich eine Verminderung der Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 55 %, zu erreichen und gleichzeitig – das muss man vor allen Dingen der AfD-Fraktion in Erinnerung rufen – das im Rahmen der EU-Lastenteilung für 2030 vereinbarte nationale Treibhausgasminderungsziel für die derzeit eben noch nicht vom europäischen Emissionshandel erfassten Sektoren – im Wesentlichen sind das Gebäude und Verkehr – zu erreichen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Düker?

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Ich möchte das jetzt gerne ausführen. Dann können wir noch Fragen anschließen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: In diesem sogenannten Non-ETS-Bereich ist jeder EU-Staat gefordert, einen Beitrag zu leisten. Von einem nationalen Alleingang zur Minderung von Treibhausgasemissionen, wie es im Antrag der AfD behauptet wird, kann also keine Rede sein.

Für Deutschland – wir sind eingebettet in internationale Vertragswerke – liegt dieser Beitrag bei minus 38 % bis 2030, und zwar gegenüber 2005. Derzeit droht Deutschland, wenn wir nichts weiter unternehmen würden, gerade bezogen auf diese beiden Bereiche, eine Strafzahlung in Milliardenhöhe. Das müssen Sie auch zur Kenntnis nehmen.

Die Frage ist: Wollen wir für das Nichterreichen von Zielen Strafen zahlen, oder wollen wir das Geld investieren, um einerseits dem Klimaschutzziel zu dienen und andererseits unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Industrie in das neue Zeitalter mitzunehmen, also vorauszugehen und die Vorteile dieser Klimaschutzmaßnahmen für unser Land nutzbar zu machen? Das steht hier zur Beratung und zur Abstimmung.

Mit Ihrer Haltung schaden Sie dem Standort Nordrhein-Westfalen und auch den Arbeitsplätzen in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Laut Beschluss des Klimakabinetts soll als zentrale sektorübergreifende Maßnahme für die Sektoren Verkehr und Wärme ein nationales Emissionshandelssystem eingeführt werden. Die Landesregierung begrüßt, dass die grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines langfristig mengengesteuerten Emissionshandelssystems für die Bereiche Gebäude und Verkehr getroffen wurde.

Aber wir kritisieren, dass der Einstieg in die Mengensteuerung jetzt nicht unmittelbar erfolgt – das hätte man natürlich sofort machen können –, sondern bis 2025 ein Festpreissystem vorgeschaltet ist. Das war sicherlich der Kompromiss, der zu finden war. Hier hätten wir uns den direkten Einstieg in ein zielführendes mengengesteuertes System gewünscht.

Frau Düker hat gefragt: Was tun Sie denn? Sie kritisieren nur, was machen Sie sonst? – Ja, wir sind tätig geworden. Wir haben uns schon im Laufe des Frühjahrs als erstes Bundesland in diese Debatte eingebracht. Da hatte der Sachverständigenrat im Auftrag der Bundesregierung sein Gutachten noch gar nicht vorgelegt. Wir haben uns mit den Sachverständigen ausgetauscht. Wir haben das Know-how, das im Land verfügbar ist, nutzbar gemacht und haben einen eigenen Antrag in den Bundesrat eingebracht, der vorsieht, dass wir die Mengensteuerung direkt einführen.

Wir haben in dem Antrag aus Nordrhein-Westfalen gleichzeitig gesagt, wie wir die Bürgerinnen und Bürger und vor allen Dingen die Industrie im Gegenzug entlasten wollen, und zwar auf eine sehr konkrete und unbürokratische Weise. Das kommt in dem Antrag von CDU und FDP zum Ausdruck.

Wir freuen uns, dass die Bundesregierung die Mengensteuerung ansteuert. Aber sie könnte es jetzt schon tun. Sie könnte damit noch wirksamer sein.

Unser Vorschlag liegt zur Abstimmung im Bundesrat. Da können Ihre Länder gerne zustimmen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Jetzt kann ich die Frage zulassen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Ich habe eine Zwischenfrage von Herrn Remmel.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Ja, sehr gerne.

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Remmel.

Johannes Remmel (GRÜNE): Herr Minister, schönen Dank, dass es möglich ist, eine Zwischenfrage zu stellen.

Wir hatten vor Kurzem im Ausschuss für Europa und Internationales eine Anhörung zur CO2-Bepreisung. Dort sind bezogen auf die von Ihnen im Bundesrat beantragte Maßnahme und auch in Bezug auf das, was die Bundesregierung vorhat, drei kritische Anmerkungen gemacht worden. Dazu würde ich Sie gerne nach Ihrer Beurteilung fragen.

Die erste kritische Anmerkung war, dass es sich mit einem nationalen …

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Remmel, das ist ein bisschen zu ausführlich. Sie müssen das in eine Frage kleiden. Es wird zu lang, wenn Sie noch die drei Punkte referieren.

Johannes Remmel (GRÜNE): Meine Frage bezieht sich auf die drei Kritikpunkte. Die muss ich nennen dürfen, weil ich sonst nicht fragen kann, Herr Präsident, mit Verlaub.

(Unruhe bei CDU und FDP)

Der erste Kritikpunkt bezog sich darauf, dass es sich um ein europäisches Unikat handelt, dass es nirgendwo sonst in Europa einen nationalen Zertifikatehandel gibt. Der zweite Punkt ist, dass das gegenüber dem jetzigen Emissionshandel eine Vervierfachung der betroffenen Unternehmen bedeutet; es müssen also mindestens 10.000 Unternehmen Zertifikate bekommen. Der entscheidende Punkt ist, dass es offensichtlich einer Änderung des Grundgesetzes bedarf, weil es sich um eine neue Steuer handelt. Wie beurteilen Sie diese Kritikpunkte?

(Zurufe von der CDU)

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Ganz herzlichen Dank für die Frage, Herr Remmel. Wir hören in politischen Diskussionen immer wieder Einwände von Gutachtern. Jeder hat hier seine Sichtweise. Wenn man nicht weiterkommt, dann macht man schon mal grundgesetzliche Bedenken geltend. Es kann vielfältige Meinungen geben, bis dann an entscheidender Stelle vielleicht verhandelt wird.

Ich will zu dem ersten Punkt Stellung nehmen. Wir haben gesagt, wir können national starten. Das ist in Europa durchaus möglich. Wir wollen in einer Koalition der Willigen andere in der Nachbarschaft dafür gewinnen, die sich einem solchen Handelssystem anschließen könnten und die in ihren Ländern überlegen, das selbst zu tun. Insofern sehe ich die europäische Anschlussfähigkeit gewährleistet.

Wenn Sie es mit einer Zahl von 10.000 Betrieben zu tun haben – seien es diese 10.000 –, dann sind die Handelsplätze, die wir dafür haben, zum Beispiel die Strombörse in Leipzig, die EEX, die heute schon den ETS-Handel mitorganisiert, absolut in der Lage, so etwas technisch zu organisieren. Das hat auch der Sachverständigenrat festgestellt. Nach meinem Kenntnisstand halte ich diese Einwände für absolut ausräumbar.

Ich halte das für weniger kompliziert als all das, was zum Teil von Ihrer Seite und bedauerlicherweise auch von der SPD vorgeschlagen worden ist. Sie sagen, man sollte auf der einen Seite CO2-Preise erheben. Auf der anderen Seite sollte man das dann aber im Sinne eines Gutscheins wieder an die Bürger auszahlen. Dann haben Sie es nicht mit 10.000 Beteiligten, sondern mit Millionen von Beteiligten zu tun. Dafür können Sie eigene Behörden aufbauen. Wir haben ein viel schlankeres System vorgeschlagen als das, was von Ihrer Seite kam.

(Beifall von der FDP)

Lassen Sie mich fortfahren. Ich komme zum Sektor „Gebäude“. Das ist für uns ein sehr wichtiges Thema und wird durch eine Vielzahl von Maßnahmen angesprochen, was wir sehr begrüßen. Hier soll die Förderung zunächst angehoben werden. Das wird sich auch für die Hausbesitzer in Nordrhein-Westfalen als positiv erweisen.

Die Landesregierung befürwortet dabei die Beibehaltung der bestehenden Gesetzesanforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden als einen Beitrag zu bezahlbarem Wohnen und Bauen; denn sie schützen die Bauherrinnen und Bauherren vor weiter steigenden Baukosten, die Mieterinnen und Mieter vor zu stark steigenden Mieten und schaffen zudem Planungssicherheit für Investoren und die am Bau beteiligten Unternehmen. Das ist gerade jetzt in einer Phase, in der Wohnraum dringend benötigt wird, von großer Wichtigkeit.

Anstelle einer weiteren Diskussion über Effizienzniveaus ist vielmehr endlich die zügige Verabschiedung des Gebäudeenergiegesetzes notwendig. Damit ist die Zusammenführung der Energieeinsparverordnung und des Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes zu einem einheitlichen Regelwerk verbunden. Dies wird die Anwendung und den Vollzug erleichtern und im Rahmen von Quartierslösungen, wie wir sie für Nordrhein-Westfalen anstreben, neue Impulse zur Sektorkoppelung und zur Dekarbonisierung der Wärmeversorgung setzen und damit zum Gelingen der Energiewende insgesamt beitragen.

Im Sektor „Verkehr“ werden die im Programm vorgesehenen Maßnahmen dazu beitragen, alternative klimafreundliche Antriebe und Mobilität zu unterstützen. Die Bundesregierung folgt hier dem guten Beispiel Nordrhein-Westfalens mit dem Ausbau der nicht öffentlich zugänglichen Ladeinfrastruktur seit dem Jahr 2017. Zusammen mit dem nationalen Emissionshandel zielen sie auf eine Verminderung des Einsatzes klimaschädlicher fossiler Kraftstoffe ab und fördern emissionsarme Mobilität.

Allerdings sind unserer Meinung nach weitere Schritte hin zu einem konsistenten Ordnungsrahmen erforderlich. Es muss genau analysiert werden, ob die Maßnahmen greifen und wo gegebenenfalls nachgesteuert werden muss.

Für die Automobilwirtschaft liegen im begonnenen Transformationsprozess sicherlich Herausforderungen, aber auch Chancen. Auch hier gilt: Es ist wichtig, dass wir gerade am Standort Nordrhein-Westfalen diese Chancen frühestmöglich aufgreifen.

Für uns als bedeutenden Industriestandort ist besonders wichtig, dass auch die Bundesregierung Klimaschutz als starken Innovationstreiber in der Industrie fördert. Maßnahmen wie die im Klimapaket angelegten Förderprogramme explizit für die energieintensive Industrie steuern deshalb in die richtige Richtung und stoßen bei uns auf fruchtbaren Boden. Schließlich sind wir schon in Sachen treibhausgasneutrale Industrie insbesondere mit unserer Initiative IN4climate.NRW sehr intensiv unterwegs.

Lassen Sie mich noch etwas zum Ausbau der Erneuerbaren sagen: Die Landesregierung hält es für unerlässlich, dass der weitere Ausbau insbesondere der Windenergie an Land stärker akzeptanzgesichert erfolgt, zumal wir ein deutschlandweites Akzeptanzproblem haben. Das wird jetzt von der Bundesregierung im Klimaprogramm offensichtlich gewürdigt.

Hierzu haben wir bereits zahlreiche Maßnahmen umgesetzt und weitere eingeleitet. Deshalb begrüßen wir es grundsätzlich, dass die Bundesregierung in ihrem Klimaschutzprogramm mit verschiedenen Maßnahmen die Akzeptanz für den Ausbau der erneuerbaren Energien erhöhen will.

Dazu gehört unter anderem die Anhebung des Ziels der Offshorewindenergie. Dafür haben wir uns sehr stark eingesetzt; ich habe es hier im Rahmen der Energieversorgungsstrategie schon vortragen dürfen.

Wir begrüßen sehr die von uns auch geforderte Aufhebung des 52-Gigawatt-Deckels bei der Photovoltaik.

Wir erwarten, dass der vorgeschlagene Mindestabstand, der jetzt weiter auszufüllen ist, ein Schritt in die richtige Richtung darstellt, um zu mehr Planungssicherheit in den Ländern und Kommunen zu kommen.

Liebe Frau Düker, im Übrigen möchte ich noch einmal sagen: Wir haben uns zum Thema „Erneuerbare“ nicht nur ambitionierte Ziele vorgenommen, die wir von der Vorgängerregierung so nicht vorgefunden haben, und zwar in aller Breite der erneuerbaren Technologien und nicht nur fixiert auf eine Technologie, sondern wir ergreifen vielfältige Maßnahmen, um diese zur Umsetzung zu bringen.

Einen Begriff in dem Kontext, Frau Düker, wir würden Sabotage an den Erneuerbaren betreiben, halte ich, auch im Vergleich zu anderen Bundesländern, die von Ihnen mitregiert werden, doch für sehr gewagt.

(Monika Düker [GRÜNE]: Nur beim Wind!)

In einem stellen Sie sogar den Ministerpräsidenten.

Herr Stinka hat es angesprochen. Die Wirkungsmechanismen können wir im Nachgang ja noch mal wissenschaftlich analysieren lassen. Objektiv ist es aber so, dass Sie, SPD und Grüne, im Januar 2013 hier im Landtag ein Klimaschutzgesetz verabschiedet haben.

Sie haben Nordrhein Westfalen ein Ziel für 2020 gesetzt: minus 25 % – rückwirkend im Verhältnis zu 1990. Sie haben es also nicht alleine erreicht. Vielmehr gab es von 1990 bis 2017 eine CO2-Minderung von 25 %. Wenn alles so weiterläuft, werden wir dieses Ziel sehr wahrscheinlich übererfüllen können. Das ist für Nordrhein-Westfalen erreicht worden. Das können wir ganz objektiv festhalten.

In Baden-Württemberg gibt es eine grün-schwarze Regierung, die von einem Grünen-Ministerpräsidenten geleitet wird. Diese hat im Sommer 2013 ein Klimaschutzgesetz verabschiedet – auch mit einem Minderungsziel von 25 % bis 2020. Dort ist man gerade bei 11,6 % angekommen. Das Ziel wird man also nicht erreichen.

Ich habe noch nicht vernommen, dass in diesem Bundesland der Ministerpräsident – im Moment der beliebteste Politiker in Deutschland – irgendwelche nennenswerten Anstalten wie die, die Sie uns gelegentlich in Ihrer Radikalität empfehlen, gemacht hätte, um dieses von ihm in seinem eigenen Gesetz festgelegte Ziel für Baden-Württemberg noch erreichen zu können. Ich kenne nicht eine konkrete Maßnahme.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Insbesondere beim Thema „Erneuerbare“ muss man sagen: Kümmern Sie sich in Ihren Bundesländern bitte darum, wie es etwa beim Windausbau vorangeht, bevor Sie uns Sabotage vorwerfen.

(Wibke Brems [GRÜNE]: Unser Bundesland ist NRW!)

Frau Düker, ich kann Ihnen nur mitteilen, dass die Ausschreibungen für die neuen Windanlagen zuletzt deutschlandweit regelmäßig und teilweise deutlich unterzeichnet waren.

In der letzten Ausschreibungsrunde erhielt Nordrhein-Westfalen bei dieser nicht erfreulichen Lage – das vorweggeschickt – die meisten Zuschläge von allen Bundesländern. Bei der kumulierten Betrachtung aller bisherigen Ausschreibungsergebnisse liegt Nordrhein-Westfalen deutschlandweit an dritter Stelle hinter Niedersachsen und Brandenburg, also hinter zwei Bundesländern, in denen Sie nicht an der Regierung beteiligt sind.

Alle Länder, in denen Sie beteiligt sind, liegen bei den Ausschreibungsrunden hinter Nordrhein-Westfalen, und dann sprechen Sie von Sabotage. Das passt nicht zusammen, Frau Düker. Sie müssen schon anerkennen, dass wir deutschlandweit Sonderbedingungen haben. Wir arbeiten daran, sie zu überwinden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Und wir arbeiten daran, dass die Erneuerbaren in aller Breite – mit Akzeptanz in der Bevölkerung – so weit ausgebaut werden, dass wir unsere Ziele hier in Nordrhein-Westfalen möglichst nicht nur erfüllen, sondern übererfüllen können. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Professor Dr. Pinkwart. Wir haben eine von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angemeldete Kurzintervention, die an Sie, Herr Minister, gerichtet ist. – Frau Düker spricht für die Fraktion.

Monika Düker*) (GRÜNE): Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister, Ihre letzten Worte bedürfen eines Faktenchecks.

Wenn wir uns bei einem solchen Faktencheck die Zahlen anschauen, dann können wir feststellen, dass wir beim Thema „Wind“ im ersten Halbjahr 2017, in dem wir ja noch eine Weile regiert haben, bei 314 MW Zubau lagen. Das war die letzte Bilanz im ersten Halbjahr 2017.

Im ersten Halbjahr 2019 sind wir bei 42 MW Zubau. Das ist rund ein Zehntel im Vergleich zu 2017. Sie können doch anhand dieser Faktenlage nicht sagen, Rot-Grün hätte weniger ausgebaut als Sie. Es ist doch genau umgekehrt.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Bundesweit!)

Zu der Nölerei, der Bund sei an allem schuld: Auch da sitzt die CDU mit am Kabinettstisch und könnte etwas ändern.

(Dietmar Brockes [FDP]: Die Frage ist doch scheinheilig!)

Natürlich gibt es viel Kritik auf Bundesebene, aber eben auch auf Landesebene.

(Dietmar Brockes [FDP]: Schauen Sie mal, wie viele die in Baden-Württemberg gebaut haben!)

Alle Windmüller – so heißen sie, glaube ich –, alle Windenergieanlagenbetreiber sagen, dass Sie mit der Abstandsregelung von 1.500 m Arbeitsplätze vernichten und ein weiterer Einbruch bevorsteht. Das sind die Fakten.

Ich wollte Sie aber eigentlich etwas ganz anderes fragen. Darf ich das jetzt noch? – Das wunderbare Wort „Wirkungsabschätzung“ findet sich im Antrag und auch in Ihrem Redebeitrag: Es bedürfe einer Wirkungsabschätzung der Maßnahmen. – Nun haben wir von Wissenschaftlern von rechts bis links …

Vizepräsident Oliver Keymis: Jetzt wäre die Zeit abgelaufen, Frau Düker.

Monika Düker*) (GRÜNE): Klimaforschung und Wissenschaft. Ist es das, was Sie mit „Wirkungsabschätzung“ meinen? Das liegt ja vor, indem Sie sagen, die Klimaziele könnten nicht erreicht werden. Was meinen Sie denn darüber hinaus mit „Wirkungsabschätzung“?

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Düker. – Herr Pinkwart, bitte schön.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Frau Düker, nochmals zu dem Vergleich: Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass die Windenergie – kürzlich hat dazu in Berlin extra ein Windgipfel stattgefunden – deutschlandweit eingebrochen ist, nicht originär in Nordrhein-Westfalen.

(Monika Düker [GRÜNE]: Sie haben damit überhaupt nichts zu tun, das haben wir verstanden!)

Im Vergleich zu den anderen Bundesländern – das habe ich Ihnen jetzt anhand der aktuellen Ausschreibungsrunden noch mal geschildert – steht Nordrhein-Westfalen – trotz oder wegen des Mindestabstands, das sei dahingestellt – besser da.

(Monika Düker [GRÜNE]: Ja, genau! Alles blendend! – Gegenruf von Bodo Löttgen [CDU])

Sie können uns doch anhand dieser Beispiele nicht vorhalten, dass wir Sabotage betreiben. Das Gegenteil ist richtig.

(Beifall von der FDP – Monika Düker [GRÜNE]: Doch!)

Einer der Hauptgründe für den Einbruch war – das sagen Ihnen alle Fachleute –, dass sich mit dem Ausschreibungsjahr 2017 die Zuschlagsregelungen geändert haben. Diese Änderung wurde damals von Bundeswirtschaftsminister Gabriel vorgenommen, der das Verfahren eingeleitet hatte. Dann wurde es wirksam.

Wir waren das erste Bundesland, das im Bundesrat eine Änderung dazu eingebracht hat, weil wir die Not der Industrie und der Erneuerbaren sahen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir sind also bemüht, eine vernünftige Balance herzustellen. Wir wollen weiter ausbauen.

(Zuruf von Monika Düker [GRÜNE] – Gegenruf von Henning Rehbaum [CDU])

Frau Düker, schauen Sie sich bitte an … Wollen Sie mir zuhören oder nicht? Geht das von meiner Zeit ab?

Vizepräsident Oliver Keymis: Ja.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Das ist schade.

Vizepräsident Oliver Keymis: Ihre Zeit ist gleich abgelaufen.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Das ist schade.

Vizepräsident Oliver Keymis: Und bong!

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Sie ist jetzt abgelaufen?

Vizepräsident Oliver Keymis: Genau.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Okay.

(Heiterkeit)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Professor Dr. Pinkwart. Bei Kurzinterventionen besteht das Risiko in der Kürze der Zeit von 1:30 Minuten. Das wollen wir relativ genau einhalten, denn sonst entstehen ganz andere Diskussionen. Wir wollen auch im Zeitplan bleiben. – Als nächster Redner ist Herr Dr. Untrieser für die CDU-Fraktion angemeldet. Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Christian Untrieser (CDU): Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind ja schon umfänglich die Argumente ausgetauscht worden. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht sagen, dass das Jahr 2019 das Jahr ist, in dem wir besonders intensiv über Klimaschutz und eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen reden. Deswegen möchte ich es auch noch mal auf den Kern bringen; denn ich glaube, auch rückwirkend wird man sagen, dass im Jahr 2019 ganz maßgebliche Entscheidungen für den Klimaschutz getroffen worden sind.

Wir hatten zum Ersten am Anfang des Jahres das Ergebnis der Kommission „Wachstum, Strukturwandel, Beschäftigung“. Es hat zum Inhalt: Wir wollen aus der Kohle aussteigen, wir haben ein Enddatum. – Damit sind wir das einzige Land weltweit, das gleichzeitig aus der Kohle und aus der Atomkraft aussteigt. Das muss man hierbei auch berücksichtigen und betonen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Zum Zweiten haben wir das Klimaschutzpaket, das wir hier munter diskutieren. Das ist eine ganz entscheidende Weichenstellung, weil es den Einstieg in eine CO2-Bepreisung in den Bereichen Verkehr und Gebäude nennt.

Ein weiterer wichtiger Aspekt und die Antwort auf die Frage von Frau Düker, ob denn dieses Klimaschutzpaket reicht, ist das Monitoring. Jedes Jahr soll geguckt werden: Sind wir im Fahrplan? Erreichen wir die Ziele? – Deswegen bin ich relativ zuversichtlich, dass wir die Klimaschutzziele von minus 55 % im Jahr 2030 auch erreichen. Das ist vernünftiges und gutes Regierungshandeln.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Nordrhein-Westfalen, um es noch mal auf unser Land runterzubrechen, ist ja gerade das Land, das jetzt richtig vorangeht und am meisten macht. Wir haben den Kohleausstieg. Der wird primär in Nordrhein-Westfalen stattfinden – nicht in Brandenburg, nicht in Sachsen. Nordrhein-Westfalen macht hier erste Schritte, weil wir uns dazu entschlossen haben und andere Bundesländer vielleicht auch mehr Schwierigkeiten haben. Das geschieht in Nordrhein-Westfalen.

Die Industrie in Nordrhein-Westfalen ist auch ganz stark von den Maßnahmen betroffen. Wir sind das Land, das vorangeht. Das ist nicht Bayern, das ist nicht Baden-Württemberg, das sind nicht die Länder im Osten oder im Norden. Nordrhein-Westfalen ist auf dem Weg, das Klimaschutzland in Deutschland zu werden. Das ist ein guter Weg.

Die Grünen, das habe ich ihnen schon oft an dieser Stelle vorgeworfen, haben immer viel Kritik im Rucksack, aber trotzdem wenige konstruktive Lösungen. Die Grünen im Bayerischen Landtag haben jetzt zumindest einen Zehnpunkteplan gemacht. Ich bin ganz überrascht, weil die bayerischen Grünen noch gar nicht so lange dabei sind wie die nordrhein-westfälischen Grünen hier im Landtag. Sie haben das noch nicht geschafft.

Auf der Bundesebene haben die Grünen im Sommer 2019 endlich ein Konzept vorgelegt. In diesem Konzept sind viele Maßnahmen enthalten. Diese Maßnahmen sind vernünftig; denn sie finden sich jetzt auch im Klimapaket der Bundesregierung. Ich nenne einige:

Der Ausbaudeckel PV soll weg. – Das ist jetzt drin, das regeln wir so.

Die Speicherkapazitäten sollen von den Letztverbraucherabgaben befreit werden. – Auch das ist jetzt im Klimapaket.

Bessere Regelungen für Mieterstrom haben Sie gefordert. – Das ist auch drin.

Die Mehrwertsteuer auf Bahntickets soll abgesenkt werden. – Das ist drin.

Die Förderung des Schienenverkehrs ist drin, das haben wir gemacht.

Die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung findet statt. All das ist im Klimapaket.

Auch die sozialen Maßnahmen sind drin. Das ist nicht nur die Pendlerpauschale, Frau Düker, sondern auch die EEG-Umlage soll gesenkt werden. Wir haben eine Erhöhung des Wohngeldes und Transferleistungen. Insgesamt 54 Milliarden Euro sollen bis 2023 Anreize setzen und für Entlastungen sorgen. Auch im sozialen Bereich machen wir genau das, was Sie von den Grünen immer fordern.

Deswegen, Frau Düker und Kolleginnen und Kollegen: Die Maßnahmen, die Sie fordern, werden schon alle umgesetzt. Wir reden davon, dass wir einen Kompromiss und einen Konsens in diesem Land finden müssen.

Sie regieren in sehr vielen Bundesländern mit. Ich wiederhole die Forderung unseres Ministerpräsidenten, dass die Grünen auch mal Farbe bekennen müssen, ob sie einen gemeinsamen Kompromiss mittragen oder ob sie immer sagen wollen: Nein, das reicht uns nicht. Wir legen noch eine Schippe drauf. – Denn genau das machen Sie jetzt wieder mit Ihrem neuen Papier. Plötzlich wollen Sie einen Kohleausstieg bis 2030 hinbekommen. Sie sagen aber gleichzeitig in diesem Papier, das ungefähr zehn Seiten umfasst, kein einziges Wort zur Versorgungssicherheit. Das Wort „Versorgungssicherheit“ kommt bei Ihnen nicht einmal vor.

Wenn Sie wirklich einen Kohleausstieg bis 2030 fordern und sich noch mal von den Ergebnissen der Kohlekommission entfernen, die mit Gewerkschaften, mit der Industrie, mit Parteien und mit vielen, vielen Stakeholdern erarbeitet wurden, wenn Sie sagen: „Wir machen das alles noch schneller“, dann ist das, glaube ich, nicht vernünftig, vor allem wenn man kein Konzept hat. Das müssen Sie uns einmal erklären.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Als Zweites schreiben Sie, die erneuerbaren Energien sollten bis 2030 auf 100 % ausgebaut werden. Ziel der Bundesregierung waren jetzt 65 %. Darauf haben sich viele einigen können. Sie sprechen nun von 100 %, weil wieder mal einer draufgesetzt werden muss. Aber auch das passiert wieder ohne Konzept. Es ist keine einzige Maßnahme darin, wie Sie das erreichen wollen.

Wir wissen doch: Nicht die Mengen, die gerade ausgeschrieben werden, sind das Problem. Wir haben ganz andere Probleme, warum der Ausbau der Erneuerbaren nicht funktioniert. Das ist zum Teil die fehlende Akzeptanz, das sind zum Teil auch Klagen von Naturschutz- und Umweltverbänden, die einfach vielen Projekten einen Riegel vorschieben.

Drittens reden Sie in diesem Papier wieder von Verboten. Das kennen wir auch von den Grünen: sofortiges Verbot von Ölheizungen, Verbot von Verbrennungsmotoren ab 2030, und ab 2025 werden keine neuen Bundesstraßen mehr gebaut.

Liebe Frau Düker, genau das ist wieder die Verbotspartei, wie wir sie schon so oft erlebt haben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Gerade so macht man keine Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Wir machen es anders.

(Zuruf von Monika Düker [GRÜNE])

Die SPD hat heute genauso wie die Grünen wieder den Vorwurf vorgebracht, in Nordrhein-Westfalen funktioniere die Windenergie nicht.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Ich nenne Ihnen mal eine Zahl – Herr Minister Pinkwart hat es gerade auch schon gesagt – zur letzten Ausschreibung im Bereich Windenergie aus dem September 2019. Nordrhein-Westfalen hat mehr Genehmigungen bekommen als Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen zusammen. Nordrhein-Westfalen hat mehr Zuschläge erhalten als diese Bundesländer zusammen. Auch daran sieht man, dass die meisten Probleme nicht in Nordrhein-Westfalen entstanden sind, sondern dass es andere Probleme sind. Das verschweigen Sie bei jeder Debatte. Damit muss auch mal Schluss sein.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich komme zum Schluss. Vorhin gab es eine sehr erfreuliche Ticker-Nachricht. Der Nobelpreis für Chemie wird an drei Batterieforscher verliehen. Ich finde das sehr ermutigend. Denn wir brauchen insgesamt weniger Verbote und weniger Steuern auf CO2. Stattdessen brauchen wir Anreize, einen marktwirtschaftlichen Rahmen sowie Forschung und Entwicklung. Wir müssen in Deutschland das Land der Dichter, Denker und Erfinder werden. Dann schaffen wir auch das mit der Energiewende. Ich bitte darum, dass wir alle gemeinsam diesen Weg beschreiten. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Untrieser. – Jetzt spricht Herr Sundermann für die SPD-Fraktion.

Frank Sundermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Untrieser, Sie haben recht. In dem Klimaschutzplan ist einiges erreicht worden. Fliegen wird teurer, Bahnfahren wird günstiger, und der Solar-Deckel wird gelöst. Das sind sicherlich Dinge, die wir auf der Positivseite feststellen können.

Ich möchte aber auf ein Argument eingehen, das hier auch vorgetragen worden ist, und zwar, dass wir uns gegen unsere eigene Umweltministerin stellen würden. Wir stellen uns nicht gegen unsere eigene Umweltministerin. Wir stellen uns gegen die Bremser im Kabinett in Berlin: gegen Altmaier, gegen Scheuer und gegen Seehofer.

(Beifall von der SPD)

Denn diese haben das entscheidende Instrumentarium – das hat hier sogar der FDP-Minister in Nordrhein-Westfalen bestätigt – geschliffen. Das entscheidende Instrumentarium ist der CO2-Preis, und zwar das Zusammenspiel zwischen der Höhe des CO2-Preises, der ja eine Lenkungswirkung haben soll, und der Kompensation für die Menschen, die ihn bezahlen.

Frau Düker, Sie haben eben an uns Sozialdemokraten appelliert. Ich persönlich bin froh darüber, dass Sie in Ihren Konzepten jetzt auch diesen Ausgleich, diese Klimaschutzprämie pro Kopf, aufgenommen haben. Dieses Konzept ist von Svenja Schulze schon im Februar dieses Jahres vorgestellt worden. Es freut mich sehr, dass Sie das jetzt auch aufgenommen haben, weil das aus unserer Sicht das Entscheidende ist. Wir brauchen einen CO2-Preis, der eine Lenkungswirkung hat. Das ist entscheidend. Aber wir brauchen auch eine Kompensation für die Menschen, die es sich nicht leisten können.

(Beifall von der SPD und Monika Düker [GRÜNE])

Das geht nur über eine Kopfprämie. Es geht nicht über eine Pendlerpauschale, es geht nur bedingt über das EEG, und es geht auch nur bedingt über den Strompreis. Wir brauchen eine Pro-Kopf-Ausschüttung. Nur das funktioniert, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Ich habe eben von den Bremsern gesprochen. Wenn man sieht, wie hier von der Christlich Demokratischen Union agiert worden ist, vielleicht auch in den letzten Jahren Ihrer Oppositionszeit, kann man ein Stück weit ableiten, woher dieses Bremsen kommt.

Ich zitiere Hendrik Wüst aus der Debatte zum Klimaschutzgesetz vom 23.01.2013. Er hat dieses Gesetz als untauglich, kontraproduktiv und unnötig bezeichnet.

(Zuruf von der FDP: Das war es ja auch!)

– Dann schaffen Sie es doch ab. Wenn Sie sagen, dass es unnötig sei, müssen Sie in der Konsequenz dieses Gesetz abschaffen. Dann hätten Sie das auch so in Ihren Koalitionsvertrag aufnehmen müssen.

Aber in Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie das Klimaschutzgesetz versteckt. Es steht genauso wie die Hygieneampel hinter einem Spiegelstrich. Da kann man einmal sehen, wie Sie Ihre Prioritäten gesetzt haben: Klimaschutz gleich Hygieneampel. Das waren Ihre Prioritäten.

(Beifall von der SPD und Monika Düker [GRÜNE])

Peinlich ist das, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der CDU: Oh!)

Ich habe hier in den Worten des Ministers und auch dem einen oder anderen Beitrag der Koalitionsfraktionen festgestellt: Es gibt zumindest einen Erkenntnisgewinn. Sie haben bei diesem Thema nämlich immer einen Zusammenhang geleugnet, und zwar den Zusammenhang, dass man über Regularien Klimaschutz umsetzen kann, dass diese Regularien Innovationen auslösen und dass dadurch Fortschritt generiert wird und Arbeitsplätze geschaffen werden. Diesen Zusammenhang haben Sie immer geleugnet. Heute leugnen Sie ihn nicht mehr. Zu diesem Erkenntnisgewinn kann ich Ihnen nur herzlich gratulieren.

(Beifall von der SPD)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch auf eine Sache eingehen, die wir immer wieder von Ihnen hören – Herr Professor Pinkwart hat das offensichtlich zu seinem Lieblingsnarrativ erkoren –: Im Jahr 2017 haben Sie hier ein am Boden liegendes Land vorgefunden; im Prinzip haben Sie nichts gefunden, nur leere Schubladen und ein darbendes Land.

(Widerspruch von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

– Herr Professor Pinkwart, wir werden zukünftig häufiger darüber reden müssen. Wenn Sie dieses Narrativ weiter so verwenden, über Entfesselung sprechen und den Riesen, der aufstehen muss, erwähnen, dann suggeriert das, dass Sie ein am Boden liegendes Land vorgefunden haben.

Sie haben das auch gerade für sich selber noch einmal so formuliert und gesagt, dass es im Bereich Klimaschutz nicht gestimmt hat. Im Bereich Klimaschutz hatten wir ein Ziel, und zwar 2020. Wir haben es 2017 erreicht. Natürlich bezieht sich das auf 1990. Ich muss Ihnen aber ganz ehrlich sagen: Dieses Erreichen des Zieles ist den sieben Jahren Rot-Grün zu verdanken. Wenn Sie weiterregiert hätten, hätten wir dieses Ziel nicht erreicht.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das wissen Sie doch auch. Hier wären gar keine Windkraftanlagen gebaut worden. Es hätte doch überhaupt keine CO2-Reduzierung geben können. Sie setzen also da an, wo Sie im Prinzip aufgehört haben. Das ist doch so, Herr Professor Pinkwart.

Präsident André Kuper: Herr Kollege Sundermann, es gibt den Wunsch nach einer …

Frank Sundermann (SPD): Insofern haben wir den Beweis angetreten,

(Henning Höne [FDP]: Daran muss man selber fest glauben!)

dass Klimaschutz und Industriestandort zusammen funktionieren. Heute wollen Sie – das ist ein uralter Satz – den Gegensatz von Ökonomie und Ökologie befrieden.

Präsident André Kuper: Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Frank Sundermann (SPD): Ich sage Ihnen: Dann müssen Sie die Politik fortführen, die wir hier bis zum Jahr 2017 gemacht haben. Dann werden Sie das hinkriegen. – Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Herr Kollege, ich habe zwei Mal versucht, Sie zu unterbrechen. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Lassen Sie sie noch zu?

Frank Sundermann (SPD): Von wem?

Präsident André Kuper: Vom Kollegen Rehbaum.

Frank Sundermann (SPD): Herr Rehbaum. Vielen Dank. Gerne.

Henning Rehbaum (CDU): Vielen Dank, Herr Kollege Sundermann, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben vorhin über Bremser im Bundeskabinett gesprochen. Sie selbst haben hier noch einmal ein Feuerwerk entzündet, um das Paket vermeintlich sozialer zu machen.

(Beifall von der SPD)

Ich habe selber die Vorstellung des Klimapakets durch die Bundesregierung und den Koalitionsausschuss verfolgt. Sowohl Minister Scholz als auch Ihre Parteivorsitzende Dreyer haben den sozialen Ausgleich im Paket ausdrücklich gelobt. Der Fraktionsvorsitzende Mützenich hat die soziale Ausgleichswirkung hervorgehoben und die grüne Klimapolitik als Neoliberalismus gegeißelt. Wer hat denn nun recht?

(Stefan Kämmerling [SPD]: Es geht um den CO2-Preis!)

Präsident André Kuper: Der Kollege antwortet.

Frank Sundermann (SPD): Zunächst einmal vielen Dank für diese Zwischenfrage, Herr Kollege Rehbaum. – Natürlich habe ich recht,

(Beifall von der SPD)

und natürlich haben auch die Kollegen recht.

Die Steigerung von „gerecht“ ist „gerechter“. Ich sage Ihnen das, was ich Ihnen eben schon gesagt habe – insofern bin ich dankbar für die Zwischenfrage –: Wenn wir eine Lenkungswirkung über CO2 haben wollen, dann muss der CO2-Preis steigen, und dann muss die Verteilung pro Kopf erfolgen. Das ist die gerechteste Lösung. Dass darin Sozialimplikationen enthalten sind, bestreitet niemand. Aber sie gehen nicht weit genug, und es sind am Ende des Tages nicht die richtigen. Das ist der Grund für unsere Aussage. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und Monika Düker [GRÜNE])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der Grünen hat nun die Abgeordnete Kollegin Brems das Wort.

Wibke Brems (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich muss Ihnen sagen, dass diese Debatte leider wieder einmal bezeichnend für die Klimaschutzdebatte insgesamt ist.

Uns wird gerne vorgeworfen, wir würden Angst machen und radikalisieren. Ich muss Ihnen aber ganz klar sagen: Wer uns das vorwirft, der bringt die Schärfe in diese Diskussion.

(Beifall von den GRÜNEN)

Denn eines ist klar: Mit dem Erdklima können wir nicht verhandeln. Wir können auch keine Kompromisse machen, so leid mir das tut. Wir müssen schon auf das hören, was uns die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sagen. Und die sind sich einig: Uns bleiben noch maximal acht bis zehn Jahre, um das zu erreichen, was wir uns eigentlich auf die Fahnen geschrieben haben, nämlich eine maximale Erderwärmung um durchschnittlich 1,5 Grad Celsius.

Als Nächstes werfen Sie uns vor, wir seien hier zu früh dran. Entschuldigung; genau das Gegenteil ist doch der Fall. Beim Klimaschutz ist lange Jahre viel zu wenig passiert. Deswegen müssen wir doch gerade radikale Dinge tun. Wenn wir das noch weiter hinausschieben, wie Sie es beispielsweise mit Ihrem Zertifikatehandel tun, der frühestens 2023, wenn nicht sogar erst 2025 kommen wird – wie will man denn so die Klimaziele für 2030 erreichen? –, und die Klimaziele 2030 nicht erreichen, müssen dann noch viel radikalere Änderungen vonstattengehen, als wir uns das heute überhaupt vorstellen können.

(Zuruf von Henning Rehbaum [CDU])

Ich sage das nicht, weil es mir gefällt. Die meisten in diesem Haus bekennen sich doch dazu, dass wir Klimaschutz betreiben müssen und die Ziele von Paris erreichen müssen. Wenn wir jetzt nichts machen, muss man hinterher umso schneller handeln.

Das, was Sie hier getan haben, nämlich auf andere zu zeigen, ist das Grundproblem. Wir Grüne sind doch genauso wie Sie Abgeordnete in Nordrhein-Westfalen. Das ist unser Bundesland. Da müssen wir hinschauen. Und Sie vernichten hier gerade Arbeitsplätze. Sie müssen anders gestalten. Deswegen bleiben wir dabei: Was Sie hier tun, ist Sabotage. Dass Sie erst auf der Bundesebene kritisieren, der Ausbau der Erneuerbaren geschehe nicht in ausreichendem Maße, dann aber entgegengesetzt dazu handeln,

(Dietmar Brockes [FDP]: Sie haben aber schon lange nicht mehr mit der Wirtschaft gesprochen!)

passt nicht zusammen. Damit muss Schluss sein. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die AfD hat sich der Abgeordnete Herr Loose zu Wort gemeldet.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Inzwischen arbeitet die Bundesregierung auch mit Fake News. So bezeichnet sie die neuen CO2-Steuern einfach einmal als Zertifikatesystem, um eine Grundgesetzänderung zu umgehen, die für eine neue direkte Steuer notwendig wäre.

Bei einem richtigen Zertifikatesystem wird allerdings die Zertifikatemenge begrenzt, und der Preis bildet sich am Markt und ist flexibel.

Die Regierung macht aber das genaue Gegenteil. Es gibt unendlich viele Zertifikate, und der Preis wird planwirtschaftlich von der Regierung vorgegeben. Willkommen in der DDR 2.0!

(Zurufe von der SPD und den GRÜNEN: Oh!)

Vermutlich wird das Ganze am Ende verfassungswidrig sein. Aber was juckt die Regierung die deutsche Verfassung? Was einmal eingeführt wurde, wird nicht wieder zurückgenommen. Denken Sie in diesem Zusammenhang an den Soli.

Natürlich hat das System, das uns die Bundesregierung vorschlägt, auch Lücken. Lkw-Fahrer tanken im Ausland. Auch die Tankstellen werden ihren Diesel eventuell nicht aus Köln-Godorf, sondern aus Belgien oder den Niederlanden beziehen, wo keine Extrasteuer anfällt – dank freiem EU-Handel. Dies führt dann natürlich zu Umwegen, die wieder die Umwelt belasten.

Mit einer neuen Steuer können wir also die Welt nicht retten. Wenn Sie wirklich etwas für die Welt tun wollten, gäbe es genügend Ansätze. In Deutschland könnten wir zum Beispiel damit aufhören, Nahrungsmittel als Biosprit in unseren Autos zu verbrennen. In den ärmeren Ländern könnten wir auch jetzt schon etwas tun, zum Beispiel den Bau von Brunnen oder Sanitäranlagen fördern.

Aber alle diese Dinge muss sich Deutschland auch leisten können. Wir brauchen also gut bezahlte Industriearbeitsplätze. Doch gerade hier will die SPD den Industrieplatz Deutschland bekämpfen. Die Arbeiter bei thyssenkrupp, bei Ford und in vielen anderen Firmen sollen nach Meinung der SPD jetzt gefälligst umerzogen werden. Die Arbeiter sollen transformiert werden. Das Ganze nennt die SPD in ihrem Antrag dann Transformationskurzarbeitergeld.

Warum formulieren Sie es nicht einfacher, liebe SPD? Sie wollen keine Arbeiter mehr in Deutschland. Deshalb kursiert unter den Arbeitern in Deutschland inzwischen der Spruch: Wer hat sie verraten? Die Sozialdemokraten!

(Beifall von der AfD – Frank Sundermann [SPD]: Pfui! – Christian Dahm [SPD]: Unglaublich!)

– Das sagen die Arbeiter.

Hören Sie deshalb auf, unsere Menschen und unsere Industrie immer weiter zu belasten. Wir brauchen unsere Industrie, und wir brauchen diese Arbeitsplätze. Davon leben wir in Deutschland und gerade in NRW.

Fragen Sie Menschen in Gelsenkirchen-Süd oder in Duisburg-Nord, warum sie ihre Arbeitsplätze verloren haben

(Michael Hübner [SPD]: Da waren Sie doch noch nie!)

und warum Sie es nicht geschafft haben, neue Industrie anzusiedeln. Die Energiepreise sind die höchsten in der Welt, und auch bei den Steuern und Sozialabgaben sind wir inzwischen leider Weltspitze.

Was wir also nicht brauchen, sind neue Steuern, Abgaben oder Verbote, zum Beispiel von Ölheizungen. Sagen Sie Nein zu den Plänen der Bundesregierung, und stimmen Sie für unsere Menschen in NRW und damit für unseren Antrag. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Insgesamt vier Abstimmungen sind jetzt durchzuführen.

Wir stimmen erstens über den Antrag der Fraktion der AfD Drucksache 17/7532 ab. Die antragstellende Fraktion der AfD hat direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/7532. Wer möchte diesem Antrag zustimmen? – Das sind die AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Wer ist dagegen? – Das sind die Fraktionen von SPD, Grünen, CDU und FDP. Wer enthält sich? – Das ist der fraktionslose Abgeordnete Langguth. Der Antrag Drucksache 17/7532 ist damit abgelehnt.

Wir stimmen zweitens über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/7538 ab. Auch hier hat die antragstellende Fraktion direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/7538. Wer möchte diesem Antrag zustimmen? – Das ist die Fraktion der Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen von SPD, CDU, FDP und AfD sowie die beiden Fraktionslosen. Enthaltungen? – Damit ist der Antrag Drucksache 17/7538 abgelehnt.

Wir stimmen drittens über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/7606 ab. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das ist die SPD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU, die FDP, die AfD und die beiden Fraktionslosen. Wer enthält sich? – Die Fraktion der Grünen. Damit ist auch der Entschließungsantrag Drucksache 17/7606 abgelehnt.

Wir stimmen viertens über den Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/7611 ab. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das sind CDU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Das sind SPD, Grüne, AfD und die beiden Fraktionslosen. Wer enthält sich? – Das ist damit auch klar. Der Entschließungsantrag Drucksache 17/7611 ist damit angenommen.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU] und Dietmar Brockes [FDP])

Ich rufe auf:

5   30 Jahre Mauerfall – Der friedlichen Wende ein würdiges und angemessenes Andenken bewahren!

Resolution
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7533

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7609

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die antragstellende Fraktion der AfD dem Abgeordneten Tritschler das Wort.

(Unruhe)

Herr Tritschler, warten Sie bitte einen Moment, bis etwas mehr Ruhe eingetreten ist und die Kolleginnen und Kollegen, die das vorhatten, den Saal verlassen haben. – Bitte.

Sven Werner Tritschler (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn SPD und Grüne hier salbungsvolle Erklärungen zum Mauerfall abgeben – die SPD hat ja aus Angst vor uns sogar auf einer zweiten Debatte bestanden –, dann muss man eigentlich nur nach Berlin schauen, um zu erkennen, wie ernst man das nehmen kann.

Lassen wir also die Sonntagsreden aus der ersten Debatte einmal beiseite und schauen auf die Fakten. Erst im letzten Jahr haben SPD und Grüne gemeinsam mit der Linken – der Ex-SED – Hubertus Knabe, den verdienten Leiter der Stasigedenkstätte in Hohenschönhausen, abgesetzt. Wahrscheinlich ist er zu streng mit der DDR umgegangen. Eine Vielzahl namhafter DDR-Bürgerrechtler protestierte – vergebens. Wo waren da die salbungsvollen Worte von der SPD?

Aber zur Geschichte gehört eben auch, dass die linken Parteien in der Bundesrepublik die deutsche Einheit von Anfang an bekämpft haben. Gerhard Schröder, der spätere Kanzler, nannte kurz vor dem Mauerfall den Begriff der Wiedervereinigung – ich zitiere – „reaktionär und hochgradig gefährlich“.

Die erbärmliche Rolle von Johannes Rau, der für ein paar billige Punkte im Wahlkampf gleich die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen und den Betroffenen damit jeden Schutz durch bundesdeutsche Dienststellen entziehen wollte, ist ja im Antrag schon vermerkt. Da hilft Ihre Gedenkheuchelei nach 30 Jahren nicht. Das kauft Ihnen niemand ab.

(Angela Lück [SPD]: Wir wissen ja, wer es sagt!)

Die Wiedervereinigung, das ganze Thema, war und ist der deutschen Linken überhaupt ein Graus. Dass Deutschland ein einig Land mit einem einigen Volk ist, passt ihnen nicht.

Der Sozialismus ist eben keine gute Sache. Er macht die Menschen nicht glücklich. Wo sie konnten, sind sie vor ihm geflohen – unter Gefahr für ihr Leben. Linksdiktatur, Mauertote, Stasifolter – das sind die Ergebnisse auch Ihrer Ideologie, wenn man sie nur konsequent genug umsetzt. Das ist die Wahrheit. Und Sie faseln hier heute Morgen Ihre halbe Redezeit vom Rechtspopulismus, meine Damen und Herren.

Deswegen passte es den linken Parteien nicht, dass die ungeliebten Brüder und Schwestern in der DDR Deutschlandfahnen schwenkten. Es passte ihnen auch nicht, dass Hundertausende skandierten: „Wir sind ein Volk!“

Mit den Deutschen in der DDR oder in den neuen Bundesländern haben sie gefremdelt, und sie tun das bis heute. Genüsslich saugen sie doch jeden Zeitungskommentar auf, in dem wir dazu angehalten werden, uns vor Sachsen, vor Brandenburgern und allen anderen sogenannten Dunkeldeutschen zu gruseln.

Denn bei allen Verheerungen, die der Sozialismus angerichtet hat, hat er die Menschen dort doch auch gegen vieles immun gemacht. Immun sind die Menschen dort gegen Verheißungen der Politik, die Welt und die Menschheit zu retten – ob im grünen oder im roten Mäntelchen –, und weder Zeitungen noch der vermeintlich staatsferne Staatsfunk werden so unkritisch angenommen wie hier im Westen.

Uns Westbürgern fehlt diese Immunisierung allzu oft. Wir sind eben anders groß geworden. Nicht nur das Wohlstandsgefälle nach Osten hin war beachtlich. Es gab auch eine Kultur der freien Meinung, es gab eine vielfältige Presselandschaft, und es gab im Westen in der Nachkriegszeit klare politische Alternativen.

Heute herrscht auch hier an vielen Stellen ein Parteienblock. CDU und FDP haben alle nationalen Positionen geräumt, die zu einem demokratischen Spektrum dazugehören. Darüber kann auch das dünne Papierchen, das Sie heute Morgen noch schnell nachgeschoben haben, nicht hinwegtäuschen.

Ich sehe auch schon gleich den Kollegen Bergmann hier stehen und uns mit bedeutungsschwangerer Miene erklären, warum unser Antrag unzulänglich ist

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Wenn Sie es schon wissen, ist es ja gut!)

und warum wir für dieses CDU-Bullshit-Bingo stimmen sollen, das Sie da vorgelegt haben.

(Florian Braun [CDU]: Vorsicht mit der Wortwahl!)

Meine Damen und Herren von der CDU, der Antrag beweist leider nur eines: dass Sie längst die Fiffis, die Cucks – oder wie auch immer Sie es nennen wollen – der politischen Linken geworden sind.

Ihre Partei – allen voran Helmut Kohl – hat sich um die deutsche Einheit verdient gemacht. Aber Sie haben die Nation danach quasi im gleichen Atemzug auch verraten und verkauft.

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Das ist eine Unverschämtheit!)

Alles, wofür die Deutschen in der DDR 1989 auf die Straße gegangen sind – Freiheit, Souveränität, Wohlstand und sogar die D-Mark –, haben Sie an die neue Zentrale in Brüssel verkauft.

Im Westen gibt es bis heute kaum Widerstand. Kein Wunder; denn Generationen mussten sich nie wirklich mit Unfreiheit, Sozialismus und Planwirtschaft auseinandersetzen. Dieses Glück hatten wir. Unsere Brüder in der DDR hatten es eben nicht.

Ihre Bildungspolitik bringt Unwissen oder bestenfalls gefährliches Halbwissen hervor. Schon 2008 ermittelte die sogenannte Schroeder-Studie erschreckende Wissenslücken zum Thema „DDR“ bei den Schülern auch hier in Nordrhein-Westfalen. Die Studie ist jetzt elf Jahre alt. Geändert hat sich seither nichts. Die Verbrechen des Sozialismus werden an deutschen Schulen kaum thematisiert. Stattdessen wird jetzt der neue grün bemäntelte Sozialismus gelehrt.

Wundert es da noch jemanden, dass jetzt, ausgerechnet 30 Jahre nach Mauerfall, die Stasi-Unterlagen-Behörde abgewickelt wird? Dabei sind viele Täter und Opfer noch am Leben, und vieles ist eben noch nicht aufgearbeitet. Das ist einer Großen Koalition aus CDU, SPD, FDP, Grünen und der SED-Nachfolgepartei Linke aber offenbar egal.

Meine Damen und Herren, wenn es keiner von Ihnen tut, dann macht es hier halt die AfD: Wir danken unseren Mitbürgern aus Mitteldeutschland für ihren mutigen Freiheitskampf. Wir freuen uns über ihre Gradlinigkeit und Widerstandsfähigkeit bis zum heutigen Tage. Wir wehren uns gegen die Schmähungen, die von linker Seite immer häufiger nach Osten gerichtet werden.

Meine Damen und Herren, wenn Einigkeit und Recht und Freiheit Ihnen allen offenbar nicht so viel bedeuten, dann werden wir es eben sein, die dem Mut, der Entschlossenheit und dem Schneid der Freiheitskämpfer von 1989 ein würdiges Andenken bewahren.

Deshalb sagen wir 30 Jahre nach dem Mauerfall: Es ist an der Zeit, dass auch wir im Westen bereit sind, etwas von den Ostdeutschen zu lernen. Das ist der unbedingte Wille nach Freiheit, nach Demokratie und nach kontroverser Debatte. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die Fraktion der CDU erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Bergmann das Wort.

Dr. Günther Bergmann (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Herr Tritschler, ich mache Ihnen nicht zum Vorwurf, dass Sie die Dinge, über die Sie gerade gesprochen haben, nicht erlebt haben. Sie können ja nichts dafür, dass Sie damals noch ein kleiner Junge waren. Dass Sie hier so tun, als hätten Sie die Wahrheit mit dem Löffel gefressen, mache ich Ihnen aber zum Vorwurf. Das geht überhaupt nicht.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Angelesenes Wissen kommt nicht authentisch herüber. Das hat man bei Ihnen gerade wunderbar erlebt. Ich weiß nicht, ob ich Ihren Vorstellungen entspreche. Aber ich werde Ihnen noch einige Dinge mit auf den Weg geben.

Vorweg sage ich: Natürlich war die DDR ein Unrechtsstaat; denn man konnte sie nicht ohne Stasi, ohne Mauer und ohne Schießbefehl haben. Es war nicht alles schlecht in der DDR; aber man konnte sie nicht ohne das Schlechte haben.

Das hat für mich immer zur Konsequenz gehabt, zu sagen, dass die Mauer kein Bauwerk, sondern eine gebaute Menschenrechtsverletzung war.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Grenze und Mauer durch mein Vaterland waren für mich nie normal und immer inakzeptable Trennung eines Volkes. Es gab für mich nie zwei deutsche Staaten, sondern es gab leider temporär zwei Staaten in Deutschland.

In Ihren Anträgen wird immer nur eine Beschreibung geliefert. Das kennen wir schon. Ich habe fast schon ein Déjà-vu. Das haben Sie irgendwo abgeschrieben. Teilweise muss ich über Ihre Wortwahl schmunzeln. Es kam mir so vor, als hätten Sie einen Restspreißel des deutschen Bildungsbürgertums mal eben mit einbauen wollen, als Sie in Ihrem Antrag – ich zitiere – „das äußere Antlitz des Landes“ schrieben. Ich kenne das nur aus wunderbarer Prosa des 19. Jahrhunderts, aber mit Blick auf Frauen und nicht auf Länder.

(Heiterkeit)

Es mag sein, dass Sie diese Einstellung haben. Das sei Ihnen auch gelassen, Herr Tritschler; das ist mir völlig egal. Durch Ihren Antrag wird deutlich: Es ist eine Westbrille, die Sie aufhaben, und reine Retrospektive.

Wir Wessis müssen akzeptieren, dass viele Menschen in der DDR das ganz anders empfanden, weil sie dort ihr normales Leben lebten. Das war aus der rein subjektiven Wahrnehmung nicht immer schlecht.

Lassen Sie mich noch einen Satz hinterherschieben: Die Brüche, die die Menschen nach 1990 in ihrem ganz persönlichen Leben schultern mussten, hätten Sie von der AfD nicht bewältigen können; denn Sie haben noch nicht einmal die normale Entwicklung eines Landes in den letzten 20 Jahren hinbekommen. Das ist der große Unterschied.

Sie behaupten nun in Ihrem Antrag, dass das kein Thema gewesen sei – das haben Sie gerade auch noch einmal vorgetragen – und nur noch in Sonntagsreden thematisiert wurde.

Das ist – bei allem Respekt vor Ihrem jungen Alter damals – schlichtweg eine Unverschämtheit. Es gab nämlich nicht nur die Leute, die die berühmten Pakete geschickt haben. Ich bin in Ihrem Geburtsjahr über den Kurfürstendamm in Berlin mit der Deutschlandfahne in der Hand gefahren, als Breschnew in Ostberlin war, und habe für die deutsche Einheit demonstriert.

Und Sie machen jetzt einen auf dicke Hose, wenn ich das einmal salopp formulieren darf, Herr Präsident. Das ist unglaublich!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Zu Ihrer Freude darf ich aber auch sagen, dass ich 1986 vor dem Umweltministerium in Wiesbaden gestanden habe und dem damaligen Umweltminister von Hessen, Joschka Fischer, eine weiße Ytong-Mauer vor die Tür gestellt habe, weil er damals sagte, es dürfe nicht mehr sein, dass Auslandsdeutsche nach Deutschland zurückkommen, obwohl er selber ein Ungarn-Deutscher war. Da haben wir eine Mauer vor die Wand gestellt und haben demonstriert. Und Sie sagen nun, das wären nur Sonntagsreden gewesen? Nein, Herr Tritschler, so nicht!

In Ihrem Antrag werden Polen und die Rolle der Solidarność überhaupt nicht erwähnt.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Steht doch drin!)

– Ein Satz steht dort drin. – Auch die Rolle des Papstes erwähnen Sie nicht. Da können Sie jetzt lange mit Ihrem Antrag wedeln. Den werden Sie dort nicht finden. Das waren die Türöffner zur Erlangung unserer deutschen Einheit. Diese Rolle wird in Ihrem Antrag nicht richtig deutlich.

(Beifall von der CDU)

Sie beschreiben viele Dinge und vergessen zum Beispiel einen Punkt, der das ganze gemeinschaftliche … Josef Neumann würde das mit großem Nicken bestätigen. Am Abend des Mauerfalls, am 9. November 1989, saßen Helmut Kohl und Horst Teltschik, mit dem ich letzte Woche noch einmal darüber gesprochen habe, in Warschau mit dem ersten frei gewählten Ministerpräsidenten Mazowiecki zusammen.

Dann fällt die Mauer, und Mazowiecki sagt, weil Helmut Kohl zögert, nach Berlin zu fahren: Herr Kohl, Sie müssen doch jetzt nach Hause; da ist in Berlin doch etwas… – Das sagt er als Pole mit der gesamten Vergangenheit im Rucksack.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Das wird hier bei Ihnen überhaupt nicht erwähnt.

Ich stimme Ihnen auch dezidiert nicht zu, dass die Kommunalwahl vom Mai die Initialzündung für eine oppositionelle Bewegung der DDR gewesen sei. Das stimmt schlichtweg nicht. Denn es gab in den Kirchenkreisen schon viel früher genau diese oppositionellen Kreise. Das kam nicht erst mit der Kommunalwahl. Das ist schlichtweg nicht richtig. Aber auf den Punkt wollen Sie gar nicht eingehen.

Auch solche Dinge wie zum Beispiel, dass viele Akteure in der DDR nicht primär die Einheit wollten, finden bei Ihnen überhaupt nicht statt. Diese Menschen wollten den berühmten Dritten Weg.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Sie wollten Verbesserungen der Lebensverhältnisse politisch und wirtschaftlich, aber in einer weiterhin unabhängigen DDR. Das findet bei Ihnen überhaupt nicht einmal Erwähnung. Auch die dramatischen Wendungen und Prozesse vielleicht in dem entscheidenden halben Jahr 1989, wo wir ein ganz kleines Zeitfenster hatten, das Helmut Kohl hervorragend ausgenutzt hat, werden Sie sich nicht einverleiben und für sich auf Ihre Seite ziehen können. Da stehen wir Christdemokraten vor. Machen Sie gar nicht erst den Versuch, Herr Tritschler.

(Beifall von der CDU)

In diesem halben Jahr, das man vielleicht mit dem Spruch „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr!“ wunderbar zusammenfassen kann, zeigt doch den ganzen Prozess, was da gerade passiert war. Das sind doch Dinge, die waren erdrutschartig.

Ich kann nur sagen, ich habe für die Allianz für Deutschland in Thüringen, in Erfurt, gearbeitet. Bei diesen Volkskammerwahlen im März 1990 kam eine Frau zu mir und sagte: Junger Mann, Sie müssen mir helfen, wie ich wählen muss. – Ich sagte: Nee, das müssen Sie schon alleine machen, gnädige Frau. Das sagte sie: Wissen Sie, ich wähle das erste Mal seit 57 Jahren wieder frei; ich weiß nicht, wie das geht.

Das symbolisiert das, was in der DDR passiert ist.

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

– Sie können nichts dafür, dass Sie nicht da waren; da waren Sie zu jung.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Ich aber nicht!)

Das haben wir aber erlebt. Dann lesen wir es nicht gern, dass wir angeblich nur in Sonntagsreden immer wieder darauf hinweisen.

Sie sprechen heute – das will ich auch noch erwähnen; es ist ein Zitat aus Ihrem Antrag – von „wechselseitigem Unverständnis“ und „Spannungen im innerdeutschen Verhältnis“. Das finde ich ausgesprochen pikant. Denn der Begriff ist aus der Zweistaatlichkeit, und den benutzen Sie, obwohl Sie sich gerade so hingestellt haben, wie Sie sich hier hingestellt haben. Keine Stringenz in der Argumentation!

Ich frage mal die Antragsteller: Wer trägt denn einen erheblichen Teil dazu bei, dass es diese Spannungen in unserem Land gibt? Wer tut das denn? Es sind doch Sie.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Sie gehen hierhin …

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD] – Markus Wagner [AfD] zeigt mit dem Finger auf den Redner.)

– Sie brauchen jetzt auch nicht mit dem Finger auf mich zu zeigen, Herr Wagner. In Ihrer Wohnzimmersesselhaltung mit dem Finger zeigen! „Man zeigt nicht mit nackten Fingern auf angezogene Leute“, hat man früher gesagt.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es sind doch Sie, die etwa mit der Nähe zur Pegida-Bewegung nicht nur deutsche Symbole missbrauchen und andere Dinge zeigen, zum Beispiel am Elb-ufer in Dresden, sondern auch die Menschen schlichtweg in eine Polarisierung treiben, um danach politisch zu profitieren, unter anderem hier. Dass drei AfD-Vorsitzende eigentlich Wessis sind, die jetzt in den Osten gegangen sind, um die Menschen dort in ihrem Interesse aufzupeitschen, macht die Sache nur noch pikanter. Das sind auf jeden Fall keine Interessenvertreter für die Menschen in den neuen Bundesländern.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD – Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

Der 3. Oktober ist ein Feiertag, der all das, was Sie fordern, bundesweit in unzähligen Veranstaltungen … Vermutlich war jeder von uns um und an dem 3. Oktober bei mehreren solcher Veranstaltungen, auch wieder dieses Jahr.

Wir dürfen natürlich nicht aufhören, in den Schulen und gegenüber den nachwachsenden Generationen immer wieder die Dinge zu erklären,

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

damit alle nachvollziehen können, was da passiert ist, was Sie ja anscheinend nicht können oder zumindest bis heute nicht können. Wir müssen das in Schulen und bei Veranstaltungen immer mit dem bewussten Respekt vor dem tun, was die Menschen in den heute ja gar nicht mehr so neuen Bundesländern geleistet haben.

Es passt also überhaupt nicht, wenn Sie sich hier heute als Interessenvertreter der Brandenburger, der Sachsen, der Sachsen-Anhaltiner, der Thüringer sowie der Mecklenburger und Vorpommern hinstellen und gerieren und auf der anderen Seite ganz perfide Keile in unsere Gesellschaft treiben, die Ihnen dann nachher in die Hände spielen sollen. Das finde ich nicht in Ordnung.

(Beifall von Heinrich Frieling [CDU])

Ich muss noch eines sagen. Wenn Sie im letzten Satz Ihres Antrags als vom NRW-Parlament zu beschließendem Ziel schreiben, der Landtag möge dafür werben – Zitat –, „die auch noch heute bestehenden Narben der deutschen Einigung durch gemeinsame Kraftanstrengungen verheilen zu lassen“, so kann ich das nur strikt ablehnen.

Wir dürfen nicht verheilen lassen, wir müssen aktiv heilen. Das wäre ein Ziel. Aber da sieht man auch wieder, worum es Ihnen eigentlich geht. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab und werben für unseren Entschließungsantrag. – Schönen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht nun Professor Dr. Rudolph.

Prof. Dr. Karsten Rudolph*) (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt dieses Bonmot von Olaf Scholz. Als er Innensenator in Hamburg war, hat er einmal gesagt: Wir sind zwar liberal, aber nicht naiv.

Wenn man jetzt versucht, diesen Grundsatz auf das anzuwenden, was Sie hier gesagt und geschrieben haben, dann kann man vorweg sagen – und das muss man auch auf den Punkt bringen –: Die Propagandalüge, die Sie hier verbreiten, lautet, die Ostdeutschen hätten die Wiedervereinigung Deutschlands gegen die westdeutschen Eliten durchgesetzt, weil die westdeutschen Eliten die deutsche Einheit verraten hätten.

(Helmut Seifen [AfD]: Die SPD!)

Das ist sozusagen die Propaganda, die Sie in unserem Land verbreiten. Damit ist eigentlich schon alles gesagt. Aber ganz so leicht will ich es Ihnen nicht machen. Ich habe den Text aufmerksam gelesen, und deswegen will ich dazu einige Bemerkungen machen.

Die Machart, die wir erleben, kommt auch bekannt vor. Da sind immer diese mehr oder weniger offenen Attacken gegen die sogenannten Altparteien, insbesondere gegen die SPD. Herr Tritschler, Sie haben es auch noch mal gesagt, und es steht in dem Antrag.

Dann kommt die besondere Attacke gegen die SPD in Nordrhein-Westfalen und gegen Johannes Rau, den damaligen Ministerpräsidenten, der angeblich der DDR die volle Staatsbürgerschaft angeboten habe, damit diese im Gegenzug den Flüchtlingsstrom stoppt, der über den Flughafen Schönefeld und die S-Bahn, betrieben von der sowjetischen Fluggesellschaft und von der DDR-Fluggesellschaft, viele tamilische und asylsuchende Flüchtlinge aus dem Nahen Osten nach Westberlin gebracht hat.

Da habe ich mich gefragt: Was macht jetzt eigentlich eine AfD? Eigentlich sind Sie doch sozusagen immer diejenigen, die Flüchtlingsströme stoppen wollen. Aber jetzt loben Sie Johannes Rau überhaupt nicht.

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

Jetzt sagen Sie, er hätte die Staatsbürgerschaft anerkannt, und auch das stimmt nicht. Auch da hilft Lesen. Er hat nicht mehr und nicht weniger gesagt – das steht auch im Programm der SPD –, als dass die Staatsangehörigkeit der DDR im Rahmen des Grundgesetzes respektiert werde. Zwischen Respektieren und Anerkennung liegt diplomatisch ein meilenweiter Unterschied.

Entlarvend ist aber eigentlich, was Sie verschweigen, weil Sie darüber nicht reden möchten.

Sie möchten zum Beispiel nicht reden über die Rede Erhard Epplers vor dem Deutschen Bundestag am 17. Juni 1989. Er sprach zu diesem Zeitpunkt aus, was kaum jemand erhofft hatte, dass nämlich die DDR-Führung ihren eigenen Untergang heraufbeschwöre, wenn sie weiter an ihrer starren Politik festhalte. Jetzt müssen Sie im Protokoll weiterlesen, dass sich dann die Abgeordneten erhoben und die Nationalhymne gesungen haben.

Sie sprechen auch nicht über die mutige Gründung einer sozialdemokratischen Partei am 7. Oktober in Schwante bei Berlin. Auch das war ein mutiges Signal, weil es zum ersten Mal den Alleinvertretungsanspruch der SED herausforderte. Diejenigen mutigen Männer und Frauen – knapp 40 waren es an der Zahl –, die da mitgemacht haben, hatten alle schon dafür gesorgt, dass sie anschließend verschwinden können, in den Untergrund gehen können, weil sie große Gefahr liefen, direkt darauf verhaftet zu werden.

Dann stellen Sie uns die DDR-Bürgerinnen und -Bürger eigentlich nur als wehrlose Opfer vor, so als hätte es da keine Widerständlichkeit gegeben, als hätte es keine Umweltaktivisten gegeben, die gegen die Umweltzerstörung in der DDR gekämpft haben, als hätte es keine Friedensbewegung gegeben, die gefordert hat, Schwerter zu Pflugscharen zu machen, als hätte es überhaupt keine Dissidenten in der DDR gegeben. Die gab es doch alle. Die gehören doch ebenso zur Vorgeschichte des Oktober 1989.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Und: Was das auch so substanzlos macht, was Sie hier vortragen, ist der Umstand, dass Sie sich anscheinend überhaupt nicht darüber im Klaren waren, dass im Kalten Krieg die Gefahr eines atomaren Krieges durchaus real war. Das war kein Spiel. Deswegen war die neue Ost- und Deutschlandpolitik immer auch zugleich eine Form deutscher Außenpolitik, und zwar eine Form, die man auch „Friedenspolitik“ nennen kann. Deswegen hat doch Willy Brandt als Bundeskanzler den Friedensnobelpreis bekommen, für seine Friedenspolitik für ganz Europa. Hören Sie: für ganz Europa.

Sie behaupten immer, die westdeutsche Politik hätte nur immer Westeuropa im Blick gehabt. Auch das ist doch völliger Quatsch und grundverkehrt. Die gesamte Ostpolitik, auch die neue Ostpolitik, wurzelte in einer im Westen verankerten Europapolitik. Es ging auch darum, einen Beitrag zu leisten, um sozusagen den Blockgegensatz zu überwinden. Darum ging es den verantwortlichen Politikern in Westeuropa und auch in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen setzte doch Kohl 1982 eben diese neue Ostpolitik aus guten Gründen auch fort.

Dann wieder völlig losgelöst vom historischen Kontext und den Fakten wird von der AfD behauptet: „Vom freien Teil Deutschlands ging eine Initiative zur Wiedervereinigung nicht aus.“ Dann kommt die übliche Attacke auf die westdeutsche Politik und die übliche Medienschelte. Dabei nehmen Sie jetzt mal die Springerpresse heraus. Mit anderen Worten – das muss man sich auch klarmachen –: Das, was Sie hier sagen, ist nichts anderes als ein Vorwurf, Brandt, Bahr, Scheel, Genscher, Kohl und viele andere hätten die nationalen Interessen verraten.

Heute spielen Sie sich als Schlaumeier und Besserwisser auf und haben eigentlich eines nie begriffen, und das haben alle Vorgenannten begriffen und gelebt. Die damals politisch verantwortlich Handelnden wussten alle, dass ein guter Deutscher immer auch ein Europäer sein muss und niemals ein Nationalist sein darf.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Sie behaupten oder meinen auch, man hätte die deutsche Frage gleichsam in einem nationalen Alleingang lösen können. Das ist geradezu absurd. Deswegen kommen in Ihrem Antrag auch die Namen Margaret Thatcher oder François Mitterrand oder George Bush und – immerhin recht verschämt – Michail Gorbatschow nicht vor.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Antrag der AfD heißt es, dass der Einigungsprozess inzwischen zu stagnieren scheine, wofür „Politiker und Intellektuelle aus Westdeutschland“ verantwortlich gemacht werden; sie verunglimpften das Gebiet der ehemaligen DDR „mit dem Kampfbegriff ‚Dunkeldeutschland‘„.

Herr Tritschler, Sie haben das gerade auch gesagt. Sie sagen uns aber nicht, wer mit diesem Begriff eigentlich gearbeitet hat. Deswegen habe ich mal für Sie nachgeguckt, wenn Sie schon keine Belege und Namen nennen. Es war Bundespräsident Gauck, der 2015 in der Flüchtlingsdebatte vor einem „Dunkeldeutschland“ warnte. Er wollte dies aber eben nicht auf das ehemalige Gebiet der DDR bezogen wissen, sondern eigentlich auf Sie und Ihresgleichen. Denn Sie – Sie! – sind Dunkeldeutschland und niemand anderes in diesem Land.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Dann haben Sie, habe ich gesehen, die „Schroeder-Studie“, die ja schon 2008 umstritten war, noch einmal ausgegraben, um das sozusagen als Beweis dafür zu nehmen, dass der Schulunterricht in Westdeutschland oder jetzt in Gesamtdeutschland nicht tauge, weil es 2008 zu viele Schüler gegeben habe, die die DDR zu unkritisch gesehen hätten.

Es gibt eben immer einen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Erinnerung. In Familien wird bei Familienfeiern, wenn man an bestimmte historische Ereignisse denkt, manchmal anders gesprochen als im Landtag oder in der Schule, wo es um die öffentliche Erinnerung geht. Das wissen wir ja spätestens seit dem schönen Buch von Harald Welzer „Opa war kein Nazi“, weil Opa eigentlich nie Nazi sein konnte.

Ich kann es mal so erklären: Sie haben einen Landesvorsitzenden in Thüringen, Herrn Höcke. Herr Höcke ist ja westdeutscher Oberstudienrat und Geschichtslehrer gewesen. Jetzt sollte man ja eigentlich meinen, dass jemand, der diese Ausbildung genossen hat, niemals fähig sein dürfte, solche Sachen zu sagen, wie er sie sagt, so geschichtsverdrehend und geschichtsvergessen. Er tut es trotzdem.

Jetzt kann man natürlich, Ihrer Argumentation folgend, sagen, das Schulwesen in Deutschland und die Universitäten hätten komplett versagt. Die Frage ist, ob das am Schulwesen liegt oder daran, dass es in der Familie Höcke eine Tradition gibt, die Dinge etwas anders zu sehen als in der öffentlichen Erinnerung. Wenn der Großvater von Herrn Höcke schon leuchtende Augen bekam, als er dem Führer entgegengetreten ist, wenn der Vater schon antisemitische Schriften bezogen hat und der Sohn dann so redet, werden Sie merken, dass öffentliche und private Erinnerung auseinanderfallen können.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Deswegen heilt die Schule nicht alles. Schulische Bildung ist kein Allheilmittel. Es geht auch darum, politisch zu entscheiden, auf welcher Seite man steht. Sie sehen, dass in diesem Fall etwas falsch gelaufen ist.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Auch das ist interessant: Sie behaupten in Ihrem Antrag, an unseren Schulen werde – Zitat – „offenbar unverhohlen die Planwirtschaft verherrlicht“.

(Zuruf von Markus Wagner [AfD])

Als Beleg wird die Drucksache 17/6462 angegeben. Jetzt muss man gucken, wer hinter dieser Drucksache 17/6462, die als Beleg angeführt wird, steckt.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Da ist eine Quelle genannt!)

– Die Quelle? Die sind Sie selbst. Das ist …

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

– Nein, nein. Ich erkläre es Ihnen. Ich kann lesen. Sie können es nachlesen.

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Ganz alter Trick!)

Das ist die Kleine Anfrage des Abgeordneten Tritschler mit dem etwas seltsamen – ich will nicht sagen verrückten – Titel: „Abiturprüfung in Nordrhein-Westfalen: Karl Marx statt Ludwig Erhard?“ vom 5. Juni 2019. Die wurde übrigens von der Landesregierung längst beantwortet, das ist Drucksache 17/6729. Lesen Sie die mal nach.

Die Anfrage fußt auf einem Kommentar eines Redakteurs der „WirtschaftsWoche“, der seinem Sohn bei der Abiturvorbereitung im Fach Sozialwissenschaften an einem Kölner Gymnasium geholfen hat und über den Prüfungsstoff irritiert war. Deswegen schrieb er einen offenen Brief an die damalige NRW-Schulministerin. Das ist der Inhalt. Als Beleg für die Behauptung ist der Hinweis auf die Kleine Anfrage selbstreferenziell und völlig wertlos.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Sie zitieren sich selbst mit Anfragen. Herr Kollege, ich gebe Ihnen einen Rat: Wenn Sie schon Drucksachennummern angeben, müssen Sie damit rechnen, dass man die Drucksachen nachliest. Das nur für die Zukunft.

(Lachen von der SPD)

Ich will zum Schluss noch etwas zum Forderungsteil des Antrags sagen, mein Vorredner hat das auch getan. Ich finde nämlich, das ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. An Scheinheiligkeit kaum zu überbieten ist die Forderung, der Landtag möge sich „für mehr Verständnis und gegenseitige Rücksichtnahme unter den Deutschen aller Bundesländer“ einsetzen und dafür werben, „die auch heute noch bestehenden Narben der deutschen Einigung durch gemeinsame Kraftanstrengungen verheilen zu lassen“.

Das ist deshalb scheinheilig, weil das eine Partei verlangt, die im Grunde weder Verständnis noch gegenseitige Rücksichtnahme kennt. Das verlangt eine Partei, die die Wunden der Einigung immer wieder aufreißt und jeden Tag neue Wunden schlägt. Das verlangt eine Partei, deren Geschäftsmodell das Schüren von Unzufriedenheit und das Gegeneinander-Aufstacheln ist. Ich sage Ihnen: Die AfD will keinen inneren Frieden, sie lebt von Unfrieden.

(Helmut Seifen [AfD]: Das ist Verleumdung!)

Deswegen lässt sich mit Ihnen und Ihresgleichen die innere Einheit auch nicht vollenden. Mit Ihnen steht man am Abgrund für Deutschland und nicht für ein einiges Deutschland. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Danke schön. – Für die FDP-Fraktion spricht nun die Abgeordnete Freimuth.

Angela Freimuth (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Dieser Antrag ist erneut eine gute Gelegenheit, sich mit der Überwindung der politischen Teilung unseres Landes und unseres Kontinents auseinanderzusetzen. Insbesondere deshalb, weil der Antrag sehr deutlich macht, warum Erinnern, Aufklären und politisch-historische Bildung dringend notwendig sind.

Den Antragstellern sei ebenfalls zugestanden, dass in einem parlamentarischen Antrag natürlich nicht alle ineinandergreifenden Wendepunkte dargestellt werden können. Aber das Dargestellte sollte jedenfalls richtig sein.

Zu den Behauptungen über Johannes Rau im Antrag hat Kollege Dr. Rudolph schon Zutreffendes ausgeführt. Mit derartigen Bemerkungen und Behauptungen wird Unkenntnis bezeugt.

Ich will hinzufügen, dass aufgrund dieser Verdrehung, dieser bewussten Verdrehung von Tatsachen hier die Anfälligkeit für Hetze deutlich angelegt ist.

Der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag aus dem Jahr 1972 war unter anderem auch Gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Prüfungsverfahrens auf Antrag Bayerns. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil klargestellt, dass die innerdeutsche Grenze nur eine staatsrechtliche Grenze sei wie die Grenzen zwischen den Ländern der Bundesrepublik auch.

Außerdem stellte das Urteil unmissverständlich klar, dass das Staatsangehörigkeitsrecht der Bundesrepublik auch von Bürgern der DDR in Anspruch genommen werden konnte. Deshalb wurde der deutsche Pass – wie es in Ihrem Antrag steht – aber doch nicht aufgezwungen. Es ging eben nicht um die Anerkennung der DDR-Staatsangehörigkeit, sondern um den respektvollen Umgang mit der tatsächlichen Teilung unseres Landes.

Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat bereits im Jahr 1994 darüber diskutiert. Da gehörten wir diesem Parlament wohl alle noch nicht an; gleichwohl lohnt es sich, diese Debatte mal nachzulesen. Ich muss sagen, ich finde es erschreckend, dass es heute immer noch notwendig ist, diese Debatte in dieser Form noch einmal zu führen.

Ich möchte eine weitere Behauptung, die in Ihrem Antrag steht, anführen. Ihr Antragstext lautet:

„Vom freien Teil Deutschlands ging eine Initiative zur Wiedervereinigung nicht aus.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich empfehle dringend die Lektüre unseres Grundgesetzes. In der Präambel des Grundgesetzes in der damals gültigen Fassung war das Gebot der Wiedervereinigung ausdrücklich enthalten. Dort hieß es:

„Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“

(Beifall von der FDP und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgte hieraus ein verfassungsrechtliches alle Staatsorgane – der damaligen Bundesrepublik und nicht der DDR – bindendes Gebot, die Wiedervereinigung anzustreben und auf die Verwirklichung hinzuwirken.

Wie kann man denn auf die Art und Weise die Realitäten verdrehen, wenn in der Präambel unseres Grundgesetzes ausdrücklich diese Verpflichtung stand?

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD] – Zuruf von der SPD: Lass dich doch nicht auf eine Diskussion mit dem ein!)

– Herr Tritschler, ich würde sowieso dringend die Lektüre unseres Grundgesetzes empfehlen

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

und vielleicht dazu noch einiger anderer Schriften, die sich mit der Meinungs- und Pressefreiheit und einer demokratischen Streitkultur auseinandersetzen. Dann können wir gerne weiter darüber sprechen.

Aber ich verstehe nicht ganz, wie man an dieser Stelle dieses verfassungsrechtliche Gebot völlig ignorieren kann, dem sich alle – die staatlichen Organe, die Parteien, die Bürgerrechtsbewegungen, die Zivilgesellschaft, die Kirchen und viele andere – verpflichtet fühlten.

Ich finde es bemerkenswert, dass Sie in Ihrem Antrag formulieren, dass der 9. November aufgrund seiner ambivalenten Bedeutung als reiner Feiertag ungeeignet sei. Gleichwohl sollten alle Einrichtungen des Landes das Gedenken an die friedliche Revolution angemessen und würdig begehen.

Da frage ich mich allen Ernstes: Wo waren denn die Anträge – vielleicht kommen sie wenigstens in diesem Jahr – zum 80. Jahrestag der Pogromnacht? Dazu habe ich hier keinen Antrag der AfD festgestellt, mit dem man würdig und angemessen dieses Ereignisses auch am 9. November gedacht hätte.

(Beifall von der FDP und der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Gerade ist hier das Verhältnis der AfD-Partei zur DDR angesprochen worden; vielleicht hören wir von der Fraktion noch etwas dazu. Im Wahlkampf in Sachsen und Brandenburg und auch im aktuellen Wahlkampf in Thüringen empfiehlt die AfD, wenn ich richtig informiert bin, bei ihr das Kreuz zu machen, mit dem Hinweis, dies sei wie eine friedliche Revolution mit dem Stimmzettel.

In einem Comic heißt es dann sogar: Wir sind auf dem besten Weg in eine Gesinnungsdiktatur. Früher waren es die Stasischergen, heute machen Antifa-Banden Jagd auf politische Abweichler.

Wenn man dann allen Ernstes hergeht, die heutige Bundesrepublik und unsere demokratische Streitkultur mit der damaligen DDR zu vergleichen, ist das ein Zeugnis historischer und politischer Defizite. Deswegen ist es auch völlig nachvollziehbar und völlig zu Recht von den Bürgerrechtlern der DDR als Missbrauch der friedlichen Revolution bezeichnet worden, der wir heute mit dem Antrag der Kollegen der Sozialdemokratie, mit unserem Entschließungsantrag auch gedenken. Deswegen haben die DDR-Bürgerrechtler diesen Ansatz zu Recht zurückgewiesen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Freimuth. – Sie haben sicherlich bemerkt, dass es von Herrn Abgeordneten Tritschler von der AfD-Fraktion die Anmeldung einer Kurzintervention gegeben hat. Ich schalte das Mikrofon frei.

Sven Werner Tritschler (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte noch mal ganz kurz darauf eingehen, dass jetzt auch die FDP an der Legende vom heiligen Johannes strickt, der angeblich schon immer für die Wiedervereinigung war. Es gibt ein schönes Zitat von ihm selbst vom Februar 1990. Er sagte in der Leipziger Nikolaikirche mit Bezug auf die Haltung der SPD zur DDR – ich zitiere –:

„Wir haben uns bei den Mächtigen wohlgefühlt. Wir waren nicht bei denen, die die Revolution vorbereiteten. Wir waren bei denen, die nichts ändern wollten.“

Nichts spiegelt die Haltung der Parteien im Westen, insbesondere der SPD und von Johannes Rau, besser wider als er selbst mit seinen eigenen Worten vom Februar 1990.

(Sven Wolf [SPD]: Bodenlos! – Sven Werner Tritschler [AfD]: Es ist ein Zitat! Entschuldigung!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Bitte schön.

Angela Freimuth (FDP): Frau Präsidentin! Herr Tritschler, nur ganz kurz zu diesem Hinweis: Diese Methode, irgendwelche Zitate zu bringen, von denen ich jedenfalls nicht sagen kann, ob das überhaupt zutrifft – ich war nicht dabei, es würde mich jedenfalls in der Sache überraschen –, und immer wieder Sätze im Zweifel aus dem Kontext zu reißen und damit zweckzuentfremden, ist ein Niveau, auf dem ich mich nicht auseinandersetzen möchte.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ich finde, Kollege Rudolph hat dazu alles gesagt.

(Beifall von der FDP, der CDU und der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Freimuth. – Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Paul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josefine Paul*) (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Was ist das Erbe der friedlichen Revolution? – Menschen gingen für Freiheit und Demokratie auf die Straße. Herr Minister Stamp hat es vorhin in der Debatte noch mal sehr deutlich gemacht und darauf hingewiesen: Nicht Rache, sondern runde Tische, Veränderung durch Gespräch statt gewalttätiger Umwälzungen, das waren die Botschaften der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler. Deshalb sind die Menschen auf die Straße gegangen; das wollten sie erreichen.

Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Verweise darauf in Ihrem Antrag so gut wie gar nicht vorkommen. Sie ergehen sich in Hinweisen darauf, dass eigentlich alle Menschen in der DDR Opfer gewesen sind. Es kommt kaum etwas über die Demokratiebewegung darin vor. Und in Ihren Vorträgen und Vorstellungen hier ergehen Sie sich darin, wie eigentlich der Westen zum Osten stand.

Das ist paternalistisch. Das ist nicht das, wofür Sie vorgeben zu stehen. Sie geben vor, für die Menschen in Ostdeutschland zu stehen, zu sprechen und ihre Wende vollenden zu wollen.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Ich glaube, darauf können die Menschen dort verzichten.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Denn wenn Populisten mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ für Spaltung und Abgrenzung auf die Straße gehen, ist genau das nicht die Botschaft der friedlichen Revolution.

Ein unscharfer Erinnerungsort wie die friedliche Revolution eröffnet Interpretationsspielräume und offensichtlich auch sehr große Spielräume für Fehlinterpretationen.

Sicher haben sich auch nicht alle Hoffnungen der Menschen aus dem Sommer und Herbst 1989 erfüllt. Damit wird sich die Politik auch weiter auseinandersetzen müssen. Damit wird sich auch die Geschichtswissenschaft weiter auseinandersetzen müssen.

Aber zu suggerieren, es gelte, die Wende jetzt zu vollenden, und dies könnten nur die Rechtspopulisten, ist schlicht Geschichtsklitterung. Das spottet den mutigen Menschen, die sich unter Gefahr für Leib und Leben gegen die Diktatur gestellt haben, Hohn.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der AfD verweist auf die Opfer von Unrecht und Diktatur. Gleichzeitig behaupten Sie in den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, dass in der Bundesrepublik heute ähnliche Verhältnisse wie in der DDR herrschten.

Herr Loose hat ja auch gerade noch einmal die Mär von der DDR 2.0 in der Klimaschutzdebatte aufgerufen.

(Helmut Seifen [AfD]: Planwirtschaft!)

Das relativiert das Unrechtsregime der DDR. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer der zweiten deutschen Diktatur.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Frau Freimuth hat ja gerade schon darauf hingewiesen, dass sich frühere Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler und Prominente des öffentlichen Lebens der Bundesländer im Osten Deutschlands mit einem Aufruf gegen derartige Geschichtsverdrehungen gewandt haben.

Dass Sie überhaupt solche Slogans wie „Vollendet die Wende“ vortragen können, beweist doch, dass es keiner Vollendung der Wende bedarf.

Dass Sie so etwas absondern und damit in den Wahlkampf ziehen können, zeigt doch, dass die friedliche Revolution für Demokratie und Meinungsfreiheit erfolgreich gewesen ist – auch wenn ich Ihre Sicht der Dinge aus meiner politischen Sicht entschieden ablehne.

Auch die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR schreiben dies in ihrem Aufruf, wenn sie klarstellen: „Für die Demagogen der AfD sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen.“

(Zurufe von Helmut Seifen [AfD] und Sven Werner Tritschler [AfD])

– Sie können den Aufruf ja lesen und sehen, wer unterschrieben hat.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Das war Frau Bohley, die bei Ihnen ausgetreten ist!)

– Was hat das denn damit zu tun? Wenn man keine Argumente mehr hat, kommt es so.

Herr Tritschler, es wird doch nicht besser, wie Sie hier versuchen, die friedliche Revolution zu instrumentalisieren. Wohin Sie die AfD hier im Landtag von Nordrhein-Westfalen positionieren wollen und worauf Ihre Redebeiträge, Ihr Antrag und Ihre Einlassungen zielen, ist doch mehr als deutlich geworden – nicht zuletzt im Redebeitrag, den Sie hier gerade gehalten haben.

Sie stehen für Spaltung, und Sie stehen für eine dunkle Vision von Deutschland. Wenn überhaupt von einem Dunkeldeutschland die Rede sein kann, dann ist es Ihre Vorstellung von diesem Land.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Das werden wir Ihnen so nicht durchgehen lassen.

Der Aufruf der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler endet mit dem Satz: „Spaltung hatten wir in Deutschland lange genug!“ – Ich glaube, das ist ein deutlicher Aufruf an uns, diese Spaltung, die Sie in diesem Land weiter vorantreiben wollen, so nicht durchgehen zu lassen, sondern ihr konsequent und immer entgegenzutreten.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die Landesregierung hat jetzt Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen das Wort.

Isabel Pfeiffer-Poensgen*), Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Zu den Ereignissen der Wende und zur deutschen Einheit hat mein Kollege Stamp für die Landesregierung heute bereits unter Tagesordnungspunkt 3 zum Antrag der SPD-Fraktion sehr grundsätzlich Stellung genommen.

Zu dem in dieser Resolution, über die wir jetzt debattieren, vorhandenen Text haben die Abgeordneten vor mir bereits sehr ausführlich Stellung genommen. Sie haben die Vorlage kommentiert und vor allen Dingen ihre Qualität eingeordnet.

Deswegen habe ich mir vorgenommen, nur zu den Aspekten in der Resolution der Fraktion der AfD Stellung zu nehmen, die sich ausdrücklich an die Landesregierung wenden.

Der 9. November kann aufgrund seiner vielschichtigen historischen Bedeutung – auch das wurde hier immer wieder angesprochen – kein Feiertag sein. Mit der besonderen Würdigung des Mauerfalls an diesem Tag würde man die Bedeutung anderer Ereignisse in der Geschichte unseres Landes in den Hintergrund stellen.

Nicht ohne Grund hat man daher den 3. Oktober als Feiertag gewählt, an dem wir im nächsten Jahr die 30. Wiederkehr der Wiedervereinigung feiern und damit auch den Mauerfall als ihre Grundlage würdigen.

Auf die Forderung des Antrags, den Wissensstand der Schülerinnen und Schüler Nordrhein-Westfalens zur DDR zu untersuchen, möchte ich kurz eingehen.

Die im Antrag zitierte Schröder-Studie von 2008 – auch das wurde hier bereits erwähnt – war – das weiß jeder, der sich damit beschäftigt hat – nicht hinreichend repräsentativ. Sie lässt somit keine allgemeinen Rückschlüsse auf den Wissensstand von Schülerinnen und Schülern in Nordrhein-Westfalen zur SED-Diktatur zu. Eine Fortführung dieser Studie bietet sich schon deswegen nicht an.

Wichtiger erscheint es, die vorhandenen Ressourcen für eine Förderung der historisch-politischen Bildung einzusetzen. Die Landesregierung leistet bereits wichtige Beiträge zur Würdigung und Anerkennung der Menschen, denen in der SED-Diktatur Unrecht widerfahren ist.

Die demokratische, politische und die Wertebildung für die Zukunft der Gesellschaft ist aus Sicht der Landesregierung natürlich von grundlegender Bedeutung. Besonders gilt dies für die Vermittlung an junge Menschen und für ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten.

Das Ministerium für Schule und Bildung hat zahlreiche Programme und Projekte auf den Weg gebracht und intensiv ausgebaut, die das historische Wissen vermitteln und veranschaulichen.

So beteiligt sich Nordrhein-Westfalen seit 2014 an dem im Jahr der Wiedervereinigung ins Leben gerufenen Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ mit dem Ziel, die junge Generation zum Engagement für das politische Gemeinwesen zu befähigen und zu ermutigen.

Die Förderung der politischen Bildungsarbeit aus dem Kinder‑ und Jugendförderplan des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration ermöglicht zudem Gedenkstättenbesuche – auch das wurde hier unter TOP 3 schon mehrfach erwähnt – von Orten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und auch aktueller rechter Gewalt.

Auch Besuche der Gedenkstätten der Verbrechen der SED-Diktatur werden gefördert sowie Fahrten zu Orten der Nachwendezeit, die junge Menschen anregen, sich mit Demokratiebildung auseinanderzusetzen. Gedenkstätten leisten als außerschulische Lernorte und als Orte der Erinnerung unverzichtbare Beiträge.

Von der Landeszentrale für politische Bildung im Ministerium für Kultur und Wissenschaft geförderte NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte sind als authentische Orte für eine erfolgreiche historisch-politische Bildung von großer Bedeutung.

Die pädagogischen Konzepte und Vermittlungsstrategien dieser Gedenkstätten werden mit Unterstützung der Landeszentrale stetig an die sich verändernden Rahmenbedingungen und Bedarfe angepasst.

Da es bezüglich der SED-Diktatur solche authentischen Orte in Nordrhein-Westfalen naturgemäß nicht gibt, konzentriert sich die historisch-politische Bildung in diesem Bereich vor allen Dingen auf die Arbeit mit Zeitzeugen.

Auch auf die Aktivitäten von Herrn Hendriks, dem Beauftragen der Landesregierung für die Belange von deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern, möchte ich noch hinweisen.

Herr Hendriks ist in seiner Funktion Ansprechpartner für Verbände und Vereine von DDR-Übersiedlern sowie SED-Opfern, die hier in Nordrhein-Westfalen ansässig sind. Schätzungen zufolge sind bis zum Fall der Mauer rund 1 Million DDR-Übersiedler und ehemalige politische Häftlinge nach Nordrhein-Westfalen gekommen und haben sich hier niedergelassen.

Neben zahlreichen Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der Verbände führt Herr Hendriks auch Gespräche mit einzelnen Betroffenen und versteht sich, wenn möglich, als Lotse für das jeweilige Anliegen.

Auf Einladung des Parlamentarischen Staatssekretärs Klaus Kaiser und des Landesbeauftragten Hendriks haben sich am 4. April 2019 rund 30 Vertreterinnen und Vertreter von SED-Opfervereinigungen und einzelne Betroffene aus Nordrhein-Westfalen zu einem runden Tisch im Ministerium für Kultur und Wissenschaft getroffen. Dabei wurde unter anderem vereinbart, an für die deutsch-deutsche Geschichte besonderen Daten Gedenkveranstaltungen gemeinsam wahrzunehmen und auszurichten.

Sie sehen, die Aufarbeitung des DDR-Unrechts und seine gesamtgesellschaftliche Bedeutung beschäftigt Nordrhein-Westfalen auf vielfältige Weise und ist natürlich auch ein ständiges Anliegen der Landesregierung und ihrer Bezirksregierungen – und das an allen Tagen eines jeden Jahres und nicht nur an den Gedenktagen.

Den engagierten Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR und den mutigen und verantwortlichen Politikern, die besonnen und klug gehandelt haben, verdanken wir diese friedliche Revolution.

Mit großem Willen zur Veränderung und leidenschaftlichem Einsatz der Menschen in der DDR, der Unterstützung aus benachbarten Ländern und dem eingeräumten Freiraum der ehemaligen Alliierten – auch das ist nicht zu vergessen – ist diese neue Chance für eine vereinigte Bundesrepublik Deutschland überhaupt erst entstanden.

Gleichzeitig vergessen wir aber auch nicht die weit über das Bestehen der DDR hinausgehenden Erfahrungen, die die Menschen der DDR machen mussten und die sie heute noch prägen.

Die Landesregierung wird die Vereinnahmung der Ereignisse rund um den Mauerfall und die Wiedervereinigung durch antidemokratische Interpretationen und Bewegungen nicht zulassen.

Ich würde mich über die breite Zustimmung freuen, die zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP hoffentlich gleich erfolgen wird. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen. – Weitere Wortmeldungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen nicht vor. Damit schließe ich an dieser Stelle die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 5.

Wir kommen zur Abstimmung, erstens über den Antrag der Fraktion der AfD, Drucksache 17/7533. Die antragstellende Fraktion hat direkte Abstimmung beantragt.

Wer dem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das ist die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind CDU, SPD, FDP und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich frage vorsorglich, ob es Stimmenenthaltungen gibt. – Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag Drucksache 17/7533 mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis abgelehnt.

Wir kommen zur zweiten Abstimmung, und zwar über den Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/7609. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das sind die CDU-Fraktion, die FDP-Fraktion und die SPD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Das sind die Grünen und die AfD-Fraktion. Dann ist mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis der Entschließungsantrag Drucksache 17/7609 angenommen, und wir sind am Ende von Tagesordnungspunkt 5.

Der Präsident hat um das Wort gebeten.

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade erreichte uns über die Medien eine schreckliche Nachricht aus dem Bereich Halle (Saale). Dort haben offenbar Bewaffnete versucht, in die Synagoge einzudringen.

Man muss wissen: Heute ist Jom Kippur, heute ist der jüdische Versöhnungstag, der höchste jüdische Feiertag, an dem sich besonders viele Menschen in den Synagogen aufhalten.

Vorgestern war das Präsidium des Landtags in Auschwitz in der Gedenkstätte. Wir haben gestern auch das jüdische Viertel Kazimierz in Krakau besichtigt. Ich kann und ich will in dieser Minute zu diesem menschenverachtenden Geschehen in Deutschland nicht schweigen.

Es gibt zwei Tote nach dem, was wir bisher wissen. Der Generalstaatsanwalt ermittelt. Ich kann und ich will das in dieser Stunde nicht einfach übergehen.

Ich sage deshalb als Präsident dieses Hauses: Wir, dieses Haus, und wir alle persönlich verurteilen diese schreckliche und feige Tat, und wir verurteilen jedweden Antisemitismus. Ich werde gleich Abraham Lehrer anrufen und mit ihm sprechen. Das Weitere bleibt für den Augenblick abzuwarten. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Allgemeiner Beifall)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Ich danke in unser aller Namen dem Präsidenten für die Worte. Wir trauern mit den Opfern, ihren Angehörigen. Sofern es Verletzte gibt– das wird ja der Fall sein –, hoffen wir alle sehr, dass sie bald wieder genesen werden.

Es ist jetzt schwierig, aber ich muss zur Fragestunde, zu Tagesordnungspunkt 6 überleiten:

6   Fragestunde

Drucksache 17/7586

Fragen
aus der letzten Fragestunde
Nr. 52 und 53

Mit der Drucksache 17/7586 liegt uns aus der Fragestunde vom 18. September 2019 die

Mündliche Anfrage 52

des Abgeordneten Christian Dahm von der Fraktion der SPD vor.

Mit derselben Drucksache liegt, ebenfalls aus der letzten Fragestunde, die

Mündliche Anfrage 53

des Abgeordneten Sven Wolf von der Fraktion der SPD vor.

Sie werden sich vielleicht erinnern oder nachgelesen haben, dass beide Mündlichen Anfragen Fragestellungen zum Hambacher Forst beinhalten.

Beide Fragesteller wünschen eine schriftliche Beantwortung dieser Mündlichen Anfragen wünschen, sodass an der Stelle die Landesregierung und die zuständige Ministerin sowie der zuständige Minister für Antworten nicht gefordert sind. Ich bitte, die Mündlichen Anfragen schriftlich zu beantworten. (Schriftliche Beantwortung siehe Vorlage 17/2537)

Ich rufe dann die

Mündliche Anfrage 54

der Abgeordneten Berivan Aymaz von der Fraktion der Bündnis 90/Die Grünen auf.

Die Frage lautet: „Wann endlich stellt die Landesregierung den Kommunen eine auskömmliche Flüchtlingsfinanzierung zur Verfügung?“

Wie immer darf ich vorsorglich darauf hinweisen, dass die Landesregierung in eigener Zuständigkeit entscheidet, welches Mitglied der Landesregierung eine Mündliche Anfrage im Plenum beantwortet. In diesem Fall hat die Landesregierung angekündigt, dass Herr Minister Stamp antworten wird.

Herr Minister, ich erinnere Sie daran, dass Ihr Mikrofon jetzt freigeschaltet ist und die ganze Zeit freigeschaltet bleibt. Bitte schön.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Aymaz für die antragstellende Fraktion, Ihre Fragen wurden bereits in der Sitzung des Integrationsausschusses am 2. Oktober 2019, also vor wenigen Tagen, gestellt und dort auch beantwortet. Seitdem hat sich am Sachverhalt nichts geändert.

Die derzeitige Flüchtlingsfinanzierung regelt das Flüchtlingsaufnahmegesetz, also ein Gesetz. Als solches wurde es vom Landtag verabschiedet und verschiedentlich novelliert, denn die Gesetzgebung gehört zu den zentralen Aufgaben eines Parlaments, also auch des Landtags von Nordrhein-Westfalen.

Das heißt aber auch: Nicht die Landesregierung entscheidet über die Flüchtlingsfinanzierung, sondern der Landesgesetzgeber. Frau Abgeordnete Aymaz, daher erlaube ich mir, Ihre Frage umzuformulieren, so wie sie wahrscheinlich gemeint war: Warum hat die Landesregierung bislang keinen Gesetzentwurf zur FlüAG-Pauschale eingebracht?

Meine Damen und Herren, eine Demokratie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass ein intensiver Diskussionsprozess unter Anhörung verschiedener Positionen durchgeführt wird. In diesem Diskussionsprozess befinden wir uns.

Die Landesregierung befasst sich intensiv mit den Aussagen und Empfehlungen des Gutachters. Ich führe Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden über eine angemessene künftige Landesunterstützung.

Die vom Gutachter vorgeschlagene Differenzierung nach kreisfreien Städten und kreisangehörigen Kommunen prüfen wir genau; eine Umsetzung sollte gut abgewogen sein. Die Neuregelung gilt schließlich nicht nur für ein Haushaltsjahr, sondern sie soll die Grundlage für die nächsten Jahre sein.

In diesem Zusammenhang wird auch die finanzielle Entlastung der Kommunen bei den Ausgaben für Geduldete in den Blick genommen. Mir ist daher eine fundierte Abwägung besonders wichtig.

Es ist erklärtes Ziel der Landesregierung, eine breite Akzeptanz für eine neue Regelung zu erreichen. Hierzu sind weitere Gesprächsrunden erforderlich. Ich bin sehr zuversichtlich, an deren Ende ein für alle Beteiligten akzeptables Ergebnis vorlegen zu können.

Ich möchte aber heute noch einmal klarstellen: Im Flüchtlingsaufnahmegesetz ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen, in welcher Höhe und wie lange die Kommunen eine FlüAG-Pauschale erhalten.

Die aktuelle Regelung steht jetzt auf dem Prüfstand; das habe ich bereits mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen betont. Wir werden uns hierzu mit der kommunalen Familie beraten und austauschen, um eine für beide Seiten akzeptable und dauerhaft tragfähige Lösung zu finden.

Diese Landesregierung hat die Finanzierung der Kommunen seit ihrem Regierungsantritt erheblich verbessert. Im Landeshaushalt 2020 sind für die Kommunen insgesamt – Steuerverbund, Kompensationsleistungen und Zuweisungen nach Maßgabe des Haushaltsplans – Mittel in Höhe von rund 28,7 Milliarden Euro vorgesehen. Das sind 36,1 % der Gesamtausgaben des Jahres 2020. Im Jahr 2017 waren es noch 34,4 % der Landesausgaben.

Damit haben die Kommunen seit unserer Regierungsübernahme rund 3,8 Milliarden Euro alleine vom Land zusätzlich zur Verfügung. Hinzu treten noch erhebliche Verbesserungen von Bundesseite.

Im Gegensatz dazu hat am 9. Juni 2016 die damalige von SPD und Grünen getragene Landesregierung dem Ausschuss für Kommunalpolitik schriftlich mitgeteilt, dass die Integrationspauschale des Bundes vollständig dem Lande zustünde. Dieser Auffassung folgend haben SPD und Grüne in ihrer Regierungszeit die Integrationspauschale des Bundes nicht an die Kommunen weitergeleitet.

Diese von der schwarz-gelben NRW-Koalition getragene Landesregierung hat den Kommunen im Jahr 2018 100 Millionen Euro zusätzlich für Integrationsmaßnahmen zur Verfügung gestellt.

In diesem Jahr wird die Integrationspauschale des Bundes vollständig an die Kommunen ausgeschüttet. Es werden also zusätzlich 432,8 Millionen Euro ausgeschüttet. Das haben wir versprochen, und dieses Versprechen haben wir gehalten.

Die Gemeinden und Gemeindeverbände werden ihre Bescheide zur Umsetzung des § 14c des Teilhabe‑ und Integrationsgesetzes noch im Oktober 2019 erhalten.

Wie Sie bereits in Ihrer Frage richtig ausführen, sieht die Verständigung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 6. Juni 2019 über die Bundesbeteiligung an den Flüchtlingskosten für die Jahre 2020 und 2021 keine Integrationspauschale mehr vor. Eine Integrationspauschale, die es nicht mehr gibt, kann nicht weitergeleitet werden.

Als Kompensation schlagen Sie nun stattdessen die Weiterleitung der Pauschale, die der Bund den Ländern für flüchtlingsbezogene Zwecke zur Verfügung stellt, vor. Für Nordrhein-Westfalen sind das im Jahr 2020 151,2 Millionen und im Jahr 2021 108 Millionen Euro.

Dies verkennt jedoch, dass die Mehrausgaben des Landes für Integration und jene im Bereich der frühkindlichen und schulischen Bildung für Kinder mit Fluchthintergrund und Einwanderungsgeschichte diese Pauschale bereits deutlich übersteigen.

Die Umsetzung des Asylstufenplans und die pragmatischen Bleiberechtserlasse in Nordrhein-Westfalen tragen ebenfalls nachhaltig zu einer Entlastung der Kommunen bei.

Die Gesamtheit dieser Maßnahmen entlastet die Kommunen deutlich mehr als die von Ihnen vorgeschlagene Weiterleitung der Pauschale, die der Bund den Ländern ausdrücklich für flüchtlingsbezogene Zwecke des Landes für 2020 und 2021 zur Verfügung stellt. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und stehe Ihnen für Fragen jederzeit gerne zur Verfügung. Vielen Dank.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die Fragen sind bereits eingetroffen. Die erste Frage stellt Ihnen Herr Kollege Mostofizadeh von Bündnis 90/Die Grünen.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Ihnen herzlichen Dank für den Bericht. In Ihrer Einleitung haben Sie es quasi selber gesagt: Zur Beantwortung dieser Frage haben Sie heute nichts Neues beizutragen.

Das verwundert insofern schon, als die kommunalen Spitzenverbände an verschiedenen Stellen ausgeführt haben, dass die Gespräche, die Sie immer wieder angesprochen haben, zumindest nicht kontinuierlich stattgefunden hätten.

Deswegen die konkrete Frage an Sie: Wann ganz genau haben wir mit einem Ergebnis der Auswertung des Lenk-Gutachtens zu rechnen, das der Landesregierung mittlerweile seit mindestens zehn Monaten in abgenommener Form vorliegt? Wir reden immerhin über eine Größenordnung im hohen dreistelligen Millionenbereich, in der die Kommunen Mittel von Ihnen erwarten.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank. – Bitte, Herr Minister.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Abgeordneter Mostofizadeh, ich habe das im Ausschuss bereits ausgeführt. Ich darf sagen, dass ich es etwas wunderlich finde, dass man Fragen, die man fünf Tage vorher im Ausschuss gestellt hat, in der Fragestunde im Plenum wiederholt.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Ich bin Abgeordneter!)

– Herr Mostofizadeh, Sie haben das Recht, jederzeit zu fragen, was Sie möchten. Es ist aber auch mein Recht, darauf hinzuweisen, wenn ich etwas wunderlich finde.

Um Ihre Frage präzise zu beantworten: Wir werden die Regelung verkünden, wenn wir mit den kommunalen Spitzenverbänden ein gemeinsames Ergebnis erzielt haben. Man muss ein Gutachten nicht nur in Ruhe analysieren, sondern natürlich auch politisch bewerten.

(Beifall von Dr. Ralf Nolten [CDU])

Dieses Recht haben sich auch die kommunalen Spitzenverbände herausgenommen.

Herr Mostofizadeh, wie Sie aufgrund Ihrer langjährigen kommunalpolitischen Erfahrung wissen, gibt es natürlich auch unterschiedliche Interessen in den Kommunen sowie unterschiedliche Kosten, die in den Kommunen angefallen sind. Insofern werden wir versuchen, eine gute Regelung hinzubekommen, die dann auch langfristig trägt.

Mir ist vor allen Dingen daran gelegen, dass wir die Regelung so treffen, dass sie dauerhaft trägt. Ich halte es nämlich nicht für klug, wenn wir diese Debatte alle zwei Jahre erneut führen.

Ich denke, es ist sinnvoll, sich jetzt etwas mehr Zeit zu nehmen und sich etwas gründlicher mit dieser Sache auseinanderzusetzen, um dann eine tragfähige Lösung zu erzielen, die dauerhaft ist.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Ihnen Frau Kollegin Aymaz von Bündnis 90/Die Grünen.

Berivan Aymaz*) (GRÜNE): Herr Minister, auch von meiner Seite vielen Dank für den Bericht. Daraus ergeben sich zum wiederholten Male Nachfragen, die Sie uns leider nicht beantworten konnten.

Sie haben immer wieder – auch bei unseren Nachfragen im Ausschuss – darauf verwiesen, dass es Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden sowie innerhalb der kommunalen Spitzenverbände immer noch keinen Konsens für eine Lösung bezüglich FlüAG gebe.

Mich würde interessieren, welcher konkrete Konflikt, welcher Diskussionspunkt dazu führt, dass es immer noch keine Lösung gibt.

Meine nächste Frage. Entgegen Ihrer Aussage, dass es bezüglich einiger unterschiedlicher Interessen innerhalb der kommunalen Spitzenverbände keine Lösung gegeben habe, hieß es in der Anhörung zu unserem Antrag zur Erhöhung der FlüAG-Pauschale seitens der Experten – ich zitiere –:

Die Gespräche werden ständig geführt, aber uns wird immer erzählt, dass letztlich kein Geld vom Finanzminister zur Verfügung steht.“

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin.

Berivan Aymaz*) (GRÜNE): Wie beurteilen Sie diese Aussage aus der Anhörung, die die Gespräche anders darstellt als Sie es dargestellt haben?

Ich kann, glaube ich, noch eine weitere Frage stellen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Ja, es sind drei Zusatzfragen erlaubt, aber nicht alle in einer Runde, Frau Aymaz. Daher kann Herr Minister jetzt entscheiden, ob er direkt beide Fragen bzw. welche der beiden Fragen er beantworten möchte.

Frau Aymaz, wenn Sie noch eine Frage stellen möchten, bitte ich Sie, diese erneut anzumelden. – Herr Minister hat jetzt die Gelegenheit zur Beantwortung.

(Martin Börschel [SPD]: Der Minister wird ja wohl so nett sein!)

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin, vielen Dank, dass Sie auf das Verfahren achten. – Ich beantworte gerne alle Fragen, die gestellt werden. Wir können das auch den ganzen Nachmittag lang machen.

Allerdings ist zu beachten, dass die Fragen, die sich spezifisch an die kommunalen Spitzenverbände richten, auch nur durch die kommunalen Spitzenverbände beantwortet werden können.

Dass es natürlich unterschiedliche Interessen in kreisangehörigen und kleinen Städten sowie Großstädten gibt, liegt in der Natur der Sache.

Dass es natürlich auch in Kommunen eine unterschiedlich gewachsene Struktur derjenigen gibt, die in die Kommunen gekommen sind, wissen Sie auch; dafür sind Sie selbst viel zu lange kommunalpolitisch im Geschäft.

Ich kann Ihnen nur sagen: Verhandlungen mit den kommunalen Spitzenverbänden führen wir hart und fair. Im Gegensatz zu Rot-Grün sind wir diese auch beim KiBiz angegangen und zu Ergebnissen gekommen. Davor hat sich die rot-grüne Landesregierung weggeduckt.

Deswegen bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass wir auch beim Thema „FlüAG“ mit den kommunalen Spitzenverbänden zu einer guten Lösung kommen werden.

(Christian Dahm [SPD]: Da sind wir mal gespannt!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Nachfrage – damit sind seine Nachfragemöglichkeiten erschöpft – stellt Ihnen Herr Kollege Mostofizadeh von Bündnis 90/Die Grünen.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da der Minister bei der Beantwortung meiner ersten Frage den Rundumschlag gemacht und den Regierungsvergleich gezogen hat, will ich daran anknüpfen.

Herr Minister, Sie haben bezüglich der Integrationsmittel ausgeführt. Ihr Ministerium hat uns geantwortet, dass die Landesregierung mittlerweile über 1,7 Milliarden Euro bei der Unterbringung von Geflüchteten in Landeseinrichtungen gegenüber dem Jahr 2016 spart.

Vor diesem Hintergrund habe ich in der letzten Sitzung des Kommunalausschusses Staatssekretär Heinisch gefragt, warum im Einzelplan 20 des Haushalts 151,2 Millionen Euro Integrationsmittel als Einnahme stehen, aber keinerlei Ausgabeposten verzeichnet sind. Ich fragte, ob ich das übersehen hätte. Daraufhin hat der Staatssekretär erklärt, dass er diese Frage nicht beantworten könne. Die Antwort steht noch aus. Das ist jetzt mehr als eine Woche her. Ich gehe davon aus, dass die Landesregierung in der Lage ist, diese schlichte Haushaltsfrage zu beantworten, und dass Sie das möglichst noch in diesen Tagen schriftlich tun werden.

Vor dem Hintergrund, dass Sie die 151,2 Millionen Euro, die gekürzt worden sind, nicht nur nicht weitergeben, sondern als Sparmittel einsetzen, stelle ich Ihnen jetzt folgende Frage:

In dem Lenk-Gutachten ist ausgeführt, dass nach der Ermittlung der tatsächlichen Kosten für die Geflüchteten keine einzige Kommune zu viel Geld nach dem FlüAG bekommen hat. Warum nehmen Sie die Ausflucht, dass Kommunen wie Köln oder andere große Städte mehr Geld bekommen können als kleinere Städte, zum Anlass, den Städten gar kein Geld zu geben, und schicken den Finanzminister damit vor, dass er auch kein Geld mehr habe? Im Haushalt steht nichts, oder habe ich das falsch gelesen?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank. – Herr Minister.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Mostofizadeh, ich habe Ihnen vorhin ausdrücklich gesagt, dass mir daran gelegen ist, dass wir das FlüAG dauerhaft anlegen und dass es eine Vereinbarung mit den Kommunen gibt, die von den unterschiedlichen kommunalen Spitzenverbänden langfristig getragen wird. Genau das wollen und werden wir erreichen.

Ich darf darauf hinweisen, dass wir entgegen allen Erwartungen, auch entgegen den Erwartungen der kommunalen Familie, die Integrationspauschale des Bundes, die gedanklich-politisch eigentlich mindestens zur Hälfte für das Land vorgesehen gewesen wäre – das wissen Sie –, komplett an die Kommunen weitergeben. Wir haben dafür ausdrücklich die Möglichkeit geschaffen, den Kreis der Geduldeten einzubeziehen. Daher sehe ich nicht, dass wir hier in irgendeiner Weise, wie von Ihnen suggeriert, den Kommunen etwas vorenthalten. Ganz im Gegenteil!

Wir werden uns – das habe ich auch gesagt – die Situation natürlich ansehen. Wir werden darauf reagieren, dass die Kommunen steigende Kosten bei den Geduldeten haben. Im Übrigen ist es das Thema, das die Kommunen am meisten umtreibt. Wir wollen hier mit den kommunalen Spitzenverbänden zu einer guten Einigung kommen. Aber wenn wir den Regelsatz nicht alle anderthalb oder zwei Jahre wieder neu diskutieren wollen, müssen wir das gründlich vorbereiten. Das werden wir tun.

Wir schauen uns die Zahlen des Gutachtens auch ganz genau vor dem Hintergrund an, dass die Situation 2017 noch eine etwas andere war, zum Teil ein anderer Druck herrschte, als es heute der Fall ist.

Dennoch geht es darum, dass wir den Kommunen insgesamt eine dauerhafte, verlässliche Finanzierung ermöglichen. Für deren Haushaltsaufstellung ist es wichtig, dass sie langfristig wissen, was tatsächlich vom Land kommt.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. Die nächste Frage stellt Ihnen Frau Kollegin Aymaz. – Das ist Ihre zweite Fragemöglichkeit. Sie haben dann noch eine dritte, aber stellen Sie bitte nur eine Frage.

Berivan Aymaz*) (GRÜNE): Vielen Dank. Jetzt habe ich es tatsächlich auch verstanden. – Herr Minister Stamp, Sie haben auf die Integrationspauschale hingewiesen und darauf, dass diese in einem Eckpunktepapier, das mit den Ländern verabredet worden ist, in der Summe leider noch mal reduziert worden ist. Das bedeutet, dass die Zuwendungen für die Integrationspauschale nur noch ein Drittel des Betrages ausmachen werden.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Nein! Die Integrationspauschale gibt es gar nicht mehr!)

– Ja, die gibt es nicht mehr so.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin, es ist nicht korrekt, was die Kollegin hier vorträgt!)

– Okay, dann nennen wir es anders. Nennen wir es die Pauschale zur Integration und nicht mehr Integrationspauschale.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Die wird nicht mehr so genannt; egal. Es gibt da eine Summe, die vereinbart worden ist und vom Bund an das Land weitergeleitet wird.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

– Genau.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Fragestellerin ist Frau Aymaz. Sie hat jetzt das Wort.

Berivan Ayma*) (GRÜNE): Die Zuwendungen werden im Endeffekt nur noch ein Drittel dessen ausmachen, was bislang zur Verfügung stand.

Auf die Frage, ob Sie das jetzt weiterleiten werden oder nicht, haben Sie gesagt: „Na ja, wir hatten es schon mal gänzlich weitergeleitet“ und signalisiert, dass Sie das auch zukünftig machen wollen, obwohl davon nichts zu sehen ist.

Meine Frage: Gedenkt die Landesregierung auch, die Summe entsprechend aufzustocken, wenn sie sie an die Kommunen weiterleiten sollte, damit die Kommunen ihre langfristigen Planungen tatsächlich so eingehen können, wie sie gegeben sein müssen?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Aymaz. – Der Minister wird antworten.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Aymaz, ich kann es noch mal sagen: Ich werde den Gesprächen und den Ergebnissen mit den kommunalen Spitzenverbänden hier nicht vorgreifen. Das würde ich auch jedem anderen, der mit einer anderen Ebene kommuniziert, die ein entsprechendes Interesse hat, nicht empfehlen. Wir wollen uns auf Augenhöhe zusammensetzen, wie wir das immer tun, und dann zu den entsprechenden Ergebnissen kommen.

Was ich hier noch mal ganz klar sagen möchte, um dieser Legendenbildung vorzubeugen: Die Integrationspauschale gibt es eben nicht mehr. Sie können nicht etwas weiterleiten, was es nicht gibt.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

– Herr Zimkeit, dann melden Sie sich, drücken Sie sich ein. Das muss jetzt wirklich nicht sein.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Sie haben doch gerade bei der Kollegin Aymaz dazwischengerufen! – Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Nichtsdestotrotz hat der Minister jetzt das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Halten wir bitte fest …

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Mostofizadeh.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

– Herr Kollege Mostofizadeh. Die Fragestunde heißt Fragestunde, weil Fragen von den Abgeordneten gestellt werden, und die Landesregierung antwortet.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Herr Mostofizadeh, ich beantworte Ihnen das alles gern. Ich gebe Ihnen auch gerne die Zeit. Wenn es formal nicht anders geht, dann können Sie Frau Paul die Frage aufschreiben, die Sie noch stellen möchten. Dann beantworte ich das auch gern.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Was soll das? Das ist doch unverschämt, was Sie machen!)

– Das ist gar kein …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Minister.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Unverschämtheit! – Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Können wir uns jetzt alle wieder beruhigen? Die Spielregeln legt unsere Geschäftsordnung fest. Diejenigen, die die Spielregeln und die Geschäftsordnung im Blick haben, sind diejenigen, die hier oben sitzen: Das sind der Präsident, die Vizepräsidentinnen oder der Vizepräsident. Die Spielregeln sind von drei Seiten einzuhalten, und zwar von denen, die die Sitzung leiten, von denen, die fragen, und von denen, die antworten. Deshalb ist jetzt mit den Zwischenrufen Schluss.  

Im Moment hat noch der Minister das Wort zur Antwort. Die verfahrenssteuernden Fragen oder Hinweise kommen von hier oben und von keiner anderen Stelle.

Herr Minister, jetzt habe ich Sie unterbrochen. Aber ich glaube, Sie hatten mich unterbrochen. Jetzt sind Sie in der Lage, weiter zu antworten.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin, es liegt mir fern, Sie oder die Kolleginnen und Kollegen zu unterbrechen. – Frau Paul, das war ein ernst gemeintes Angebot. Ich weiß noch aus meiner Zeit in der Opposition, wie unangenehm es ist, wenn man eine Nachfrage nicht mehr stellen kann. So hatte ich das gemeint. Damit war kein Hintergedanke verbunden. Ich wollte nur, dass wir uns hier, wie wir es auch im Ausschuss handhaben, vernünftig austauschen.

Noch mal: Die Bundesintegrationspauschale gibt es so nicht mehr, das ist eine ganz klare Sache, sondern es gibt vom Bund für die Länder spezifische Mittel, die wir – und das habe ich vorhin bereits gesagt – in Höhe von 50 Millionen Euro für Mehraufwendungen im Bereich der Integration einsetzen.

Darüber hinaus haben wir bereits einen enormen Aufwuchs an Kosten im frühkindlichen und schulischen Bereich. Es ist doch klar, dass wir dem gerecht werden wollen. Es ist wichtig, dass wir unseren Aufgaben in der frühkindlichen Bildung und in der Schule nachkommen, damit gerade Kinder aus Flüchtlingsfamilien von Anfang an so gefördert werden, dass sie dem Unterricht folgen können, um später selbstbestimmte Personen in unserer Gesellschaft zu werden.

All diese Dinge sind haushaltsscharf nicht nur in unserem Haushalt zu finden, sondern auch im Haushalt des Schulministeriums. Aber ich denke, das wissen Sie.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Ihnen Kollege Bolte-Richter aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Sie haben eben ausführlich dargelegt, dass Sie alles ganz in Ruhe und gründlich prüfen und abwägen wollen. Wir haben jetzt an vielen Stellen dokumentiert, dass die Kommunen sehr akut Alarm schlagen. Die Städte und Gemeinden legen dar, dass sie in diesem Jahr fast 70 % ihrer Kosten selber aufbringen müssen und dass sie sich dabei von der Landesregierung alleingelassen fühlen. Wie bewerten Sie diesen unhaltbaren Zustand?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank. – Herr Minister, bitte.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank, Herr Bolte-Richter, dass Sie mir die Gelegenheit geben, das zu wiederholen. Wir haben die 432 Millionen Euro für die Bundesintegrationspauschale entgegen den Erwartungen der Kommunen und entgegen den politischen Annahmen aller Beteiligten komplett an die Kommunen weitergegeben.

Wir haben im Übrigen auch die Verwendungsmöglichkeit so gestaltet, dass die Mittel bis einschließlich November 2020 genutzt und eingesetzt werden können. Daher ist das, was Sie gerade dargestellt haben, dass die Kommunen unter einer akuten Not leiden würden, so nicht richtig. Das ist auch uns gegenüber nicht dokumentiert worden.

Es gibt das berechtigte Interesse der kommunalen Spitzenverbände, dass wir die FlüAG-Pauschale anpassen und bei den Kosten der Geduldeten zu einer dauerhaft tragfähigen Lösung kommen. Genau das besprechen wir mit den kommunalen Spitzenverbänden.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. Jetzt stellt Ihnen Frau Aymaz eine letzte Frage. – Bitte schön.

Berivan Aymaz*) (GRÜNE): Genau, vielen Dank. – Herr Minister, jetzt doch noch mal, weil Sie hier immer wieder darstellen: Wir sind in Gesprächen mit den Kommunen, es gibt eigentlich auch kein Problem, denn es wird ja kein Alarm geschlagen. – Ich möchte daran erinnern, dass in diesem Hause erst kürzlich eine Pressekonferenz der Sozialdezernenten unterschiedlicher Kommunen stattgefunden hat. Ich möchte daran erinnern, dass die kommunalen Spitzenverbände zahlreiche Pressemitteilungen herausgegeben haben.

(Ralf Witzel [FDP]: Die Frage!)

In der Anhörung zu unserem Antrag hieß es vom Städte- und Gemeindebund NRW bezüglich der Gespräche, die geführt werden: Die Gespräche werden ständig geführt, aber uns wird immer erzählt, dass letztlich kein Geld vom Finanzminister zur Verfügung steht.

Ich möchte Sie bitten, diese Aussage einzuordnen. – Vielen Dank.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Aymaz. – Herr Minister, bitte.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Kollegin Aymaz, das versuche ich schon seit geraumer Zeit. Vielleicht drücke ich mich da nicht präzise genug aus.

Noch einmal: Wir besprechen das mit den kommunalen Spitzenverbänden. Wir wissen – ich habe es gerade ausgeführt –, dass es ein berechtigtes Interesse gibt.

Das gehört doch zur politischen Kommunikation dazu. Die kommunalen Spitzenverbände wären ja unprofessionell aufgestellt, wenn sie nicht bestimmte Dinge als Forderung in den Raum stellen würden und wenn nicht Dezernenten das hier vor der Landespressekonferenz vortragen würden.

Es ist ja nicht so, dass wir sagen: Wir geben nichts. – Vielmehr besprechen wir mit den kommunalen Spitzenverbänden genau, wie viel es sein wird und wie wir vor allem mit der Frage der Kosten für die Geduldeten umgehen.

Wir haben – ich sage es noch mal – die Integrationspauschale 2019 komplett an die Kommunen ausgeschüttet und ganz bewusst dazugesagt, dass sie für die Kosten die im Zusammenhang mit den Geduldeten anfallen, mitverwandt werden kann. Das ist auch vonseiten der Kommunen akzeptiert worden.

Dass man im Vorfeld – weil die Verhandlungen überwiegend im informellen Bereich stattfinden, das wird auch demnächst bei einem gemeinsamen Treffen diskutiert – die eigene Forderung mit Druck unterlegt, sich an die Opposition wendet usw., ist ein ganz legitimer Prozess. Das ist auch in Ordnung.

Gleichzeitig bleibe ich bei der Linie, dass ich keine Summen bekannt gebe, bevor wir nicht zu den Ergebnissen gekommen sind.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Im Moment liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Es gibt auch keinen Wunsch nach weiteren Fragen. Ich schaue einmal in die Runde. – Das bleibt offensichtlich so.

Dann danke ich Herrn Minister Dr. Stamp ganz herzlich. Damit ist die Mündliche Anfrage 54 beantwortet.

Bevor ich die Mündliche Anfrage 55 aufrufe, möchte ich Sie bitten, Herr Kollege Witzel, das zu unterlassen, auch wenn Sie das Telefon aus der Schublade verwenden. – Er hat verstanden.

Ich rufe die

Mündliche Anfrage 55

des Abgeordneten Hartmut Ganzke von der Fraktion der SPD auf.

Auch hier gilt: Die Landesregierung entscheidet, wer die Frage beantwortet. Für die Landesregierung wird Herr Minister Reul antworten, dessen Mikrofon ich jetzt freischalte. Sie wissen, es bleibt die ganze Zeit frei. Bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die Mündliche Anfrage des Abgeordneten Ganzke bezieht sich auf vermeintliche Steigerungen der Betäubungsmittelkriminalität im Umfeld von Hauptbahnhöfen sowie auf die mutmaßlich steigende Bedeutung Nordrhein-Westfalens als Transitland für Betäubungsmittel aus den Niederlanden. Hierbei berufen Sie sich, lieber Herr Ganzke, auf eine nicht näher bezeichnete Berichterstattung des WDR.

Die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität ist ein wichtiger Bereich der polizeilichen Arbeit. Der Kampf gegen Drogen ist natürlich nicht einfach. Deswegen betreibt diese Landesregierung ihn umso entschiedener, und dazu gilt es, viele Maßnahmen aufeinander abzustimmen. Darum bin ich Ihnen, lieber Herr Ganzke, zunächst einmal dankbar für die Mündliche Anfrage. So geben Sie mir die Gelegenheit, kurz über die vielfältigen Anstrengungen der Landesregierung zu berichten.

Allerdings muss ich schon sagen, dass uns Ihre Anfrage auch vor ein paar Herausforderungen gestellt hat. Ich will das begründen. Ihre Fragen sind zweifelsohne wichtig, aber sehr offen formuliert. Das macht die Beantwortung so schwierig. Da ich Herausforderungen mag, will ich jedoch versuchen, sie zu beantworten. Gleichzeitig möchte ich versuchen, gemeinsam mit Ihnen zu erarbeiten, wieso diese recht offenen Fragestellungen herausfordernd sind. Das hat vor allem mit dem Deliktfeld zu tun.

Erstens. Sie beziehen sich auf einen WDR-Bericht. Nun produziert der WDR eine ganze Menge an Berichten. Es wäre hilfreich gewesen, zu wissen, auf welchen Sie sich genau beziehen, um die Faktenlage abzuklären.

Zweitens. Mir ist nicht ganz klar, wie Sie das Umfeld von Hauptbahnhöfen begrenzen. Dazu gibt es keine klare Definition. Wo hört für Sie das Umfeld von Hauptbahnhöfen auf, und wo beginnt es? Sind es nur die nächsten drei Straßen, oder definieren Sie als näheres Umfeld die Bereiche, die schnell mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind? Wie wäre dann der zeitliche Entfernungsradius festgelegt?

Sie sehen, es gibt viele mögliche Ansatzpunkte. Aber selbst dann, wenn wir uns auf eine Definition geeinigt hätten, müssten die Delikte einzeln händisch ausgezählt werden, und zwar straßenscharf für jeden Hauptbahnhof in Nordrhein-Westfalen. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass dies in der Kürze der Zeit, die zur Beantwortung der Frage blieb, leider nicht darstellbar gewesen wäre, wenn es überhaupt darstellbar ist.

Deshalb kann ich die von Ihnen behauptete Zunahme des Drogenhandels im Hauptbahnhofsumfeld im Jahre 2019 heute weder bestätigen noch dementieren. Ich wäre auch daran interessiert, auf welcher Grundlage eine gestiegene Bedeutung NRWs als Transitland für Drogen aus den Niederlanden festgestellt wird.

Ich kann Ihnen so viel sagen: Rauschgiftdelikte sind in der Regel Kontrolldelikte. Das heißt, wenn wir stärker kontrollieren, finden wir auch mehr. Deshalb sind die Zahlen insbesondere im Drogenbereich mit äußerster Vorsicht zu genießen, weil sie immer davon abhängen, wie intensiv die Polizei tätig ist.

Umgekehrt kann man auch sagen: Wenn es keine Drogendelikte in einer bestimmten Stadt gibt, heißt das überhaupt nichts. Es kann nämlich bedeuten, dass sich die Polizei gar nicht um das Thema gekümmert hat.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Gibt es da Beispiele?)

– Nein, dafür gibt es keine Beispiele. Ich habe nur theoretische Fälle genannt.

Der Anstieg der Rauschgiftdelikte um 2,3 % – die Zahlen liegen uns vor – von 2017 auf 2018 kann also entweder als Zunahme der tatsächlichen Kriminalität gesehen oder als Ergebnis verstärkter Polizeiarbeit interpretiert werden. Ich möchte gleichzeitig vor dem Kurzschluss warnen, dass gesunkene Zahlen zwingend auf ein geringeres polizeiliches Engagement zurückzuführen sind. Dem ist nicht immer und hundertprozentig so.

Die offene Frage, lieber Herr Ganzke, kann deshalb zwar einfach gestellt, aber leider nicht so einfach beantwortet werden.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, darzulegen – vielleicht hilft das –, welche Maßnahmen die Landesregierung generell ergreift, um die Rauschgiftkriminalität zu bekämpfen.

Zunächst ist auf die unterschiedlichen polizeilichen Zuständigkeiten im Bereich der Bahnhöfe hinzuweisen. Die Bundespolizei nimmt polizeiliche Aufgaben auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes wahr, zum Beispiel auf und in den Bahnhöfen. Die Bereiche um die Bahnhöfe, die sogenannten Bahnhofsviertel, fallen hingegen in die Zuständigkeit der Landespolizei.

Generell sind die Fallzahlen des Handels und Schmuggels von Betäubungsmitteln ohne Bezug zu speziellen Tatörtlichkeiten im Jahre 2018 um 4,9 % auf 10.801 gesunken. Im Jahr 2017 waren es 11.368. Die Einfuhren nicht geringer Mengen Betäubungsmittel gingen um 6,9 %, von 637 Fällen auf 593 Fälle, zurück.

Auch diese gesunkenen Zahlen bedeuten mitnichten einen zwingenden Rückgang polizeilicher Aktivitäten. Die Polizei NRW hat die Entwicklung der Betäubungsmittelkriminalität sehr aufmerksam im Blick und reagiert auf negative Entwicklungen. Dazu zählt selbstverständlich, dass die Kreispolizeibehörden vor Ort zur Bekämpfung der Straßenkriminalität gezielte Razzien an Brennpunkten durchführen. Darüber hinaus verlieren sie aber auch die organisierten Strukturen nicht aus dem Blickfeld.

Die Kreispolizeibehörden und das Landeskriminalamt NRW bearbeiteten in 2018 – das sind die letzten Zahlen, die uns vorliegen, da das Jahr 2019 noch läuft – insgesamt 77 OK-Verfahren. Das Hauptaktivitätsfeld der kriminellen Gruppierungen liegt in über der Hälfte der OK-Verfahren im Bereich des internationalen organisierten Rauschgifthandels. Das sind 42 Verfahren. Das heißt, 42 der 77 OK-Verfahren haben mit internationalem organisiertem Rauschgifthandel zu tun.

Schwerpunkt ist der Handel mit Kokain und Cannabis. Die Herstellung von und der Handel mit synthetischen Drogen, also Amphetaminen und Ecstasy, hat in den vergangenen zwei Jahren erhebliche Bedeutung für die Strafverfolgungsbehörden in NRW entwickelt.

Betreiber hochprofessionell eingerichteter Großlabore, sowohl in den Niederlanden als auch zunehmend in NRW, produzieren im industriellen Rahmen synthetische Drogen und vertreiben sie dann auch. Dabei werden die Transitwege zwischen den Produktionsstätten und den Großabnehmern durch Fahrzeugkuriere bedient.

In den vergangenen zwölf Monaten konnten zwei Produktionsstätten in Wachtendonk im Kreis Kleve und eine dritte in Preußisch Oldendorf im Kreis Minden-Lübbecke identifiziert und geschlossen werden. Das war, finde ich, eine Riesengeschichte. Die bisher identifizierten Tatverdächtigen verfügen über vielfältige Bezüge in die Niederlande.

Es existiert eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den dortigen Strafverfolgungsbehörden. Derzeit werden Initiativen zur weiteren Verbesserung der Kooperation mit der niederländischen Polizei umgesetzt.

Die Kreispolizeibehörden richten ihre Bekämpfungskonzeptionen an Lageentwicklungen und aktuellen Schwerpunktsetzungen aus. Das geschieht eigenverantwortlich und unter Berücksichtigung örtlicher Gegebenheiten. Die Sicherheitskonzepte und die Controllingberichte werden meinem Haus jährlich vorgelegt.

An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass der Personalpool der Polizei endlich ist – das weiß aber auch jeder hier im Saal –, und darum kann es auch vorkommen, dass Organisationseinheiten verschmolzen werden, um Synergieeffekte zu erzielen und Kräfte im Rahmen der landesweiten Schwerpunktsetzung zu bündeln.

Die Bekämpfung der Clankriminalität ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Der Handel mit illegalen Betäubungsmitteln bildet weiterhin ein zentral besetztes Feld illegaler Aktivitäten von Angehörigen türkisch-arabischstämmiger Clans. Das betrifft in erster Linie den internationalen Handel mit Kokain und Cannabis.

10 von 15 Ermittlungsverfahren zur Organisierten Kriminalität im Kontext von Tatverdächtigen, die der Clankriminalität zugerechnet werden, haben Bezüge zum Rauschgifthandel und -schmuggel. Angehörige der Clanfamilien sind über die gesamte Lieferkette hinweg in unterschiedlicher Intensität involviert, wobei der Transport der Drogen überwiegend im Rahmen des internationalen Luft- und Schiffsverkehrs sowie in Fahrzeugen erfolgt. Das haben wir besonders im Blick.

Die Bekämpfung der Clankriminalität ist einer unserer polizeistrategischen Schwerpunkte. Wir setzen dabei auf eine strikte Nulltoleranzstrategie. Die Antwort lautet: Politik der kleinen Nadelstiche und alle Kräfte bündeln – auch gegen die Einnahmequelle der Clans aus dem Handel mit Betäubungsmitteln. Das heißt, wenn wir gegen Clans vorgehen – nur damit es ganz klar wird –, hat das viel mit der Bekämpfung von Drogenkriminalität zu tun.

Auch die zweite Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworten, wie sie zu stellen war, Herr Ganzke. Aber auch hier möchte ich die gegebene Möglichkeit nutzen, die Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn darzulegen. Wir sind uns sicherlich alle einig, dass aufgrund der besonderen geografischen Lage NRWs die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa ein wesentlicher Erfolgsfaktor für unseren Kampf gegen Kriminalität jeglicher Art ist.

Die hervorragende Verkehrs- und Transportinfrastruktur in NRW ermöglicht den Transport von Waren und Gütern aller Art. Das gilt leider auch für Drogen. Zur Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität findet deshalb seit vielen Jahren ein intensiver Austausch zwischen der Bundespolizei, der niederländischen und der nordrhein-westfälischen Polizei statt, sowohl in strategischer als auch in operativer Hinsicht.

Das LKA NRW und sein niederländisches Pendant in Driebergen haben Verbindungsbeamte ausgetauscht, auf Fachebene gibt es deliktsbezogene Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner und auch in den Grenzbehörden sind Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner benannt. Sie tauschen sich grundsätzlich oder aus aktuellem Anlass aus. Gegenseitig gibt man sich Hinweise auf bevorstehende kriminelle Handlungen, und bei Vorliegen entsprechender Informationen werden operative Maßnahmen besprochen – bis hin zur Durchführung gemeinsamer Kontrollaktionen.

Im Warenverkehr erfolgen Durchsuchungen von Frachtgütern überwiegend durch den Zoll. Im Personenverkehr – Fußgänger, Zweiräder, Pkw, Bus, Bahn und Schiff – werden gerade auf den grenzüberschreitenden Strecken und im Nahbereich der Grenze intensive Kontrollen durch die Bundespolizei sowie die Landespolizei NRW durchgeführt.

Regelmäßig und absprachegemäß finden Kontrollaktionen zur selben Zeit auf beiden Seiten der Grenze statt – auch unter Hinzuziehung von Europol.

Die gemeinsamen Kontrolltage zur Bekämpfung des Wohnungseinbruchs führen zu einem hohen Kontrolldruck und dann im Beipack, wenn man so will, zu entsprechenden Drogenfunden.

Auch das Euregionale Polizei Informations- und Cooperations-Center, EPICC, in Kerkrade und das Büro für Euregionale Zusammenarbeit in Strafsachen in Maastricht – also Staatsanwälte; beide sind nach dem Prinzip der zusammengeschobenen Schreibtische trinational mit Polizeikräften aus Niederlanden, Belgien und NRW besetzt – tragen zu dieser gemeinsamen Zusammenarbeit bei.

Das aus dem EU-Haushalt finanzierte Projekt EMR-EYES der Polizei- und Kommunalbehörden in der Euregio Maas-Rhein wirft seinen Blick unter anderem auf die Bekämpfung der Drogenkriminalität.

Wenngleich die Zusammenarbeit also schon jetzt als gut zu bezeichnen ist, so wird sie ständig evaluiert und gegebenenfalls nachjustiert. Und sie ist eindeutig verbesserungsfähig.

Mit meinem niederländischen Innenministerkollegen Ferdinand Grapperhaus habe ich kürzlich besprochen, neben der Erweiterung des seit zehn Jahren sehr erfolgreich arbeitenden Grenzüberschreitenden Polizeiteams, dem GPT, in Bad Bentheim voraussichtlich ab dem Jahr 2020 – das ist aber noch nicht zu 100 % geklärt – mit zwei neu aufzustellenden Polizeiteams den gesamten Grenzverlauf abzudecken. Auch diese GPT sollen deutlich dazu beitragen, die grenzüberschreibende Drogenkriminalität einzudämmen.

Sie sehen also: Die Landesregierung hat die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität ganz sicher nicht aus dem Blick verloren. Das darf ich Ihnen versichern.

Ich danke Ihnen aber noch einmal, Herr Ganzke, dass ich die Gelegenheit hatte, das alles hier vorzutragen und die Aktivitäten eindeutig zu erläutern. – So weit die Antwort.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. Es gibt bereits Fragen, die Ihnen gestellt werden sollen. Die erste Frage stellt Herr Kollege Wolf aus der SPD-Fraktion.

Sven Wolf (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, ich will jetzt nicht die Fragen, die Sie uns Abgeordneten bzw. meinem Kollegen Ganzke gestellt haben, beantworten. Gestatten Sie mir aber den Hinweis: Soweit ich das technische System verstanden habe, wäre es möglich, mit dem neuen ViVA-System nach dem Stichwort „Hauptbahnhof“ zu suchen. Dann hätten Sie zumindest einen Anhaltspunkt gehabt. Ich will Ihnen aber, wie gesagt, jetzt keine Antwort darauf geben.

Die Düsseldorfer Polizei soll nach dem Bericht des WDR, den Herr Kollege Ganzke in der Frage auch genannt hat, bisher eine neunköpfige Einsatztruppe zur Drogenfahndung gehabt haben. Diese soll aufgelöst worden sein. Können Sie mir bestätigen, dass das stimmt?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Wolf. – Herr Minister, ist es Ihnen angenehmer, wenn wir das Mikrofon zwischendurch ausschalten? Denn Sie schalten es immer wieder selbst aus. Ich schalte es Ihnen jetzt erst einmal ein, und Sie geben gleich ein Signal, wie wir verfahren sollen.

Herbert Reul, Minister des Innern: Erstens. Es gibt kein Kriterium, nach dem wir „Hauptbahnhof“ aussuchen könnten.

Zweitens – das ist die wichtige Frage –: Zu einem ganz konkreten Hauptbahnhof und nicht zu allen Hauptbahnhöfen, nämlich zu dem Hauptbahnhof Düsseldorf, habe ich den Zeitungen dasselbe entnommen wie Sie. Der örtliche Polizeipräsident entscheidet, wie er seine Polizei organisiert. Wenn er der Meinung ist, dass es klüger ist, bestimmte Einheiten und Gruppen zusammenzufassen, um zu Ergebnissen zu kommen, dann ist das seine Entscheidung.

Er muss uns darüber zu bestimmten Fristen berichten. Wenn wir der Auffassung sind, dass das falsch ist und dass die Ergebnisse nicht entsprechend sind, können wir uns dazu positionieren. Im Moment habe ich kein Indiz dafür, dass das irgendwo zu beanstanden ist.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Herr Kollege Ganzke von der SPD-Fraktion.

Hartmut Ganzke (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Minister des Innern, vielen Dank für Ihre Antwort, die uns zwei, drei neue Informationen gebracht hat, unter anderem zu Ihrem Kontakt mit dem niederländischen Innenministerkollegen und der Zeitschiene.

Ich möchte auf das zurückkommen, was der Kollege Wolf gefragt hat, nämlich Düsseldorf. Genau dazu gab es am Montagmorgen einen Kurzbeitrag im WDR. Ich frage ganz konkret: Haben Sie oder hat das Ministerium Anhaltspunkte dafür, dass es auch in anderen Städten außerhalb von Düsseldorf zu Auflösungen von solchen spezialisierten Einsatztrupps für Drogenfahndung gekommen ist?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Ganzke.

Herbert Reul, Minister des Innern: Nur zur Vergewisserung: Sie haben jetzt nur gefragt, ob wir Indizien haben, dass Drogenabteilungen aufgelöst wurden?

(Hartmut Ganzke [SPD]: Ganz genau!)

Das habe ich nicht. Es ist aber richtig, dass aufgrund immer neuer Aufgaben der Polizei jede örtliche Polizeibehörde immer wieder neu nachdenkt und ihre Arbeit neu strukturiert. Wir haben zum Beispiel zurzeit im Zusammenhang mit Lippe eine solche Aufgabenstellung. Sie haben, glaube ich, hier mit Blick auf Köln darüber diskutiert. Das war jedoch nicht die Drogengeschichte, sondern es waren andere Themen. So etwas passiert immer wieder.

Es bleibt auch dabei – hier halte ich an der Tradition meines Vorgängers fest; das ist übrigens keine Tradition, sondern die klare rechtliche Grundlage –: Die Entscheidung, wie Polizei vor Ort organisiert wird, trifft der Polizeipräsident oder der Landrat – es sei denn, es gibt bestimmte Vorgaben, die er zu beachten hat. Die muss er natürlich berücksichtigen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Ihnen Frau Kollegin Kapteinat von der SPD-Fraktion.

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Reul, mich würde interessieren, was Sie tun wollen, um die Präsenz der Bundespolizei in Nordrhein-Westfalen wieder zu erhöhen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ich bedanke mich für diese Frage, weil ich da nicht nur etwas beabsichtige, sondern schon seit Monaten etwas tue. Ich habe sowohl mit dem Vorgänger von Herrn Seehofer, Herrn de Maizière, als auch mit Herrn Seehofer schon darüber gesprochen, weil ich sehr wohl der Auffassung bin, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man dieses Potenzial insbesondere an bayerischen Grenzen konzentriert, um es auf den Punkt zu bringen. Mir ist aber anhand von Zahlen dargelegt worden, dass das vorbei ist. Die sind jetzt alle wieder verteilt.

Die Bundespolizei hat das gleiche Problem wie wir, nämlich zu wenige Polizisten. Sie rüsten jetzt auf, stellen also viele neue ein. Aber das dauert wie bei uns einige Jahre, bis die Ausbildung abgeschlossen ist. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe – ich bin mir nicht ganz sicher –, kommen im nächsten Jahr die ersten zusätzlichen Kräfte nach Nordrhein-Westfalen. Zumindest ist mir das von der nordrhein-westfälischen Leitung der Bundespolizei in einem Gespräch – nicht amtlich – mitgeteilt worden.

Ich bin da dran. Sie können davon ausgehen, dass nicht nur die Bahnhöfe, sondern insbesondere auch die Grenze bei Aachen zwei Punkte sind, an denen wir dringend mehr Bundespolizei brauchen. Da teile ich Ihre Auffassung. Ich kann das aber erst einfordern, wenn sie ihre Grundmenge an Bundespolizisten erhöht haben.

Die erste Forderung scheint erfüllt – ich kann das nicht kontrollieren –, dass die Verstärkung an den Grenzen in Bayern so nicht mehr gegeben ist, seitdem die Bayerische Staatsregierung eine eigene Grenzpolizei eingerichtet hat.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Ihnen Herr Kollege Wolf von der SPD-Fraktion. Damit sind seine Fragemöglichkeiten auch erschöpft.

Sven Wolf (SPD): Herr Minister Reul, ich möchte gerne an das, was Sie gerade zur Bundespolizei ausgeführt haben, anknüpfen. Sie haben gesagt, dass Sie sich sowohl mit Herrn de Maizière als auch mit Herrn Seehofer schon ausgetauscht haben. Können Sie uns die aktuellen Zahlen nennen, wie viele Polizeibeamte bei der Bundespolizei in Nordrhein-Westfalen fehlen?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank.

Herbert Reul, Minister des Innern: Nein, das kann ich Ihnen nicht mitteilen – erstens, weil ich es jetzt wirklich nicht weiß, und zweitens, weil wir bei Versuchen, das einmal genauer festzustellen, durchaus auf Schwierigkeiten gestoßen sind, um es einmal liebevoll zu formulieren.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Ihnen Herr Kollege Ganzke.

Hartmut Ganzke (SPD): Herr Minister, Sie haben gesagt, dass Sie sich mit dem Innenministerkollegen aus den Niederlanden zusammensetzen. Sie legen ja immer Wert darauf, was ich richtig finde, dass sich Bundespolizei, Landespolizei und Kommunen zusammensetzen. Haben Sie die Frage, ob Nordrhein-Westfalen ein Drogentransitland geworden ist oder möglicherweise ist, in der Innenministerkonferenz auf Bundesebene angesprochen, oder haben Sie vor, dies anzusprechen?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank. – Der Minister antwortet.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Herr Abgeordneter, dass Nordrhein-Westfalen im Prinzip ein Drogentransitland ist, ist logisch. Das liegt an der Lage. Darüber brauchen wir gar nicht lange zu diskutieren. Das bietet sich ja an. Das ist klar. Die Frage ist, ob es stärker geworden ist. Das kann ich nicht bestätigen, weil die Daten nicht vorliegen.

Zu Ihrer Frage: Nein, ich habe das nicht angesprochen, weil wir in den letzten Konferenzen der Innenminister – wie Sie wissen, finden sie zwei Mal im Jahr statt – andere Themen hatten, die drängender waren, ohne das jetzt zu gewichten, und mir die Kollegen aus den anderen Bundesländern bei dieser Frage vermutlich wenig helfen können. Die große Hilfe, die wir da bekommen können, sind erstens die Zusammenarbeit mit den Niederlanden – darum kümmern wir uns –, zweitens möglicherweise die Bundespolizei, soweit es die Grenze betrifft, und drittens wir selber.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Die nächste Frage stellt Ihnen Frau Kollegin Kapteinat. Sie hat damit ihre Fragemöglichkeiten auch ausgeschöpft.

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, aus dem Bericht des WDR ging ebenfalls hervor, dass es immer mehr Gewerbetreibende rund um den Bahnhof gibt, die die Zunahme von Drogenhandel monieren und sagen, dass das geschäftsschädigend ist. Können Sie das bestätigen?

Herbert Reul, Minister des Innern: Sie meinen ganz konkret den Bahnhof Düsseldorf?

(Lisa-Kristin Kapteinat [SPD]: Ja!)

Ich habe da keine Befragung gemacht. Ich habe den Bericht auch nicht gesehen. Also kann ich dazu leider nichts sagen.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Jetzt hat Herr Kollege Ganzke das Wort. Bitte sehr.

Hartmut Ganzke (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Reul, eine letzte Nachfrage meinerseits: Sie haben in Ihrem Eingangsstatement sich nicht nur für die Möglichkeit bedankt, hier zu sagen, wie die Landesregierung in dieser Thematik arbeitet, sondern auch gesagt, dass das für die Landesregierung ein wichtiges Thema ist.

Konkrete Nachfrage: Gibt es im Kabinett Absprachen dazu, die Bekämpfung der Drogenkriminalität insoweit zu einem wichtigen Thema für die nächste Zeit in der Legislaturperiode zu machen?

Herbert Reul, Minister des Innern: Erste Antwort: Es gibt keine besondere Absprache dazu.

Zweite Antwort: Aber alle Kriminalitätsaspekte und Delikte sind Schwerpunkte der landespolitischen Arbeit. Dazu braucht es auch keine Absprache. Es gibt einen Koalitionsvertrag; da steht das alles drin, und danach richten wir uns. Aber es gibt jetzt keinen gesonderten, neuen Vorgang. Er ist aber auch nicht notwendig.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Jetzt hat sich Herr Kollege Dahm zu Wort gemeldet.

Christian Dahm (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister, Sie haben angekündigt oder zumindest sehr deutlich gemacht, dass Sie das Phänomen erkennen. Warum gehen Sie nicht genauso aktiv dagegen vor wie gegen Clankriminalität? Warum machen Sie keine Razzien in diesen Bereichen?

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ich darf in Erinnerung rufen, dass ich eine längere Ausführung zu dem Thema „Clankriminalität und Drogen“ gemacht habe. In dem Moment, in dem wir gegen Clans vorgehen, gehen wir auch gegen Drogen vor. Die Zahlen habe ich eben vorgetragen. Sie sind ja nachlesbar.

Ein großer Teil der Aktivitäten der Clans findet wegen und aufgrund des Themas „Drogen“ statt. Das heißt: Wenn wir Clanrazzien machen, wenn wir Aktivitäten der Bekämpfung von Clans machen, erwischen wir genau den Nerv. Sie verdienen ihr Geld ganz stark mit dem Handel im Rauschgiftbereich. Insofern ist es nicht ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Frau Abgeordnete Kopp-Herr.

Regina Kopp-Herr*) (SPD): Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Minister, der Ebertplatz ist ein Synonym für einen rechtsfreien Raum in Nordrhein-Westfalen geworden. Wie viele ähnliche Plätze gibt es in Nordrhein-Westfalen? Können Sie dazu etwas sagen? – Danke.

Herbert Reul, Minister des Innern: Nein. Aber ich kann mich erinnern – allerdings nur vom Hörensagen –, dass diese Debatte über rechtsfreie Räume in der vergangenen Legislaturperiode eine große Rolle gespielt hat und solche Plätze nie namentlich festgemacht worden sind.

Wir hatten einmal eine Anfrage – ich weiß nicht mehr, von welcher Fraktion –, aufgrund derer wir versucht haben, das zu beantworten. Es ist ungeheuer schwierig.

Zu dem Thema der rechtsfreien Räume muss man auch die Definition klären. Das sind Räume, wo Menschen in Nordrhein-Westfalen sehr ungern hingehen oder sich bedroht fühlen oder Sorge haben. Um diese Plätze bemühen wir uns insbesondere. Das sind aber keine Plätze, wo Polizei nicht hingeht. Rechtsfrei ist der Raum also nicht.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Ach! Das hat er vorher anders gesagt!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächster Fragesteller hat Herr Kollege Göddertz das Wort. Bitte sehr.

Thomas Göddertz (SPD): Vielen Dank. – Herr Minister, Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie mit der Bekämpfung der Clankriminalität auch die Drogenkriminalität bekämpfen würden. Wie viele Drogen haben Sie bei den großen Razzien der letzten Tage gefunden?

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Bitte sehr, Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Die Zahl gibt es. Ich kann sie Ihnen im Moment aus dem Kopf leider nicht nennen. Die Zahl ist verblüffend hoch gewesen. Aber ich kann sie Ihnen jetzt nicht sagen. Ich liefere das gerne nach.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen mir zu dieser Frage 55 nicht vor, sodass wir, weil es keine weiteren Fragen gibt, am Schluss der Fragestunde sind.

Wir kommen zu:

7   Jugendkriminalität weiter effektiv bekämpfen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/4442

Beschlussempfehlung und Bericht
des Rechtsausschusses
Drucksache 17/7554

Entschließungsantrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5095

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7607

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Fraktion der CDU Frau Abgeordneter Erwin das Wort. Bitte sehr.

Angela Erwin*) (CDU): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugendkriminalität ist vielschichtig. Daher bedarf es auch unterschiedlicher Lösungsansätze, wenn wir gegen sie vorgehen wollen. Der Anspruch ist, die Betroffenen und den Staat davor zu bewahren, dass einzelne jugendliche Straftäter langfristig in sogenannte Verbrecherkarrieren abgleiten.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir zwei Ebenen miteinander vereinbaren. Das ist einerseits natürlich eine gute und zielgerichtete Präventionsarbeit. Was uns jedoch von Teilen der Opposition unterscheidet, ist, dass wir auch bei der strafrechtlichen Verfolgung nicht die Augen vor einzelnen Phänomenen verschließen. Insbesondere, wenn wir es mit jugendlichen Intensivtätern zu tun haben, bei denen präventive Ansätze nicht die erwünschten Ergebnisse erbracht haben, bedarf es einer deutlichen Sprache.

Ihr Entschließungsantrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ist da durchaus entlarvend. Einerseits erklären Sie uns, dass der Fokus der Politik – ich zitiere – „unbedingt auf der Prävention und Bekämpfung der gewöhnlichen leichten bis mittelschweren Jugendkriminalität“ liegen sollte. Wenige Sätze weiter lassen Sie uns dann jedoch wissen, dass Verfehlungen und Grenzüberschreitungen im Bereich der leichten Kriminalität ohnehin meist von alleine verschwänden.

Nimmt man Sie beim Wort, dürften wir also gegen schwere Jugendkriminalität nicht vorgehen, weil dies nur einige wenige Fälle betrifft, und gegen leichtere Jugendkriminalität würden wir ebenfalls nichts unternehmen, weil sich das Problem meist von allein erledigt. Einzig beim Thema „Gewalt“ wollen Sie dann vielleicht doch einmal ein wenig genauer hinschauen. Das ist die Einstellung der Grünen zu unserem Rechtsstaat.

Wir sind da dezidiert anderer Auffassung. Für uns gilt grundsätzlich: gegenüber allen Straftaten und Straftätern null Toleranz.

Weil die Opposition in diesem Hause auf diesen Begriff zunehmend empfindlich reagiert, will ich einmal mit einem Missverständnis aufräumen. Null Toleranz bedeutet nicht automatisch härtere Strafen, wie die Grünen es in ihrem Entschließungsantrag gerne suggerieren wollen. Es geht vielmehr um das konsequente Anwenden von Gesetzen und damit das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat. Insofern gibt es da auch keinen Widerspruch zwischen null Toleranz und guter Präventionsarbeit.

Wenn Sie mir da nicht glauben, dann hören Sie ja vielleicht auf die Worte des Altbundespräsidenten Joachim Gauck, der in seinem gleichnamigen Buch über Toleranz schreibt: „Eine Toleranz gegenüber einem Verhalten, das erkennbar Gesetze verletzt …, darf es nicht geben.“

Lassen Sie mich noch kurz auf den Entschließungsantrag, der heute Morgen von der SPD-Fraktion eingereicht wurde, eingehen. Dieser ist in zweifacher Hinsicht aus meiner Sicht doch befremdlich.

Zum einen haben wir dieses Thema mehrfach im Rechtsbereich diskutiert und dabei die ganze Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, auf Ihren eigenen Input gewartet.

Zum anderen haben Sie als SPD-Fraktion im letzten Rechtsausschuss – Frau Kapteinat, ich glaube, Sie reden heute dazu; das haben Ihnen Ihre Kollegen sicherlich bereits berichtet – erklärt, Sie würden sich dem Entschließungsantrag der Grünen vollumfänglich anschließen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie uns nun aber wieder auf das Wesentliche kommen. Heute geht es nicht um härtere Strafen oder die Abschaffung von Präventionsarbeit, sondern darum, Prävention und Strafe miteinander zu versöhnen.

Zu diesem Zweck haben wir uns angeschaut, welche Institutionen in unserem Land auf diesem Feld bereits gute Arbeit leisten. Dies führt uns schnell – das ist, glaube ich, unter uns auch unbestritten – zu den Häusern des Jugendrechts und den Staatsanwälten vor Ort. Solche Einrichtungen, die staatliches Reagieren auf das Fehlverhalten Jugendlicher aus einem Guss, also behördenübergreifend, zeitnah und an den individuellen Fall angepasst, organisieren, wollen wir sukzessive stärken. Dies gilt umso mehr, weil die bestehenden Einrichtungen sehr positive Erfahrungen vorweisen können.

Weil zumindest bezogen hierauf zwischen den Fraktionen in diesem Haus eigentlich auch weitgehende Einigkeit besteht – zumindest soweit ich das in den Beratungen mitbekommen habe –, bitte ich Sie heute um Zustimmung zu unserem Antrag. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Erwin. – Als nächste Rednerin hat Frau Kollegin Kapteinat das Wort. Bitte sehr.

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Mit der heutigen Debatte geht ein sehr intensiver Prozess im Rechtsausschuss zu Ende. Wir haben neben dem Antrag von CDU und FDP auch gleich zwei Entschließungsanträge vorliegen, was durchaus ein Zeichen dafür ist, dass sich alle Fraktionen sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt haben und darüber hinaus auch die Anhörung bei uns Eindruck hinterlassen hat.

Besonders deutlich wurde bei dieser Anhörung der Grundsatz des JGG, das nämlich den Erziehungsgedanken in den Vordergrund stellt. Dem sollten wir auch Rechnung tragen.

Deswegen komme ich leider nicht umhin, mich über den Antrag von CDU und FDP doch etwas zu ärgern. Denn dieser so richtige und gute Ansatz geht etwas in der Nulltoleranzbekämpfungsrhetorik unter.

Wir haben auch nach der Anhörung als SPD-Fraktion weiteren Austausch gehabt und weitere Gespräche mit den Expertinnen und Experten geführt. Schlussendlich haben wir diesen Entschließungsantrag formuliert.

Es wurde sehr deutlich, dass man sich, um gegen Jugenddelinquenz vorzugehen, mit den Gründen für diese Jugenddelinquenz beschäftigen muss und herausfinden muss, woraus sie resultiert.

Aber es könnte auch durchaus Gemeinsamkeiten zwischen unseren Fraktionen geben. Frau Erwin hat es gerade angesprochen. Mit Innenminister Reul zumindest – wo ist er denn jetzt? – scheint es diese auch zu geben. Denn er hat das rot-grüne Erfolgsprojekt „Kurve Kriegen“, das genau diesen Ansatz verfolgt, folgendermaßen bezeichnet – mit Erlaubnis der Präsidentin zitiere ich –:

„Die NRW-Initiative Kurve kriegen setzt Maßstäbe in der Kriminalprävention und der Verhinderung von Jugendkriminalität. Ob mit dem innovativen Ansatz, pädagogische Fachkräfte in die Teams der Polizei einzubinden und individuell auf die Ursachen für Kriminalität zu schauen oder mit der wissenschaftlich attestierten Wirksamkeit und Effizienz.“

Ich bin daher gespannt, was der Innenminister zu Ihrem Antrag sagt.

Gleiches gilt übrigens für das Projekt „klarkommen!“

Gute Präventionsprogramme, die tatsächlich helfen und Straftaten verhindern: Da muss unser Ansatz liegen. Denn das ist das, was hilft, nicht Law and Order. Dort ist jeder ausgegebene Euro ein guter Euro.

Aber kommen wir zurück zu den Gemeinsamkeiten und zum Beispiel zu den Häusern des Jugendstrafrechts. Da sage ich ein klares: Ja, aber. Ja, wir wollen die Häuser des Jugendstrafrechts, aber mit einer vernünftigen Evaluierung, bei der deutlich wird: Was bringt es? Ja, wir wollen die Häuser des Jugendstrafrechts, aber nur für Intensivtäter. Denn wir müssen sichergehen, dass die Jugendhilfe in diesem Konstrukt nicht von Polizei und Staatsanwaltschaft schlussendlich vereinnahmt wird, sondern weiterhin zuvorderst für die Jugendlichen da ist. Denn darum geht es.

(Beifall von der SPD)

Ein weiteres Ergebnis der Anhörung war: Der sogenannte Warnschussarrest gehört abgeschafft. Es wurde sehr deutlich, dass er nichts bringt; denn der Warnschussarrest greift in erster Linie für Jugendliche, die bereits im Gefängnis saßen, sprich, die sehr genau wissen, was auf sie zukommen würde.

Wir werden daher den Antrag der Koalitionsfraktionen ablehnen, aber dem Antrag der Grünen zustimmen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Kapteinat. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP Herr Abgeordneter Mangen das Wort.

Christian Mangen (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Statistiken zeigen erfreulicherweise, dass die Jugendkriminalität in Nordrhein-Westfalen gesunken ist. Das zeigt, dass die eingeleiteten Maßnahmen erfolgreich sind. Allerdings dürfen unsere Anstrengungen deshalb nicht nachlassen.

Sorgen bereiten uns jugendliche Intensivtäter. Gerade bei solchen Tätern ist es wichtig, dass die Strafe im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Tat empfunden wird. Wenn sich der Täter kaum noch an den Grund für die Strafe erinnern kann, geht die Strafe letztendlich ins Leere. Und das gilt es, meine sehr verehrten Damen und Herren, um jeden Preis zu verhindern.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Staatliche Reaktionen müssen zeitnah erfolgen und behördenübergreifend abgestimmt werden. Hier haben sich die Häuser des Jugendrechts bewährt. In diesen Häusern arbeiten Jugendhilfe, Staatsanwaltschaft und Polizei eng unter einem Dach zusammen, was eine Beschleunigung des Strafverfahrens fördert. Wir fordern daher, ab dem Jahr 2020 sukzessive weitere solche Häuser zu etablieren.

Auch das Projekt „Staatsanwalt vor Ort“ ist ein Beispiel für erfolgreich vernetzte Strukturen. Im Rahmen dieses Modells arbeiten Schule, Jugendamt, Polizei und Justiz enger zusammen. Die Staatsanwälte stehen als unmittelbare Ansprechpartner zur Verfügung und erhalten durch ihre Präsenz vor Ort Einblicke in das jeweilige familiäre und soziale Umfeld des Täters. Daher müssen und wollen wir prüfen, inwieweit das Projekt „Staatsanwalt vor Ort“ auf weitere Städte ausgedehnt werden kann.

Im Gegensatz zu den allgemeinen Strafgedanken bei erwachsenen Tätern steht bei der Jugendkriminalität stärker der Gedanke der Spezialprävention im Vordergrund.

Liebe Frau Kapteinat von der FDP-Fraktion

(Lisa-Kristin Kapteinat [SPD]: So weit wollen wir nicht gehen!)

– Entschuldigung, von der SPD-Fraktion; so weit sind wir noch nicht –, von Law and Order lese ich an dieser Stelle nichts. Das bedeutet, dass mehr auf den jugendlichen Täter selbst eingegangen wird und auf diese Weise versucht wird, diesen von der Begehung zukünftiger Taten abzuhalten. Bei der Strafe soll der Erziehungsgedanke stärker im Vordergrund stehen.

Hier steht vor allem die Verbesserung der Qualität der zu leistenden Sozialstunden im Vordergrund. Sozialstunden sollen von den jugendlichen Tätern nicht als reines Absitzen von Strafstunden empfunden werden. Idealerweise sollen Sozialstunden an Orten geleistet werden können, die den Jugendlichen neue Einblicke oder sogar eine Perspektive bieten können, vielleicht sogar an einer Stelle, an der im Anschluss eine Ausbildung abgeleistet werden könnte.

Aus diesem Grund wollen wir prüfen, inwieweit die bestehenden Möglichkeiten zur Ableistung von Sozialstunden in Hinblick auf die Qualität und den pädagogischen Wert der zu entwickelnden Tätigkeiten ausreichend sind und wie diese Möglichkeiten gegebenenfalls erweitert werden können. Weiterhin sollen auf unsere Initiative hin die Möglichkeiten der schulischen Weiterbildung und der Betreuung in der Untersuchungshaft geprüft werden.

Haft stellt bei jugendlichen Tätern ohnehin die Ultima Ratio dar. Je mehr Möglichkeiten und Angebote Jugendliche daher während ihrer Haft zur Verfügung haben, desto eher besteht die Chance, dass sie auch einen positiven Aspekt aus der Haft mitnehmen und eine weitere Kriminalisierung in der Haft verhindert wird.

(Beifall von der FDP und Matthias Kerkhoff [CDU])

Beim Entschließungsantrag der Grünen überrascht, dass als entscheidende Akteure zunächst Polizei und Justiz – ausgerechnet von den Grünen – genannt werden, erst dann Bildungsinstitutionen und ganz zum Schluss die Familie genannt werden. Das Thema „Sozialstunden“ wird von der Fraktion der Grünen in ihrem Entschließungsantrag überhaupt nicht erst erwähnt.

Der heute eingereichte Antrag der SPD enthält auch nichts Neues. Die enthaltenen Themen – gerade auch Beschleunigung der Verfahren, behördenübergreifende Vernetzungen und Behandlung von Intensivtätern – wurden ja durch uns bereits eingehend behandelt.

Daher werden wir diese Entschließungsanträge ablehnen.

Wenn wir es schaffen, unsere Maßnahmen zeitnah umzusetzen, werden wir die Jugendkriminalität auch in Zukunft weiter senken können. Darauf müssen wir alle Kräfte bündeln.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dieser Maßnahme werden wir unser Land und unsere Gesellschaft sicherer machen und die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen stärken. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Mangen.

(Thomas Röckemann [AfD] erhebt sich und geht in Richtung des Redepultes.)

Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Kollege Engstfeld das Wort, wenn ich das richtig auf meinem Zettel stehen habe. Herr Röckemann, Sie sind danach dran.

(Heiterkeit – Thomas Röckemann [AfD] nimmt wieder Platz.)

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fangen wir einmal positiv an: Liebe Koalitionsfraktionen, der Änderungsantrag, den Sie zu Ihrem eigenen Ursprungsantrag gestellt haben, ist schon einmal eine Verbesserung.

Das sehen wir zwar, wundern uns allerdings nicht wirklich, weil Sie dankenswerter- und sinnvollerweise einiges aus unserem grünen Entschließungsantrag in Ihren Änderungsantrag haben einfließen lassen.

Aber ich muss Sie direkt enttäuschen: Es reicht dann doch nicht für eine Zustimmung zum Änderungsantrag oder zum Ursprungsantrag. Warum? Uns fehlen wichtige Punkte.

Ich schließe einmal bei der Kritik der sozialdemokratischen Kollegin Kapteinat an. Das Thema „Warnschussarrest“ fehlt bei Ihnen eigentlich völlig, respektive es fehlt eine kritische Auseinandersetzung oder Beschäftigung mit diesem Thema. Eine politische Forderung in Richtung wenigstens einer Verbesserung des Warnschussarrestes oder gar einer Abschaffung fehlt bei Ihnen komplett.

Wir Grünen hingegen hinterfragen, wie auch die SPD, den Warnschussarrest; denn dieser hat keinen wissenschaftlich erwiesenen Nutzen. So hat unter anderem eine Studie, die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben wurde, klar gezeigt, dass der Warnschussarrest keinerlei positive Auswirkungen auf die Rückfallwahrscheinlichkeit hat. Deswegen sind wir dafür, ihn wegen Unwirksamkeit abzuschaffen.

Fast alle Expertinnen und Experten waren sich zudem in Sachen Nulltoleranzstrategie einig. Frau Kollegin Erwin, Sie haben hier gerade eine interessante Variante der Nulltoleranzstrategie definiert. Aber in Ihren bisherigen Argumentationen gehört natürlich immer auch die Härte des Gesetzes mit dazu. Diesbezüglich haben wir in der Anhörung im Juli dieses Jahres noch einmal etwas gehört. Fast alle Expertinnen und Experten waren sich einig, dass es keine wissenschaftlichen Belege dafür gibt, dass härtere Strafen der Abschreckung dienen oder die Rückfallwahrscheinlichkeit senken.

Uns fehlen in Ihrem Antrag konkrete Maßnahmen. Das, was Sie hinten in Ihrem Beschlussteil vorlegen, ist eigentlich ein Prüfauftrag. Das sind zehn Positionen mit zehn Prüffragen. Ansonsten fordern Sie nichts wirklich Konkretes. Das ist uns auch ein bisschen zu dünn.

Wir fordern dagegen in unserem Entschließungsantrag, anders als die Regierungskoalition, konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität. Statt einer Nulltoleranzstrategie fordern wir aber eine Vielzahl von auf den Einzelfall angepassten Maßnahmen.

Gerade die wichtige Rolle von Familie, Schule und Umfeld wurde in der Anhörung noch einmal deutlich hervorgehoben. Hier fordern wir im Beschlussteil unseres Entschließungsantrags eine bessere und breitere Unterstützung der Erziehungsberechtigten, um Jugendkriminalität im besten Fall schon vor ihrer Entstehung zu verhindern.

Wir legen auch auf die Jugendlichen selbst einen Fokus, indem wir eine bessere Einbeziehung der Jugendlichen in Strafprozesse oder in Prozesse und Verfahrensabläufe fordern.

Außerdem sind wir der Auffassung, dass Jugendkriminalität durch einen Dreiklang aus Prävention, Hilfe und Sanktionen bestmöglich verhindert werden kann. Dabei kommt übrigens Prävention vor Repression. Wir meinen, dass eine nachhaltige und integrative Jugendpolitik die vernünftigste Form von Prävention ist.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir noch einige Worte zu dem heute von der SPD-Fraktion vorgelegten Entschließungsantrag.

Aus unserer Sicht ist das ein guter Antrag, der noch einmal darauf hinweist, dass der Großteil der Jugendkriminalität ein gewöhnliches Phänomen ist, das tatsächlich meist ohne Sanktionen oder andere Maßnahmen, Frau Kollegin Erwin, vorübergeht.

Positiv ist auch die Aufforderung, sich stärker an empirischen Untersuchungen und Erkenntnissen zu orientieren. Ebenfalls positiv sind aus unserer Sicht die Forderungen, die Trennung zwischen Jugendhilfe und Strafverfolgung stets zu beachten, die Zeitspanne zwischen Urteil und Umsetzung der Rechtsfolge zu verkürzen und den Warnschussarrest letztendlich – da sind wir uns einig – abzuschaffen.

Deswegen werden wir diesem Entschließungsantrag heute zustimmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit einem gut vernetzten, koordinierten Dreiklang aus Prävention, Hilfe und Sanktionen sowie individuell angepassten Maßnahmen kann Jugendkriminalität bekämpft und teilweise auch verhindert werden. Dadurch wird Nordrhein-Westfalen auf Dauer noch sicherer und zudem dem übergeordneten Ziel des Jugendstrafrechts, der Erziehung und Förderung junger Menschen, gerecht. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Engstfeld für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Für die Fraktion der AfD hat nun Herr Abgeordneter Röckemann das Wort.

Thomas Röckemann (AfD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Wenn man den Worten des Kollegen Engstfeld lauscht, könnte man auf den Gedanken kommen, dass Jugendkriminalität so etwas wie ein warmer Regenschauer ist, den man nur abwarten muss; dann geht er auch vorüber – ein bisschen hier, ein bisschen da, ein bisschen Pädagogik, und schon wird alles gut.

Anlass des Antrags der Fraktionen der CDU und der FDP dürften Taten wie die Gruppenvergewaltigungen in Mülheim an der Ruhr und Harsewinkel, begangen durch Kinder und Jugendliche, gewesen sein. Die Intensität der Delikte von jugendlichen Straftätern nimmt seit einigen Jahren zu – und das, obwohl die absoluten Zahlen im Bereich der Jugendkriminalität in diesem Zeitraum abnehmen. Als Modellversuche hiergegen wurden in Nordrhein-Westfalen die Projekte „Häuser des Jugendrechts“ und „Staatsanwalt vor Ort“ eingerichtet.

In der Anhörung wurde vor allem thematisch behandelt, worauf bei jugendlichen Straftätern zu achten ist, damit die Rückfallgefahr minimiert werden kann. Wie wir festgestellt haben, muss die Sanktion möglichst auf dem Fuße folgen, um beim Jugendlichen einen Erfolg zu erreichen. Deswegen halten wir die Grundidee des Antrags sowie der weiteren Anträge grundsätzlich für richtig. Die Bereitstellung und Durchführung der Projekte „Staatsanwalt vor Ort“ sowie „Häuser des Jugendrechts“ sind durchaus sinnvoll und haben sich bewährt.

Allerdings scheint man auf halben Wege Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben. Im Antrag fehlt uns einfach der Biss. Es handelt sich lediglich um einen „Mausantrag“, der oberflächlich an dem Problem knabbert, statt zuzubeißen. Denn der Antrag empfiehlt nur den Ausbau von bestehenden Strukturen. Wenn wir ehrlich sind, müssten doch Häuser des Jugendrechts flächendeckend in Nordrhein-Westfalen eingeführt werden. Denn nur so stellen wir uns wirksam der Jugendkriminalität entgegen.

Doch ganz offenbar fehlen nicht nur die Mittel, um in jeder größeren Stadt ein Haus des Jugendrechts einzurichten, sondern auch das Personal. Wenn Sie sich ehrlich machen, sind Sie sicher mit uns einer Meinung, dass Ihr Antrag nur eine Beruhigungspille ist, mit der Sie die Bevölkerung im Dämmerzustand halten wollen.

Meine Damen und Herren, Jugendliche und Heranwachsende müssen die Folgen ihres Handelns schnell spüren. Das schreckt am meisten ab. Zeitnahe Strafen sind deshalb die beste Vorbeugung gegen weitere Straftaten, begangen durch Einzelne und Gruppen, die erst entstehen, wenn nicht eingegriffen wird. Der Mensch ist nun einmal ein soziales Wesen. Insbesondere Jugendliche und Heranwachsende fühlen sich in der Gruppe wohl. Daraus resultiert ein Gefühl der überheblichen Stärke – seien es etwa Machtdemonstrationen wie lautes Gegröle, Geschwindigkeitsüberschreitungen mit ihren Fahrzeugen oder Pöbeleien, leichte Körperverletzungen usw.

Derartigen Machtdemonstrationen muss schon bei offener Zurschaustellung möglichst ein Riegel vorgeschoben werden. Denn aus einem Vakuum der staatlichen Ordnung entspringen neue Ideen – Ideen, die noch zu weitergehenderen Machtdemonstrationen führen. Es ist durchaus bekannt, dass jugendliche Intensivtäter eben nicht einsichtig sind. Sie kehren regelmäßig nicht zur Vernunft zurück, wenn ihnen statt einer Strafe nur ein Pädagoge widerfährt.

Ebenso sind die Erziehungsberechtigten in das gesamte Verfahren ihres Zöglings einzubinden. Denn auch außerhalb des Gerichtssaals und des Justizapparats muss positiv auf die Jugendlichen eingewirkt werden. Wir sind uns einig, das Elternhaus stellt eine wichtige Komponente für die weitere Entwicklung des Jugendlichen dar.

Einfach nur weitere Posten für pädagogische Betreuung und Programme zu schaffen, wie die Grünen es fordern, wird keinen abschreckenden Effekt erzielen. Gerade bei jugendlichen Tätern kann dies zu einer Verklärung der Straftat führen, insbesondere wenn die Täter aus anders sozialisierenden Zonen dieser Welt stammen, kaum bzw. gar kein Deutsch sprechen, wie es bei den Tätern der beschriebenen Gruppenvergewaltigungen der Fall war. Sie konnten es leicht im Fernsehen sehen: Diese Leute wurden in ihren jeweiligen Communities wie kleine Helden gefeiert. Das kann nicht Sinn und Zweck sein.

Diese Verbrecher – ich warte noch auf den Tag, an dem die Grünen auf die Idee kommen, die Straftäter „Kunden“ zu nennen – lassen sich weder von Kuscheljustiz noch von grünen Pädagogikexperimenten beeindrucken.

Deswegen enthalten wir uns bei dem „Mausantrag“ von CDU und FDP. Den Entschließungsantrag der Grünen lehnen wir ab. Das gilt auch für den Antrag der SPD, der weder Fisch noch Fleisch ist. – Guten Tag.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Röckemann. – Für die Landesregierung hat Herr Minister Biesenbach das Wort.

Peter Biesenbach*), Minister der Justiz: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist auch für die Landesregierung die Bekämpfung der Jugendkriminalität ein herausragendes Anliegen. Die Daten geben uns auch Mut. Denn die Strafverfolgungsstatistik zeigt einen erheblichen Rückgang der Jugendkriminalität. Während im Jahre 2014 noch 8.178 Jugendliche und 13.371 Heranwachsende verurteilt wurden, waren es im Jahr 2018 nur noch 7.310 Jugendliche und 10.207 Heranwachsende. Wir können also bei Jugendlichen einen Rückgang von 10,6 % und bei Heranwachsenden einen von 23,7 % feststellen.

Das sind erst einmal erfreuliche Entwicklungen. Aber natürlich dürfen wir mit dem Bemühen, die Jugendkriminalität in unserem Land weiter einzudämmen, nicht nachlassen.

Mit ihrem gemeinsamen Antrag setzen die Fraktionen der CDU und der FDP nicht nur ein symbolisches Zeichen, sondern geben auch konkrete Handlungsempfehlungen, um kriminelle Karrieren von Jugendlichen und Heranwachsenden gar nicht erst entstehen zu lassen oder frühzeitig zu beenden.

Im Mittelpunkt der Empfehlungen steht aber nicht – wie gelegentlich wegen des Begriffs „Nulltoleranz“ unterstellt – der Ruf nach höheren Strafen und schärferen Sanktionen. Nein, der Ansatz ist ein anderer. Gemeint sind ein konsequentes Vorgehen und unter den am Jugendverfahren beteiligten Institutionen abgestimmte zeitnahe Reaktionen auf delinquentes Verhalten.

Mit den Reaktionen sollen in erster Linie Hilfsangebote gemacht werden, um junge Straftäter dabei zu unterstützen, den Weg in die Kriminalität zu verlassen. Denn wir wissen, dass sich delinquentes Verhalten oft schon im Kindesalter entwickelt und verfestigt, also zu einer Zeit, zu der die Justiz noch gar nicht zuständig ist. Deshalb ist es sinnvoll und gleichermaßen notwendig, mit Präventionsmaßnahmen möglichst frühzeitig zu beginnen. Nur so können negative Entwicklungen wirksam verhindert werden.

Wo auf Hilfe abzielende Maßnahmen geeignet sind, einen Jugendlichen von einer kriminellen Karriere abzuhalten, muss die Justiz im Jugendstrafverfahren die Anregung der Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe aufgreifen und das Verfahren im Wege der Diversion beenden oder milde Sanktionen verhängen.

Jugendliche, die allerdings mit Hilfe nicht erreicht wurden und die bereits vermehrt mit dem Strafrecht in Kontakt geraten sind, sollen jugendkriminalrechtliche Sanktionen als Warnsignal der Allgemeinheit spüren. Hier muss die Justiz auch inhaltlich übereinstimmend mit der Jugendhilfe strikte Sanktionsformen des Jugendstrafrechts bis hin zur Jugendstrafe anwenden.

Bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität setzen die Fraktionen der CDU und der FDP ebenso wie die Landesregierung insbesondere auf einen Ausbau vernetzter Strukturen zwischen Jugendamt, Polizei und Staatsanwalt. Einen wichtigen Baustein stellen hierbei die Häuser des Jugendrechts dar, die die unterschiedlichen Kompetenzen von Polizei, Justiz und Jugendamt unter einem Dach bündeln.

Die Lagebilder zur Jugendkriminalität an den Standorten Köln und Paderborn, wo die Häuser des Jugendrechts bereits seit einigen Jahren betrieben werden, zeigen einen Rückgang der mehrfach Tatverdächtigen. Die aus dem Haus des Jugendrechts in Köln vorliegenden Zahlen zur Legalbewährung belegen die Vorzüge einer konzentrierten und unter den Beteiligten abgestimmten Bearbeitung. Vor diesem Hintergrund ist es daher nur folgerichtig, die Einrichtung weiterer Jugendhäuser des Jugendrechts zu fordern.

Meine Damen und Herren, diesen Auftrag nehmen wir als Landesregierung gerne an. Die Planungen für die Einrichtung weiterer Häuser des Jugendrechts an den Standorten Münster, Düsseldorf und Oberhausen sind bereits so weit vorangeschritten, dass mit ihrer Eröffnung aller Voraussicht nach in diesem bzw. im nächsten Jahr gerechnet werden kann.

(Vereinzelt Beifall von der FDP)

Das im Antrag weiterhin aufgeführte Modell des Staatsanwalts vor Ort, welches an den Standorten Remscheid, Wipperfürth und Wuppertal-Barmen bereits umgesetzt wurde, leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Optimierung des Jugendstrafverfahrens.

Der Staatsanwalt vor Ort steht als unmittelbarer Ansprechpartner für den Jugendrichter, die Polizei, die Jugendgerichtshilfe und die Schulen zur Verfügung. Geeignete Maßnahmen im Kampf gegen die Jugendkriminalität können so auf dem kurzen Dienstweg abgesprochen und zeitnah umgesetzt werden.

Dem Auftrag, die Ausweitung dieses Projekts auf weitere Kommunen zu prüfen, werden wir als Landesregierung daher gerne nachkommen. Die Erfahrungen an den bereits bestehenden Standorten werden uns zeigen, auf welche weiteren Standorte das Modell in Zukunft ausgedehnt werden soll. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Biesenbach. – Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen mehr. Damit sind wir am Schluss der Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung, zunächst über den Antrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/4442. Der Rechtsausschuss empfiehlt in Drucksache 17/7554, den Antrag in der Fassung seiner Beschlüsse anzunehmen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung Drucksache 17/7554 und nicht über den Antrag. Ich darf fragen, wer der Beschlussempfehlung zustimmen möchte. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der AfD sowie der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Damit ist der Antrag Drucksache 17/4442 in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses angenommen.

Ich lasse abstimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/5095. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das sind die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion der SPD. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der FDP, der Fraktion der AfD sowie der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 17/5095 abgelehnt.

Ich lasse weiter abstimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/7607. Ich darf fragen, wer diesem Entschließungsantrag zustimmen möchte. – Das sind die antragstellende Fraktion der SPD und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der FDP, der Fraktion der AfD sowie der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Der guten Ordnung halber frage ich, ob sich ein Abgeordneter der Stimme enthalten möchte. – Das ist nicht der Fall. Damit wurde mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis der Entschließungsantrag Drucksache 17/7607 abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Ende der Beratungen zum Tagesordnungspunkt 7.

Ich rufe auf:

8   Der Forstwirtschaft in NRW unbürokratisch helfen – Hilferufe der nordrhein-westfälischen Waldbauern ernst nehmen!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7534

In Verbindung mit:

Nachhaltige Wiederbewaldung schafft klimastarke Wälder – Waldsterben 2.0 verhindern und Waldfunktionen erhalten

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/7542

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/7610

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellende Fraktion der AfD Herrn Abgeordneten Keith das Wort.

Andreas Keith (AfD): Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, unser Wald braucht Hilfe. Was er aber nicht braucht, sind hysterisch geführte Debatten. Wir brauchen auch keine, wie von Politikern oft und gerne praktiziert, reflexartig aufgelegten Hilfsprogramme, die leider allzu oft keine Wirkung entfalten und ihre Ziele nicht selten völlig verfehlen.

In der Bewertung unseres Waldes und dessen Bedrohungen zurzeit sind wir uns sicherlich parteiübergreifend schnell einig.

Der Wald erfüllt eine Vielzahl wichtiger Aufgaben. Er bietet vielen Tieren und Pflanzen eine Heimat, schützt vor Bodenerosion, speichert Feuchtigkeit, reinigt unser Trinkwasser, kühlt die umliegende Umgebung und bietet Raum für Erholung und Sport. Das Waldbiotop ist zu Recht ein wertvolles und hochwertiges Ökosystem und damit im höchsten Maße schützenswert.

Die ungünstigen klimatischen Bedingungen – sprich: lange, heiße und trockene Sommermonate in Verbindung mit milden, kurzen Wintern und den verheerenden Sturmschäden der letzten Jahre – haben im Ergebnis unseren Wäldern schwer zugesetzt und zu Waldschäden dramatischen Ausmaßes nicht nur Deutschland, sondern in ganz Mitteleuropa geführt.

In dieser Abfolge konnte sich der Borkenkäfer als Baumschädling explosionsartig in den geschwächten Fichtenwäldern vermehren und einen unübersehbaren Schaden anrichten. Viele Experten sind sich sicher, dass uns die größte Kalamität durch Borkenkäferbefall in den nächsten zwei Jahren noch bevorsteht. Im schlimmsten Fall rechnet man mit einer aufsummierten Schadholzmenge von bis zu 55 Millionen Festmetern Käferholz in Nordrhein-Westfalen.

Sollte diese erschreckende Prognose eintreffen, würde der ohnehin schon desaströse Holzpreis insbesondere für die Nadelhölzer ins Bodenlose fallen und die wirtschaftliche Existenz von vielen Waldbauern und Forstwirtsbetriebsgemeinschaften gefährden. Die dann zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen für einen ganzen Industriezweig mit über 20.000 Unternehmen, rund 200.000 sicheren Arbeitsplätzen und einem Jahresumsatz von 40 Milliarden Euro wären für Nordrhein-Westfalen katastrophal.

Daher gilt es jetzt, kurzfristig schnelle und effektive Maßnahmen zu ergreifen, um überhaupt eine Chance zu haben, das Schlimmste noch abwehren zu können. Die Hilfe darf sich nicht an der zurzeit völlig hysterisch geführten Klimadebatte und zwanghaften Aufforstungshysterie orientieren. An allererster Stelle muss jetzt die Bekämpfung des Borkenkäfers stehen.

(Beifall von der AfD)

Dazu müssen das Land und der Bund den Waldbauern und Forstwirtschaftsgemeinschaften unverzüglich und unbürokratisch Mittel zur Verfügung stellen, um das anfallende Schadholz sofort fällen und aus dem Wald transportieren zu können.

Darüber hinaus fordern wir die Landesregierung mit Nachdruck auf, sich auf eine neue Welle von Baumschädlingen im Frühjahr einzustellen, das Borkenkäfer-Monitoring auszubauen und in ausreichender Zahl Käferfallen vorzuhalten, um die erste Welle einer zu erwartenden Käferpopulation im Frühjahr abschöpfen zu können.

In dieser Situation ist es völlig unverständlich, dass die SPD ihren Antrag zur direkten Abstimmung gestellt hat, obwohl sie selbst in ihrem Antrag viele Fragen aufwirft und keine Antworten liefert. Aufgrund der Größe der Herausforderungen gilt es jetzt, über die Parteigrenzen hinweg dieses Thema zu behandeln und mit den Betroffenen eine sachbezogene und nachhaltige Strategie zu entwickeln, die auch zukünftigen Generationen ein Auskommen mit der Waldbewirtschaftung ermöglicht.

Daher haben wir unseren Antrag zur Überweisung an den Ausschuss gestellt und werden eine Anhörung hierzu mit den Betroffenen beantragen. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Keith. – Für die weitere antragstellende Fraktion, allerdings des anderen Antrags, hat nun für die Fraktion der SPD Frau Watermann-Krass das Wort. Bitte sehr.

Annette Watermann-Krass (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von Ihnen, von uns sind bestimmt in den letzten Monaten vor Ort gewesen und haben sich die Wälder und die Schäden, die damit verbunden sind, angeschaut. Eines wird klar: Wir benötigen eine kluge Strategie gegen das neue Waldsterben. Manche reden ja vom Waldsterben 2.0, denn unseren Wäldern geht es wirklich schlecht.

Vor allen Dingen die starke abrupte Klimaveränderung, die jetzt im Ökosystem Wald spürbar wird, zeigt uns, was vor Ort los ist: Die starke Hitze, die wir hatten, Dürreperioden, Waldbrände, Stürme oder Starkregenereignisse – das alles hat unseren Wäldern mächtig zugesetzt und verlangt ihnen viel ab.

Die Folgen sind dramatisch. Der Wald verliert langsam sein ökologisches Gleichgewicht und hat es schwer, sich an diese neuen klimatischen Bedingungen anzupassen. Jetzt ist rasches Handeln gefragt, damit das Waldsterben nachhaltig gestoppt werden kann, eine schnelle Wiederbewaldung organisiert wird und der Wald als Ökosystem an die neuen klimatischen Bedingungen angepasst wird.

Jetzt liegen schon etliche Förderprogramme vor, die müssen wir nicht alle wiederholen. Dazu gehört das Mehrere-Millionen-Bäume-Programm des Bundes, das Waldbaukonzept des Landes NRW und auch der Beschluss der Landesregierung, in den nächsten zehn Jahren 100 Millionen Euro für den Wald zur Verfügung zu stellen.

Bund und Land ziehen dabei an einem Strang. Deshalb haben wir gemeinsam auch mit unserem Koalitionspartner auf der Bundesebene einen sehr umfangreichen Antrag zur Rettung der Wälder eingebracht, der jetzt gerade in der Behandlung ist.

Für uns Sozialdemokraten ist klar: Eine Einhaltung der Pariser Klimaschutzziele und die Senkung des CO2-Anteils in der Luft ist ohne einen starken Wald nicht möglich.

Eine reine Beseitigung der Klimaschäden im Wald reicht aber nicht aus. Wir müssen, wie wir so schön sagen, unsere grüne Lunge nachhaltig stärken und fit für die Zukunft machen. Dabei ist klar: Der Wald ist nicht das Problem, sondern der Wald ist ein Teil der Lösung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme jetzt zu den Punkten unserer Forderungen. Wir fordern zunächst einmal einen wirklichen Pakt für den Wald, um einen nachhaltigen Waldumbau hinzubekommen.

Um diese enormen Herausforderungen sowohl im Staatswald wie in der Fläche zu meistern, brauchen wir mehr Personal, vor allen Dingen beim Landesbetrieb Wald und Holz, denn die Umsetzung des Waldbaukonzeptes und vor allem die jetzige Umstellung von der indirekten zur direkten Förderung benötigen eine Menge Unterstützung und Beratung. Das können unsere ehrenamtlichen Mitglieder in den Forstbetriebsgemeinschaften nicht leisten.

Wir müssen die Holzwirtschaft stärken und an die Zeit anpassen, denn uns muss klar sein:

Die Nutzung von Holz wird sich in Zukunft verändern. Noch sind in diesem Bereich über 70 % des Holzes – es geht sogar an die 80 % der Nutzung – reines Nadelholz. Nur im Brennholzbereich dominiert das Laubholz. Und Holz wird der Baustoff der Zukunft sein. Er ist leicht, er bindet CO2.

Deswegen braucht es auch vor Ort in den Kommunen Unterstützung: Wie können Ausschreibungen erfolgen, wie können Ingenieurbüros diese Herausforderungen meistern, um mit Laubholz gerade in diesem Bereich etwas zu machen?

Das gesamte Cluster Forst und Holz muss da mehr unterstützt werden.

Außerdem – da komme ich auf den jagdlichen Bereich – muss es eine systematische Bejagung des Schalenwildes geben. Das wird nötig sein. Das Prinzip „Wald vor Wild“ muss so umgesetzt werden, dass die natürliche Wiederbewaldung nicht gefährdet ist. Wir haben es nach Kyrill erlebt: Viele Flächen sind auch da über Naturverjüngung wieder aufgewachsen.

Ich möchte ganz deutlich sagen: Für unsere Ziele suchen wir den Konsens und nicht die politische Konfrontation. Der Wald kann sich selbst nicht mehr ausreichend helfen. Helfen wir ihm gemeinsam! Ich appelliere an diejenigen von Ihnen, die eine langfristige und nachhaltige Lösung befürworten; denn wir wollen, dass der Wald dem Klimawandel trotzen und ihm entgegenwirken kann. Daran möchten wir mit Ihnen gemeinsam arbeiten.

Wir können allerdings keine Lösung von Parteien gebrauchen, die den Klimawandel negieren – vor allem Ihren Kollegen schaue ich da an –

(Helmut Seifen [AfD]: Seit Tausenden von Jahren gibt es Klimawandel! – Andreas Keith [AfD]: Ich beantrage direkte Abstimmung! – Helmut Seifen [AfD]: Klimawandel kann man nicht leugnen!)

und sich auf kurzfristige vordergründige Alibipolitik kaprizieren. Alle anderen lade ich ein, unserem Antrag zuzustimmen. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD – Zurufe von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Watermann-Krass. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Ritter das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Jochen Ritter*) (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Keith, tatsächlich liegen wir in der Bestandsaufnahme nicht weit auseinander, aber umso mehr in den Schlussfolgerungen. Die AfD setzt ausschließlich auf die Bekämpfung von Schädlingen bzw. die Räumung des Waldes und bezieht sich dabei auf den Waldbauerntag in Werl.

Man kann Ihrem Beitrag entnehmen, dass Sie da gut zugehört haben. Aber wie so oft sammeln Sie lediglich kritische Stimmen ein – die auch ich dort gehört habe, aber ich habe nicht nur kritische Stimmen gehört – und verstärken sie, ohne Wegweisendes daraus zu entwickeln. Das ist zu kurz gesprungen. Zuhören allein reicht nicht. Erst wenn Entscheiden und Handeln dazukommen, wird ein Schuh daraus.

Die Regierung entscheidet seit über einem Jahr aufgrund der Erkenntnisse, die die von ihr eingesetzte Taskforce „Käfer“ sozusagen im Monatstakt hervorbringt, im Dialog mit den Betroffenen, die Sie im Zweifel einmal im Jahr in Werl antreffen. Sie handelt und baut bereits Bürokratie ab. Eigenleistungen der Waldbauern werden mittlerweile gefördert. Wenn der Antrag gestellt, aber noch nicht beschieden ist, können sie nun loslegen, ohne dass das förderschädlich wäre. Mittel sollen überjährig bereitgestellt werden. Wie man an diese Mittel kommt, zeigt ein eigens beauftragtes Beratungsunternehmen.

Die SPD ist gedanklich einen Schritt weiter als die AfD. Sie ist allerdings ebenso einseitig unterwegs. Von der Bewältigung der Kalamität ist keine Rede. Es geht ausschließlich um Wiederbewaldung. Das erinnert fatal an die Wortwahl des BUND, der unlängst im dritten Programm forderte, den Wald sich selbst zu überlassen. Wie Sie, Frau Watermann-Krass: Sie waren, wenn ich das so sagen darf, kürzlich, als der Umweltausschuss im Remscheider Forst unterwegs war, entgegen dem, wie Sie eingangs dargestellt haben, nicht vor Ort. Aber in Ihrem Antrag unter dem ersten Spiegelstrich fordern Sie dazu auf, gemeinsam mit den Organisationen zu handeln, die Sie an dem Tag sozusagen im lang ersehnten Regen haben stehen lassen.

Anders verhält sich die Landesregierung. Sie geht dahin, wo es wehtut. Im August, zwar bei strahlendem Sonnenschein, aber bei brütender Hitze, ist der Ministerpräsident mit der zuständigen Ressortchefin in den Königsforst gegangen. Im September ist das gesamte Kabinett in die Mutter aller nordrhein-westfälischen Wälder, in das Sauerland, gegangen.

Nicht nur wenig glaubwürdig, sondern auch überflüssigerweise fordern Sie jetzt, die betroffenen Organisationen und die Waldbesitzer einzubeziehen.

Die Schmallenberger Erklärung bringt im Einzelnen vieles auf den Punkt. Dazu nur so viel: Sie ist bestimmt von Maß und Mitte und nimmt gleich unter dem ersten Spiegelstrich beides in den Blick, was die Antragsteller aus der Opposition quasi unversöhnlich gegenüberstellen, nämlich die Bewältigung der Kalamität – AfD – auf der einen Seite und die Wiederherstellung der Wälder – SPD – auf der anderen Seite.

Die für Ersteres bereitgestellten Mittel werden in beträchtlichem Umfang abgerufen und eingesetzt. Letzteres wird perspektivisch mit 100 Millionen Euro unterfüttert. Das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz hält Karten bereit, aus denen die Bodenfeuchte hervorgeht, damit das Geld im wahrsten Sinne des Wortes nicht in den trockenen Sand gesetzt wird. Der Landesbetrieb Wald und Holz trägt über sein Verbissmonitoring dazu bei, dass junge Pflanzen nicht gleich vom Rehwild wieder aufgefressen werden.

Als Mitglied des Bauausschusses freue ich mich, dass Bauen mit Holz bereits nach der neuen Landesbauordnung eine breitere Anwendung findet, als es bisher der Fall war. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn das als Mittel der langfristigen Speicherung von CO2 noch intensiviert würde – gerne auch in Wertschöpfungsketten, die von vorne bis hinten in Nordrhein-Westfalen stattfinden. Frau Watermann-Krass, man kann auch beim Nadelholz diversifizieren.

Alles in allem sind wir also breit aufgestellt und befinden uns auf einem erfolgversprechenden Weg, auf dem der nächste Meilenstein mit dem nordrhein-westfälischen Waldgipfel am 11. November in Sicht ist. Wenn die Landesregierung den Herausforderungen mit den Impulsen aus unserem Entschließungsantrag weiter so entschlossen entgegentritt wie bisher, dann kann es der Politik, den Verbänden, der Gesellschaft, ja uns allen gelingen, unseren Wald zu retten. Machen Sie mit!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Schönen Dank, Herr Abgeordneter Ritter. – Sie haben sicherlich die Signallampe gesehen. Vom Abgeordneten Keith von der Fraktion der AfD ist eine Kurzintervention angemeldet worden. Es steht Ihnen frei, diese an Ihrem Platz oder am Rednerpult entgegenzunehmen. – Ich darf den Kollegen Keith bitten, kurz auf den Knopf zu drücken, damit ich sein Mikrofon freischalten kann. Bitte sehr, Sie haben das Wort für 90 Sekunden.

Andreas Keith (AfD): Vielen Dank für das Wort, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Ritter, Sie stimmen mir doch sicherlich zu, dass der Waldumbau schon seit Jahren in vollem Gange ist. Wir sind uns doch darüber einig, dass der Umbau nicht in der Geschwindigkeit erfolgt wie der Umbau eines Hauses.

Im Jahr 2004 hatten wir 50,6 % Laubbäume und 47,2 % Nadelbäume. Der Laubbaumanteil beläuft sich zurzeit auf 58 %. Das ist eine Steigerung um über 7 % in einem für Bäume, für die Natur kurzen Zeitraum.

Sie haben erwähnt, dass wir auf dem Waldbauerntag waren und die Kritik der Waldbauern gehört haben. Das ist doch selbstverständlich. Sie können von einem Unternehmer nicht erwarten, für 30 Euro den Festmeter Holz aus seinem Wald zu schaffen, hart zu arbeiten und am Ende des Tages noch 5 Euro draufzulegen. Da müssen wir erst einmal ansetzen. Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, dass Lkws und Personal vorhanden sind, um Schäden zu verräumen, damit nicht größere Schäden im Frühjahr in Kauf genommen werden müssen.

Danach können Sie anfangen zu überlegen, wie Sie den Wald weiter umbauen und wie Sie die Waldbauern unterstützen können, Jungpflanzen anzulegen, und wie Sie ihnen hinsichtlich Ausmaß und Sorten helfen können.

Natürlich sind wir uns darüber einig, dass in einem Mischwald eine gesunde Verjüngung im natürlichen Bereich stattfinden und es einen Schutz vor Verbiss durch Wild geben muss. Da sind wir uns, glaube ich, in allen Punkten einig.

Zuerst muss aber doch geräumt und darauf geachtet werden, dass der Brotbaum der Waldbauern, die sonst oft wirtschaftliche Existenznöte hätten, zuerst geschützt wird, damit sie weiter investieren können. Ohne diese Investitionen werden sie das Saatgut bzw. die Pflanzen gar nicht anlegen.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Das Land und der Bund wären außerdem eigentlich verantwortlich, Saatgut und Jungpflanzen zur Verfügung zu stellen, was sie aber gar nicht tun können.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Keith.

Andreas Keith (AfD): Deswegen fordern wir Sie zunächst auf, die momentan bestehenden Schäden zu beseitigen und Hilfe zu leisten. Danach können wir darüber nachdenken, Veränderungen im Wald vorzunehmen.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Keith. – Herr Kollege Ritter hat jetzt für 90 Sekunden das Wort. Ich werde die Redezeit ähnlich großzügig handhaben wie bei der Kurzintervention.

Jochen Ritter*) (CDU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will gar nicht auf alle Punkte eingehen.

Der Waldumbau ist seit einiger Zeit in Gang. Bei den großen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, ist es sozusagen ein großes Glück, dass wir ein brandaktuelles Waldbaukonzept haben, das das Haus vorgelegt hat. Das trifft den Nerv der Zeit.

Es ist doch an der Zeit, über den Tag hinauszuschauen. Wir sind hier ja nicht bei Asterix in der Trabantenstadt, wo Sie abends eine Eichel in den Boden werfen können und am nächsten Morgen der Baum da ist. Wir müssen über die Jahre, die Perioden hinausdenken und uns dem zuwenden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Ritter. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren die Kurzintervention und die Erwiderung. Nun können wir mit den Reden fortfahren. Für die FDP-Fraktion hat nun Herr Abgeordneter Diekhoff das Wort.

Markus Diekhoff*) (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Zustand und die Zukunft des Waldes zählen zu den größten aktuellen Herausforderungen – mit erheblichen Auswirkungen hier bei uns in Nordrhein-Westfalen, denn gerade hier, wo wir mit 67 % Privatwald eine bundesweit einzigartig hohe Quote privater Waldbesitzer haben, gibt es ganz spezielle Herausforderungen.

Der Schutz des Waldes ist aktuell angesichts der allgemeinen und auch unserer Bemühungen zum Klima‑ und Artenschutz im gesamtgesellschaftlichen Interesse.

40 % der Waldbauern bzw. Waldbesitzer in Nordrhein-Westfalen haben Flächen unter 20 ha, sind also Kleinstwaldbesitzer, die mit dem Waldbestand aufgrund der geringen Größe kaum oder kein Geld verdienen. Diese Waldbesitzer benötigen nach den extremen Schäden durch die Trockenheit und die Borkenkäfer unsere Unterstützung.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand hier im Saal jemals ein Investment getätigt hat, dessen Return on Invest im besten Falle im Jahr 2120 erfolgt. Im Wald ist das aber so; dort sind die Perioden so lang. Nicht umsonst haben die Waldbauern mit ihrem generationsübergreifenden Wirtschaften den Begriff „Nachhaltigkeit“ geprägt und erfunden.

Die Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft sind aber aktuell so schlecht, dass wirtschaftlich nicht rentable oder unsichere Investitionen im Zweifel nicht getätigt werden, da viele nicht wissen, ob sie in zehn Jahren noch auf ihrer Scholle wirtschaften können.

Daher ist klar: Eigentum verpflichtet, aber in einer solchen Situation, bei so hohen Erwartungen der Gesellschaft an den Wald und wegen der vielen Auflagen bezüglich des Wirtschaftens im Wald benötigen die Waldbauern unsere Hilfe.

Wir, die NRW-Koalition und die gesamte Landesregierung, stellen uns daher dieser Herausforderung. Wir kümmern uns um die Zukunft des Waldes und der Waldbesitzer, seitdem wir die Regierungsverantwortung hier in Nordrhein-Westfalen tragen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vor knapp einem Jahr haben wir daher bereits über einen Antrag der NRW-Koalition debattiert, mit dem wir die Bewältigung der Schäden durch Sturm, Dürre oder Borkenkäfer eingeleitet haben. Die SPD hat diesen Antrag damals abgelehnt; die Grünen haben sich immerhin enthalten.

Heute bringt die SPD einen Antrag ein, in dessen Forderungsteil zum großen Teil Maßnahmen aufgezählt werden, die ohnehin schon laufen, weil wir uns schon seit einem Jahr darum kümmern. Anscheinend möchte die SPD also nur ihr Gewissen beruhigen, weil sie den Waldbauern im letzten Jahr die Unterstützung versagt hat.

(Zuruf von Annette Watermann-Krass [SPD])

Zum Antrag der AfD: Auch viele Forderungen daraus sind bereits erfüllt. Natürlich muss der Schwerpunkt bei der Bekämpfung der Borkenkäferplage und der Wiederaufforstung liegen. Beides soll und muss gleichzeitig erfolgen.

Interessant ist aber: Der Antrag der AfD widerspricht sich an einigen Stellen fundamental. Die AfD lehnt im ersten Teil des Antrags Direkthilfen für Waldbauern ab, fordert aber später im Beschlussteil, dass diese unbürokratisch und schnell auszuzahlen sind.

Weiter schreibt die AfD, dass die Wiederaufforstung ein falscher Schwerpunkt sei, möchte aber später, dass sich das Land an den Kosten der Wiederaufforstung beteiligt.

(Andreas Keith [AfD]: Zum jetzigen Zeitpunkt!)

Die AfD hinkt also den Entscheidungen und den Ereignissen im Wald hinterher. Der Antrag ist kontraproduktiv, in sich widersprüchlich und daher abzulehnen.

Wir jedoch kümmern uns weiter beständig um den Wald. Die schwarz-gelbe Landesregierung hat ein umfassendes Programm für die Zukunft des Waldes beschlossen. Für die FDP ist klar, dass Waldschutz, Wiederaufforstung und eine nachhaltige Holzverwendung – auch Holz, das als Bauholz nutzbar ist – die Antworten auf den aktuellen Zustand des Waldes sind.

Wir stehen an der Seite der Waldbesitzer – egal, ob Kleinst‑ oder Großwaldbesitzer, denn sie alle leisten einen tollen Beitrag für den Natur‑ und Klimaschutz in Nordrhein-Westfalen. Wir wollen dabei unterstützen, in Nordrhein-Westfalen einen zukunftssicheren Wald zu erhalten und zu schaffen.

Mit unserem Entschließungsantrag werden wir die umfangreichen Maßnahmen fortführen, um unserem Wald, den Waldbauern und allen Betroffenen Perspektive und Zukunft zu geben. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Diekhoff. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Rüße.

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist zunächst sehr zu begrüßen, dass wir erneut über den Wald diskutieren.

Es ist richtig, heute den Blick nach vorne zu richten, denn bei den laufenden Maßnahmen, also dem, was gerade im AfD-Antrag angesprochen wird – Beseitigung von Schadholz usw. –, ist das meiste, was man tun kann, eingeleitet. Das begrüßen wir auch ausdrücklich. Es macht deshalb Sinn, wirklich nach vorn zu gucken.

Vielleicht liegt es daran, dass Sie so Ihre Probleme mit der Anerkennung des Klimawandels und damit haben, dass er sich in den letzten Jahren dramatisch verändert hat und wir darauf eben auch im Wald reagieren müssen.

Ich hätte mir übrigens auch gewünscht, Frau Ministerin, dass wir diese klimatischen Änderungen in der Schmallenberger Erklärung ausdrücklich ganz nach vorn gestellt hätten.

Ich finde, die sind so wesentlich, die verändern alles. Die verändern die Art und Weise, wie wir Landwirtschaft betreiben werden. Sie werden natürlich auch den Wald deutlich verändern. Darauf müssen wir auch reagieren. Stürme, Dürre, Hitze und letztlich der Borkenkäfer – alles hängt mit den klimatischen Veränderungen zusammen; daher sollten wir das auch alle zusammen nach vorn stellen.

Alle jetzt ergriffenen Maßnahmen sind Nachsorge, also: Wir reparieren. Es ist auch richtig, das zu tun; man muss darauf reagieren.

Aber unserer Fraktion ist es wichtig, den Blick weit nach vorn zu richten und noch einmal deutlich zu sagen: Wir könnten an der Stelle schon viel weiter sein, wenn wir alle zusammen die Warnungen, die wir gerade mit Blick auf den Wald seit 30 Jahren bekommen, ernst genommen hätten und die Aufgabe Klimaschutz – wir haben heute schon darüber diskutiert, wir haben immer wieder hier im Landtag darüber diskutiert – wirklich beherzt anpacken würden.

Das würde unserem Wald am allermeisten helfen und nicht das, was der Kollege von der FDP gesagt hat, nämlich sowas wie Aufforstung. Ich glaube, Aufforstung ist kein zentraler Punkt in der Frage, wie wir den Wald der Zukunft gestalten können.

Leider haben wir in den letzten 30 Jahren aber in puncto Klimaschutz mehr nach dem Motto gehandelt: Augen zu und durch. – Wir haben ihn nicht wahrhaben wollen. Manche Kollegen wollen ihn immer noch nicht wahrhaben. Aber es wäre gut gewesen, wenn wir früher gehandelt hätten.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Höne?

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Ja, immer.

Vizepräsident Oliver Keymis: Das ist sehr nett von Ihnen.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Er hat gar keine! – Markus Diekhoff [FDP]: Nein, nein, nein! Ich bin es!)

– Ah, Entschuldigung. Herr Diekhoff.

Markus Diekhoff*) (FDP): Ich sitze auf dem falschen Platz. – Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr Rüße.

Wiederaufforstung ist für Sie die falsche Idee. Welche Idee haben Sie dann, um die Schäden in der Dimension, wenn noch keine Naturverjüngung da ist, ohne Wiederaufforstung zu beheben?

Sie sprachen gerade von „falschen Baumarten“. Ich erinnere mich noch sehr gut, dass die Buche klimafest sein sollte und jahrelang von den Grünen propagiert wurde. Nun weist sie aber massive Schäden im nordrhein-westfälischen Wald auf.

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Kollege, für die Frage. – Ich habe mich auf den Begriff „Aufforstung“ bezogen. Unter Aufforstung verstehe ich eben das aktive Eingreifen in den Wald durch Anpflanzung. Man pflanzt kleine Setzlinge und bildet einen Wald heraus.

Fahren Sie mal in die ostdeutschen Länder. Die haben das richtig weit getrieben. Gucken Sie sich mal an, wie die aufgeforstet haben und was dort für Wälder zu Zeiten der DDR entstanden sind. Da ist alles komplett danebengegangen.

Das hat man hier nicht ganz so schlimm gemacht, aber wir haben gute Hinweise darauf, dass die Bäume, die durch Naturverjüngung wachsen …

Das können Sie vielleicht auch in Ihrem eigenen Garten feststellen, wenn Sie einen haben: Ein Baum, dessen Samen durch einen Vogel hingeworfen wurde oder weshalb auch immer dieses Pflänzchen keimt und wächst, ist deutlich stabiler gegenüber Dürre als ein Baum, den Sie einmal versetzen und in Ihrem Garten anpflanzen.

Ich gebe Ihnen recht: Wir werden nicht umhinkommen zu ergänzen, aber wenn Sie den Begriff „Aufforstung“ so nach vorn stellen, ist das aus meiner Sicht falsch.

Meiner Meinung nach muss unser Leitmotiv sein: Naturverjüngung da, wo immer möglich, und Anpflanzung da, wo ergänzungsweise nötig. – Das muss der Weg sein.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Neue Baumarten, die wir ausprobieren wollen, die vielleicht stressstabiler sind, können wir dann an der einen oder anderen Stelle mal als Drubbel anpflanzen, aber auch nicht flächig. Das muss der Weg der Zukunft sein. Wenn wir uns darauf einigen können, glaube ich, sind wir schon ein großes Stück weiter.

Ich will noch kurz auf Folgendes eingehen: Ich glaube, dass wir in der Vergangenheit erhebliche forstpolitische Fehlentscheidungen getroffen haben, die uns jetzt auf die Füße fallen, angefangen bei der Forstreform und dem aus meiner Sicht teilweisen Rückzug der Forstverwaltung aus der Fläche.

Ich bedaure immer noch sehr, dass wir das damals gemacht haben. Da ist der Förster ein Stück weit aus der Fläche rausgezogen worden. Es ist eigentlich auch nicht ausreichend, dass wir nur 300 haben, die tatsächlich in der Fläche für die Waldbäuerinnen und Waldbauern zur Verfügung stehen. Das ist ungünstig.

Auch ungünstig ist natürlich, dass wir in dieser Krise die Umstellung in der Förderung haben. Die Waldbauern haben andere Dinge zu tun, als sich jetzt schon auf ein neues Fördersystem einzustellen. Wir haben mehrfach angemahnt, das noch mal zu verschieben. Das tut die Landesregierung nicht. Das halten wir auch für falsch. Das würden wir uns anders wünschen.

Für uns ist auch ein wichtiger Punkt, dass der Antrag der Regierungsfraktionen letztlich nicht wirklich aufzeigt, wo der Weg hingehen soll. Aus unserer Sicht bleiben Sie mehr oder weniger im Nebulösen. Sie loben sich für das, was Sie schon in puncto Krisenbewältigung gemacht haben, aber beim Blick nach vorn fehlt aus unserer Sicht einiges.

Für uns drücken Sie sich um einen Punkt herum; das kann ich angesichts der Debatten, die wir darüber hatten, auch verstehen. Für uns ist der entscheidende Punkt die Lösung des Wald-Wild-Konfliktes: Wie kommen wir zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Wald und Wild?

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Ich verstehe ja, dass das für die CDU und für die FDP schwierig ist. Es hat ja Spaß gemacht, uns damit damals beim ökologischen Jagdgesetz zu treiben – vielleicht sogar wider besseres Wissen.

Jeder, der sich ernsthaft mit der Materie befasst hat, wusste, dass wir überhöhte Wildbestände haben und dass es richtig ist, diese Verbissgutachten einzuführen.

Trotzdem wurden sie damals ja massiv kritisiert: Das sei ja alles falsch. Wenn jemand viel Wild in seinem Wald haben wolle, sei das doch sein gutes Recht, wurde damals argumentiert. Jetzt fällt uns das auf die Füße.

(Unruhe)

Gerade habe ich die Antwort auf unsere Kleine Anfrage zu den Verbissgutachten bekommen. Es ist gut, wenn wir endlich einen Anfang machen. Setzt man das aber in Relation zu der Gesamtzahl der Jagdreviere, sind wir natürlich tatsächlich erst am Anfang.

Seit 2015 gibt es die Möglichkeit. Ich würde mir mehr Geschwindigkeit und die Konsequenz wünschen, dass wir bei den unteren Jagdbehörden tatsächlich auch nachhalten: Was tut ihr denn? Kommt es zu den Abschüssen? Passiert da was?

Nur so kommen wir tatsächlich voran und können die Naturverjüngung, die ich aus den eben genannten Grünen für richtig halte, durchsetzen.

Das ist der Punkt. Wir müssen die Jagd in ihrer dienenden Funktion für den Wald stärken und die Jägerinnen und Jäger fordern, dass sie diesen Job auch erfüllen, denn ansonsten ist alles andere, was wir tun, Makulatur.

Ich sage ganz deutlich: Ich habe keine Lust, dass wir Steuergelder in das Einzäunen von Anpflanzungen stecken, wo wir es andererseits durch ein vernünftiges Wald-Wild-Verhältnis schaffen könnten.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, Sie kommen zum Schluss.

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Ich komme zum Schluss; das ist ein so schönes Thema.

Vizepräsident Oliver Keymis: Das ist eines der vielen schönen Themen im Hohen Hause, selbstverständlich. Aber jetzt kommen Sie zum Schluss; Sie sind am Ende der Redezeit.

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Ich komme zum Schluss. – Hinsichtlich des Antrages der SPD möchte ich klar sagen, dass wir uns eine Überweisung gewünscht hätten, wir ihn aber mittragen. Die beiden anderen Anträge lehnen wir ab.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön. – Jetzt gibt es noch eine Kurzintervention. Sie können diese gerne von hier aus oder von Ihrem Platz aus abarbeiten, Herr Rüße.

Herr Keith hat die Kurzintervention für die AfD-Fraktion angemeldet. Er selbst möchte sie auch nutzen, wenn ich das richtig notiert habe. Bitte schön.

Andreas Keith (AfD): Vielen Dank, Herr Präsident, für die Erteilung des Wortes. – Sehr geehrter Herr Rüße, ich möchte es jetzt hier im Plenum vor so vielen Leuten sagen: Wir als AfD leugnen nicht, dass es Klimaveränderungen oder den sogenannten Klimawandel in Regionen auf dieser Erde gibt. Das leugnen wir nicht.

Das Einzige, was wir anzweifeln – und ich meine auch mit Recht –, ist der Anteil, der angeblich vom Menschen gemacht worden ist. Ich denke, das ist ein wichtiger Unterschied.

Wir bezweifeln vor allen Dingen, dass die Methoden bzw. die Maßnahmen, die jetzt ergriffen werden, diese Klimaveränderungen überhaupt beeinflussen können.

Ich denke, man sollte das differenziert betrachten und nicht immer generell sagen, wir würden irgendetwas wie den Klimawandel leugnen. Das ist nicht wahr; ich habe es eben dargelegt.

Das Zweite ist: Wenn Sie die Naturverjüngung möchten, sind Sie dann auch bereit, die extremen Kosten, die dadurch entstehen, zu übertragen und – wenn ja – an wen?

Sie können nicht mit Geräten in den Wald und eine Holzentnahme vornehmen, sondern Sie müssen eine Einzelentnahme machen. Sie müssen unter Umständen mit Pferden rücken, wie auch immer, je nach Bestand.

Bei einem Eichenbestand können Sie nicht mit einem Harvester in den Wald. Es entstehen immense Kosten. Wer soll die übernehmen? Auch darüber hätten wir im Ausschuss sprechen können.

Ich möchte es nicht versäumen, einmal das Waldbaukonzept zu loben; das ist wirklich gut. Ich denke, aufgrund meiner Ausbildung, Frau Heinen-Esser, da sind Sie überrascht, kann ich …

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Keith, die 1:30 sind um.

Andreas Keith (AfD): … als einer der wenigen beurteilen, dass es wirklich gut ist. Es ist wirklich schwer, etwas zu finden, wo man ansetzen kann. Und es enthält einen Zukunftsplan, den man entsprechend umsetzen kann.

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Keith. – Jetzt haben Sie, Herr Rüße, die Möglichkeit zu antworten. 1:30 Minuten für Sie.

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Keith, der Unterschied zwischen uns ist, dass Sie glauben, dass es diesen Klimawandel immer wieder gibt, dass er ein Auf und Ab in der Geschichte des Erdballs ist. Da sind wir grundsätzlich anderer Meinung.

An der Stelle verharmlosen Sie den Klimawandel. Man kann die Kurven – Beginn der Industrialisierung und Anstieg der Temperaturen – gut übereinanderlegen. Sie sind dermaßen deckungsgleich, dass es schon schizophren ist, wenn man den Zusammenhang leugnet.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ihre andere Frage bezog sich auf die Naturverjüngung und die Kosten. Ich meine, wenn man nach draußen geht und sich die Wälder ansieht, werden Sie feststellen, dass es mehr Wertverlust, eine größere Kapitalvernichtung eines über Jahrzehnte angewachsenen Waldes durch Nichtnaturverjüngung von Wäldern, die in der Form eben nicht diesem Klima standhalten, wie wir es jetzt haben, gar nicht geben kann.

Sie können dann locker mit dem Pferd im Wald rücken, wenn Sie dann noch etwas zu rücken haben, was bei vielen Waldbauern zurzeit nicht mehr der Fall ist.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Rüße. – Als nächste Rednerin darf ich die Ministerin ankündigen. Frau Heinen-Esser ist schon auf dem Weg, und Sie haben auch schon das Wort. Bitte schön.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur‑ und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, alle Redner haben es jetzt gesagt: Die Waldschäden in Nordrhein-Westfalen haben ein mittlerweile dramatisches Ausmaß erreicht.

Die neuen Erhebungen des Landesbetriebes Wald und Holz gehen davon aus, dass seit dem Jahr 2018 mittlerweile 13 Millionen Festmeter Fichtenholz vom Borkenkäfer befallen wurden, weitere 3 Millionen Festmeter wurden in den vergangenen Winterstürmen geworfen, sodass wir mittlerweile mit 16 Millionen Kubikmetern Fichtenholz die Dimension von Kyrill erreicht haben.

Das ist noch nicht das Ende, denn unsere Experten sagen uns voraus, dass der Höhepunkt der Borkenkäferkalamität erst im nächsten Jahr, und wenn wir Pech haben, erst im übernächsten Jahr da sein wird. Das heißt, dass wir noch vor mindestens zwei ganz schwierigen Jahren stehen.

Daher bin ich froh, dass wir heute wieder das Thema „Wald“ diskutieren. Ich wünsche mir, dass wir das Thema immer wieder auf die Agenda setzen, weil der Wald tatsächlich für uns entscheidend ist: entscheidend in seiner Klimafunktion, CO2-Senke, entscheidend in seiner Natur‑ und Erholungsfunktion.

Die Landesregierung ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Wir haben mit der Schmallenberger Erklärung ein umfangreiches Hilfsprogramm gestartet bzw. verabschiedet. Sicherlich kann man das, neudeutsch gesprochen, noch ein bisschen als Living Document betrachten und sich die Entwicklung ansehen. An der einen oder anderen Stelle muss tatsächlich noch nachgearbeitet werden.

Wir haben diese Schmallenberger Erklärung mit den betroffenen Verbänden und den Beteiligten besprochen, um zu überlegen, wie wir uns fokussieren: Wie konzentrieren wir uns darauf, jetzt tatsächlich dem Wald zu helfen?

Auch wenn wir jetzt nicht auf die Soforthilfemaßnahmen gucken müssen, steht die Soforthilfe angesichts der Situation erst einmal im Mittelpunkt. 9,2 Millionen Euro stellen wir zur Verfügung.

Wir erleben, dass die Mittel rasant abgerufen werden. Ich muss auch ein großes Lob an die Kolleginnen und Kollegen richten, die es geschafft haben, in einer kurzen Zeit die Anträge zu bewilligen.

Auch das ist etwas ganz Besonderes: Wir haben Anträge für fast 5,6 Millionen Euro bekommen. 5,4 Millionen Euro sind bereits bewilligt. Sie sehen, dass es hier keine langen Wartezeiten gibt, sondern dass schnell und zügig gehandelt wird.

Vizepräsident Oliver Keymis: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Rüße?

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur‑ und Verbraucherschutz: Ja, klar.

Vizepräsident Oliver Keymis: Das ist nett von Ihnen. – Bitte schön, Herr Rüße.

Norwich Rüße (GRÜNE): Vielen Dank; das finde ich auch nett. – Zur Schmallenberger Erklärung: Ich habe eben schon gesagt, dass mir da noch ein bisschen das Zukunftsgerichtete fehlt. Ich hätte es gerne konkreter.

Der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen hat heute deutlich erklärt, dass das Land Niedersachsen sein Forstpersonal deutlich aufstocken wird.

Ich wüsste gern, ob die Landesregierung das auch konkret für Nordrhein-Westfalen plant; schließlich brauchen wir einfach wieder mehr Förster in der Fläche, um diese Aufgabe zu bewältigen.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur‑ und Verbraucherschutz: Lieber Herr Rüße, ich war gerade dabei zu sagen, was geschehen ist, wo wir uns befinden und wohin wir gehen. Teile dessen, wohin wir in Zukunft gehen werden, finden Sie in der Schmallenberger Erklärung.

Forstpersonal ist bei uns auch ein Thema. Wir haben schon sehr früh 20 zusätzliche Förster eingestellt, als andere Bundesländer noch überhaupt nicht darüber nachgedacht haben, Personal einzustellen.

Diese 20 zusätzlichen Förster sollen dabei helfen, in der Krise zurechtzukommen. In den Haushaltsberatungen werden wir das Parlament noch um weiteres Personal bitten, damit wir in dieser Hinsicht gut aufgestellt sind.

Gestatten Sie mir jetzt aber auch den Ausblick auf die Zukunft. Herr Rüße, Sie haben gerade die Schmallenberger Erklärung angesprochen. Die Wiederaufforstung ist natürlich ein zentrales Thema, auch wenn wir uns noch in der Soforthilfe befinden. 100 Millionen Euro wollen wir in zehn Jahren zur Verfügung stellen, zweckgebunden, haushaltstechnisch jährlich flexibel und an den Bedarfen im Wald orientiert.

Die Förderung muss sich am Waldbaukonzept orientieren, denn wir müssen es schaffen, von monostrukturierten Wäldern wegzukommen, hin zu Mischwäldern, die klimaresilient sind und mit den veränderten Bedingungen, die hier auch schon angesprochen wurden, tatsächlich zurechtkommen werden.

Wir finden es gut, dass die Bundesregierung in einem großen Waldgipfel vor 14 Tagen das Thema mit allen Akteuren besprochen hat. Beide Ministerien – das Landwirtschaftsministerium und das Umweltministerium – waren daran beteiligt. Der Bund stellt auch Gelder zur Verfügung, und zwar um die 500 Millionen Euro, sodass es an Geld eigentlich nicht fehlen dürfte. In den nächsten Schritten muss es dann darum gehen, wie wir das Geld in den Wald hineinbekommen.

Klar ist aber auch – auch das ist unsere Philosophie –: Es liegt ein Stück weit auch in der Entscheidungsfreiheit der Waldbesitzerinnen und Waldbesitzer, wie sie ihre Wälder wiederaufforsten wollen. Geht es jedoch um die Förderung, gilt unser Waldbaukonzept.

Wir setzen uns bei der Bundesregierung auch dafür ein – dieses Thema möchte ich auch noch einmal ansprechen, nachdem wir heute schon über das Klima gesprochen haben –, dass die Klimaschutzleistungen des Waldes künftig honoriert und anerkannt werden sollen.

Die Wälder haben einen erheblichen Anteil an der CO2-Senke. Wenn wir das nicht auch anerkennen, machen wir einen Fehler, wenn wir über Klimapakete und Ähnliches sprechen. Wir setzen uns auch auf Initiative unseres Ministerpräsidenten dafür ein.

Zur Jagd ist schon einiges gesagt worden. Der SPD-Antrag fordert einen NRW-Pakt für den Wald. Auch daran, Frau Watermann-Krass, arbeiten wir zusammen mit den Waldbesitzerverbänden, die uns eine entsprechende Erklärung vorgelegt haben.

Ich lade Sie alle herzlich zum Waldgipfel am 11. November ein; dort können wir das alles diskutieren.

Zum Abschluss, Herr Präsident, möchte ich noch allen Försterinnen und Förstern danken, die draußen den Wald erweitern und im Moment wirklich eine Wahnsinnsarbeit leisten. – Danke schön.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Andreas Keith [AfD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin Heinen-Esser. Am Applaus des gesamten Hauses sehen Sie, dass sich das Hohe Haus diesem Dank ausdrücklich anschließt, und das ist auch richtig und gut so.

Weitere Rednerinnen und Redner haben wir nicht auf der Liste. Damit kommen wir zur Abstimmung.

Vor uns liegen drei Abstimmungen, und zwar erstens über den Antrag der Fraktion der AfD Drucksache 17/7534. Hier empfiehlt der Ältestenrat die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, Natur‑ und Verbraucherschutz. Die abschließende Beratung und Abstimmung erfolgen dort in öffentlicher Sitzung. Wer stimmt dieser Überweisung zu? – Gibt es dazu Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist beides nicht der Fall, was zu erwarten war. Damit ist einstimmig so überwiesen.

Zweitens stimmen wir ab über den Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/7542. Hier hat die antragstellende Fraktion der SPD direkte Abstimmung beantragt. Wir stimmen also über den Inhalt des Antrags ab. Wer sagt Ja zu dem Antrag? – SPD und Grüne. – Wer sagt Nein zu diesem Antrag? – CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe sagen Nein. Das ist eindeutig die Mehrheit. Gibt es Enthaltungen? – Die gibt es nicht. Das ändert auch nichts mehr an der Mehrheit. Damit ist der Antrag Drucksache 17/7542 mit breiter Mehrheit im Hohen Haus gegen die Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.

Drittens stimmen wir ab über den Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/7610. Wer stimmt dieser Entschließung zu? – CDU und FDP stimmen zu. Wer stimmt dagegen? – SPD und Grüne stimmen dagegen. Wer enthält sich? – Dann ist der Entschließungsantrag Drucksache 17/7610 bei Enthaltungen der AfD und des fraktionslosen Abgeordneten Herrn Neppe mit den Stimmen der Mehrheit angenommen.

Ich rufe auf:

9   Den Beamtinnen und Beamten in NRW die freiwillige Versicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ermöglichen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5057

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/7555

Die Aussprache ist eröffnet. Da der Antrag zu uns zurückkommt, spricht nun für die CDU-Fraktion Herr Kollege Klenner.

Jochen Klenner (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Menschen, die sofort vorsichtig, gewarnt und abwehrend sind, wenn auf einem Antrag das Wort „Krankenversicherung“ und das Logo der Grünen gleichzeitig auftauchen.

Nun haben Sie aber im Fachausschuss betont, Ihnen gehe es um das konkrete Thema und eben nicht um die Grundsatzfrage des dualen Krankensystems. – Ich hoffe, Sie stellen gleich keine Fragen, weil Sie gar nicht zuhören.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Wie bitte?)

– Ich hoffe, Sie stellen gleich keine Zwischenfragen. Ich spreche nämlich gerade zu Ihrem Antrag.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Ich höre doch zu!)

– Okay.

Sie haben, wie gesagt, im Fachausschuss betont, Ihnen gehe es um das konkrete Thema und nicht um die Grundsatzfrage des dualen Krankensystems.

Also nehme ich Sie beim Wort und nehme nicht die einfachste Antwort auf den Antrag. Die wäre nämlich eigentlich, dass die Forderung nach mehr Wahlfreiheit bei der Krankenkassenauswahl und die grüne Forderung nach einer Einheitsversicherung wohl kaum miteinander vereinbar sind. Das war ja auch die Befürchtung in so mancher Stellungnahme in der Anhörung.

(Monika Düker [GRÜNE]: Man kann ja schon mal anfangen!)

Ich gehe auf die inhaltlichen Punkte ein, und deshalb habe ich Ihnen geraten, zuzuhören. Ich habe eingangs gesagt, dass ich keine einfache Antwort wähle. In der Anhörung wurden nämlich genügend Bedenken geäußert: verfassungsrechtlich, zum Thema „Gerechtigkeit“ und auch zu finanziellen Folgen.

Uns eint vermutlich alle das Ziel, ein attraktiver Arbeitgeber sein zu wollen. Das Land steht im Wettbewerb um gute Fachkräfte. Weil das so ist, wollen wir für unsere Beschäftigten da sein, fair und angemessen bezahlen, sie und ihre Familien absichern. Das gilt natürlich auch im Krankheitsfall.

Das Ganze ist nicht nur eine reine Absichtserklärung, sondern verfassungsrechtlich klar festgelegt. Wesentlich ist dabei das Alimentationsprinzip: die Verpflichtung des Staats, den angemessenen Lebensunterhalt der Beamten auch im Krankheitsfall sicherzustellen. Dazu hat Professor Thüsing eindeutig festgestellt: Verfassungsrechtlich gibt es keinen Grund, dies zu ändern.

Der Verpflichtung, für Beamte zu sorgen, müssen wir auch selbst nachkommen und dürfen diese nicht auf Dritte übertragen. Das ist ein Teil der juristischen Bedenken, die ebenfalls zu Ihrem Antrag geäußert wurden.

(Martin Börschel [SPD]: Herr Thüsing hat ja oft recht, aber nicht immer!)

– Er hat meistens recht.

Vor einem Flickenteppich in Deutschland warnten in der Anhörung selbst die gesetzlichen Krankenkassen und der Verband der Ersatzkrankenkassen. Eine uneinheitliche Situation würde den Wechsel zwischen Arbeitgebern in unterschiedlichen Bundesländern erschweren oder sogar ganz und gar unmöglich machen.

Lassen Sie mich noch auf das Stichwort „Gerechtigkeit“ eingehen. Sie greifen in Ihrem Antrag nur einen Teil der Beamtenversorgung auf. Hauptzielgruppe sind offenbar Beamte mit niedrigem Einkommen und vielen Kindern. Zur Wahrheit gehört aber, dass Beamte mit Familien und Kindern schon heute gefördert werden, nämlich durch bestehende Familienzuschläge im Beamtenrecht.

Deshalb ist es falsch, jetzt einzelne Punkte herauszugreifen. Sollten Sie der Auffassung sein, dass die Beihilfe nicht ausreichend ist, können Sie auch im System für Abhilfe sorgen und brauchen keinen kompletten Systemwechsel zu vollziehen.

Finanzielle Vorteile für eine Teilgruppe, zum Beispiel durch kostenlose Mitversicherung der Kinder, haben in unserem Solidarsystem ganz sicher nicht die oberste Priorität. Außerdem würde das auch nicht zu einer Stärkung der gesetzlichen Krankenversicherung führen.

Wir wollen eine gute Gesundheitsversorgung für alle unsere Beamten. Dafür ist gesorgt. Wie wir die Attraktivität als Arbeitgeber stärken, sollten wir selbstverständlich immer überlegen. Da kann ich Ihnen aber sagen, dass junge Familien offenbar moderner sind, als Sie es ihnen unterstellen. Es geht sicherlich nicht nur ums Geld. Ich denke, allein an der Frage der Krankenversicherung wird wohl keine Bewerbung scheitern oder zurückgezogen.

Unter dem Strich bleibt ein System, das sich bewährt hat, das gut ist und das für eine gute Gesundheitsversorgung sorgt. Ihre Anregungen werfen viel mehr Fragen, als sie Antworten geben. Deshalb können wir dem Antrag heute nicht zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP – Stefan Zimkeit [SPD]: Alle, die jetzt geklatscht haben, sind bei einer privaten Krankenversicherung, wetten wir?)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Klenner. – Jetzt spricht für die SPD-Fraktion Frau Kollegin Weng.

Christina Weng (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Freiwillig in der GKV versicherte Beamtinnen und Beamte sind aktuell deutlich benachteiligt. Sie werden finanziell dafür bestraft, dass sie sich an der solidarischen Krankenversicherung beteiligen. Betroffen sind vor allem Versicherte mit Kindern, in Teilzeit oder mit chronischen Erkrankungen.

Diese Ungerechtigkeit würde eine faire Beihilferegelung für diese Fälle beseitigen – eine unzweifelhafte Verbesserung für die Betroffenen und damit eine Regelung, die einem fürsorglichen Dienstherrn sehr gut zu Gesicht stehen würde.

(Beifall von der SPD und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Die aktuell bestehende Wahlmöglichkeit zu Beginn der Laufbahn ist praktisch eine Wahlpflicht. Dabei ist dieser Weg aufgrund der gravierenden finanziellen Benachteiligung im Falle einer Entscheidung für die GKV in den allermeisten Fällen keine realistische Option. Hier für vergleichbare Bedingungen zwischen PKV und GKV zu sorgen, wäre nicht nur für die Betroffenen positiv, sondern auch der aus den Reihen der FDP immer wieder beschworene Wettbewerb wäre damit doch erst ernsthaft möglich.

(Beifall von der SPD und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Warum fürchten Sie diesen Wettbewerb jetzt auf einmal?

Wie schwach die Argumente für eine Ablehnung sind, sieht man auch daran, dass hier erneut die Nebelkerze der Bürgerversicherung gezündet wurde.

(Susanne Schneider [FDP]: Darum geht es Ihnen doch!)

Eine Versicherung, die auf Landesebene gar nicht eingeführt werden kann, soll sich also hinter der Schaffung einer Wahlmöglichkeit für mündige Beamtinnen und Beamte verstecken. Dieses rumpelige Argumentationsmuster sollte Ihnen eigentlich peinlich sein. Aber da Sie inhaltlich schwach gegen eine Verbesserung der Situation für die Betroffenen aufgestellt sind, muss wohl diese Scheindebatte herhalten.

Die Einführung in Hamburg hat gezeigt, dass eine echte Nachfrage nach dieser Option besteht. Aus der Anhörung wissen wir, dass in etwas mehr als einem Jahr 1.300 Beamtinnen und Beamte das pauschale Beihilfesystem und die GKV gewählt haben.

Der Sachverständige Olaf Schwede vom DGB hat folgendes Fazit gezogen:

„Die Einführung der pauschalen Beihilfe in Hamburg hat also vielen Menschen genützt und niemandem geschadet.“

(Monika Düker [GRÜNE]: Genau!)

Die Fraktionen von CDU, FDP und AfD wollen diesen schadlosen Nutzen für die vielen offensichtlich nicht. Ich finde, das ist eine vertane Chance. Wir Sozialdemokraten stehen für sozialen Fortschritt und werden dem Antrag gerne zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Weng. – Jetzt spricht Frau Schneider für die FDP-Fraktion.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Unter sozialem Fortschritt verstehen die Freien Demokraten hier im Hause etwas anderes. Es ist doch offensichtlich, was Rot und Grün erreichen wollen, wenn sie die Versicherung von Beamten in der GKV fördern wollen. Sie sehen darin den entscheidenden Baustein, der das bewährte duale System der Krankenversicherungen zum Einsturz bringen könnte.

(Monika Düker [GRÜNE]: Bewährt? Wo hat sich das denn bewährt?)

Da können Sie hier noch so oft von Wahlfreiheit reden. Ihre ideologisch motivierten Absichten haben die Protagonisten der

(Monika Düker [GRÜNE]: Wo hat sich das denn bewährt?)

sogenannten Bürgerversicherung, wie Karl Lauterbach, doch schon längst verdeutlicht.

(Beifall von der FDP und Dr. Martin Vincentz [AfD] – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Wir setzen hingegen auf den Erhalt des dualen Systems mit dem Wettbewerb von gesetzlichen Krankenkassen und privaten Versicherungsunternehmen. Damit haben wir den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland eine qualitativ hochwertige und flächendeckende Versorgung mit Gesundheitsleistungen gesichert. Es gibt keinen Anlass, dieses bewährte System infrage zu stellen.

(Beifall von der FDP)

Die private Krankenversicherung ist dabei die treibende Kraft für Innovationen. Sie übernimmt eine Vorreiterrolle bei der Kostenübernahme. Ein Beispiel ist die Positronen-Emissions-Tomografie-CT, die erst nach mehr als 15 Jahren in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen aufgenommen wurde. Nur durch diesen Systemwettbewerb zwischen GKV und PKV muss sich die gesetzliche Krankenversicherung überhaupt mit der Einführung von Innovationen beschäftigen.

Schauen wir hingegen in andere europäische Staaten, zum Beispiel nach Großbritannien oder in die nordischen Länder, so stellen wir fest, dass dort staatliche Gesundheitssysteme mit langen Wartezeiten für fast alle Patienten, teilweise hohen Zuzahlungen und Rationierungen sowie Einschränkungen der freien Arztwahl verbunden sind. Gerade für Beamte ist die Kombination aus individueller Beihilfe und einer privaten Restkostenabsicherung in der Regel mit höheren Leistungsansprüchen bei geringeren Beiträgen verbunden.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Dies ist somit vorteilhaft gegenüber einer Absicherung in der GKV. Die Einführung einer pauschalen Beihilfe würde diese in sich stimmige Kombination aufweichen.

Eine pauschale Beihilfe würde auch eine Reihe von bisher ungeklärten rechtlichen Fragen aufwerfen. Insbesondere die Übertragung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn auf einen Dritten wie die GKV ist umstritten und würde dem Delegationsverbot widersprechen. Es lässt sich auch das Risiko nicht ausschließen, dass sich Beamte trotz eigentlich unwiderruflicher Wahl des GKV-Zuschusses später wieder in die individuelle Beihilfe zurückklagen. Darüber hinaus würde eine pauschale Beihilfe über Jahrzehnte zu erheblichen finanziellen Belastungen für das Land Nordrhein-Westfalen führen.

Wir haben in der Anhörung erfahren, dass bis zum 57. Lebensjahr die Ausgaben der Beihilfe unter dem durchschnittlichen Arbeitgeberanteil liegen würden. So wären einerseits weiterhin Ausgaben der individuellen Beihilfe für bisher in der PKV versicherte Beamte und Versorgungsempfänger zu leisten. Andererseits würden zusätzliche hohe Aufwendungen für neu eingestellte Beamte entstehen, die den GKV-Zuschuss wählen. Das mag für einen Stadtstaat wie Hamburg schon nicht einfach sein, für ein Land wie Nordrhein-Westfalen wäre es ein unkalkulierbares Risiko.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Außerdem vergessen die Befürworter dieses Antrags oder auch der Bürgerversicherung die Beschäftigten in der Versicherungswirtschaft. Nordrhein-Westfalen ist ein „PKV-Land“. Ich frage mich, werte Kolleginnen und Kollegen: Was haben Ihnen diese Unternehmen eigentlich getan, die Tag für Tag ihre Steuern bezahlen, die Zehntausende Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, in Dortmund, in Wuppertal, in Köln, in Münster? Was haben Ihnen die Mitarbeiter dieser Unternehmen getan, die durch solche ideologiegetriebenen Anträge Sorgen um ihren Arbeitsplatz und um ihr Einkommen haben? Ich verstehe es nicht.

(Beifall von der FDP)

Die FDP-Landtagsfraktion und auch die NRW-Koalition treten für Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen, für medizinische Innovationen und für eine gute Versorgung ein. Wir treten ein für den Erhalt des dualen Systems der Krankenversicherung und gegen den Weg in eine Einheitsversicherung unter dem Titel „Bürgerversicherung“. Darum wollen wir den individuellen Anspruch auf Beihilfe für alle Beamten erhalten und nicht durch eine pauschalierte Beihilfe als GKV-Zuschuss ersetzen. Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Schneider. – Jetzt spricht für die grüne Fraktion Herr Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Schneider, wenn jemand hier ideologiegetrieben vorgepredigt hat, dann waren es ja wohl Sie von der FDP-Fraktion.

(Beifall von den GRÜNEN)

Unfassbar, wie Sie Gerechtigkeit gegen die Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst ausgespielt haben! Das ist irre und knüpft unmittelbar an das an, was die Verbandsvertreter des Deutschen Beamtenbundes hier vorgetragen haben, die nicht umhinkamen – Herr Kollege Klenner hat es angedeutet –, zu sagen, dass die pauschale Beihilfe der Einstieg in die gescheiterte Einheitsversicherung in Deutschland sei.

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Herr Witzel, jetzt müssen Sie klatschen. Die Ideologie der FDP schlägt voll durch. Was Sie hier machen,

(Ralf Witzel [FDP]: Was wollen Sie denn?)

ist nicht nur fachlich falsch, sondern angesichts dessen, was im Land Nordrhein-Westfalen zu diskutieren ist, krass.

Ich sage Ihnen Folgendes: Wir haben Zehntausende von Lehrerinnen und Lehrern und viele andere in Nordrhein-Westfalen, die gesetzlich versichert sind. Diese müssen nicht nur den einfachen, sondern den doppelten Beitrag zahlen. Ist das gerecht? Hat das etwas mit Ideologie zu tun? Sie machen auf dem Rücken der gesetzlich Versicherten Sparpolitik. Das macht der Finanzminister, und das sagen Sie auch noch unverhohlen hier in den Raum hinein! Das ist eine Zweiklassengesellschaft unter den Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wenn wir uns schon mit dem ideologischen Überbau, mit dem Marktradikalismus der FDP hier im Landtag auseinandersetzen müssen,

(Lachen von der FDP – Ralf Witzel [FDP]: Lächerlich!)

dann sage ich Folgendes: Wir haben in Deutschland eine gesetzliche Krankenversicherung und eine private Krankenversicherung. In der privaten Krankenversicherung sind 50 % der Versicherten aus dem öffentlichen Dienst. Was das mit Marktwirtschaft zu tun hat, dass der Staat einen Zweig der Krankenversicherung selbst aufpumpt und am Leben hält, das müssen Sie mir einmal erklären, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Ralf Witzel [FDP] – Gegenruf von Monika Düker [GRÜNE])

– Geht es noch gut?

Ich komme zum Anliegen des Antrags. In diesem Antrag geht es nicht darum, die gesetzliche Beihilfe abzuschaffen. Vielleicht lesen Sie ihn sich einmal durch, wenn Sie aus Ihrem Ideologiewahn heraus sind.

In dem Antrag geht es darum, dass hier Kolleginnen und Kollegen zwangsweise, Herr Finanzminister, gesetzlich versichert sind – Frau Kollegin Weng hat zu Recht darauf hingewiesen –, weil Sie nämlich mit Ihren Bestimmungen dafür sorgen, dass sie nicht in die Beihilfe hineinkönnen und sich deswegen auch nicht privat versichern können, nämlich zum Beispiel chronisch Kranke im öffentlichen Dienst. Denen sagen Sie von der FDP auch noch offen ins Gesicht: Ja, wir wollen das. Wir wollen, dass Menschen, die chronisch krank sind, einen doppelten Beitrag zahlen. – Das hat mit gesetzlicher Krankenversicherung versus PKV nichts zu tun, das ist schlicht ungerecht, auch hier im Landesdienst, Herr Kollege Witzel.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Deswegen schlagen wir mit diesem Antrag vor – ähnlich hat es auch die SPD vorgeschlagen –, eine pauschale Beihilfe einzuführen. Das heißt nichts anderes, Herr Finanzminister, als dass das Land die Hälfte des Beitrags übernimmt, so wie es bei mir und vielen anderen, die gesetzlich versichert sind, auch gemacht wird. Dafür steht dieser Antrag.

Dieser Antrag will nicht die Bürgerversicherung einführen, er will auch nicht die Beihilfe abschaffen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich würde das für gerechter halten, weil ich es für das fairere System in Deutschland halte. Aber darüber reden wir nicht.

Die FDP suggeriert mit ihrer Ablehnung – und die CDU macht das auch noch mit –: Es ist gerecht, dass es im Landesdienst zwei Klassen gibt – nicht nur in Deutschland; es sind sogar schon vier Klassen –, damit Sie ihre Ideologie durchsetzen können. Das ist die Wahrheit.

(Ralf Witzel [FDP]: Oh!)

– Herr Witzel, setzen Sie sich doch mal mit den Zehntausenden von Lehrerinnen und Lehrern offen auseinander. Ich kann dieses „Oh!“ auch gerne weiterschicken.

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Wir haben beantragt, dass diese Ungleichbehandlung abgeschafft wird. Der Finanzminister und auch die Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzministerium haben zugesagt, dass sie da Abhilfe schaffen wollen. Ich habe bis heute nichts gehört.

Wenn das das Sparprogramm dieser Landesregierung ist, Zehntausenden von Leuten weiterhin zu sagen, man würde gern, könne aber nicht, und die FDP froh darüber ist, dass es das gibt, dann ist das auch ein Ergebnis dieser Beratung. Wir von den Grünen und die Kolleginnen und Kollegen der SPD, die dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, sehen das genauso.

Wir halten das für ungerecht. Wir sind der Meinung, dass man da Abhilfe schaffen sollte. Sie könnten das hier darstellen, aber Ihnen ist es wichtiger, auf dem Rücken der Beamtinnen und Beamten auszutragen, was Sie am Ende des Tages gern ideologisch haben wollen.

(Ralf Witzel [FDP]: Oh!)

Das machen wir nicht mit.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Ralf Witzel [FDP]: Warum lehnt dann die FPD Ihren Antrag ab? Können Sie auch nichts dazu sagen?)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Mostofizadeh. – Nun spricht für die AfD-Fraktion Herr Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich, wenn es darum ginge, die Arbeitsverhältnisse von Beamten insbesondere der unteren Einkommensgruppen zu verbessern, gäbe es viele Ideen, an die man anknüpfen könnte, und gäbe es auch viele Dinge, über die wir diskutieren könnten. Nur, Anträge diskutiert man selten im luftleeren Raum, sondern es gibt immer schon eine Geschichte, die hinter einem Antrag steht.

(Zuruf von Christina Weng [SPD])

Wenn ein Antrag aus dem linken Spektrum des Plenums kommt, dann liegt es tatsächlich sehr nahe, wie es heute schon oft gesagt wurde, dass er eigentlich heißen müsste: die Einheitsversicherung durch die Hintertür.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Gut, dass Sie sich mit der FDP einig sind!)

Die Einheitsversicherung wollen Sie im Prinzip erzwingen, indem Sie die Verhältnisse für Privatversicherte immer weiter verschlechtern, und zwar seit Jahren sukzessive verschlechtern.

Wenn wir uns anschauen, dass die Privatversicherten zu rund 50 % aus Beamten bestehen bzw. Beamte rund 50 % der Privatversicherten ausmachen, dann sehen wir doch ganz genau, dass Sie eine der Hauptlebensadern der privaten Krankenversicherung angreifen wollen. Sie haben hier relativ unumwunden zugegeben, dass es genau das ist, was Sie viel besser fänden. Dann ist es nur folgerichtig, wenn davon gesprochen wird, dass das eines der Dinge sein könnte, die bezweckt werden bzw. die am Ende durchgesetzt werden.

Ich sage Ihnen etwas dazu, weil beide Fraktionen, SPD und Grüne, den Begriff „Gerechtigkeit“ wieder in den Mund genommen und damit verquickt haben, ob jemand die Möglichkeit hat, in die gesetzliche Krankenversicherung zu wechseln.

Wenn die Bürgerversicherung wirklich in der Art und Weise, wie Sie es mehrfach vorgeschlagen haben, kommen sollte, dann würde der Beitrag der gesetzlichen Krankenversicherung allein durch die besseren Leistungen, die durch die private Krankenkasse gezahlt werden, gleich um mehrere Punkte steigen. Wer wäre denn von einem steigenden Beitrag am ehesten betroffen? Es sind doch gerade die unteren Einkommensschichten in der gesetzlichen Krankenversicherung, die genau von dieser Abschaffung der PKV benachteiligt werden würden.

Diesen Antrag, die Bürgerversicherung durch die Hintertür, werden wir ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Jetzt spricht für die Landesregierung Herr Minister Lienenkämper.

Lutz Lienenkämper, Minister der Finanzen: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Kollege Mostofizadeh, ich habe streckenweise während Ihres Vortrags geglaubt, das sei ein Beitrag zu einer energiepolitischen Debatte, weil Sie offenkundig eine neue Form der erneuerbaren Energien erfunden haben, die phonetische Energie. Danach wäre vieles umwandlungsfähig gewesen. Damit hätten wir den ganzen Tag über Licht machen können.

(Zuruf von Christina Weng [SPD])

Ich will versuchen, etwas zu versachlichen.

Der Dienstherr muss aufgrund seiner Fürsorgepflicht Vorkehrungen dafür treffen, dass der amtsangemessene Lebensunterhalt der Beamtinnen und Beamten und ihrer Angehörigen auch bei Eintritt besonderer finanzieller Belastungen durch Krankheitsfälle nicht gefährdet wird.

Dieser Fürsorgepflicht kommt das Land selbstverständlich nach, und zwar durch die Gewährung individueller Beihilfeleistungen in Krankheits-, Pflege- und Todesfällen. Die Beihilfe ist eine Hilfeleistung, die die zumutbare Eigenvorsorge der Beamtinnen und Beamten sinnvoll ergänzt. Es gibt für uns überhaupt keinen Grund, von diesem bewährten und sinnvollen System abzuweichen.

Alle Beamtinnen und alle Beamten haben die Möglichkeit, durch den Abschluss einer Krankenversicherung zu bezahlbaren Konditionen für den Krankheitsfall vorzusorgen. Aufgrund der Beihilfeleistungen der Dienstherren müssen sich Beihilfeberechtigte nur für den nicht durch die Beihilfe gedeckten Teil der Krankenvorsorge absichern.

Die meisten privaten Krankenversicherungen bieten deshalb auf Beihilfeberechtigte zugeschnittene Restkostentarife an. Die sind auch für Beamtinnen und Beamte sowie für Anwärterinnen und Anwärter mit Vorerkrankungen und Behinderungen finanzierbar, da die Krankenversicherungswirtschaft eine erleichterte Aufnahme in die private Krankenversicherung anbietet. Hier wurden Anfang des Jahres noch einmal wesentliche Verbesserungen durch die private Krankenversicherung eingeführt.

In der gesetzlichen Krankenversicherung hingegen gibt es keine solchen Restkostentarife für Beihilfeberechtigte. Diese wären auch nur mit ganz erheblichen bürokratischen Hindernissen einzuführen.

Gegen die Einführung einer pauschalen Beihilfe spricht zudem, dass die Dienstherren durch die Zahlung eines Arbeitgeberzuschusses zur Krankenvollversicherung der Beamtinnen und Beamten finanziell zusätzlich belastet würden. Neben der pauschalen Beihilfe im Krankheitsfall müssten für den Personenkreis Beihilfeleistungen im Reha- und Pflegefall aufrechterhalten werden.

Ein wesentliches Element bei der Finanzierung des bestehenden Beihilfesystems liegt darin, dass die Beamtinnen und Beamten im ersten Jahrzehnt ihres Berufseinstiegs nur relativ geringe Beihilfeausgaben verursachen. Erst mit zunehmendem Alter nehmen auch die Beihilfekosten zu. Kurzum: Die pauschale Beihilfe wäre deutlich teurer.

Weiterhin wäre ein Wechsel zu einem anderen Dienstherrn ohne pauschale Beihilfe aufgrund der einmal und unumkehrbar getroffenen Entscheidung zugunsten einer Pauschalierung nicht mehr ohne Weiteres möglich. Auch hätte das Land bei der Einführung einer pauschalen Beihilfe keinen Einfluss mehr auf die konkrete Ausgestaltung der Leistungen im Krankheitsfall.

Zu Recht steht daher die Frage im Raum, ob dies mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums vereinbar und damit verfassungsgemäß ist. Das hat auch die Anhörung ergeben und ist hier mehrfach zutreffend ausgeführt worden.

Ganz unabhängig von den erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken steht die Landesregierung zu ihrem klaren politischen Bekenntnis zum Berufsbeamtentum mit seinen hergebrachten Grundsätzen. Dies dient insbesondere dem Ziel, den öffentlichen Dienst so attraktiv wie möglich zu halten und die hervorragenden Leistungen der Beamtinnen und Beamten anzuerkennen.

Maßnahmen, die diese Grundsätze infrage stellen – und dazu zählt die pauschale Beihilfe –, lehnt die Landesregierung ab. Wir sollten das Berufsbeamtentum nicht durch massive Eingriffe in die Struktur von Besoldung, Versorgung und Beihilfe infrage stellen, sondern alles tun, um die gute Arbeit unserer Beamtinnen und Beamten in der bewährten Struktur und in den bewährten Systemen weiterhin wertzuschätzen und zu unterstützen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich bitte um Ablehnung dieses Antrages.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Lienenkämper. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales empfiehlt mit der Drucksache 17/7555, den Antrag abzulehnen. Der Antrag selbst hat die Drucksachennummer 17/5057. Wir stimmen jetzt über den Inhalt des Antrags ab. Wer stimmt dem Antrag zu? – SPD und Grüne stimmen zu. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP, AfD und Herr Neppe, fraktionslos, stimmen dagegen. Gibt es Enthaltungen? – Die sehe ich nicht. Damit ist der Antrag Drucksache 17/5057 mit breiter Mehrheit im Hohen Haus abgelehnt.

Ich rufe auf:

10 Unsere Kinder vor den Fehlern der Vergangenheit schützen – einen neuen Conterganskandal verhindern!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/7537

Die Aussprache ist eröffnet. Für die AfD-Fraktion hat Herr Dr. Vincentz jetzt das Wort. Bitte schön.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich denke, jedem ist der Conterganskandal noch ein Begriff. Contergan wurde vom 1. Oktober 1957 bis zum 1. August 1961 rezeptfrei insbesondere eben auch an Schwangere mit Nausea im ersten Schwangerschaftstrimenon vertrieben. Durch eine fatale Kette an Ereignissen kam es in der Folge weltweit zu etwa 5.000 bis 10.000 geschädigten Kindern. In meiner eigenen Heimatstadt Krefeld waren es in diesem Zeitraum alleine 13. Viele weitere Föten wurden durch die Nebenwirkungen schwer geschädigt, sodass es schon vorzeitig zum Fruchttod kam. Die Zahl kann nicht einmal genau benannt werden.

Aber wie konnte es damals dazu kommen? – Contergan wurde – so wie es heute auch üblich ist – in ersten Testreihen im Tierversuch getestet. Hier zeigten sich keine konkreten Nebenwirkungen. Auch bei viel höheren Dosierungen als beim Menschen üblich und selbst bei Menschenaffen, die – der Name sagt es schon – uns sehr ähnlich sind, zeigten sich keine eindeutigen Nebenwirkungsmuster. Das Medikament wurde danach an gesunden Erwachsenen getestet. Auch hier zeigten sich zunächst keine Nebenwirkungen.

Erst in der Praxis, erst beim Einsatz in der Bevölkerung, erst als die positive Wirkung bei Schwangerschaftsübelkeit beobachtet wurde und man das bis dato vergleichsweise nebenwirkungsarme Medikament schwangeren Frauen in der kritischen embryonalen Phase der Organe und Genese verabreichte, kam es zur Katastrophe.

Dann dauerte es noch einmal ein volles Jahr, bis damals erste Gynäkologen und Kinderärzte Alarm schlugen. Eine Systematik wurde durch die fehlende Vernetzung sowohl der Kliniken als auch der Wissenschaft öffentlich erst viel zu spät erkannt. So wurden zunächst Atomtests für die Zunahme an Fehlbildungen verantwortlich gemacht.

Erst viel zu spät wurde damals erkannt, dass die besondere Chemie des Contergans – ein Racemat, also ein Medikament, das es quasi in zwei spiegelverkehrten Formen zueinander gibt – schwere Fehlbildungen beim Embryo auslöst.

Und heute? Könnte so etwas heute wieder entstehen? Die Antwort ist so unbefriedigend wie aufrüttelnd: leider ja.

Natürlich hat es infolge des Skandals einige wichtige Schritte bei der Medikamentensicherheit gegeben. Doch auch heute finden die Medikamententests logischerweise im Versuch an Tieren und an gesunden Erwachsenen statt und oft nur in relativ kleinen Testgrößen. Der eigentliche Test auf Nebenwirkungen ist damals wie heute erst die Praxis. Auch heute könnte dies potenziell immer wieder zur Katastrophe führen, wenn nicht schnell genug das ganze Bild erfasst wird, wenn nicht schnell genug erkannt wird, ob es eben die Wirkung von etwas draußen ist oder die Nebenwirkung eines Medikamentes.

So wundert es nicht, dass vor einigen Wochen die Meldungen von Handfehlbildungen bei Kindern in mehreren Kliniken die Alarmglocken schrillen ließen. Mittlerweile hat sich zum Glück herausgestellt, dass es sich dabei nur um eine rein statistische Häufung handelte. Und dennoch: Ein schlechtes Gefühl bleibt.

Denn NRW bleibt bei der Erkennung einer Systematik hinter Fehlbildungen relativ schlecht aufgestellt. Andere Länder sind dort viel weiter.

Wie also gehen wir damit um? – Die Medikamente vorher hinreichend testen. Gut. Aber auch hier möchte doch wohl keiner das Risiko eingehen, neue Medikamente an schwangeren Frauen zu testen. Die Lösung kann nur sein, schnell, frühzeitig und zielgenau über mögliche Nebenwirkungen informiert zu werden. Dies erfolgt Stand heute in NRW nicht systematisch und nicht flächendeckend.

Ärzte sind dazu angehalten, Nebenwirkungen zu melden. Ja, aber im täglichen Betrieb geht das oft unter. In Krankenhäusern werden die Fehlbildungen kodiert erfasst, aber die Daten liegen dann lediglich bei jedem einzelnen Krankenhaus vor. Ein Überblick über Muster, Verbreitung und Zusammenhänge existiert heute wie damals, 1961, als sich die städtischen Krankenhäuser in Krefeld fragten, warum und wodurch es zu diesen Fehlbildungen gekommen ist, nicht.

Lediglich die Ärztekammern erfassen die Daten, allerdings aus einem völlig anderen Grund, nämlich zur Qualitätssicherung.

Es ist an der Zeit, endlich tätig zu werden, wie es Fachleute schon lange fordern.

Regionale Daten werden aktuell nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums lediglich für das Fehlbildungsregister Sachsen-Anhalt und das Geburtenregister Mainzer Modell erhoben. Daten aus beiden regionalen Registern würden an das europäische Register EUROCAT gemeldet, das seit 1979 besteht und derzeit Daten aus 23 europäischen Ländern erhält.

Ebenso spricht sich die sächsische Gesundheitsministerin Klepsch für ein sogenanntes Fehlbildungsregister aus. Ob ein solches Register tatsächlich der richtige Weg ist, sei dahingestellt, insbesondere vor dem Hintergrund von Deutschlands düsterer Vergangenheit in diesem Bereich. So kann ein Thema nur besonders sensibel diskutiert werden.

Was aber heute schon auf der Hand liegt und was wir den Müttern und Kindern eindeutig schuldig sind, ist, dass wir zumindest prüfen, inwieweit wir uns als Land an dem europäischen Register EUROCAT beteiligen können, Daten zuführen und so zu einem starken europäischen Frühwarnsystem bei Nebenwirkungen beitragen können. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Preuß.

Peter Preuß (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Vincentz, ich hatte schon Probleme, zusammenzubekommen, welche Anhaltspunkte Sie eigentlich haben, aus diesen statistischen Häufungen, wie Sie sie zu Recht genannt haben, nun zum Conterganfall zu kommen. Da gibt es sicherlich keinen Zusammenhang, jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür.

Welche Bedeutung soll dann eine Datenbank haben? – Das vorausgeschickt.

Meine Damen und Herren, wird ein Kind geboren, ist es für die Eltern, die Großeltern und die Geschwister ein großes Glück und Anlass zu großer Freude. Dass es diesem kleinen Menschen gut geht, steht mit Beginn der Schwangerschaft an erster Stelle. „Hauptsache gesund“ ist eine gängige Formulierung und ein gebräuchlicher Satz.

Schon während der Schwangerschaft, während der Geburt und danach tun wir alles medizintechnisch und menschlich Mögliche, damit es Mutter und Kind gut geht. Alle diagnostischen Möglichkeiten und die Vorsorge können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schwangerschaft und Geburt immer noch natürliche Vorgänge sind.

Kommt ein Kind krank, mit einer Fehlbildung oder einer Behinderung auf die Welt, ist dies für die ganze Familie zunächst eine emotional schwierige Situation, der man sich aber auch stellt und die die Liebe zum Kind nicht trübt.

Aber natürlich fragt man sich: Warum ist das geschehen? Viele Einflüsse spielen eine Rolle: genetische Disposition, unbewusstes Verhalten zu Beginn oder während der Schwangerschaft – insbesondere, wenn diese vielleicht noch nicht bekannt ist; zum Beispiel können beim Konsum von Nikotin oder Alkohol oder der Einnahme von Medikamenten, je nach Schwangerschaftsphase, wohl nur kleine Mengen ausreichen, um dem Kind zu schaden –, aber auch Mangelerscheinungen, Umwelteinflüsse und vieles, vieles mehr.

Die Meldungen vom September dieses Jahres über Fehlbildungen von Händen haben uns sicher alle alarmiert. Das Gesundheitsministerium hat aber umgehend richtig reagiert und eine landesweite Abfrage bei Krankenhäusern mit geburtshilflichen Abteilungen gestartet. Der Bericht zeigt, dass keine offensichtlichen Trends oder regionalen Häufungen festgestellt wurden. Ich denke, dass das erst einmal eine beruhigende Nachricht ist.

Es gibt keinen Hinweis darauf – ich darf das noch einmal sagen –, dass die Unterstellung aus dem Antrag, für die Fehlbildungen könnten Einflüsse wie im Conterganfall verantwortlich sein, zutrifft.

Ob angesichts der unterschiedlichsten Einflüsse auf die Schwangerschaft eine Datenbank weiterhilft, lasse ich einmal dahingestellt. Die Erfassung von Daten an sich ist lediglich Bürokratie.

Aber es geht hier um die Frage, welche Daten sinnvollerweise erfasst, verknüpft und ausgewertet werden. Welche Daten sind eigentlich relevant? Das sind die entscheidenden Fragen, die im Zusammenhang mit einer Datenbank zu stellen sind. Und: Ist die Teilnahme an einer internationalen Datenbank …

Präsident André Kuper: Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus den Reihen der AfD von Herrn Dr. Vincentz.

Peter Preuß (CDU): Ja, bitte schön.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank, Herr Präsident. – Vielen Dank, Herr Preuß, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.

Wie stehen Sie dazu, dass die sächsische Gesundheitsministerin Barbara Klepsch, CDU, diesen Zusammenhang ähnlich sah wie ich und in ihrem Bundesland forderte, dass man sich Gedanken darüber machen solle, ob ein Fehlbildungsregister sinnvoll sei?

Peter Preuß (CDU): Mir ist jetzt nicht bekannt, welchen Zusammenhang Sie meinen. Wenn Sie den Zusammenhang mit dem Conterganfall meinen, dann glaube ich nicht, dass diese Äußerungen gefallen sind. Es gibt überhaupt keine Anhaltspunkte dafür. Ich würde uns auch dringend raten, hier keinen Zusammenhang herzustellen.

Gleichwohl müssen wir natürlich die Meldungen, die wir im September bekommen haben, durchaus ernst nehmen und fragen, wie wir damit umgehen.

Ich stelle zunächst einmal fest, dass die Landesregierung richtig gehandelt hat und eine Abfrage gestartet hat, die ein bestimmtes Ergebnis hatte. Davon müssen wir ausgehen.

Ich habe dann ausgeführt – ich wiederhole das kurz –, dass wir, wenn wir über eine Datenbank bzw. ein Register sprechen, zunächst festlegen müssen, welche Daten überhaupt relevant sind. Welche Daten müssen erfasst werden?

Dann stellt sich im Übrigen die Frage – Sie sprachen es auch in Ihrer Rede an –, ob es, wenn man eine solche Lösung präferiert, nicht zielführender wäre, diese auf Landes- und Bundesebene anzustreben, anstatt eine internationale Datenbank anzudenken, auf die man zwar zugreifen könnte, die aber die regionalen Besonderheiten nicht berücksichtigt.

Es stellt sich auch die Frage, ob und inwieweit eine Analyse überhaupt möglich ist, wenn man diese Daten hat, und welche Aussagen und Schlussfolgerungen daraus eigentlich gezogen werden können.

Ganz grundsätzlich und ethisch nicht einfach zu beantworten ist die Frage, was eine Fehlbildung ist. Sollen Kinder in Zukunft auf Abweichungen von der Norm untersucht werden?

Wir nehmen die Kinder so, wie sie sind. Ob gesund oder krank oder mit einer Behinderung: Sie alle gehören gleichwertig zu unserer Gesellschaft.

Wir wollen uns aber gerne – was wir ja ohnehin tun – im Ausschuss mit dem Thema befassen. Die AfD kann allerdings nicht damit rechnen, dass wir dem Antrag mit dieser Überschrift zustimmen, solange es für diese Unterstellung keine Anhaltspunkte gibt. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD-Fraktion spricht nun die Abgeordnete Frau Gebhard.

Heike Gebhard (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Als Mutter von vier Kindern weiß ich, dass die Geburt eines Kindes ein höchst emotionales Erlebnis ist. Wenn man den ersten Schrei seines Kindes hört und es erstmalig in den Arm nehmen kann, spürt man, welches Wunder einem gerade widerfahren ist.

Ich will nicht verhehlen, dass auch ich, wenn ich nach dem ersten Glücksgefühl damit konfrontiert gewesen wäre, dass mein Kind ein fehlgebildetes Händchen oder andere Fehlbildungen hätte, sicherlich geschockt gewesen wäre. Auch ich hätte mir dann sicherlich die Frage nach dem Warum gestellt.

Als diese Fälle in den vergangenen Monaten aufgetreten sind und darüber berichtet worden ist, habe ich mir darum sehr aufmerksam angeschaut, wie betroffene Eltern sich dazu geäußert haben. Das mündete eigentlich grundsätzlich in zwei Aspekte.

Zum einen stellt sich die Frage nach dem Warum. Insbesondere die Mütter fragen sich natürlich, welches Medikament sie wann eingenommen haben und ob es einen Zusammenhang geben kann. Sie fragen sich also, ob sie auch ein Stück weit selbst schuld sind. Diese wichtige Frage haben sie für sich zu klären.

Zum anderen fragen sie sich natürlich, ob ihr Kind, wenn sie die ganze Zeit über woanders gewohnt hätten, auch so auf die Welt gekommen wäre oder ob es diese Fehlbildungen dann nicht hätte. Das ist sicherlich auch eine Frage.

Um diese Fragen haben wir uns in der Tat – dafür ist Politik zuständig – zu kümmern, um die Sicherheit herzustellen, dass solche Aspekte keinen Einfluss darauf haben.

Aber die Eltern machen gleichzeitig noch einen zweiten Punkt deutlich, nämlich, wie wichtig es ihnen ist, ihr Kind so anzunehmen, wie es ist, es genauso zu lieben wie jedes Kind, das nicht fehlgebildet ist, und erwarten, dass dies auch die Gesellschaft so tut und dass ihr Kind nicht diskriminiert wird. Genau diesen Aspekt haben wir meines Erachtens mit zu berücksichtigen.

Was die Ursachenforschung anbetrifft, will ich zuallererst einmal Folgendes sagen: Dass das Sankt Marien-Hospital in meiner Heimatstadt wegen dieser Auffälligkeit, dass plötzlich in einem Krankenhaus drei Fälle in relativ kurzer Zeit auftreten, von sich aus in die Offensive gegangen ist und gesagt hat: „Dem müssen wir auf den Grund gehen“, ist aller Ehren wert. Aber es gibt niemandem das Recht, da Panik zu machen und einen Zusammenhang zu Contergan herzustellen. Das ist unverantwortlich.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Das Ministerium hat entsprechende Schritte eingeleitet – Herr Kollege Preuß hat das schon gesagt –, und wir haben im Ausschuss bereits einen ersten Bericht erhalten. Wir haben die Zusage, dass das Landeszentrum Gesundheit die Auswertung noch weiter vornehmen wird.

Allerdings gibt es bisher keine Anhaltspunkte dafür, dass neben natürlichen Vorfällen, wie ich es einmal formulieren will, Medikamente oder Umwelteinflüsse eine Rolle spielen. Aber man muss der Sache natürlich auf den Grund gehen.

Ein kleiner Schlenker – Sie haben es selbst in Ihrem Antrag erwähnt –: Ja, in Frankreich gab es auch Fälle. Ja, in Frankreich hat die Gesundheitsministerin 20 Experten beauftragt, eine Untersuchung in Angriff zu nehmen. Ja, es liegt ein Bericht von 256 Seiten vor. Auch dort gibt es, obwohl es sich auf drei Departements konzentriert, bisher keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang, obwohl – anders als bei uns in Nordrhein-Westfalen – auf alle drei Departements zutrifft, dass sämtliche Fälle nur in ländlichen Regionen passiert sind. Es gibt aber den Hinweis, dass man in einem Departement weiterforschen will.

Kommen wir also zu der Frage: Macht es Sinn, ein entsprechendes Melderegister einzuführen? Damit sind wir bei der konkreten Frage: Wie soll es denn aussehen? Was sollen Bestandteile sein, wenn es die Funktion erfüllen soll – das will ich jetzt einmal positiv unterstellen –, ein Frühwarnregister zu sein, damit man gegebenenfalls externe Faktoren ausschließen kann? Das heißt, dass wir ein standardisiertes Register brauchen. Nach meiner Ansicht sollten wir dies dann in der Tat auch bundesweit abstimmen.

Aber eines will ich nicht unerwähnt lassen – das ist mir und uns als Sozialdemokraten enorm wichtig –: Es kommt für uns kein Register infrage, das behinderte Menschen namentlich erfasst und auflistet. Die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen müssen auf jeden Fall gewahrt bleiben. Nach allem, was wir aus unserer Geschichte wissen, darf es niemals ein solches Verzeichnis geben. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie die Verfolgung von Menschen mit Beeinträchtigungen in der NS-Zeit abgelaufen wäre, wenn der Naziadministration ein solches Verzeichnis zur Verfügung gestanden hätte.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Genauso ist es!)

Wir alle wissen: Auch ohne ein solches Verzeichnis gab es mehr als 100.000 Opfer.

Präsident André Kuper: Die Redezeit.

Heike Gebhard (SPD): Ich komme zum Schluss. – In Zeiten, in denen es längst wieder politische Kräfte in unserem Land gibt, die sich anmaßen, zu entscheiden, welche Personengruppen bei uns in Deutschland welche Rechte oder überhaupt eine Existenzberechtigung haben, sollten wir mit solchen Instrumenten sehr vorsichtig umgehen. – Danke schön.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion erteile ich der Abgeordneten Frau Schneider das Wort.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als im Sankt Marien-Hospital in Gelsenkirchen in den letzten Monaten drei Babys ohne voll ausgebildete Hände zur Welt gekommen sind, hat uns das wohl alle aufhorchen lassen und uns alle etwas verstört. Eine ungewöhnliche Häufung von Fehlbildungen bei Neugeborenen erfordert sicher, nach möglichen Ursachen zu fragen.

Ich halte es aber für unverantwortlich und geradezu skandalös, diesen Vorfall, diese drei Missbildungen, mit dem unglaublichen Conterganskandal in der Vergangenheit gleichzusetzen und Vergleiche zu ziehen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Die Landesregierung in NRW hat gehandelt. Es war wichtig, dass die Landespolitik das unverzüglich, nachdem die Fälle in Gelsenkirchen bekannt wurden, getan hat.

Die von Minister Laumann gestartete Abfrage bei den Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen hat inzwischen ergeben, dass keine offensichtlichen Trends und regionalen Häufungen erkennbar sind. Die Zahlen der Rückmeldungen zu Fehlbildungen der Hände liegen in einer Größenordnung von deutlich unter 0,1 % aller Geburten. Es besteht also kein Grund, Panik zu verbreiten.

Allerdings bedarf es einer weitergehenden Analyse zu den Häufigkeiten solcher Fehlbildungen unter Einbeziehung von Daten aus der Qualitätssicherung von Kliniken und Ärztekammern. Das Ministerium hat bereits das Landeszentrum Gesundheit damit beauftragt.

Wir haben also schon sofort die richtigen Schritte in die Wege geleitet und brauchen dazu keine gesonderte Aufforderung.

Wir werden auch mit anderen Ländern und dem Bund abstimmen, wie die Erfassung von Fehlbildungen verbessert werden könnte und welche Fragestellungen hinsichtlich der Erforschung von Ursachen angezeigt wären.

Ein im Antrag aufgeworfener Zusammenhang zwischen Medikamenten und Fehlbildungen ist jedoch rein spekulativ. Andere Faktoren wie Infektionen, Alkohol- und Nikotinkonsum oder persönliche Lebensumstände können ebenso Ursache von Fehlbildungen sein. Es ist der falsche Weg, hier ohne wissenschaftliche Erkenntnisse Ängste zu schüren.

Je nach Fragestellung könnte auch ein europaweiter Vergleich von Daten über die Organisation EUROCAT sinnvoll sein. Eine Beteiligung an EUROCAT liegt allerdings nicht in der Verantwortung des Landes, sondern der jeweiligen Klinik oder anderer Institutionen.

Das im Antrag geforderte Dokumentationssystem für Fehlbildungen besteht jedenfalls bereits durch die Meldung von Daten wie ICD-Codes im Rahmen der Qualitätssicherung.

Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe selbst drei kerngesunde Kinder und bin dem lieben Gott dafür unglaublich dankbar. Jede Mutter, die ein missgebildetes Kind zur Welt bringt, jedes Elternteil, hat mein größtes Mitgefühl.

Trotz allem warne ich hier ganz extrem – vielleicht auch, weil dieser Antrag von der AfD kommt –

(Zurufe von der AfD)

vor Panikmache. Ich warne vor Hetze, und ich warne vor überzogenen Reaktionen.

Trotzdem werden wir diesen Antrag im Ausschuss beraten. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion der Grünen spricht nun der Abgeordnete Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich im Wesentlichen dem anschließen, was Frau Schneider vorgetragen hat.

Einen Satz, den die Kollegin vorgetragen hat, finde ich sehr wichtig. Er lautete: Ohne wissenschaftliche Erkenntnisse sollte man keine Ängste schüren.

(Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Jetzt könnte man sehr lange darüber diskutieren, inwiefern die AfD trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse viele Sachen nicht annimmt. Das will ich alles gar nicht tun. Ich schaue mir einfach nur an, was hier passiert ist.

Es gab – scheinbar, muss man korrekterweise sagen – eine Häufung von Fehlbildungen. Dem ist das Ministerium sofort nachgegangen. Dazu musste es auch gar nicht aufgefordert werden.

Wir sind kurzfristig als Ausschuss im Rahmen einer Obleuterunde sehr ausführlich informiert worden. Vielen Dank dafür an Staatssekretär Heller und an Sie, Herr Minister. Man hat auch wirklich analysiert, wie oft das im Land vorgekommen ist.

Natürlich ist es schrecklich, wenn eine Missbildung vorliegt. Aber allein, dass in einem Antrag als erste Feststellung des Landtages steht, dass jedes Leben schützenswert ist, macht zumindest mich schon einmal stutzig, warum man denn so etwas aufschreibt.

Zurück zur Sachverhaltsbetrachtung: Das Ministerium hat die Fälle ausgewertet und das mit den Vorjahren und auch mit anderen Regionen verglichen. Dabei hat man keine Anhaltspunkte gefunden. Trotzdem wurden alle Krankenhäuser aufgefordert, entsprechende Daten abzuliefern.

Gerade wir als Politiker und als Landtag haben ein hohes Interesse daran, dass im Ministerium möglichst viele Daten und Auswertungen vorliegen. Aber wir müssen natürlich auch darauf achten, dass wir die Ressourcen, die wir haben …

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Vor allen Dingen will man es wissen!)

– Man will es wissen, Herr Minister; völlig richtig. Man will auch herausfinden, wie es dazu kam.

Aber deklinieren wir doch einfach einmal einen Fall durch. Es liegt eine Missbildung vor, die sehr klein sein mag. Dann wird das Krankenhaus aufgefordert, das weiter zu analysieren. Wenn man wirklich Daten haben will, die auch etwas bringen, müsste man ins Gespräch mit der Familie gehen und zur Vertiefung diverse Anamnesen machen.

Ich zum Beispiel würde dabei nicht mitspielen, wenn das keine tiefergehende Geschichte wäre. Dann muss man sich fragen: Welchen Wert hat das überhaupt noch?

Da stimme ich dem Kollegen Preuß zu, der am Anfang gesagt hat: Ja, wenn es vernünftige Anhaltspunkte gibt, sollte man dem nachgehen. Dann muss man auch überlegen, ob man ein Transparenzregister braucht. In diesem Fall sollte man sich aber bundesweit abstimmen, wie dieses Register auszusehen hat.

Ich kann mir das bei dem Sachverhalt, wie er hier vorliegt, nicht wirklich vorstellen. Wenn ich dazu weitere Erkenntnisse bekommen könnte, wäre ich gerne bereit, mich aufklären zu lassen. Aber nach dem, was uns jetzt vorliegt, ist das Vorgehen der Landesregierung nachvollziehbar. Ich kann das auch mittragen.

Bei anderen Geschehnissen mag man das anders beurteilen.

Präsident André Kuper: Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus den Reihen der AfD.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Nein, möchte ich nicht zulassen.

Präsident André Kuper: Okay.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Ich komme jetzt auch zum Schluss.

Alles in allem werden wir der Überweisung zustimmen. Vor einem möchte ich aber dringend warnen – da möchte ich mich der Kollegin anschließen –: Wer meint, mit Ängsten so spielen zu müssen, der muss das mit sich selber ausmachen.

(Helmut Seifen [AfD]: Das machen Sie doch seit 30 Jahren!)

Wir nutzen das nicht aus. Wir haben ja einen anderen Vorfall, bei dem es um eine Apotheke geht. Auch dort sind wichtige Fragen aufzuklären.

Ich kann nur allen raten: Wir haben die Aufgabe, der Landesregierung sehr systematisch auf die Finger zu gucken. Aber davor, aus Sachen etwas zu machen, an denen aus meiner Sicht nichts dran ist und bei denen auch das Handeln der Landesregierung nicht zu bemängeln ist, kann ich nur warnen.

Das muss man auch unterscheiden. Sonst ist man irgendwann nicht mehr ernst zu nehmen. Eine Opposition, die alle Fälle gleichmacht und alles gleich behandelt, macht sich am Ende des Tages lächerlich und ist auch von der Regierung nicht mehr ernst zu nehmen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Anstelle einer Zwischenfrage gibt es jetzt eine Kurzintervention aus den Reihen der AfD. Herr Dr. Vincentz hat das Wort. Bitte.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank für die Zulassung der Kurzintervention, Herr Präsident. – Herr Kollege Mostofizadeh, Sie haben sich am Ende Ihrer Rede darauf verstiegen, die Forderung nach einem solchen Register zu skandalisieren.

Ich möchte Sie kurz darauf hinweisen, dass Ihre eigene Fraktion im Landtag Thüringen am 17.09.2019 in einer Pressemitteilung Folgendes mitgeteilt hat:

„Um in Zukunft besser gewappnet zu sein, brauchen wir schnellstmöglich die Einführung eines … Fehlbildungsregisters, vor allem, um statistische Häufungen schneller erkennen zu können.“

Sie halten mir eine Forderung Ihrer eigenen grünen Landtagsfraktion in Thüringen vor.

(Nic Peter Vogel [AfD]: Hört! Hört!)

Gleichzeitig kam mehrfach von Kollegen die Frage auf, wie ein solches Fehlbildungsregister tatsächlich ausgestaltet sein kann. Da kann ich Ihnen eine ganz einfache Antwort geben: EUROCAT macht das schon längst erfolgreich. EUROCAT macht das in mehreren Ländern und erfasst insgesamt 25 % aller Geburten in Europa.

Warum müssen wir jetzt an dieser Stelle in Nordrhein-Westfalen und auch im Bund das Rad neu erfinden, wenn es schon längst funktioniert, wenn es schon längst von mehreren Ländern in der Europäischen Union getestet und für gut befunden wurde? Warum schließen wir uns da nicht einfach an?

Und warum, Herr Mostofizadeh, um alles in der Welt skandalisieren Sie eine Forderung, die nicht nur berechtigt ist und nicht nur wichtig ist, sondern auch schon längst von verschiedenen europäischen Ländern genau in der Art und Weise, wie ich es gefordert habe, umgesetzt wird?

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Jetzt hat Herr Kollege Mostofizadeh die Gelegenheit zur Reaktion auf diese Kurzintervention. Er hat das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie zu erwarten war, hat die AfD nichts Neues vorzutragen gehabt,

(Lachen von der AfD)

sondern nur etwas wiederholt. Im Gegensatz zu dem, was Sie mir unterstellen, bin ich des Lesens durchaus mächtig. Ich habe das, was Sie hier vorgetragen haben, schon im Antrag gelesen.

Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Ich habe meinen Standpunkt ausführlich dargelegt. Ich halte es nach wie vor nicht für nötig, über die Stöckchen zu springen, die eine völkische Partei mir hier hinhält.

(Zurufe von der AfD: Ganz schwach! – Blamabel!)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die Landesregierung erteile ich nun Herrn Minister Laumann das Wort.

(Zurufe von der AfD – Gegenruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Halten Sie sich mal zurück! – Gegenrufe von der AfD – Glocke)

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass es keinen Zweifel daran gibt – das haben Sie auch alle gesagt –, dass die Landesregierung die Meldungen über Fehlbildungen bei Neugeborenen in Gelsenkirchen, die wir bekommen haben, sehr ernst genommen hat und nicht darüber hinweggegangen ist.

Der zweite Punkt ist, dass wir – was macht man in einer solchen Situation? – erst einmal eine Abfrage bei allen Krankenhäusern durchgeführt haben – was ist in den vielen Kreißsälen unseres Landes letzten Endes passiert? –, um überhaupt einen Überblick zu bekommen, ob es hier ein neues Problem gibt oder ob wir uns in einer Situation befinden, die es schon immer mal gegeben hat.

Neben den Daten der Krankenhäuser wurden darüber hinaus auch die Daten der Qualitätssicherung der Ärztekammer abgefragt.

Die bereits vorliegenden Rückmeldungen der Krankenhäuser sind wegen der bewusst offen ausgestalteten Abfrage sehr umfassend und detailliert erfolgt.

Nach einer allerersten Sichtung der vorliegenden Daten ist festzustellen: Es sind keine offensichtlichen Trends und regionalen Häufigkeiten erkennbar. – Das ist ja erst einmal etwas beruhigend, finde ich.

Wir werden die Daten aber noch weiter von Fachleuten analysieren lassen. Um die Rückmeldungen der Krankenhäuser tiefgreifender aufzuschlüsseln und mit Daten aus anderen Erhebungssystemen der Qualitätssicherung, gegebenenfalls den Dokumentationssystemen der Krankenhäuser, abzugleichen, wird das MAGS eine ausführliche Analyse der vorliegenden Daten durch das Landeszentrum Gesundheit vornehmen lassen.

Dass wir darüber hinaus mit anderen Bundesländern und auch mit dem Bund im Austausch darüber stehen, ob und gegebenenfalls wie wir das mit einem Register machen oder ob wir es nicht machen, ist eine Selbstverständlichkeit.

Lassen Sie mich zum Schluss noch meine persönliche Meinung sagen.

Erst einmal sage ich hier ganz klar zu, dass wir uns auch im MAGS in den nächsten Tagen – Wochen brauchen wir dafür nicht – mit dem Thema „EUROCAT“ ernsthaft auseinandersetzen werden. Wir haben im Internet recherchiert. Wenn wir das im Ausschuss beraten, müssen wir da aber richtig sprachfähig sein: Wie schätzen wir das ein? Was wird da gemacht? Wie wird mit den Daten umgegangen?

(Helmut Seifen [AfD]: Sehr gut!)

Ich will Ihnen aber auch ein Zweites sagen. Wenn man als Minister einen solchen Fall hat, wird man natürlich nervös: Ist da wieder ein Umweltskandal passiert oder was auch immer? Dann denkt man auch: Verdammt, warum wissen wir eigentlich so wenig?

Wenn sich dann dieser erste Eindruck ein bisschen gelegt hat und man länger darüber nachdenkt, kommt man aber auch zu folgenden Fragen:

Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten ein Register über alle Fehlbildungen. Was nützt mir das Register, wenn ich nicht weiß, warum das so ist? Dann müssten Sie eine Befragung der Eltern durchführen: Hat es das in eurer Familie schon früher gegeben, in der Generation davor und in der Generation davor? Möchte ich, wenn ich aus einer Familie komme, in der es mal Fehlbildungen gegeben hat, das überhaupt sagen, oder möchte ich das eben nicht sagen? Das sind doch sehr individuelle Fragen.

Da habe ich mir gedacht: Sei ein bisschen vorsichtig mit einem solchen Register, weil ein solches Register nur dann Sinn macht, wenn man auch weiß, warum Fehlbildungen passiert sind. Deswegen bin ich ganz persönlich erst einmal auch ein bisschen vorsichtig damit, ein solches Register einzuführen.

Dann möchte ich Ihnen noch etwas Drittes sagen, was mir durch den Kopf geht. Ich möchte wirklich keiner beunruhigten Mutter jetzt irgendwie zu nahe treten. Aber ist wirklich jede kleine Fehlbildung sofort Gott weiß was für ein Malheur? Ist das wirklich so? Oder müssen wir nicht auch damit leben, dass Menschen nun einmal nicht designed sind und nicht vollkommen sind, sondern so sind, wie sie sind?

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Sollten wir das nicht auch normal finden? Ich sage Ihnen: Wenn ein abstehendes Ohr schon durchs Raster gefallen wäre, dann hätte sogar ich ein Problem gehabt.

(Heiterkeit)

Das wäre schade gewesen, finde ich.

(Heiterkeit)

Ich will Ihnen nur eines sagen: Man muss doch nicht alles zum Malheur machen. Wichtig ist, dass der Mensch nachher ein glückliches Leben führen und sich in unsere Gesellschaft einbringen kann. Dass wir ein bisschen unterschiedlich sind, macht aus meiner Sicht das menschliche Leben auch schön.

Deswegen sollte man bei solchen Fragen, wenn etwa ein kleiner Finger etwas anders ist ... Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich finde nicht, dass das ein Malheur ist. Kann man nicht etwas normaler damit umgehen? Dazu möchte ich nur als Karl-Josef Laumann anregen.

Als Landesregierung müssen wir natürlich immer ernst nehmen, dass wir solchen Fehlbildungen auf den Grund gehen: Könnte es zum Beispiel an Medikamenten liegen? Könnte es zum Beispiel an der Umweltproblematik liegen?

(Helmut Seifen [AfD]: Nur darum geht es!)

Das muss man sehr ernst nehmen, weil das dann auch abgestellt werden muss. Das muss man dann wissen.

Noch einmal: Es gibt, glaube ich, einfach Entscheidungen der Natur oder vielleicht sogar unseres Schöpfers, dass wir ein bisschen unterschiedlich sind. Deswegen tut es uns allen gut, auch in dieser Frage etwas mehr Gelassenheit an den Tag zu legen. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Ich schließe damit die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/7537 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend – sowie an den Ausschuss für Europa und Internationales. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Gibt es jemanden, der dagegen ist? – Gibt es jemanden, der sich enthalten möchte? – Dann ist diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

11 Gesetz zu dem Staatsvertrag über die Hochschulzulassung und zur Neufassung des Hochschulzulassungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/6538

Beschlussempfehlung und Bericht
des Hauptausschusses
Drucksache 17/7552

zweite Lesung

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der CDU dem Abgeordneten Hagemeier das Wort.

Daniel Hagemeier (CDU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Reform des Staatsvertrags über die Hochschulzulassung von 2008 wurde von den Ländern bereits im Jahre 2015 erarbeitet.

Dieser hatte im Wesentlichen zum Inhalt, das zentrale Vergabeverfahren in prozessualer und technischer Hinsicht in das technisch aktuelle Verfahren zur Koordinierung von Studienplätzen in den örtlich zulassungsbeschränkten Studiengängen zu integrieren, was aufgrund der technischen Überalterung des zentralen Vergabeverfahrens erforderlich geworden war.

Meine Damen und Herren, das Gesetz zu dem Staatsvertrag über die Hochschulzulassung und zur Neufassung des Hochschulzulassungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen ist notwendig, damit wir hier eine verfassungskonforme und moderne Neufassung beschließen – wie die anderen Bundesländer auch.

Die eingangs erwähnte Reform, die 2015 erarbeitet wurde, hat sich als Staatsvertrag der Länder über die gemeinsame Einrichtung für Hochschulzulassung vom 21. März 2016 noch vor Inkrafttreten aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung als überholt erwiesen wurde daher von fünf Bundesländern nicht mehr ratifiziert.

Der wesentliche Kritikpunkt des Bundesverfassungsgerichts war, dass die bisherigen Auswahlkriterien mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 Grundgesetz unvereinbar sind.

Übergangsweise war die Regel weiter anwendbar. Doch diese Frist für die Länder läuft Ende 2019 ab. Es besteht also in der Tat Handlungsbedarf.

Mit einem neuen Staatsvertrag, der bereits von den Regierungschefinnen und -chefs der Länder unterzeichnet wurde, wird den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Bedenken abgeholfen. Dieser Staatsvertrag bedarf der Zustimmung der Länder. Wir von der CDU-Landtagsfraktion – so viel darf ich vorwegnehmen – werden diese Zustimmung heute gerne geben.

Der Hauptausschuss hat sich in seiner Sitzung am 4. Juli und kurz nach der Sommerpause am 12. September in einer Expertenanhörung ausführlich mit dem Staatsvertrag auseinandergesetzt. Eine abschließende Beratung fand Ende September in einer gemeinsamen Sitzung von Haupt- und Wissenschaftsausschuss statt.

Hervorheben möchte ich an dieser exponierten Stelle im Plenum noch einmal die positiven Anmerkungen der Sachverständigen zum vorliegenden Gesetzentwurf. Insbesondere der Sachverständige Professor Dr. Holger Burckhart, Rektor der Universität Siegen und stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrats der Stiftung für Hochschulzulassung, sagte, dass die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen insbesondere den im Gesetzentwurf enthaltenen Spielraum für die Studienplatzvergabe begrüßen.

Konkreter: Der Staatsvertrag sieht an diversen Stellen für die Studienplatzvergabe im zentralen Verfahren einen gewissen Spielraum für landesgesetzliche Regelungen vor. Man könnte auch umgekehrt sagen: Dem Landesgesetzgeber obliegt hier eine Konkretisierungspflicht. Diesen Spielraum kleidet das neue Hochschulzulassungsgesetz aus, und zwar im Lichte der in Nordrhein-Westfalen stark gelebten Hochschulautonomie.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist gut. Wir werden ihm zustimmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich werbe um Ihre Unterstützung für das Gesetz zum Staatsvertrag über die Hochschulzulassung und zur Neufassung des Hochschulzulassungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen. Der federführende Hauptausschuss empfiehlt einstimmig, den Gesetzentwurf der Landesregierung – Drucksache 17/6538 – unverändert anzunehmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche allen einen schönen Abend nach dieser vorletzten Debatte des heutigen Plenartags. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD-Fraktion hat der Abgeordnete Bell das Wort.

Dietmar Bell (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der Kollege hat gerade sehr umfangreich die Geschichte dieses Gesetzesvorhabens dargestellt. Deshalb erspare ich mir an dieser Stelle Wiederholungen, um Sie nicht zu langweilen.

Ich will mich darauf beschränken, was aus der Sicht der SPD-Fraktion in der jetzigen Situation positiv ist, weil ich glaube, dass mit dieser Gesetzesvorlage vielen Aspekten Rechnung getragen worden ist, die in der Debatte in den vergangenen drei, vier Jahren durchaus kritisch zwischen den Ländern diskutiert worden sind.

An der Stelle will ich als Erstes hervorheben, dass es gut ist, dass mit dieser Gesetzesnovellierung – mit dem Staatsvertrag und dem dazugehörigen Gesetz auf Landesebene – jetzt endlich wieder Rechtssicherheit für die Studierenden und für die Hochschulen eintritt.

Wir hatten die Situation, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19.12.2017 für viele Studierwillige gerade in den Medizinbereichen die Frage der Wartezeit eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. An der Stelle schafft jetzt der Art. 18 des Staatsvertrags mit den Übergangsregelungen Klarheit. Ich glaube, dass es ist ein gutes Signal ist, dass die jungen Menschen in diesem Land jetzt wissen, unter welchen Rahmenbedingungen sie sich in der Perspektive ihren Studienwunsch erfüllen können.

Viele Anfragen, die wir Abgeordnete in den vergangenen 12 bis 18 Monaten zu diesen Fragen hatten bzw. haben, können wir jetzt, glaube ich, vor dem Hintergrund dieser Klarheit vernünftig behandeln.

Das Zweite, das wir positiv hervorheben wollen, ist, dass es im Rahmen der Länderverhandlungen gelungen ist, Begehren anderer Bundesländer abzuwehren, eine höhere verbindliche Abiturquote festzulegen. Wir hatten aus Bayern das Begehren, bis zu 60 % als Abiturquote festzulegen. Die Interessenlagen – das will ich einmal deutlich sagen – waren da zwischen den Ländern durchaus inhomogen. Es ging nicht nur immer nach A- und B-geführten Ländern.

Insoweit will ich es durchaus als Erfolg bewerten, dass jetzt mit der 30-%-Quote weiterhin die Möglichkeit besteht, Aspekte wie berufliche Vorqualifikationen sachgerecht zu berücksichtigen. Es war der SPD immer wichtig, dass für die Frage der Qualifikation im überwiegenden Maße nicht nur die Abiturnote herangezogen wird, sondern auch andere Aspekte sachgerecht berücksichtigt werden können.

Der dritte Punkt, den ich positiv hervorheben will, ist, dass der Gestaltungsspielraum für die Hochschulen zur Umsetzung dieser Punkte jetzt geschaffen worden ist und wir als Gesetzgeber hier im Parlament nicht den Hochschulen vorschreiben, wie die Auswahlkriterien gesetzt werden müssen, sondern Spielräume für die Hochschulen vorhanden sind, das sachgerecht umzusetzen.

Ich halte das für eine gute praktische Lösung, die meines Erachtens gute ortsnahe Lösungen auch für die Studiengänge, die mit einem örtlichen Numerus clausus versehen sind, schaffen wird, weil wir wissen, dass diese Debatten an den Hochschulen mit einer hohen Qualität geführt werden. Ich glaube, an der Stelle ist das eine gute, pragmatische Lösung.

Mein Dank gilt allen Beteiligten. Ich weiß, dass im Haus lange sehr engagiert an diesen Fragen gearbeitet worden ist. Wir hatten uns in den letzten Jahren immer wieder Zwischenberichte geben lassen. Mein Dank geht an das Ministerium auch für die transparente Berichterstattung im Ausschuss, die ich sonst durchaus auch einmal bemängele.

Insoweit ist das ein guter Tag für die Hochschulen und für die Studierenden in diesem Land. Wir werden beiden Gesetzesvorhaben zustimmen.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP hat nun die Abgeordnete Frau Freimuth das Wort.

Angela Freimuth (FDP): Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Man könnte fast sagen, es ist schon alles gesagt, aber noch nicht von mir. Deshalb möchte ich mich den Ausführungen der beiden Vorredner anschließen, die im Wesentlichen die Diskussion und die Argumentationen zusammengefasst haben, weshalb dieses Gesetz erforderlich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Numerus-clausus-Urteil aus dem Jahr 2017 nämlich klargestellt, dass wir hier einen Neuregelungsbedarf haben.

Ich bin auch davon überzeugt, dass wir mit diesem Gesetz das Hochschulzulassungswesen in Nordrhein-Westfalen nicht nur verfassungskonform reformieren, sondern zugleich auch modernisieren und damit eine gute Regelung schaffen.

Mein Dank geht an alle Beteiligten, an alle Fraktionen, auch an die Sachverständigen, die in der Anhörung sehr stark darauf hingewiesen haben, wie dankbar sie sind, wenn wir das zügig auf den Weg bringen, damit unsere Hochschulen und insbesondere die Studierenden Planungssicherheit bekommen.

Deswegen wird es nicht allzu überraschend sein, dass auch die FDP-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen. Einen herzlichen Dank an alle Beteiligten und einen schönen Abend! – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion der Grünen hat nun der Abgeordnete Bolte-Richter das Wort.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Hochschulzulassungsstaatsvertrag liegt jetzt vor. Er ist das Ergebnis der Verhandlungen der Bundesländer. Das Bundesverfassungsgericht hatte ihnen aufgetragen, bis zum Ende des Jahres die Zulassungskriterien insbesondere für die Medizinstudiengänge zu verändern. Das hatte auch Auswirkungen auf die Vergabe anderer Studiengänge. Jetzt liegt der Staatsvertrag vor und gewährt Planungssicherheit. Das ist aus unserer Sicht der zentrale Grund, diesem Staatsvertragsentwurf heute zuzustimmen.

Es besteht aber auch dringender zeitlicher Handlungsbedarf wegen der Bewerbungsverfahren in den Medizinstudiengängen. Das wurde uns in der Anhörung sehr deutlich mitgeteilt. Das Wintersemester hat gerade begonnen, das Sommersemester rückt näher. Die anstehenden Verfahren sind schon teils nach hinten verlegt worden. Wir werden das Verfahren nicht aufhalten, damit die notwendigen Verordnungen von Landes und Hochschulen rechtzeitig fertiggestellt werden können. Wir haben einen gewissen Druck, das haben die Beratungen gezeigt.

Wir müssen das Thema im Blick behalten und es auch in den nächsten Jahren eng begleiten. Die Vertreter der Hochschulen haben gesagt, dass es sinnvoll wäre, nach einiger Zeit, in einigen Jahren nachzujustieren, aber auch, dass der Staatsvertrag jetzt in Kraft treten muss. Deswegen werden wir mit dem nicht im Wege stehen.

Dem Land und den Hochschulen wurden in einigen Bereichen Spielräume ermöglicht. Inwiefern diese ausreichend genutzt wurden bzw. werden, muss eine tiefergehende Betrachtung unter Berücksichtigung der ersten Umsetzungsjahre zeigen. Dabei besteht immerhin die Gefahr – das haben wir auch in der Anhörung gehört –, dass das Land die gesetzten Vorgaben nicht ausreichend ausgestaltet hat. Darin liegen außerdem Möglichkeiten, gemeinsame Zielvorstellungen besser erreichen zu können.

Deshalb ist unsere Bitte an die Landesregierung, dass sie uns jährlich informiert, indem sie den Landtag über die Umsetzung und etwaige Probleme unterrichtet und uns drei Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes einen ausführlichen Bericht vorlegt, damit wir gegebenenfalls über Änderungen und Anpassungen sprechen können.

Für heute ist aber völlig klar, dass wir diesen Staatsvertrag gemeinsam auf den Weg bringen müssen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die AfD spricht nun der Abgeordnete Herr Seifen.

Helmut Seifen*) (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 19. Dezember 2017 entschieden, dass die Studienplatzvergabe im Studiengang Medizin bundesweit neu geregelt werden muss.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Grundsatzurteil detaillierte Vorgaben gemacht, die im vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt wurden.

Dabei wurden auf Vorschlag von Baden-Württemberg insbesondere die Spielräume des Landesgesetzgebers zur Ausgestaltung der hochschuleigenen Quoten anhand schulnotenunabhängiger Kriterien genutzt. Das haben wir heute schon gehört und auch im Ausschuss bereits bemerkt.

Die Frist, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Anpassung der Hochschulzulassung gesetzt hat, erfordert eine zügige Arbeit und eine nicht weniger zügige parlamentarische Beratung. Wir haben in der Anhörung gehört, dass die dortigen Experten darauf gedrungen haben, dass wir, wenn sie denn handlungsfähig bleiben wollen, zügig beschließen müssen.

Mit dem vorliegenden Ergebnis einer zukünftig zumindest gerechteren Mangelverwaltung der Studienplätze im Fach Medizin sind auch wir von der AfD im Großen und Ganzen zufrieden. Wir blicken daher gelassen auf eine mögliche Überprüfung des hier vorgelegten Gesetzeswerkes durch das oberste deutsche Gericht, falls es jemand anrufen sollte.

Der Zeitdruck, unter dem die Arbeiten am neuen Hochschulzulassungsgesetz vonstattengingen, sollte uns jedoch nicht davon abhalten, einen Blick auf die generellen Bedingungen und Umstände zu werfen, unter denen sich Abiturienten und Abiturientinnen heute für oder gegen ein Studium entscheiden.

Die Zahl der Studenten an Hochschulen in Deutschland nimmt seit Jahren zu. Wir werden mit mehr als 700.000 Studenten in Nordrhein-Westfalen voraussichtlich in diesem Jahr einen neuen Höchststand erreichen.

Angesichts der schlechten Betreuungsrelationen von Professoren und Studenten – übrigens der schlechtesten von allen Bundesländern –, der extrem angespannten Lage bei den zur Verfügung stehenden Wohnheimplätzen – dazu werden wir morgen früh noch etwas hören –, ganz zu schweigen von der allgemeinen Situation am Wohnungsmarkt für Studenten, dürfte der Zulauf nicht nur Grund zu uneingeschränktem Jubel sein.

Was aber auch zu der äußerst hohen Studienbereitschaft beiträgt, ist, dass Abiturienten sich heutzutage weitaus schwerer mit einer Entscheidung gegen ein Studium und für eine Ausbildung tun. Die Steigerung der Attraktivität einer betrieblichen Ausbildung auch für leistungsstarke Abiturienten wäre sicherlich ebenfalls eine Maßnahme, der angespannten Mangelverwaltung an Studienplätzen entgegenzutreten.

Wer gestern Nachmittag den bildungspolitischen Kongress der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf besucht hat, wird dort aus erster Hand erfahren haben, wie sehr die Betriebe unter dem Fachkräftemangel zu leiden haben. Das ist zum Teil höchst dramatisch. Sie haben nicht unter einem Mangel an Personen, die irgendwie mal in das Handwerk hineingehen, zu leiden, sondern unter einem Mangel an Personen, die mit all ihrer Intelligenz, Bereitschaft, Neugier und Schaffenskraft diesen Beruf – egal ob im Handwerk oder in der Verwaltung – ergreifen und dort ihre Leistung bringen.

Die Zulassungsprobleme, die mit diesem neuen Hochschulzugangsgesetz wenigstens zum Teil aus der Welt geschaffen werden sollen, sind – das müssen wir uns klarmachen – aus einer Fehlsteuerung im Bildungsbereich seit den 70er-Jahren entstanden. Das können wir jetzt nicht sofort zurückfahren. Ich kann mich aber noch sehr gut erinnern – ich habe ja schon ein paar mehr Jahre auf dem Buckel –, dass dem akademischen Bildungsweg gegenüber dem beruflichen Ausbildungsweg immer der Vorrang eingeräumt wurde.

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen hörte man immer nur Diskussionen über die gymnasiale Bildung, Universitäten usw. Die berufliche Ausbildung wurde durch die öffentlich-rechtlichen Medien und auch durch die Politiker, die damals in den Talkrunden saßen, nicht erwähnt.

Hier müssen wir dringend umsteuern und die Attraktivität einer beruflichen Ausbildung mit den anschließenden Aufstiegsmöglichkeiten in die Öffentlichkeit tragen; denn was den Verdienst angeht, liegen Personen, die diesen Weg der dualen Ausbildung gehen, später nicht weit hinter Akademikern zurück.

Das ist ein Ansatz, den wir als AfD stets nachdrücklich befürwortet haben, wenn er auch heute nicht im Zentrum der Beratung steht. Das ist mir schon klar. Aber dennoch hängen ja das neue Hochschulzugangsgesetz und die allgemeine Entwicklung an den Hochschulen sehr eng miteinander zusammen.

Wir stimmen natürlich dem Gesetzentwurf zu und bedanken uns bei allen Beteiligten für die unter hohem Druck geleistete Arbeit. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung erteile ich Ministerin Pfeiffer-Poensgen das Wort.

Isabel Pfeiffer-Poensgen*), Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der Landtag um Zustimmung zum Staatsvertrag gebeten, der auch weiterhin das zentrale Zulassungsverfahren – es ist doch noch mal wichtig, das so zu erwähnen – für die bundesweit zulassungsbeschränkten Studiengänge Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie regelt. Er bildet zudem die Rechtsgrundlage für die Koordinierung der örtlichen Studienplatzvergabe in den Ländern und den Hochschulen im Rahmen des sogenannten Dialogorientierten Serviceverfahrens, mit dem die Stiftung für Hochschulzulassung beauftragt ist.

In der Kultusministerkonferenz wurde über diesen neuen Staatsvertrag trotz der von Herrn Bell schon erwähnten unterschiedlichen Vorstellungen in den einzelnen Ländern am Ende eine schnelle Einigung aller Bundesländer erzielt. Das ist wirklich ein echter Erfolg, finde ich, und ein Zeichen für den dann doch gut funktionierenden Bildungsföderalismus, auch wenn der ja manchmal in der Kritik steht.

Das Verfassungsgericht hatte – das ist hier bereits erwähnt worden – im Dezember 2017 das Urteil gefällt und nur bis Ende dieses Jahres Zeit gegeben, um den bis dato geltenden und teilweise für verfassungswidrig erklärten Staatsvertrag von 2008 rechtskonform zu novellieren oder zu reformieren.

Bereits am 4. April 2019 wurde dieser neue Staatsvertrag von allen Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder unterzeichnet. Aber er kann natürlich nur und erst dann in Kraft treten, wenn alle 16 Bundesländer ihre Ratifikationsurkunden hier in der Staatskanzlei in Nordrhein-Westfalen hinterlegt haben.

Das vorliegende Gesetz wird das Hochschulzulassungswesen eben doch grundlegend und verfassungskonform reformieren. Die neuen Regelungen werden für Nordrhein-Westfalen auch den rechtlichen Rahmen für die Vergabe der Studienplätze in den örtlich zulassungsbeschränkten Studiengängen modernisieren. Deswegen hat es dann doch für sehr, sehr viele Hochschulen eine ziemliche Auswirkung.

Sowohl der Staatsvertrag als auch das Hochschulzulassungsgesetz tragen der Forderung nach einer chancenoffenen, eignungsorientierten Studienplatzvergabe durch eine Quoten- und Kriterienvielfalt Rechnung, wie es vom Verfassungsgericht gefordert wurde.

Den Bewerberinnen und Bewerbern wird die Möglichkeit eröffnet, über unterschiedliche Wege und entsprechend ihrer persönlichen Eignung einen Studienplatz im angestrebten Studiengang zu erhalten. Auswahlkriterien, die schulnotenunabhängig sind, enthalten aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen höheren Stellenwert.

Das Gesetz stärkt darüber hinaus an vielen Stellen die Hochschulautonomie. Den nordrhein-westfälischen Hochschulen, die in den gesamten Prozess der Reform des Gesetzes natürlich eng eingebunden waren, werden vielfältige Ausgestaltungsmöglichkeiten eingeräumt. Ihnen wird gewissermaßen ein gesetzliches Baukastensystem zur Verfügung gestellt, mit dem sie ihre Auswahlverfahren individuell nach Hochschule oder sogar nach Studiengang näher ausgestalten können. Zudem wird in den Orts-NC-Verfahren die Hauptquote für das hochschuleigene Auswahlverfahren erhöht.

Dass der Gesetzentwurf im federführend zuständigen Hauptausschuss nach einem eindeutig positiven Votum der Sachverständigenanhörung bereits fraktionsübergreifend auf eine breite Zustimmung getroffen ist – das konnte man auch den heutigen Redebeiträgen entnehmen –, freut die Landesregierung sehr.

Um den engen Zeitplan, der hier schon mehrfach erwähnt wurde, für die Ratifikation des Staatsvertrages und das Inkrafttreten sowohl bundesweit wie auch hier in NRW einhalten zu können, möchte ich den Landtag im Namen der Landesregierung sehr herzlich bitten, dem Gesetz im nun laufenden Verfahren zuzustimmen und damit das Verfahren positiv abzuschließen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Mir liegt keine weitere Wortmeldung mehr vor. Daher schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Hauptausschuss empfiehlt in Drucksache 17/7552, den Gesetzentwurf in der Drucksache 17/6538 unverändert anzunehmen. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf selbst und nicht über die Beschlussempfehlung. Wer möchte dem zustimmen? – Das sind alle Fraktionen und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in der Drucksache 17/6538 einstimmig angenommen und in zweiter Lesung verabschiedet.

Ich rufe auf:

12 Gesetz zur Änderung des Pensionsfondsgesetzes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/6887

Beschlussempfehlung und Bericht
des Haushalts- und Finanzausschusses
Drucksache 17/7551

zweite Lesung

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der CDU dem Abgeordneten Krückel das Wort.

Bernd Krückel*) (CDU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit den vorgesehenen Änderungen des Pensionsfondsgesetzes Nordrhein-Westfalen soll in erster Linie das Anlageuniversum für das Sondervermögen erweitert werden.

Im Aktienbereich sollen die Beschränkungen auf den Kauf von Papieren, die auf Euro-Währung lauten, aufgehoben werden. Im Rentenbereich wird die Möglichkeit geschaffen, Anleihen von staatlich dominierten Emittenten zu erwerben. Außerdem werden die Regelungen zur Zusammensetzung des Beirats beim Pensionsfonds und die Berufung der Mitglieder des Beirates praxisgerecht und flexibel formuliert.

Die Erweiterung des Anlagespektrums ist notwendig, weil die für den Pensionsfonds tätigen Asset-Manager – bedingt durch die Lage auf dem Kapitalmarkt – im Rentenbereich kaum noch Anlageoptionen finden, die den gesetzlich vorgegebenen Anforderungen an Rentabilität und Sicherheit entsprechen.

Außerdem wird durch die Selbstverpflichtung zur Berücksichtigung der Nachhaltigkeit einer Kapitalanlage gerade im Aktienbereich das Anlageuniversum deutlich eingeengt. Das ist insbesondere für die Umschichtung und die notwendige Ausweitung des Aktienanteils von Bedeutung.

Beides soll durch die Nachbildung der inzwischen von der Firma STOXX für die Länder Nordrhein-Westfalen, Hessen, Baden-Württemberg und Brandenburg entwickelten nachhaltigen Aktienindizes geschehen.

Die CDU-Fraktion begrüßt den Gesetzentwurf und die damit verbundenen Änderungen. Wir sagen unsere Zustimmung zu. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD-Fraktion spricht nun der Abgeordnete Zimkeit.

Stefan Zimkeit (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Krückel hat den Sachverhalt zutreffend geschildert. Wir können nur die gleichen Schlussfolgerungen ziehen, dass man diesem Gesetzentwurf zustimmen kann. Damit geht einher die Verantwortung für die Landesregierung, sicherzustellen, dass man sich in dem vergrößerten Universum nicht verirrt und irgendwelche Probleme erzeugt. Dieser Verantwortung werden Sie dann hoffentlich gerecht. – Insofern hätte es unsererseits dieser Debatte jetzt nicht bedurft.

Was allerdings interessant sein könnte, wäre zu diskutieren, was in dem Gesetzentwurf nicht steht. Zum Beispiel hat der Kollege Optendrenk, der gerade nicht anwesend ist, für die CDU-Fraktion in Oppositionszeiten gesagt, die jährliche Zuführung zum Pensionsfonds sollte mindestens 700 Millionen Euro betragen und nicht 200 Millionen Euro. Dies wäre die Gelegenheit gewesen, dieses Versprechen zu erfüllen. Das passiert nicht, aber das hatten wir nicht anders erwartet.

Gleichzeitig hätte man die von der Union und der FDP kritisierte Regelung, dass vorab Beträge eingezahlt werden müssen, abschaffen müssen, sodass man nachher nicht mehr bezahlen muss. Die Landesregierung plant ja, im Jahr 2021 davon Gebrauch zu machen und dem Pensionsfonds nichts zuzuführen. Das wären Dinge gewesen, die man hier, wenn man seine Versprechen ernst nimmt, hätte mit anpacken können. Das ist erwartungsgemäß nicht passiert.

Nichtdestotrotz ist das, was vorgelegt wurde, sinnvoll. Deswegen werden wir zustimmen. – Schönen Dank.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der FDP hat der Abgeordnete Witzel das Wort.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Pensionsfonds des Landes Nordrhein-Westfalen hat bekanntlich die Funktion, zukünftige Spitzen bei Versorgungslasten abzufedern.

Er dient also als eine Art Puffer für Zeiten besonderer Ausgabebelastungen. Im Jahr 2017 ist der Pensionsfonds in seiner heutigen rechtlichen Konstruktion aus der zuvor getrennt geführten Versorgungsrücklage und dem Versorgungsfonds hervorgegangen.

In dieser Legislaturperiode sind dem Pensionsfonds bereits 1,2 Milliarden Euro zugeführt worden. So viel zur Anmerkung meines Vorredners. Wir haben deshalb darauf verzichtet, genau für die letzten Jahre irgendwelche Etiketten an den Pensionsfonds zu kleben. Wir haben uns allerdings gegen die Taschenspielertricks gewandt, die dort von der früheren rot-grünen Landesregierung stattgefunden haben.

Ich komme nun zu Ihrer Frage, was künftig beabsichtigt ist. Mit der weiter geplanten Zuführung bis hin zum Jahr 2022 sind es nach jetzigen Planungen am Ende der Legislatur immerhin 1,4 Milliarden Euro, die sich mehr im Pensionsfonds befinden. Das sind 400 Millionen Euro oder 40 % mehr als die nach dem Pensionsfondsgesetz vorgesehene notwendige Zuführung von einer Milliarde Euro.

Zum 31.12.2018 bestanden kumulierte Rücklagen in Höhe von beachtlichen 11,88 Milliarden Euro. Diese Rücklagen sind hilfreich, um die Versorgungslasten der Zukunft zu glätten. Denn belief sich die Anzahl der Versorgungsempfänger im Jahr 2018 noch auf rund 210.000 Personen, für die rund 7,7 Milliarden Euro an Versorgungsausgaben aufzubringen waren, so wird der Höchststand an versorgungsberechtigten Personen mit rund 229.700 prognostisch im Jahr 2027 erreicht. Damit wird der Landeshaushalt mit Versorgungsausgaben in Höhe von 8,4 Milliarden Euro belastet.

Nach § 6 Abs. 3 des Pensionsfondsgesetzes müssen die Mittel so angelegt werden, dass größtmögliche Sicherheit und Rentabilität gewährleistet sind. Dies ist auch im Sinne der FDP-Landtagsfraktion und soll durch die Gesetzesänderung keinesfalls aufgeweicht werden.

Es geht um die Erweiterung des Anlagehorizontes, da nun Anlagerestriktionen entfallen, die einer optimalen Zusammenstellung des Anlageportfolios vielleicht im Wege stehen könnten. Bisher war das Land Nordrhein-Westfalen per Gesetz verpflichtet, die Anlagen ausschließlich in der Währung Euro zu tätigen. Diese Einschränkung soll es zukünftig nur noch bei Rentenpapieren geben. Alle anderen Anlagen dürfen zukünftig auch in anderen Währungen erfolgen. Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, Anlagen in internationalen Titeln vorzunehmen.

Die aktuelle DEKA-Studie beispielsweise zeigt, wie hochproblematisch sich für Kapitalanlagen aktuell alleine die Eurozone erweist, nachlesbar beispielsweise im „Kölner Stadt-Anzeiger“ vom 01.10.2019. Der Artikel ist überschrieben mit „Wie Anleger durch Nullzinsen und Inflation enteignet werden“.

Seit Jahren erleben wir eine fragwürdige EZB-Politik, die für Kapitalanlagen verheerende Auswirkungen hat. Vor drei Wochen ist entgegen aller Hoffnungen und Notwendigkeiten von Sparern und Instituten sowie gegen die ökonomische Vernunft beschlossen worden, die Ankaufspolitik fortzusetzen und die Negativzinspolitik noch stärker in den Minusbereich zu fahren.

Bei einer aktuellen Inflationsrate in Deutschland in Höhe von 1,5 % und dem Wegfall von Zinszahlungen werden jedes Jahr Einlagewerte von 33,5 Milliarden Euro vernichtet. Im statistischen Durchschnitt sind das 404 Euro pro Anleger, so die DEKA-Studie.

International ist das anders. Die US-Notenbank Fed hat derzeit einen Leitzins von 2 %. Ein möglichst breiter Anlagehorizont an Kapitalmärkten ist deshalb wünschenswert, weil so das Chancen-Risiko-Verhältnis optimiert werden kann.

Empirisch belegt ist, dass Diversifikation eines Anlageportfolios jeder Einzelinvestition in Bezug auf das Chancen-Risiko-Verhältnis überlegen ist, auch wenn die Einzelinvestition noch so gut ausgewählt ist. Das hat auch bereits der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Harry Max Markowitz in den 50er-Jahren festgestellt.

In diesem Sinne verstehen wir auch die Gesetzesänderung: Es werden neue Möglichkeiten geschaffen, die Rücklagen für die Pensionen des Landes in der Summe besser und sicherer anzulegen, als das bislang der Fall gewesen ist.

Eine Aufweichung von Stabilität sehen wir dadurch nicht und würden diese unsererseits auch ablehnen. Dem vorliegenden Gesetzentwurf stimmen wir ausdrücklich zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Witzel. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Düker.

Monika Düker*) (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Pensionsfondsgesetz des Landes geändert werden.

Für den Bereich Aktien wird eine Beschränkung aufgehoben, die bisher nur den Handel in Euro zuließ. Zukünftig sollen Anlagen in internationalen Titeln erfolgen können.

Das ist auch aus unserer Sicht eine sinnvolle Erweiterung des Anlagespektrums, die bereits im Fachausschuss fraktionsübergreifend auf Zustimmung gestoßen ist. Auch für meine Fraktion kann ich hier heute nur wiederholen, dass wir dem Gesetzentwurf zustimmen werden.

Einen Punkt möchte ich jedoch noch hervorheben: Die im Jahr 2017 durch die Vorgängerregierung eingeführte Orientierung am Kriterium der Nachhaltigkeit der Kapitalanlagen ist nicht bloß eine Einschränkung, wie das oft formuliert wird. Vielmehr ist die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien aus unserer Sicht ein wichtiger Fortschritt.

Die Tatsache, dass die aktuelle Landesregierung, Herr Lienenkämper, das offensichtlich auch erkannt und anerkannt hat und die rot-grünen Entscheidungen hier fortsetzt, finden wir natürlich richtig und unterstützenswert.

Landesinvestitionen in klimaschädliche Projekte und ethisch zweifelhafte Unternehmungen müssen endgültig der Vergangenheit angehören. Dass Sie diese Linie fortsetzen, finden wir ausdrücklich begrüßenswert. Deshalb werden die Mittel des Pensionsfonds nun unter Berücksichtigung ökologisch und sozial verträglicher Standards angelegt.

Wir hoffen, dass dieser Weg von der Landesregierung weitergegangen wird, Grundsätze sozial und ökologisch verantwortlicher Investments auf allen Ebenen durchzusetzen.

Das Land wird davon aus unserer Sicht auch finanzpolitisch profitieren, wie es die Nachhaltigkeitsanleihen des Landes als eigene, nachhaltige Produkte auf den Finanzmärkten bereits beweisen.

Der Gesetzentwurf findet unsere Zustimmung. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Strotebeck.

Herbert Strotebeck (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Meiste ist gesagt. Über den vorliegenden Gesetzentwurf gab es in der Sitzung des Haushalts‑ und Finanzausschusses am 25. September keine inhaltliche Debatte, wie zuvor auch schon im Unterausschuss Personal. Der Entwurf wurde einstimmig unverändert angenommen.

Wenn es bei einem Antrag oder Gesetzentwurf parteiliche Einstimmigkeit gibt, muss der zugrunde liegende Text Themen anpacken, deren Umsetzung offensichtlich eine Selbstverständlichkeit darstellt.

In der Tat handelt es sich bei den Änderungen um erforderlich gewordene Selbstverständlichkeiten. Von sprachlichen Anpassungen abgesehen erweitert der Entwurf in der Hauptsache die Anlagevielfalt und entfernt unnötige Anlagefesseln.

War bislang die Fixierung auf Europapiere festgeschrieben, kann zukünftig – mit Ausnahme des Rentenmarktes – auch in Papiere anderer Währungen investiert werden, was gut und aufgrund der EZB-Politik leider auch dringend erforderlich geworden ist.

Zur Verdeutlichung möchte ich Folgendes hinzufügen: Die EZB wurde von Mitgliedstaaten der EU gegründet, um primär für Preisstabilität zu sorgen mit dem Nebenziel, ein Augenmerk auf das Wirtschaftswachstum im EU-Raum zu haben, soweit das Ziel die Preisstabilität nicht beeinträchtigt. Die Aufgabe der EZB ist es nie gewesen, das größte Umverteilungsprojekt aller Zeiten durchzuführen.

(Beifall von der AfD)

Der Kernsatz des Gesetzentwurfs lautet: „Die Mittelanlage in Rentenpapiere darf ausschließlich in der Währung Euro erfolgen.“

Die komplette Fixierung für Renten und Aktien auf Europapiere verringerte unnötig den Anlagekorridor, insbesondere auch ein breites Spektrum an sicheren und rentablen Anlagemöglichkeiten, soweit sie zur Verfügung stehen sollen.

Nach den Vorgaben der Länder Hessen, Baden-Württemberg, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen wurden im Rahmen eines Ausschreibeverfahrens nachhaltige Aktienindizes entwickelt, und diese Anlagemöglichkeiten können jetzt für die Umschichtung genutzt werden, zumal bis zur Zielquote von 30 % Aktienanteil noch ein Potenzial von ca.16 % vorhanden ist.

Davon abgesehen ist das Währungsrisiko nicht zwangsläufig ein negatives Risiko. Es kann sich auch durchaus ein positiver Währungsvorteil ergeben.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Gesetzentwurf setzt die Prämisse „Risikostreuung vor Währungsabsicherung“ um. Die AfD-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Strotebeck. – Für Die Landesregierung spricht Herr Minister Lienenkämper.

Lutz Lienenkämper, Minister der Finanzen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich ausdrücklich darüber, dass sich zu dem, was im Gesetzentwurf steht, Einstimmigkeit abzeichnet.

Was im Gesetzentwurf steht, ist auch allseits zutreffend vorgetragen worden, sodass ich auf eine Wiederholung des Inhaltes verzichten kann.

Zu dem, was nicht im Gesetzentwurf steht, zeigen sich viele Diskussionsmöglichkeiten auf. Ich gehöre diesem Parlament schon länger an: Wenn ich die jetzt wahrnehmen würde, würde ich die Einstimmigkeit gefährden. Das tue ich aber nicht. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der FDP und Herbert Strotebeck [AfD])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank Herr Minister. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Ende der Aussprache angelangt, und wir kommen zur Abstimmung.

Der Haushalts‑ und Finanzausschuss empfiehlt in Drucksache 17/7551, den Gesetzentwurf Drucksache 17/6887 unverändert anzunehmen. Deshalb führen wir jetzt die Abstimmung über den Gesetzentwurf selbst und nicht über die Beschlussempfehlung durch.

Wer also dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Ich frage pro forma, ob jemand dagegen stimmt. – Das ist nicht der Fall. Gibt es Enthaltungen? – Das ist auch nicht der Fall. Damit ist – wie in der Debatte angekündigt – der Gesetzentwurf Drucksache 17/6887 einstimmig angenommen und in zweiter Lesung verabschiedet worden.

Ich rufe auf:

13 Fünftes Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7547

erste Lesung

Frau Ministerin Scharrenbach hat ihre Einbringungsrede zu Protokoll gegeben. (Anlage 1)

Eine weitere Aussprache ist heute nicht vorgesehen; daher kommen wir zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/7547 an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen – federführend – und an den Haushalts‑ und Finanzausschuss sowie an den Verkehrsausschuss zur Mitberatung. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? Möchte sich jemand enthalten? – Beides ist nicht der Fall, also haben wir so überwiesen.

Wir kommen zu:

14 Gesetz zur Reform des Hinterlegungsgesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7548

erste Lesung

Herr Minister Biesenbach hat seine Einbringungsrede zu Protokoll gegeben. Auch hier ist keine weitere Aussprache vorgesehen. (Anlage 2)

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/7548 an den Rechtsausschuss. Wenn dem niemand widersprechen oder sich enthalten möchte – beides ist nicht der Fall –, haben wir so überwiesen.

Ich rufe auf:

15 Siebtes Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/7549

erste Lesung

Herr Minister Reul hat seine Einbringungsrede zu Protokoll gegeben. Auch hier ist keine weitere Aussprache vorgesehen. (Anlage 3)

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/7549 an den Innenausschuss – federführend – und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss. Wenn dem niemand widersprechen oder sich enthalten möchte – beides ist nicht der Fall –, haben wir so überwiesen.

Ich rufe auf:

16 Nachwahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Beirats der NRW.BANK

Wahlvorschlag
der Fraktion der CDU
Drucksache 17/7546

Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen daher zur Abstimmung über den Wahlvorschlag, der Ihnen in Drucksache 17/7546 vorliegt.

Wer dem Wahlvorschlag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Ich frage auch hier, ob es Gegenstimmen gibt. – Das ist nicht der Fall. Enthaltungen? – Auch nicht. Damit ist der Wahlvorschlag Drucksache 17/7546 einstimmig angenommen.

Ich gratuliere Frau Kollegin Vogt ganz herzlich zu ihrer Wahl.

Ich rufe auf:

17 Volksinitiative gemäß Artikel 67 der Landesverfassung:
Eingang des Antrags und der gesammelten Unterschriften der Volksinitiative mit der Kurzbezeichnung „Straßenbaubeiträge abschaffen“

Unterrichtungen
des Präsidenten des Landtags
Drucksache 17/7482
Drucksache 17/7556

Nach dem Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid kommt eine Volksinitiative rechtswirksam zustande, wenn unter anderem 0,5 % der Wahlberechtigten zur letzten Landtagswahl die Volksinitiative durch ihre Unterschrift unterstützen. Für dieses Quorum sind in dieser Wahlperiode 65.825 Unterschriften erforderlich.

Mit Drucksache 17/7556 hat der Präsident des Landtags mitgeteilt, dass die Volksinitiative „Straßenbaubeiträge abschaffen“ dieses Quorum erreicht hat.

Gemäß § 4 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid hat der Landtag hierüber Beschluss zu fassen und festzustellen, dass die Volksinitiative rechtswirksam zustande gekommen ist.

Der Landtag hat nach § 4 Abs. 5 des Gesetzes über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid die Volksinitiative innerhalb von drei Monaten nach ihrem Zustandekommen abschließend zu behandeln. Vertrauenspersonen sind von den zuständigen Ausschüssen anzuhören.

Eine Debatte zur Unterrichtung mit der Drucksachennummer 17/7556 ist heute nicht vorgesehen. Wir kommen daher unmittelbar zur Abstimmung über die in Drucksache 17/7556 enthaltenen Beschlussempfehlungen:

Erstens. Die Volksinitiative mit der Kurzbezeichnung ,Straßenbaubeiträge abschaffen‘ ist rechtswirksam zustande gekommen.

Wer sich dieser Beschlussempfehlung anschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Möchte sich jemand nicht anschließen? – Das ist nicht der Fall. Möchte sich jemand enthalten? – Das ist auch nicht der Fall. Damit ist Ziffer 1 der Beschlussempfehlung Drucksache 17/7556 angenommen, also das rechtswirksame Zustandekommen der Volksinitiative festgestellt.

Wir kommen zur zweiten Abstimmung.

Zweitens. Zur Durchführung der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung der Vertrauenspersonen der Volksinitiative wird das Anliegen der Volksinitiative an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen überwiesen.

Wer sich dieser Überweisung des Anliegens an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen anschließen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Auch hier frage ich nach Gegenstimmen. – Es gibt keine. Enthaltungen? – Keine. Damit haben wir so überwiesen und auch Ziffer 2 der Beschlussempfehlung Drucksache 17/7556 angenommen.

Ich rufe auf:

18 In den Ausschüssen erledigte Anträge

Übersicht 23
gem. § 82 Abs. 2 GO
Drucksache 17/7564

Die Übersicht 23 enthält insgesamt drei Anträge sowie einen Entschließungsantrag, die vom Plenum nach § 82 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung an die Ausschüsse zur abschließenden Erledigung überwiesen wurden. Die Beratungsverläufe und Abstimmungsergebnisse sind aus der Übersicht ersichtlich.

Ich lasse jetzt über die Bestätigung der Übersicht 23 abstimmen. Wer gegen die Bestätigung stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Niemand. Möchte sich jemand enthalten? – Niemand. Damit haben wir einstimmig die Übersicht 23 und die darin enthaltenen Abstimmungsergebnisse bestätigt.

Ich rufe auf:

19 Beschlüsse zu Petitionen

Übersicht 17/27
gem. § 97 Abs. 8 GO

Gemäß § 97 Abs. 8 unserer Geschäftsordnung sind die Beschlüsse des Petitionsausschusses mindestens vierteljährlich dem Landtag zur Bestätigung vorzulegen. Ihnen liegen mit der Übersicht 27 die Beschlüsse zu Petitionen vor, über deren Bestätigung wir jetzt abzustimmen haben.


Eine Aussprache ist heute nicht vorgesehen, es sei denn, jemand würde sie ausdrücklich wünschen. – Das ist nicht der Fall.

Damit kommen zur Bestätigung. Wer der Übersicht  27 seine Bestätigungszustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, die AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Gegenstimmen? – Keine. Enthaltungen? – Auch keine. Damit sind die Beschlüsse des Petitionsausschusses in Übersicht 27 von uns bestätigt worden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende der heutigen Sitzung angelangt.

Um 19:16 Uhr darf ich verkünden: Ich berufe das Plenum wieder ein für morgen, Donnerstag, 10. Oktober 2019, 10 Uhr. – Einen angenehmen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 19:16 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Rednern


Anlage 1

TOP 13 „Fünftes Gesetz zur Änderung des Kommunalabgabengesetzes“ – zu Protokoll gegebene Rede

Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung:

Starke und zukunftsfähige Städte und Gemeinden sind der Rückhalt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und für wirtschaftliches Wachstum. Eine der Grundvoraussetzungen ist dabei eine zukunftsfähige kommunale Infrastruktur. Dazu zählen Kindertageseinrichtungen, Schulen, Abwassereinrichtungen, Straßen, Wege und Plätze, Radverkehrsanlagen, Brücken, Beleuchtung und vieles mehr.

Dabei sind die Herausforderungen heute vielfältiger Natur.

Städte und Gemeinden haben ihre Infrastrukturen an eine älter werdende Gesellschaft anzupassen. Barrieren im heutigen öffentlichen Raum werden daher sukzessive in Richtung eines „öffentlichen Raums für alle Menschen“ abgebaut und gleichzeitig an den Bedürfnissen aller Generationen ausgerichtet.

Veränderte klimatische Bedingungen führen zu Veränderungen in der Art und Weise, wie heute gebaut wird.

Darüber hinaus erfordern sie ein Umdenken in der kommunalen Mobilitätspolitik. Straßen werden zurückgebaut, und die Räume für Fußgänger und Radfahrer werden wieder erweitert oder erst geschaffen. Kanäle für das Niederschlagswasser sind auf ihre Belastbarkeit in puncto Starkregenereignisse zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Abwasserkanäle müssen überprüft und nötigenfalls verbessert werden. Vor allem dürfen wir nicht vergessen, dass auch Straßen, Wege und Plätze im städtischen oder gemeindlichen Besitz in die Jahre gekommen sind. Oftmals bedürfen sie nach 40 oder 50 Jahren einer grundhaften Erneuerung.

Das Kommunalabgabengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen trat 1969 – also vor 50 Jahren – in Kraft und sieht vor, dass bei der Verbesserung von Straßen, Wegen und Plätzen ein Beitrag der anliegenden Grundstückseigentümerinnen und Grundstückseigentümer (sowie der Erbbauberechtigten) erhoben werden soll. Der Beitrag ist eine Abgabe, die gegenleistungsbezogen ist. Der Beitrag wird dabei nur für die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer Einrichtung oder einer Anlage erhoben.

Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass es im Zusammenhang mit der Veranlagung von Straßenausbaubeiträgen zu hohen und teilweise erheblichen finanziellen Belastungen kommen kann, die die Einzelne bzw. den Einzelnen auch überfordern können. Daher sehen wir Handlungsbedarf, daher wollen wir das Straßenausbaubeitragsrecht in Nordrhein-Westfalen modernisieren. Diese Modernisierung besteht aus zwei zentralen Elementen.

Das erste Element ist der heute eingebrachte Gesetzentwurf: die Änderungen im Kommunalabgabengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (KAG) zur Erhöhung der Transparenz durch ein Straßen- und Wegekonzept und verbindliche Anliegerversammlungen, die Einführung von Härte-fallregelungen zur Entlastung Betroffener sowie eine Absenkung des Zinssatzes bei Gewährung von Ratenzahlungen und Stundungen von heute 6 Prozent auf einen dynamischen Zinssatz (mindestens jedoch 1 Prozent).

Das zweite Element ist ein landeseigenes Förderprogramm über jährlich 65 Millionen Euro zur Unterstützung der Grundstückseigentümerinnen und Grundstückseigentümer sowie Erbbauberechtigter bei Straßenausbaubeitragsforderungen. Dies ist Gegenstand der laufenden Haushaltsplanberatungen im Landtag Nordrhein-Westfalen.

Damit wird die Landesregierung erstmals seit und nach 50 Jahren mit einer Änderung des Gesetzes und mit einem landeseigenen Förderprogramm dafür Sorge tragen, dass Beitragspflichtige eine substantielle Entlastung erhalten.

Der Vorschlag kann natürlich unter Berücksichtigung des Gesetzgebers auch eine Anpassung erfahren.


Anlage 2

TOP 14 „Gesetz zur Reform des Hinterlegungsgesetzes“ – zu Protokoll gegebene Rede

Peter Biesenbach, Minister der Justiz:

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Hinterlegungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen reformiert und an die Bedürfnisse der heutigen Zeit angepasst werden.

Bevor ich aber auf den Inhalt des Gesetzentwurfs und den Hintergrund der Reform eingehe, möchte ich den Gegenstand des Hinterlegungsgesetzes kurz vergegenwärtigen:

Es regelt das formelle Hinterlegungsrecht, bestimmt die Zuständigkeit in Hinterlegungssachen, das Verfahren sowie die rechtlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten.

Hingegen ist das materielle Hinterlegungsrecht in den verschiedensten Gesetzen geregelt und legt fest, in welchen Fällen eine Hinterlegung überhaupt möglich ist.

Unter Hinterlegung wird im Sprachgebrauch die Übergabe einer Sache zur treuhänderischen Verwaltung verstanden.

Mit Hinterlegung im Sinne des Hinterlegungsgesetzes Nordrhein-Westfalen ist die Hinterlegung

–   von Geld, Wertpapieren, Wertpapierguthaben und sonstigen Urkunden sowie Kostbarkeiten

–   bei bestimmten Behörden, nämlich den Amtsgerichten als Hinterlegungsstellen,

–   bei Vorliegen eines gesetzlich geregelten Hinterlegungsgrundes

gemeint.

Das Hinterlegungsgesetz Nordrhein-Westfalen trat zum 1. Dezember 2010 in Kraft. Vorher galt die Hinterlegungsordnung vom 10. März 1937 in allen Ländern, wobei streitig war, ob die Hinterlegungsordnung als Bundes- oder Landesrecht fort- galt. Mit der Aufhebung der Hinterlegungsordnung zum 1. Dezember 2010 wurde zugleich klargestellt, dass das formelle Hinterlegungsrecht in die Kompetenz der Länder fällt.

Seit seinem Inkrafttreten ist das Hinterlegungsgesetz Nordrhein-Westfalen zweimal geändert worden. Neben der Abschaffung der Verzinsung von hinterlegtem Geld erfolgten lediglich erforderliche redaktionelle Änderungen.

Auslöser des vorliegenden Gesetzentwurfes war eine im Hinterlegungsgesetz Nordrhein-Westfalen geregelte Pflicht der Landesregierung, dem Landtag bis zum 31. Dezember 2015 und danach alle fünf Jahre über die Erfahrung mit diesem Gesetz zu berichten. Hierzu wurde eine umfassende Evaluierung des Hinterlegungsgesetzes Nordrhein-Westfalen unter Einbeziehung der gerichtlichen Praxis, der nordrhein-westfälischen Rechtsanwalts- und Notarkammern sowie der Bundesbank durchgeführt. Die Überprüfung hat ergeben, dass sich das Hinterlegungsgesetz Nordrhein-Westfalen in der praktischen Anwendung gut bewährt hat und die Notwendigkeit seiner Fortgeltung besteht.

Zugleich wurde im Rahmen der Evaluierung jedoch auch punktuell auf einen Anpassungsbedarf hingewiesen, der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aufgegriffen und umgesetzt werden soll.

Weiterhin soll der vorliegende Gesetzentwurf dazu dienen, das formelle Hinterlegungsrecht sprachlich an die heutigen Erfordernisse anzupassen und im gebotenen Umfang weiterzuentwickeln.

Im Kern sehen die Neuregelungen vor, für das formelle Hinterlegungsrecht den „elektronischen Rechtsverkehr“ – also die gesicherte elektronische Kommunikation mit der Justiz – und die Möglichkeit der elektronischen Akte einzuführen.

Die Anwenderfreundlichkeit des Gesetzes wird durch die Aufhebung überflüssiger Regelungen und eine umfassende redaktionelle Überarbeitung erhöht.

Weiterhin wird der Verwaltungsaufwand gesenkt, indem etwa die Hinterlegung von Bargeld nur noch in Einzelfällen – zum Beispiel bei der Einzahlung einer Kaution zur Vermeidung des Untersuchungshaftvollzugs – zugelassen wird. Auch bei der Hinterlegung von Wertpapieren wird der Zahlungsverkehr durch die Stärkung des Buchgeldes an die heutige Zeit angepasst.

Abschließend werden die Verfahrensabläufe für die Justizverwaltungsbehörden reduziert, wodurch Bürokratie abgebaut und das Verwaltungsverfahren insgesamt beschleunigt wird.

Weiterhin sollen die ergänzenden Kostenregelungen in Hinterlegungssachen und der grundsätzlich geltende Kostenteil des Justizgesetzes Nordrhein-Westfalen – aus Gründen der Einheitlichkeit, Übersichtlichkeit und Anwenderfreundlichkeit – im Justizgesetz Nordrhein-Westfalen zusammengeführt werden.

Ich würde mich sehr freuen, wenn der Gesetzentwurf eine breite Zustimmung fände, damit das Land Nordrhein-Westfalen einen weiteren Schritt in Sachen Effizienzsteigerung und Verwaltungsvereinfachung geht und es künftig den Bürgerinnen und Bürgern in Nordrhein-Westfalen möglich ist, auch Hinterlegungen elektronisch von zu Hause aus abzuwickeln.


Anlage 3

TOP 15 „Siebtes Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen“ – zu Protokoll gegebene Rede

Herbert Reul, Minister des Innern:

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, es ist noch kein Jahr her, dass wir uns in diesem Haus zuletzt mit unserem Polizeigesetz beschäftigt haben, und dennoch möchte ich an diese parlamentarische Sternstunde anknüpfen.

Für mich war die Verabschiedung Ende letzten Jahres eine Sternstunde, weil wir – nach einer sehr intensiven Debatte – gemeinsam eine Lösung gefunden haben. Sie trägt sowohl den gegenwärtigen Bedürfnissen der Polizei als auch dem Schutz von persönlichen Daten und Rechten angemessen Rechnung. Wir haben bewiesen, dass Demokraten einen an der Sache orientierten Kompromiss finden können – auch weil wir einander zugehört haben. Die breite parlamentarische Mehrheit bei der Verabschiedung war zudem ein klares Signal: Wir wollen in Freiheit sicher leben.

Das Polizeigesetz ist so nah an der Arbeit der Polizei und an den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger, dass es mit dem technischen Fortschritt und auch mit gesellschaftlichen Entwicklungen permanent Schritt halten muss.

Deshalb lade ich Sie auch heute wieder ein, die zukünftige Ausrichtung der Polizei konstruktiv zu begleiten und die Polizei auch rechtlich so auszustatten, dass sie ihren großen Herausforderungen auch in Zukunft gerecht werden kann.

Die polizeiliche Eigensicherung liegt mir dabei besonders am Herzen. Die große Zahl an gewalttätigen Übergriffen auf Polizeibeamtinnen und -beamte hat die Vorgängerregierung richtigerweise zur Einführung von Bodycams veranlasst.

Wir können es nicht hinnehmen, dass Menschen, die Leib und Leben für das Allgemeinwohl riskieren, bedroht und angegriffen werden.

Darum wollen wir mit der Entfristung ein Versprechen aus dem letzten Wahlkampf einlösen.

Hierin sehen wir uns auch durch die Zunahme der Gewaltdelikte seit 2017 und die wissenschaftliche Untersuchung bestätigt.

Sie hat zwar auch ergeben, dass die Rate der Angriffe auf Polizisten mit Bodycams im untersuchten Zeitraum etwas höher war als auf Polizisten ohne Bodycams. Das liegt aber daran, dass die Menschen sich an eine neue Technik erst einmal gewöhnen müssen.

Deshalb kann ich es gut verstehen, dass sich Polizisten in Konfliktsituationen besonders förmlich verhalten, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden. Aber nicht jeder fühlt sich durch förmliches Verhalten abgeholt, im Gegenteil: Der eine oder andere fühlt sich gar erst recht provoziert und bringt dies auch zum Ausdruck.

Wir werden die Polizistinnen und Polizisten daher durch geeignete Aus- und Fortbildungsmaßnahmen bestmöglich für den täglichen Umgang mit der Bodycam wappnen.

Gleichzeitig mit der Entfristung der Regelung zur Bodycam werden wir auch die Rechte der Bürgerinnen und Bürger weiter stärken. Zukünftig soll es ihnen möglich sein, einer Löschung der Aufnahmen zu widersprechen, damit auch sie die Situation nachträglich bewerten können.

Im besonders eingriffsintensiven Bereich des Polizeigewahrsams werden wir im Sinne der Betroffenenrechte als erstes Bundesland den Vollzug des Polizeigewahrsams im Wege einer Rechtsverordnung gesetzlich regeln. Bisher ist das in Nordrhein-Westfalen wie auch in anderen Ländern per Ministerialerlass geregelt. Angesichts der mit der letzten Novelle angepassten Gewahrsamsfristen halten wir es für richtig, dem Gewahrsamsvollzug transparent und verbindlich Gesetzeskraft zu verleihen.

In Bezug auf den Polizeigewahrsam soll es noch eine weitere Neuerung geben. Wie in anderen Bundesländern schon seit Langem üblich, werden wir nun auch in Nordrhein-Westfalen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass im Polizeigewahrsam auch Beschäftigte eingesetzt werden, die keine Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte sind.

Wir wollen so dazu beitragen, dass mehr Polizei dort eingesetzt wird, wo die speziellen Kenntnisse und Fertigkeiten von Polizeivollzugsbeamten gefragt sind. Die Polizei soll für die Fokussierung auf ihre Kernaufgaben in anderen Bereichen entlastet werden.

Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass es im Gewahrsam um teilweise sehr sensible Tätigkeiten geht und verfassungsrechtliche Vorgaben zu berücksichtigen sind. Deswegen wird die Gesamtverantwortung für die Abläufe in den Gewahrsamseinrichtungen auch weiterhin ausschließlich von Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamten wahrgenommen werden. Der Gesetzentwurf sieht darum ausdrücklich vor, dass die Beschäftigten nur zu deren Unterstützung eingesetzt werden.

Ich bin mir sicher, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine gute Weichenstellung für die Polizei getroffen haben.