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Landtag

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Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/55

17. Wahlperiode

10.04.2019

 

55. Sitzung

Düsseldorf, Mittwoch, 10. April 2019

Mitteilungen des Präsidenten. 7

Vor Eintritt in die Tagesordnung. 7

Änderung der Tagesordnung. 7

1   Die Strategie für das digitale Nordrhein-Westfalen

Unterrichtung
der Landesregierung. 7

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 7

Christina Kampmann (SPD) 11

Thorsten Schick (CDU) 14

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) 16

Marcel Hafke (FDP) 18

Sven Werner Tritschler (AfD) 22

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 24

Prof. Dr. Karsten Rudolph (SPD) 26

Florian Braun (CDU) 27

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) 29

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 29

2   Endlich wirksame Maßnahmen gegen Wohnungsnot ergreifen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5693

In Verbindung mit:

Effektive Wohnungspolitik setzt auf Investitionen statt Enteignungen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5694

In Verbindung mit:

Aktivierende Stadtentwicklung jetzt! Wohnungs- und Flächenmangel bekämpfen – Aufstockung und intelligente Nachverdichtung unterstützen: Die Landesregierung muss umgehend zu einem Städtebau-Gipfel einladen!

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5617

In Verbindung mit:

Schluss mit der verfehlten Wohnraumförderpolitik der CDU/FDP-Landesregierung: Nordrhein-Westfalen braucht endlich eine zeitgemäße Soziale Wohnraumförderung!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5627. 30

Arndt Klocke (GRÜNE) 30

Fabian Schrumpf (CDU) 32

Stephen Paul (FDP) 34

Jochen Ott (SPD) 35

Roger Beckamp (AfD) 37

Ministerin Ina Scharrenbach. 39

Volkan Baran (SPD) 40

Josef Hovenjürgen (CDU) 42

Johannes Remmel (GRÜNE) 43

Christof Rasche (FDP) 44

Roger Beckamp (AfD) 45

Ministerin Ina Scharrenbach. 46

Jochen Ott (SPD) 47

Ergebnis. 49

3   Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes und weiterer wahlrechtlicher Vorschriften

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/3776

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Heimat, Kommunales,
Bauen und Wohnen
Drucksache 17/5666

zweite Lesung

Änderungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5712. 49

Dr. Jörg Geerlings (CDU) 49

Stefan Kämmerling (SPD) 52

Henning Höne (FDP) 54

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 57

Sven Werner Tritschler (AfD) 59

Minister Herbert Reul 60

Hans-Willi Körfges (SPD) 63

Ergebnisse zur zweiten Lesung. 64

Ergebnis Antrag auf Rücküberweisung 
zur Vorbereitung auf die dritte Lesung  64

4   Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum Behördenskandal im Zusammenhang mit dem publik gewordenen langjährigen und vielfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde („PUA Lügde“)

Antrag
der Abgeordneten
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5635. 65

Markus Wagner (AfD) 65

Daniel Sieveke (CDU) 66

Hartmut Ganzke (SPD) 67

Marc Lürbke (FDP) 69

Verena Schäffer (GRÜNE) 70

Markus Wagner (AfD) 71

Namentliche Abstimmung
zum Antrag
Drucksache 17/5635
Ergebnis der namentlichen Abstimmung
siehe nach Abstimmung zu TOP 5
(siehe Anlage 1) 72

5   Konsequenzen aus dem Polizeifiasko von Köln-Kalk: Der Innenminister muss die Chancengleichheit der Parteien im Wahlkampf sicherstellen

Eilantrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5696. 73

Sven Werner Tritschler (AfD) 73

Frank Boss (CDU) 74

Susana dos Santos Herrmann (SPD) 77

Marc Lürbke (FDP) 79

Verena Schäffer (GRÜNE) 79

Minister Herbert Reul 80

Ergebnis. 82

Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Antrag
Drucksache 17/5635. 82

6   Fragestunde

Drucksache 17/5680. 82

Mündliche Anfrage 39

des Abgeordneten  
Stefan Engstfeld (GRÜNE)

Minister Herbert Reul 83

Mündliche Anfrage 40

des Abgeordneten  
Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE)

Minister Herbert Reul 91

Mündliche Anfrage 41

des Abgeordneten  
Rainer Bischoff (SPD)

Schriftliche Beantwortung  
siehe
Vorlage 17/1959  97

7   Nordrhein-Westfalen als Energie‑ und Industrieland Nummer 1 stärken, Endverbraucherpreise stabilisieren – Mit der Energieversorgungsstrategie für saubere, zuverlässige und bezahlbare Energie sorgen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5636. 97

Henning Rehbaum (CDU) 98

Dietmar Brockes (FDP) 99

Frank Sundermann (SPD) 100

Wibke Brems (GRÜNE) 101

Christian Loose (AfD) 102

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 103

Ergebnis. 104

8   Mögliche Verjährung der Cum-Ex-Geschäfte abwenden – Mehr Personal zur Verfügung stellen

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5626. 104

Stefan Zimkeit (SPD) 104

Arne Moritz (CDU) 105

Ralf Witzel (FDP) 106

Monika Düker (GRÜNE) 108

Herbert Strotebeck (AfD) 109

Minister Lutz Lienenkämper 110

Stefan Zimkeit (SPD) 111

Ergebnis. 112

9   Seenotrettung als humanitäre Verpflichtung – solidarischen Kommunen die Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5615. 112

Berivan Aymaz (GRÜNE) 112

Björn Franken (CDU) 113

Ibrahim Yetim (SPD) 114

Stefan Lenzen (FDP) 114

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 115

Minister Dr. Joachim Stamp. 116

Ergebnis. 118

10 NRW steht zu seiner vielfältigen schulischen Infrastruktur. Der Weg der Einheitsschule ist genauso falsch wie der des Einheitslehrers.

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5630. 118

Herbert Strotebeck (AfD) 118

Martin Sträßer (CDU) 119

Dietmar Bell (SPD) 120

Moritz Körner (FDP) 120

Sigrid Beer (GRÜNE) 121

Ministerin Yvonne Gebauer 121

Helmut Seifen (AfD) 122

Ergebnis. 123

11 Nordrhein-Westfalen stellt die Weichen für die Mobilität der Zukunft

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/4447

Beschlussempfehlung und Bericht
des Verkehrsausschusses
Drucksache 17/5662. 123

Klaus Voussem (CDU) 123

Carsten Löcker (SPD) 124

Bodo Middeldorf (FDP) 125

Arndt Klocke (GRÜNE) 126

Nic Peter Vogel (AfD) 127

Minister Hendrik Wüst 128

Ergebnis. 129

12 Verbraucherschutz für Geflüchtete stärken und weiter ausbauen

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5622. 129

Ministerin Ursula Heinen-Esser
zu Protokoll (s. Anlage 2)

Heike Wermer (CDU)
zu Protokoll (s. Anlage 2)

Ibrahim Yetim (SPD)
zu Protokoll (s. Anlage 2)

Stephan Haupt (FDP)
zu Protokoll (s. Anlage 2)

Berivan Aymaz  (GRÜNE)
zu Protokoll (s. Anlage 2)

Gabriele Walger-Demolsky (AfD)
zu Protokoll (s. Anlage 2)

Ergebnis. 129

13 Änderung der Geschäftsordnung des Landtags Nordrhein-Westfalen zur Ersetzung der Fragestunde durch eine Regierungsbefragung

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5633. 129

Ergebnis. 130

14 Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3005
Drucksache 17/5580

Beschlussempfehlung und Bericht
des Hauptausschusses
Drucksache 17/5665

zweite Lesung

Änderungsantrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5713

Dr. Jörg Geerlings (CDU) 130

Prof. Dr. Rainer Bovermann (SPD) 131

Angela Freimuth (FDP) 131

Stefan Engstfeld (GRÜNE) 132

Thomas Röckemann (AfD) 132

Minister Peter Biesenbach. 133

Ergebnis. 134

Ergebnis. 134

15 Gesetz zur Änderung des Wohn- und Teilhabegesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/3777

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/5667

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Wohn- und Teilhabegesetz-Durchführungsverordnung

Vorlage 17/1196
Drucksache 17/3852 – Neudruck

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/5668

Entschließungsantrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5709. 135

Britta Oellers (CDU) 135

Britta Altenkamp (SPD) 136

Susanne Schneider (FDP) 137

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 138

Dr. Martin Vincentz (AfD) 139

Minister Karl-Josef Laumann. 140

Ergebnis. 141

16 Gesetz zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/4781

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/5669

zweite Lesung. 142

Minister Karl-Josef Laumann
zu Protokoll (s. Anlage 3)

Peter Preuß (CDU)
zu Protokoll (s. Anlage 3)

Josef Neumann (SPD)
zu Protokoll (s. Anlage 3)

Mehrdad Mostofizadeh  (GRÜNE)
zu Protokoll (s. Anlage 3)

Iris Dworeck-Danielowski (AfD)
zu Protokoll (s. Anlage 3)

Ergebnis. 142

17 Gesetz zur Änderung des Landeskrebsregistergesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/5587

erste Lesung. 142

Minister Karl-Josef Laumann
zu Protokoll (s. Anlage 4)

Ergebnis. 142

18 Verschläft die Landesregierung die Instandhaltung des Kanalnetzes in NRW? Wann kommt endlich Akut-Hilfe für den maroden Wesel-Datteln-Kanal?

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5624. 142

Ergebnis. 142

19 Erster Staatsvertrag zur Änderung des Vertrags über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Artikel 91c GG

Antrag    
auf Zustimmung des Landtags
zum Staatsvertrag
gemäß Artikel 66 Satz 2
der Landesverfassung
Drucksache 17/5586

erste Lesung. 142

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart
zu Protokoll (s. Anlage 5)

Daniel Hagemeier (CDU)
zu Protokoll (s. Anlage 5)

Elisabeth Müller-Witt (SPD)
zu Protokoll (s. Anlage 5)

Angela Freimuth (FDP)
zu Protokoll (s. Anlage 5)

Sven Werner Tritschler (AfD)
zu Protokoll (s. Anlage 5)

Ergebnis. 142

20 Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob die Alimentation der Kläger in den Jahren 2013 bis 2015 hinsichtlich der kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei Richterinnen und Richtern der Besoldungsgruppe R 2 mit drei bzw. vier Kindern mit Artikel 33 Absatz 5 GG vereinbar ist.

2 BvL 6/17
2 BvL 7/17
2 BvL 8/17

Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses
Drucksache 17/5670. 143

Ergebnis. 143

21 In den Ausschüssen erledigte Anträge

Übersicht 18
gem. § 82 Abs. 2 GO
Drucksache 17/5679. 143

Ergebnis. 143

22 Beschlüsse zu Petitionen

Übersicht 17/22. 143

Ergebnis. 143

Anlage 1. 145

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum Behördenskandal im Zusammenhang mit dem publik gewordenen langjährigen und vielfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde („PUA Lügde“)

Anlage 2. 153

Zu TOP 12 – „Verbraucherschutz für Geflüchtete stärken und weiter ausbauen“ – zu Protokoll gegebene Reden

Ministerin Ursula Heinen-Esser 153

Heike Wermer (CDU) 154

Ibrahim Yetim (SPD) 155

Stephan Haupt (FDP) 155

Berivan Aymaz (GRÜNE) 156

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 156

Anlage 3. 159

Zu TOP 16 – „Gesetz zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes Nordrhein-Westfalen“ – zu Protokoll gegebene Reden

Minister Karl-Josef Laumann. 159

Peter Preuß (CDU) 159

Josef Neumann (SPD) 159

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 160

Iris Dworeck-Danielowski (AfD) 161

Anlage 4. 162

Zu TOP 17 – „Gesetz zur Änderung des Landeskrebsregistergesetzes“ – zu Protokoll gegebene Rede

Minister Karl-Josef Laumann. 162

Anlage 5. 163

Zu TOP 19 – „Erster Staatsvertrag zur Änderung des Vertrags über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Artikel 91c GG“ – zu Protokoll gegebene Reden

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 163

Daniel Hagemeier (CDU) 163

Elisabeth Müller-Witt (SPD) 164

Angela Freimuth (FDP) 164

Sven Werner Tritschler (AfD) 164

Entschuldigt waren:

Holger Müller (CDU)

Guido van den Berg (SPD)

Hannelore Kraft (SPD)

Nadja Lüders (SPD)

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE)

Andreas Keith (AfD)

 

 

Beginn: 10:03 Uhr

Präsident André Kuper: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, 55. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich fünf Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich folgende Änderung bekanntgeben: Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, die zunächst für die Tagesordnungspunkte 4 und 5 vorgesehenen Anträge in Verbindung mit der Aktuellen Stunde unter Tagesordnungspunkt 2 zu behandeln. Gibt es dagegen Widerspruch? – Ich sehe, dass das nicht der Fall ist. Somit verfahren wir so.

Wir treten in die heutige Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1   Die Strategie für das digitale Nordrhein-Westfalen

Unterrichtung
der Landesregierung

Der Chef der Staatskanzlei hat mit Schreiben vom 1. April 2019 mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, den Landtag zum Thema „Die Strategie für das digitale Nordrhein-Westfalen“ zu unterrichten.

Die Unterrichtung durch die Landesregierung erfolgt durch den Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, Herrn Minister Professor Dr. Pinkwart. Ich erteile Herrn Minister Professor Dr. Pinkwart das Wort. Bitte schön.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jede Schule, jedes Unternehmen und jeder Privathaushalt in Nordrhein-Westfalen ist an das Gigabit-Netz angeschlossen. On-Demand-Sharing-Fahrzeuge ergänzen die Mobilitätsoptionen. Intelligente Wohnungen ermöglichen Pflegebedürftigen, länger in den eigenen vier Wänden zu leben. Die Telemedizin hat die ärztliche Versorgung in dünn besiedelten Regionen verbessert.

Die Menschen fahren nicht mehr jeden Tag ins Büro, sondern stimmen ihre Arbeitszeit dank mobiler Geräte und flexiblerer Arbeitskultur besser auf ihr Privatleben ab. Personalabteilungen lassen sich von digitalen Assistenten unterstützen, um bei der Personalauswahl geeignete Kandidatinnen und Kandidaten nicht mehr unbewusst zu benachteiligen. Manche Berufe haben sich stark verändert, andere sind gar weggefallen.

(Unruhe – Glocke)

Innovative Betriebe bieten neue Arbeitsplätze, und eine sich ständig weiterentwickelnde berufliche Bildung und Weiterqualifizierung eröffnet neue Perspektiven.

Die örtliche Verwaltung, die Behördengänge längst überflüssig gemacht hat, versorgt die Bürgerinnen und Bürger mit digital aufbereiteten Informationen. Digitale Beteiligungsmöglichkeiten treffen über alle Altersgruppen hinweg auf breite Akzeptanz und Mitwirkung.

Nordrhein-Westfalen steht beispielhaft für den europäischen Weg der Digitalisierung auf einer freiheitlich-demokratischen Wertebasis. Er fußt auf der Überzeugung, dass Digitalisierung dem Menschen und einer offenen Gesellschaft dienen muss.

In Nordrhein-Westfalen finden Unternehmer und Wissenschaftler ein ideales Umfeld. Ein starker Mittelstand wie auch die großen Hidden Champions und DAX-Konzerne nutzen die Chancen der Digitalisierung für starke Innovation und suchen die enge Kooperation mit einer lebendigen Start-up-Szene.

Für diese Gründungsunternehmen ist Nordrhein-Westfalen der attraktivste Standort in Europa. Der Umbau einer energieintensiven traditionsreichen Industrie zu einem der weltweit innovativsten sowie klima- und umweltfreundlichsten Industrie- und Dienstleistungsstandorte bietet ihnen beste Erfolgschancen. Das zieht weitere kluge Köpfe und mehr Chancenkapital nach Nordrhein-Westfalen.

Exzellente Hochschul- und Forschungseinrichtungen sind wissenschaftliche Partner der Unternehmen und treiben die Innovationen voran. Bei Schlüsseltechnologien wie Internet der Dinge, Künstliche Intelligenz, Quantencomputing, Autonome Systeme, Blockchain und Cybersicherheit ist die NRW-Wissenschaft weltweit führend, was zahlreiche Spitzenforscher aus dem In- und Ausland anlockt.

Unsere Schulen sind digital hervorragend ausgestattet und vermitteln den Kindern mehr als nur die Anwendung digitaler Medien. Sie schaffen Experimentierräume und fördern das Begreifen digitaler Technik, sorgen aber auch für die nötige Sensibilität gegenüber Risiken und Gefahren.

Diese Medienkompetenz versetzt unsere Kinder in die Lage, sich aktiv, selbstbestimmt und umsichtig in der digitalen Welt zu bewegen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ihnen hier beschrieben, wie das digitale Nordrhein-Westfalen in Zukunft aussehen könnte, wenn wir die Aufholjagd, die wir begonnen haben, erfolgreich fortsetzen und uns darauf konzentrieren, die Chancen der Digitalisierung mit Optimismus und Tatkraft zu nutzen.

(Beifall von der CDU, der FDP und Roger Beckamp [AfD])

Dies sind die Kernpunkte der Vision, die wir unserer Strategie für das digitale Nordrhein-Westfalen voranstellen. Es geht uns nicht darum, die Zukunft vorherzusagen, sondern darum, zu skizzieren, wie wir uns unser Land vorstellen, basierend auf den Zielen, Überzeugungen und Denkansätzen unserer Strategie.

Wir beschreiben, wie attraktiv das digitale Nordrhein-Westfalen der Zukunft als Land des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, als Land der Innovation und als Land des Aufstiegs durch Bildung sein kann. Alle Bürgerinnen und Bürger des Landes sind eingeladen, dabei mitzumachen und den digitalen Wandel selbst mitzugestalten.

Wir sind davon überzeugt, dass unsere Vision in den kommenden Jahren auch für unser Land erreichbar ist. Darin sehen wir uns durch die vielen Menschen in allen Bereichen des Landes bestärkt, die sich längst auf den Weg gemacht haben, die uns mit ihren Ideen und Initiativen begeistern und uns mit ihren Erwartungen und Vorschlägen auch zu schnellerem Handeln bringen.

Die Digitalisierung gehört zu den größten Gestaltungsaufgaben unserer Zeit. Wir stellen dabei den Menschen in den Mittelpunkt und sind der festen Überzeugung, dass wir durch die Digitalisierung Chancen für Menschen eröffnen und Teilhabe ermöglichen können.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Die Nordrhein-Westfalen-Koalition hat versprochen, eine umfassende Digitalstrategie vorzulegen. Dieses Versprechen lösen wir heute ein. Dabei haben wir weder eine Strategie bei externen Beratern in Auftrag gegeben, noch haben wir die Strategie hinter verschlossenen Türen geschrieben. Wir haben vielmehr mit allen Ressorts der Landesregierung gemeinsam einen Entwurf erarbeitet und diesen in einem breiten, fast einjährigen Beteiligungsprozess öffentlich zur Diskussion gestellt.

Die Strategie ist ressortübergreifend erdacht und entwickelt worden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle insbesondere dem Ministerpräsidenten, der Staatskanzlei, allen Kolleginnen und Kollegen im Kabinett und besonders auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Beamtinnen und Beamten in der gesamten Verwaltung sehr herzlich dafür danken, dass sie diesen Prozess der Erarbeitung unserer Strategie als gemeinsame Aufgabe nicht nur angenommen, sondern auch gemeinsam ausgefüllt haben. Das ist alles andere als selbstverständlich und freut uns in der Landesregierung sehr.

(Beifall von der CDU, der FDP und Roger Beckamp [AfD])

Ich bedanke mich auch bei allen Expertinnen und Experten, allen Vertreterinnen und Vertretern von Verbänden und Institutionen sowie allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die im vergangenen Jahr unseren breit angelegten Beteiligungsprozess bereichert haben – mit Online- und Offlineformaten, einer schriftlichen Anhörung der Verbände und schließlich unserer Digitalkonferenz mit über 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die von Ministerpräsident Armin Laschet eröffnet wurde.

Mehr als 2.000 Rückmeldungen haben uns auf diese Weise erreicht. Die erfolgreiche Beteiligung im vergangenen Jahr hat uns veranlasst, den Dialog zu den digitalen Zukunftsfragen in diesem Jahr fortzusetzen. Die Impulse hieraus werden wir für die perspektivische Fortschreibung unserer Strategie noch in dieser Legislaturperiode nutzen.

Damit ist unsere Strategie nicht nur besser geworden, sondern wir setzen auch ein Zeichen für eine neue partizipative Digitalpolitik. Wir wollen die Menschen in Nordrhein-Westfalen mitnehmen und gemeinsam mit ihnen die Digitalisierung in unserem Land vorantreiben. Nur mit den Menschen im Land wird es uns gelingen, unsere Vision Wirklichkeit werden zu lassen.

(Beifall von der CDU, der FDP und Roger Beckamp [AfD])

Nordrhein-Westfalen hat beim Thema „Digitalisierung“ noch Nachholbedarf. Das hat die von uns beauftragte Metastudie, die wir im vergangenen Jahr an den Anfang unserer Arbeit gestellt haben, ebenso gezeigt wie andere Untersuchungen, die Sie kennen. Nordrhein-Westfalen hat aber auch beste Voraussetzungen, um ganz vorne mit dabei zu sein.

Für uns ist das ein Anlass, Ihnen diese Strategie vorzulegen und zu beschreiben, auf welche Ziele, Themen und Projekte wir uns konzentrieren werden, um Nordrhein-Westfalen digital nach vorne zu bringen. Wir wollen Vorreiter werden und Nordrhein-Westfalen bis 2025 in die digitale Spitzengruppe führen, damit wir zum innovativsten und umweltfreundlichsten Industrie- und Dienstleistungsstandort in Europa werden. Mit einem Platz im Mittelfeld dürfen wir uns bei diesem entscheidenden Zukunftsthema nicht zufrieden geben. Wir müssen ehrgeizig bleiben. Mehr ist möglich.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Alle Ressorts und die Staatskanzlei sind an Konzeption und Umsetzung der Digitalstrategie beteiligt und setzen gemeinsam Schwerpunkte. Wir nehmen in unserer Strategie fünf Schwerpunkt- und vier Schnittstellenthemen in den Fokus. Lassen Sie mich aus Zeitgründen hier nur einige beispielhafte Projekte erwähnen.

Im Bereich der Wirtschaft setzen wir auf erhebliche Erleichterungen für Antrags-, Planungs- und Genehmigungsverfahren durch digitale Angebote. So geht Nordrhein-Westfalen beim Aufbau des Gewerbe-Service-Portal.NRW bundesweit modellhaft voran und wird bereits ab dem kommenden Jahr alle gewerberechtlichen Fachverfahren medienbruchfrei digital bereitstellen.

Die Zahl der Ausgründungen aus den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen soll in den kommenden fünf Jahren insbesondere durch unsere Initiative Exzellenz Start-up Center.NRW um mindestens 50 % gesteigert werden. Außerdem soll die Wagniskapitalinvestition in Start-ups bis 2022 auf 0,5 Milliarden Euro anwachsen und damit gegenüber 2017 verfünffacht werden.

Mittelständische Unternehmen sollen noch stärker zu notwendigen Investitionen in die Digitalisierung ermuntert werden. Hierzu wollen wir den bereits stark nachgefragten neuen Digitalisierungskredit der NRW.BANK auf das Volumen von 0,5 Milliarden Euro bis 2022 ausweiten. Die Programme Innovationsassistent sowie Innovations- und Digitalisierungsgutschein liefern hierfür eine wichtige Grundlage.

Die Digitalisierung der schulischen Bildung in den knapp 6.000 Schulen mit rund 200.000 Lehrkräften und 2,5 Millionen Schülerinnen und Schülern ist eine große, aber besonders wichtige Herausforderung, die meine Kollegin Yvonne Gebauer entschlossen angeht. Es geht im Kern erstens um die Vermittlung von Medienkompetenz, zweitens um die Qualifizierung von Lehrkräften und drittens um den Zugang zu digitalen Medien und Inhalten.

Bis 2022 wollen wir alle Schulen in Kooperation mit den Kommunen an ein leistungsfähiges Gigabit-Netz anschließen. Mit dem DigitalPakt Schule leistet nun auch der Bund seinen Beitrag. Das Ministerium für Schule und Bildung arbeitet derzeit an einer Förderrichtlinie, damit die zusätzlichen finanziellen Mittel den Schulträgern zeitnah bereitgestellt werden.

Für die Digitalisierung an den Hochschulen übernimmt die Digitale Hochschule NRW, in der 42 Universitäten, Fachhochschulen, Kunst- und Musikhochschulen aus Nordrhein-Westfalen mit dem Land zusammenarbeiten, eine entscheidende Rolle.

Frau Kollegin Pfeiffer-Poensgen will mit ihrem Haus die Chancen der Digitalisierung konsequent zur hochschulübergreifenden Zusammenarbeit nutzen und unterstützt diesen Prozess seit Anfang dieses Jahres mit jährlich 50 Millionen Euro aus der landesweiten Digitalisierungsoffensive. Erste Projekte sind hier bereits gestartet. Ich nenne nur beispielhaft den modular aufgebauten hochschulübergreifenden E-Learning-Beitrag für die höhere Mathematik sowie den Aufbau einer „hochschulcloud.nrw“.

Die Arbeitswelt verändert sich durch die Digitalisierung stark. Meinem Kollegen Karl-Josef Laumann und mir ist es besonders wichtig, die Digitalisierungsprozesse überall beteiligungsorientiert zu gestalten. So, wie wir die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeit auf der Ebene des Landes im Dialog mit Sozialpartnern, Kammern, Arbeitsagenturen und Wissenschaft in der Initiative Wirtschaft & Arbeit 4.0 vorantreiben, entwickeln die Regionen in enger Kooperation mit den Regionalagenturen im Dialogprozess „NRW 4.0: Gute und faire Arbeit“ passende Aktivitäten für ihre Bedarfe.

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen hat besonderen Nachholbedarf bei der elektronischen sektorenübergreifenden Kommunikation. Ein umfassender Informations- und Datenaustausch zwischen Arzt und Facharzt, Arzt und Krankenhaus sowie Arzt und Apotheker ist außerhalb von Modellprojekten bis heute nicht möglich.

Mit dem Aufbau der Telematikinfrastruktur – und an dieser Stelle bitte ich um Ihre besondere Aufmerksamkeit: 15 Jahre, nachdem die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen wurden – haben wir uns auch hier ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Bis 2020 will mein geschätzter Kollege Karl-Josef Laumann in Nordrhein-Westfalen bis zu 40.000 Arzt- und Zahnarztpraxen, über 350 Krankenhäuser und bis zu 4.400 Apotheken sowie Pflegeheime und weitere Einrichtungen des Gesundheitswesens vernetzen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Auch das Thema „Mobilität“ bewegt die Menschen in Nordrhein-Westfalen. Gerade die Teilnehmer an unserem Onlinebeteiligungsprozess haben das sehr hoch bewertet. Mein Kollege Hendrik Wüst baut systematisch daran, die Möglichkeiten autonomen Fahrens für unser Land umfassend zu nutzen.

Für den Übergang werden bis 2021 mehr als 40 neue dynamische Wegweiser mit integrierter Verkehrsinformation errichtet. Weitere Maßnahmen betreffen die stadtverträgliche Lkw-Navigation, die weitgehende digitale Erfassung von Mobilstationen und ÖPNV-Haltestellen sowie das Hinwirken auf die Entwicklung verbundübergreifender elektronischer Ticketlösungen im ÖPNV.

Im Bereich von Forschung und Innovation schreitet der Aufbau einer landeseigenen Kompetenzplattform Künstliche Intelligenz Nordrhein-Westfalen zügig voran. KI made in Nordrhein-Westfalen wollen wir mit einem Dreiklang aus Exzellenz in Forschung und Bildung, Erfolg in der Wirtschaft und Ethik in der Umsetzung in die europaweite Spitze führen. Hierzu werden neue Flagship-Professuren geschaffen, Nachwuchswissenschaftler berufen und der Transfer zum Mittelstand ausgebaut.

Nach der erfolgreichen Einwerbung des Max-Planck-Instituts für Cyber Security – ermöglicht durch meine geschätzte Kollegin Pfeiffer-Poensgen und den Herrn Ministerpräsidenten Laschet – arbeiten wir an der Gründung des europäischen Blockchain-Instituts am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund und planen im Rheinischen Zukunftsrevier die Einrichtung eines Reallabors für Blockchain-Anwendungen im Bereich Energie und öffentliche Daseinsvorsorge.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dadurch wollen wir erreichen, dass Nordrhein-Westfalen bei den ganz großen Themen „Künstliche Intelligenz“, „Cybersicherheit“ und „nächste Entwicklungsstufe des Internets der Werte“ zum Vorreiter wird – hier in Deutschland und in Europa.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Um bei der Digitalisierung glaubwürdig zu sein, muss der Staat bei sich selbst anfangen. Die Digitalisierung der Landesverwaltung wollen wir bis 2025 und nicht erst bis 2031 realisieren und auch die Kommunen bei ihrer Digitalisierung unterstützen.

Seit dem Regierungswechsel hat dieser Prozess nun Fahrt aufgenommen. Wir haben bereits vieles geschafft, was auch für Bürgerinnen und Bürger erfahrbar ist. Wichtige Basiskomponenten für das E-Government wie das Servicekonto und E-Payment stehen jetzt zur Verfügung. An einer ergänzenden App-Lösung mit sicherer Authentifizierung wird gearbeitet.

Die landesrechtliche Umsetzung der elektronischen Rechnungsstellung ist mit dem Entfesselungspaket II erfolgt. Ein zentraler elektronischer Behördenzugang für Eingänge wie De-Mails und verschlüsselte Mails ist eingerichtet, und die betroffenen Behörden sind fristgerecht angebunden. Das Wirtschafts- und Digitalministerium hat elektronische Akten und Laufmappen im Pilotbetrieb gestartet und wird sie bis Herbst dieses Jahres im gesamten Haus einsetzen. Der Rollout in die anderen Ressorts der Landesregierung ist für die kommenden drei Jahre geplant. Die Bezirksregierungen arbeiten arbeitsteilig als Modellbehörden an ihrer Digitalisierung.

Ich möchte hier Folgendes hervorheben – und ich bitte, das nicht misszuverstehen –: Ich hatte von 2005 bis 2010 schon einmal die Ehre, Minister in der Landesregierung Nordrhein-Westfalen sein zu dürfen. Als ich im Sommer 2017 wieder die Ehre hatte, hier in einer Landesregierung mitzuwirken, habe ich meine Arbeit innerhalb von 48 Stunden wieder vollständig aufnehmen können, weil sich in diesen sieben Jahren im Ministerium nichts verändert hatte. Es war komplett so wie damals. Insofern glaube ich schon, dass wir ein bisschen etwas erreichen können und müssen, damit es vorwärtsgeht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich freue mich, dass die Beamtinnen und Beamten – dafür möchte ich ihnen Dank sagen – das Ganze offen angenommen haben und annehmen. Sie haben mit dem eigenen Konzept MWIDE Digital 2022 ein Leitbild und einen Fahrplan entwickelt, wie die Digitalisierung umgesetzt werden kann.

Zu meiner großen Freude befindet sich unser Team beim 18. eGovernment-Wettbewerb des Bundes unter Schirmherrschaft von Helge Braun unter den drei letzten Teams. Heute entscheidet sich, welches Team gewinnt. Unter 83 Teams sind wir in die Endrunde gekommen. Das ist doch ein schönes Zeichen dafür, dass sich Anstrengung lohnt.

Wir können es nur schaffen, wenn wir uns trauen und wenn alle mitmachen wollen. Wir sollten uns über die Erfolge freuen und dort, wo wir Fehler machen, aus den Fehlern lernen und versuchen, besser zu werden. So müssen wir das Ganze Schritt für Schritt voranbringen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das Gleiche gilt für unsere Digitalen Modellregionen, die wir an den Start gebracht haben. Es liegen bereits 50 Projektideen im Gesamtvolumen von 50 Millionen Euro vor, darunter 25 im Bereich E-Government. Hier geht es zum Beispiel um digitale Bürgerservice-Portale, Open-Data-Projekte und Bürgerbeteiligung.

Dies alles zeigt, dass die Digitalisierung in unserem Land endlich Fahrt aufnimmt. Dabei konnte ich aus Zeitgründen jetzt nur einige Breispiele nennen. Auch in den anderen Ressorts gibt es zahlreiche ehrgeizige Digitalisierungsprojekte, die Sie in unserer Strategie finden und an deren Realisierung wir gemeinsam als Landesregierung arbeiten.

Auch länderübergreifend setzen wir auf Zusammenarbeit. Denn wir können nur besser werden, wenn wir voneinander lernen. Wir arbeiten hier unter anderem mit der Bayerischen Staatsregierung als Vorreiter zusammen, weil wir zusammen noch besser werden wollen. Deshalb haben wir bei der gemeinsamen Kabinettsitzung mit der Bayerischen Staatsregierung den Digital-Dialog ins Leben gerufen. Hier tauschen wir im kommenden Jahr Best-Practice-Beispiele miteinander aus.

Aber wir arbeiten nicht nur in Deutschland miteinander, sondern auch auf europäischer Ebene – ob es die niederländische Regierung ist, ob es die belgischen Kollegen sind, ob es Estland und die anderen baltischen Staaten sind oder ob es Großbritannien ist, wo wir gerade im Bereich KI eine Zusammenarbeit verabreden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Digitalisierung endet nicht an den Landesgrenzen, sondern findet auch außerhalb statt. Wir müssen die Anregungen, Ideen und Erfahrungen der anderen mit aufnehmen. Wir müssen sie für Nordrhein-Westfalen nutzbar machen.

Unser Land hat unglaubliche Potenziale. Wir haben riesige Chancen. Natürlich müssen wir auch die Risiken und Gefahren sehen. Nach meiner festen Überzeugung und auch nach Überzeugung der Landesregierung sind die Chancen aber größer als die Risiken, wenn wir sie rechtzeitig erkennen, sie nutzen und die Menschen mitnehmen in eine digitale Zukunft, in der der Mensch im Mittelpunkt steht, sozialer Aufstieg möglich bleibt und es fair und sozial zugeht. Das ist unsere Vorstellung für das digitale Nordrhein-Westfalen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf die weitere Diskussion.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Ich eröffne nun die Aussprache und erteile als erster Rednerin für die SPD-Fraktion Frau Abgeordneter Kampmann das Wort. Außerdem darf ich darauf hinweisen, dass die Fraktionen die Möglichkeit haben, ihre Redezeiten jeweils um 1:52 Minuten zu überziehen.

Christina Kampmann (SPD): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Pinkwart, Sie sind selbst Ihr größter Fan. Das haben Sie hier wieder einmal deutlich gemacht.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Armin Laschet, Ministerpräsident: Zu Recht!)

– Zu Recht, sagt Herr Laschet. Das sehen wir ja gleich.

Das, was Sie hier mit so überbordender Leidenschaft in feinster Spiegelstrichmanier vorgetragen und aufgelistet haben, sodass es die SPD fast von den Sitzen gerissen hat,

(Bodo Löttgen [CDU]: So viele sind gar nicht da, dass man sie von ihren Sitzen reißen könnte!)

haben die Menschen hier in Nordrhein-Westfalen ganz bestimmt nicht verdient.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zurufe von der CDU und der FDP – Unruhe – Glocke)

Das ist eher die Fortsetzung Ihrer Strategie, die Sie schon im Wahlkampf hatten, mit schmissigen Slogans nach dem Motto: heiße Luft, aber nichts dahinter.

(Zurufe von der CDU und der FDP: Oh!)

Noch nicht einmal Ihr Koalitionspartner hat wirklich zugehört.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Dietmar Brockes [FDP]: Sprechen Sie doch einmal für sich!)

Denn als Sie hier standen, Herr Minister Pinkwart – das war wirklich das Schönste –, Herrn Laumann in die Augen schauten und sagten,

(Zurufe von der SPD und den GRÜNEN: Oh! Schau mir in die Augen, Kleines! – Heiterkeit)

das Thema „Arbeit der Zukunft“ sei ein Thema, das Sie gemeinsam bewege, hat Herr Laumann Sie unglaublich ungläubig angeschaut und ganz schnell den Raum verlassen. Das ist nämlich mit Sicherheit kein Schwerpunktthema Ihrer Digitalstrategie.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das Ganze fing ja schon im Wahlkampf an. Wir erinnern uns noch gut daran. Ihre Versprechen waren nahezu grenzenlos. „Die Digitalisierung ändert alles. Wann ändert sich die Politik?“, fragte die FDP und warb mit einem Zukunftsthema, das unglaublich gut zu ihrem dynamischen Spitzenkandidaten zu passen schien. Aber niemanden schien wirklich zu interessieren, was sich hinter diesen hippen Slogans eigentlich verbirgt.

Die CDU hingegen trat von Anfang an bescheidener auf. Ich habe noch einmal nachgeschaut. Dreieinhalb Seiten standen zu dieser Thematik im insgesamt 112-seitigen Wahlkampfprogramm. Dazu kam das Wissen, dass Alexander Dobrindt das Thema „Breitbandausbau“ schon irgendwie vergeigt hatte.

Wenn die CDU eine Stärke hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann ist es das Wissen um die eigene Schwäche. Mehr steht bei Ihnen nicht dahinter. Das zeigt sich auch in der Digitalstrategie.

(Beifall von der SPD)

Umso größer war die Euphorie auch bei uns in der Opposition, als aus dieser Mischung aus Selbstüberschätzung auf der einen Seite und Ambitionslosigkeit auf der anderen Seite

(Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

plötzlich eine Digitalstrategie geboren werden sollte. Ein Onlinebeteiligungsverfahren wurde angekündigt. Wenn es darum geht, die Bürgerinnen und Bürger einzubinden, dann finden auch wir das natürlich richtig gut.

Was wir Ihnen aber von Anfang an hätten sagen können, ist, dass es dazu nicht reicht, einfach eine Seite online zu schalten und jetzt zu beschließen, dass das das große Beteiligungsverfahren für die Digitalstrategie ist.

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, da hätten Sie frei nach Christian Lindners Äußerung zu „Fridays for Future“ vielleicht doch mal die Profis fragen sollen. Vielleicht hätten dann mehr als 0,00096 % der nordrhein-westfälischen Bevölkerung bei diesem großen Beteiligungsverfahren mitgemacht.

(Sarah Philipp [SPD]: Das ist aber wenig! Das ist aber wirklich wenig!)

Ich sage Ihnen: Wer Beteiligung so anlegt, wie Sie es getan haben, der zeigt, dass ihm die Meinung der Menschen in diesem Land komplett egal ist. Der nimmt eine einzelne Website einfach nur als Feigenblatt dafür, dass ihm nichts, aber auch wirklich gar nichts anderes einfällt. So macht man keine Politik für Nordrhein-Westfalen. Mit Ihrer Pseudobeteiligung haben Sie die Chance verpasst, eine Strategie zu entwickeln, die tatsächlich von den Menschen her gedacht und nicht einfach nur übergestülpt ist, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Aber mit Beteiligung scheinen Sie es ja insgesamt nicht so genau zu nehmen. Dass das Parlament die finale Fassung dieser Digitalstrategie …

(Zuruf von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

– Sie möchten sich gleich entschuldigen? Das hätten Sie eben schon machen können, Herr Pinkwart. Ganz blöd gelaufen! Sie haben es gestern der Presse vorgestellt, und wir haben es erst gestern Nachmittag um 15 Uhr bekommen.

Sie zeigen damit, was Sie tatsächlich von direkt und insgesamt von gewählten Abgeordneten halten. Wer das Parlament aber nicht achtet, der tritt auch unsere Demokratie mit Füßen

(Zurufe von der CDU)

und damit die Meinung all der Menschen, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben. So ist es, liebe Kollegen von der CDU.

(Beifall von der SPD – Zurufe von der CDU)

Wenn es Ihnen wirklich ernst wäre mit einer Digitalstrategie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, dann wären Sie auch mal auf die zugegangen, die sich tagtäglich mit diesem Thema beschäftigen, auf die, deren Arbeitsplatz gerade auf der Kippe steht, weil eine künstliche Intelligenz den Roboter steuert, der sie in Zukunft ersetzen soll.

Dann hätten Sie vielleicht auch mal mit denen gesprochen und wären aktiv auf diejenigen zugegangen – statt einfach eine Seite online zu schalten –, die in der Pflege längst darauf warten, dass digitale Innovationen ihren Alltag erleichtern, die seit 40 Jahren Menschen ins Bett legen und sie wieder rausheben, sie in den Rollstuhl setzen und ihnen wieder raushelfen, deren Rücken irgendwann einfach nicht mehr kann.

Diese Menschen warten auf digitale Innovationen. Die gibt es endlich. Aber Herr Laumann müsste eben auch mal anwesend sein und entsprechende Maßnahmen anstoßen. Wo ist er denn?

(Daniel Sieveke [CDU]: Unverschämtheit! – Weitere Zurufe von der CDU)

– Nein, das ist überhaupt nicht albern. Jetzt ist er nicht hier, während wir über das Thema sprechen.

(Zurufe von der CDU)

Diese Digitalstrategie betrifft das ganze Kabinett und nicht nur Sie, Herr Minister Pinkwart.

(Beifall von der SPD – Zurufe von Bodo Löttgen [CDU] und Dietmar Brockes [FDP])

Vielleicht hätten Sie dann auch mal mit denen gesprochen, die keine Ahnung davon haben, wie das mit dem Onlinebanking geht, die aber auch niemanden mehr fragen können, weil gerade die letzte Bankfiliale in ihrem Dorf geschlossen hat, die sich von einer Entwicklung überholt fühlen, mit deren Tempo sie irgendwann einfach nicht mehr Schritt halten konnten.

Wir alle brauchen den digitalen Wandel und die vielen großartigen Möglichkeiten, die die Digitalisierung mit sich bringt. Was wir aber nicht brauchen, das ist der naive Fortschrittoptimismus nach dem Motto „Digitalisierung first, Bedenken second“.

Ihr vermeintliches Strategiepapier, das von einem Abgeordneten der regierungstragenden Fraktionen gestern als „Prunkstück der Landesregierung“ bezeichnet wurde, atmet den Geist eines Fortschrittsglaubens, der nichts, aber auch wirklich gar nichts mit dem zu tun hat, was die Menschen in diesem Land gerade bewegt.

Da ist von Entfesselung die Rede, von disruptiven Implikationen und von agilen Planungszyklen. Das sollte aber doch keine Strategie für irgendein Technologie-Start-up sein. Ich dachte immer, Ihre Strategie sollte für die Menschen in diesem Land gedacht sein.

Es ist aber überhaupt keine Rede davon, was Sie für diejenigen tun, die gerade um ihren Arbeitsplatz fürchten. Wissen Sie, wie viele Beschäftigte gerade verunsichert sind, weil jede Woche neue Zahlen durchs Land getrieben werden, die vielleicht zeigen, dass sie möglicherweise die nächsten sind, die ihren Job verlieren?

Wissen Sie, was es für die Menschen bedeutet, in eine vollkommen unsichere Zukunft hineinzuleben, in der vieles, was immer ganz selbstverständlich war, ganz plötzlich keine Gültigkeit mehr besitzt? Denen hilft keine Landesregierung, die so, wie Sie das gerade wieder getan haben, immer nur auf ihre Vorgänger zeigt und ruft: Sie haben es ja auch nicht besser gemacht. – Sie stehen jetzt in der Verantwortung, und Sie müssen dieser Herausforderung auch gerecht werden.

(Beifall von Christian Dahm [SPD])

Die Zeit, in der Politik zeigen wollte, dass das Thema „Digitalisierung“ jetzt auch in selbiger angekommen ist und – Achtung! – kein Neuland mehr ist, ist vorbei. Jetzt ist die Zeit, in der die Menschen Antworten erwarten.

Wer in Ihrer Strategie nach Antworten sucht – Herr Pinkwart, ich habe mir wirklich Mühe gegeben und bin da extrem objektiv rangegangen, wie Sie sich vorstellen können;

(Lachen und Zurufe von der CDU)

da gibt es überhaupt nichts zu lachen –,

(Moritz Körner [FDP]: Da müssen Sie selber lachen! – Unruhe – Glocke)

der sucht tatsächlich die Nadel im Heuhaufen. Das wird den vielen arbeitenden Menschen in Nordrhein-Westfalen ganz bestimmt nicht gerecht. Es ist wirklich unverantwortlich, dass Sie an dieser Stelle keinen Schwerpunkt in Ihrer Strategie setzen.

(Beifall von der SPD)

Aber schauen wir uns die Strategie, die Sie hier als großen Erfolg verkaufen, einmal genauer an. Schließlich kann ja nicht alles schlecht sein.

Wir stellen fest: In den Zielen sind wir uns ganz oft einig, zum Beispiel wenn es darum geht, Nordrhein-Westfalen für Gründer so attraktiv wie möglich zu machen. Toll wäre es auch, wenn Sie mal was für Gründerinnen machen würden. Sie stehen nur hinter 15,1 % der Gründungen insgesamt. Das heißt, da ist noch ganz viel Luft nach oben. Dazu finde ich in dieser Strategie leider ziemlich wenig.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Woran es fehlt, ist ein Konzept mit Maßnahmen – das ist wirklich ein grundsätzlicher Fehler der Strategie –, wie diese Ziele tatsächlich erreicht werden sollen. Deshalb ist es so dermaßen lächerlich, dass Sie Ihre Digitalstrategie heute als Erfolg verkaufen wollen.

Ihre vermeintliche Strategie ist nichts weiter – und jeder, der sie gelesen hat, wird das bestätigen – als ein Sammelsurium von Einzelmaßnahmen, die zum großen Teil schon in unserer Regierungszeit auf den Weg gebracht wurden.

(Lachen von der FDP)

– Schauen Sie sich das doch mal an! Ich denke nicht, dass Sie es selbst gelesen haben. Die neuen Gedanken, die Sie in diese Strategie einbringen, kann man an einer Hand abzählen. Ich möchte Ihnen natürlich Beispiele dafür geben. Sehen wir uns Ihren großen Maßnahmenkatalog einmal an.

Erstens. Beim Thema „Start-up“ nennen Sie die Digital Hubs, die schon unter Gerald Duin ins Leben gerufen wurden.

Die zweite von Ihnen angekündigte Maßnahme ist der Beirat Digitale Wirtschaft. Ja, wissen Sie denn nicht, dass dieser Beirat schon im Jahr 2015 bestand und die Strategie „Digitale Wirtschaft NRW“ entwickelt hat? Glauben Sie wirklich, dass ein Beirat, der fast ausschließlich aus Männern besteht, für ein modernes und zukunftsoffenes Nordrhein-Westfalen stehen kann?

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wenn sich Ihre Ideen laut Digitalstrategie darin erschöpfen, dass Start-ups ihr Gewerbe jetzt auch online anmelden können, dann sollten Sie in Zukunft vielleicht etwas bescheidener daherkommen oder sich von dieser Strategie verabschieden. Die ist nämlich nichts weiter als heiße Luft. Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele, die daran glauben, viel Besseres verdient haben.

Besonders enttäuschend ist die Digitalstrategie – jetzt ist Frau Gebauer auch weg – im Bildungsbereich. In der Überschrift, dass Bildung ein Schlüssel zur digitalen Zukunft ist, sind wir uns noch einig. Wer aber nach Maßnahmen sucht, wie das erreicht werden kann, wird bitter enttäuscht. Das, was Frau Gebauer in zwei Jahren umgesetzt hat, ist gemessen an dem, was sie vor zwei Jahren propagiert hat, wirklich null Komma gar nichts, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Das Digitalste an den Schulen sind auch zwei Jahre nach Übernahme des Schulministeriums durch die FDP immer noch die Pausen. Ab und an kommt mal ein Bus vorbei, mit dessen Hilfe in wenigen Stunden erklärt werden soll, was Schule und Programmieren eigentlich miteinander zu tun haben.

Aber eigentlich geht es gar nicht darum. Vielmehr geht es um die Tatsache, dass einer alten Parteifreundin einfach ein Gefallen getan werden sollte.

(Zuruf von der SPD: So seid ihr!)

Irgendwer musste die vielen tollen, bunten Wahlplakate im Wahlkampf ja finanzieren, liebe FDP.

(Beifall von der SPD)

Lange Zeit fehlte auch das entsprechende Geld. Da sollten die Mittel aus dem Bund doch gerade richtig kommen. Aber nein, auch beim Digitalpakt hat unser Ministerpräsident an führender Stelle gebremst. – Die Sache mit der Digitalisierung sollte man ja auch nicht überstürzen, oder, Herr Laschet? – Ich lache, weil Ihr Digitalminister gerade lacht.

Das, was die Landesregierung hier als Digitalstrategie vorlegt, ist eine einzige Mogelpackung, allenfalls eine Fleißaufgabe, die darin bestand, längst existierende Maßnahmen zusammenzufassen und „Strategie“ darüberzuschreiben. Das ist – entschuldigen Sie bitte – wirklich mehr als einfallslos. Es reicht eben nicht, aufzulisten, wo überall Digitalisierung stattfindet. Politik ist eine Gestaltungsaufgabe und kein Zusammenschreiben gesellschaftlicher Entwicklungen.

(Beifall von der SPD und Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

In einer Strategie muss man auch Schwerpunkte setzen und Konzepte formulieren. Sonst verliert man sich im Klein-Klein,

(Dietmar Brockes [FDP]: Wie Sie in Ihrer Rede!)

genauso wie Sie es nicht nur aufgeschrieben haben, sondern wie sich das auch in der Rede von Minister Pinkwart gerade widergespiegelt hat.

Das Beste daran ist, dass Sie immer dann, wenn Sie in Ihrer Strategie nicht mehr weiterwissen, einfach sagen: Zu diesem Thema sollte mal eine App entwickelt werden. – Immerhin haben Sie in der neuen Fassung jetzt versucht, die Vision von einer digitalen Gesellschaft zu formulieren.

Ich sage Ihnen: Wenn man wie ich zwei Jahre bei Ihnen sitzt und ganz aufmerksam zuhört, was Sie digitalpolitisch wirklich planen, dann kommt einem diese Vision wie blanker Hohn vor. Das, was Sie beschreiben, und das, was Sie wirklich tun, ist so gegensätzlich, dass Sie eigentlich nicht einmal selbst daran glauben dürften.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

In der Realität ist Datenschutz für Sie ein Wettbewerbshindernis, und Menschen sind das Steuerfeuer eines digitalen Wandels. In der Realität stellen Sie Menschen nie in den Mittelpunkt, sondern Sie kehren ihnen mit Ihren digitalpolitischen Maßnahmen immer den Rücken zu. Da geht es um skalierbare Geschäftsmodelle und um Wagniskapital.

Ich habe Sie aber noch nie über die Beschäftigten in den Betrieben sprechen hören oder über die Menschen, die auf dem Weg in eine digitale Gesellschaft nicht verloren gehen dürfen.

Wenn man Ihre Strategie liest, dann weiß man, dass die digitale Revolution niemals von den liberalen Parteien und schon gar nicht vom Konservatismus geprägt wird. Die digitale Revolution wird von den progressiven Kräften nach vorne gebracht.

(Widerspruch und Lachen von der FDP)

Wir gestalten die Digitalisierung zum Wohle unserer Gesellschaft und auf dem Boden der Werte, die Fortschritt für alle ermöglichen. – Ich freue mich, dass Sie dem so lautstark zugehört haben, und danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Kampmann. – Für die CDU-Fraktion erteile ich nun dem Abgeordneten Herrn Schick das Wort.

Thorsten Schick*) (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Konfuzius hat einmal gesagt: „Der Edle predigt nur das, was er zuvor in die Tat umgesetzt hat.“ Frau Kampmann, wenn Sie sich daran gehalten hätten, wäre Ihr Wortbeitrag eine ziemlich meditative Veranstaltung gewesen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Zu Ihrer Ehrenrettung will ich allerdings sagen, dass Sie die weitgehende Tatenlosigkeit Ihrer rot-grünen Landesregierung nicht miterlebt haben. Sie hatten damals das Glück, noch in Berlin im Deutschen Bundestag verweilen zu dürfen.

Deshalb auf die Schnelle ein paar grundsätzliche Unterschiede zwischen Ihrer und unserer Politik im Überblick:

Wir haben einen Koalitionsvertrag verabschiedet, der sich dem Thema der Digitalisierung in allen Facetten widmet. Im Inhaltsverzeichnis des letzten rot-grünen Koalitionsvertrags tauchte das Thema „Digitalisierung“ noch nicht einmal auf.

(Zuruf von der SPD: Sie müssen den Text lesen, Herr Kollege!)

Die schwarz-gelbe Landesregierung hat eine Digitalstrategie erarbeitet, die fortlaufend abgearbeitet und aktualisiert wird. Ihre rot-grüne Landesregierung stellte in der Mitte der Wahlperiode fest, dass sich die Regierung auch einmal zum Thema „Digitalisierung“ äußern könnte.

Die heutige Regierungserklärung von Minister Pinkwart beschreibt sehr konkret Maßnahmen und Ziele, die in den kommenden Jahren erreicht werden sollen. Unter der Überschrift „Menschen verbinden – MegaBits. MegaHerz. MegaStark“ hatte die damalige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft sich so ziemlich alles aufschreiben lassen, was in NRW nicht wegen, sondern trotz ihrer rot-grünen Landesregierung digital entstanden ist.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Frau Kampmann, Sie verlangen von dieser Landesregierung politisches Hochreck, während sich Ihre alte Landeregierung schon beim Bodenturnen verknackst hat. Ich möchte das unterschiedliche Vorgehen in Ihrer und unserer Regierungszeit gern anhand eines Beispiels, nämlich der Datennetze, deutlich machen.

Minister Pinkwart beschreibt in seiner Digitalstrategie mit Recht noch einmal seine Initiative zum Thema „Mobilfunk“. Sie wissen: Mit den Mobilfunkanbietern Telekom, Vodafone und Telefónica hat sich die Landesregierung darauf verständigt, 1.350 neue Funkmasten zu bauen und 5.500 Standorte zu modernisieren. Dadurch werden Funklöcher geschlossen und ein erfolgreicher Start des neuen Mobilfunkstandards 5G ermöglicht. Das ist unser Handeln.

Die Regierungserklärung von Frau Kraft hatte die Überschrift „Menschen verbinden – MegaBits. MegaHerz. MegaStark“. Das weckt Erwartungen. Funklöcher gab es schon damals, und zwar nicht nur in Brandenburg, wo die Ministerpräsidentin einige Monate zuvor für ein paar Tage in Funklöchern verschwunden war.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wer also auf die Regierungserklärung schaut, hatte Lösungen oder zumindest Initiativen erwartet. Aber die Antwort fällt nicht megastark, sondern denkbar schwach aus. Das Thema „Mobilfunk“ kam in der damaligen Regierungserklärung noch nicht einmal vor.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Aber nicht nur in dieser Frage hatte sich die rot-grüne Landesregierung vergaloppiert. Ich bin in der letzten Woche durch Dortmund gefahren. Mir sind sofort rote Plakate ins Auge gestochen: „Unsere Herzkammer – 150 Jahre Dortmunder SPD“. Grund genug für mich, einmal in der „MegaHerz-Regierungserklärung“ nachzuschauen, was so alles in der SPD-Herzkammer unter dem Thema „Digitalisierung“ zu finden war.

Ich glaube, wir sind uns alle einig: Das Thema „IT-Standort Dortmund“ ist ein gutes, weil dort jede Menge Unternehmen angesiedelt sind. Doch was in der angeblichen sozialdemokratischen Herzkammer so alles pulsiert, war für die damalige Landesregierung weitgehend unbekannt. In der einstündigen Regierungserklärung von Frau Kraft fand sich nur der Hinweis, dass an der TU Dortmund in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen intelligente Leitplanken entwickelt werden, die vor Falschfahrern warnen.

Gut wäre gewesen, jemand hätte Frau Kraft davor gewarnt, den IT-Standort Dortmund derartig zu verzwergen.

(Zuruf von Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])

Es gibt dort 1.000 Digitalunternehmen mit 14.000 Beschäftigten, und das ist das Einzige, was Ihnen dazu einfällt!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das nenne ich „kalte Schulter“ statt „MegaHerz“ für die ehemalige Hochburg.

Liebe Sozialdemokraten, bevor es Ihnen zu kalt ums Herz wird: Immerhin kann sich die schwarz-gelbe Landesregierung für die Westfalenmetropole erwärmen.

Ein Beispiel: Der Digital-Gipfel der Bundesregierung findet mit Unterstützung von Ministerpräsident Armin Laschet in diesem Jahr in Dortmund statt. Das ist die Spitzenveranstaltung und die zentrale nationale Veranstaltungsform für die Gestaltung des digitalen Wandels.

Ein weiteres Beispiel: Mit dem Kompetenzzentrum Maschinelles Lernen Rhein-Ruhr ist es gelungen, einen von vier deutschen Knotenpunkten im Bereich der künstlichen Intelligenz nach Dortmund zu holen. Einen Dank an Sie, Herr Minister Pinkwart, auch dafür, dass Sie an der Gründung eines europäischen Blockchain-Instituts am Fraunhofer-Institut in Dortmund arbeiten.

(Beifall von der CDU und der FDP)

So sieht ein „MegaHerz“ für die Stadt Dortmund aus. Das ist etwas anderes als das, was Sie in der Vergangenheit dort veranstaltet haben.

Wenn wir über die Qualität von Regierungserklärungen sprechen: Der Begriff „KI“, also Künstliche Intelligenz, hat es noch nicht einmal in die Regierungserklärung von Frau Kraft geschafft. Aber – Sie haben es angesprochen – es gab natürlich Nachbesserungen. Sie haben ein, zwei Projekte auf den Weg gebracht, die wir fortentwickelt und noch entsprechend gestärkt haben.

Doch der landesweite Ansatz hat in Ihrer Regierungsarbeit immer gefehlt. Es gibt innovative Projekte, beispielsweise die digitalen Modellkommunen, die für das gesamte Land Nordrhein-Westfalen wichtig sind. Ich selbst komme aus Südwestfalen. Wir haben dort eine sehr starke Wirtschaftsregion, die stärkste in Nordrhein-Westfalen, die drittstärkste in Deutschland.

Die von Ihnen geschaffenen Digital Hubs in Münster oder in Essen sind sehr weit weg. Die Leute brauchen auch vor Ort innovative Impulse. Die kommen aus den digitalen Modellkommunen. Soest ist hier extra breit aufgestellt. Ich nenne Lippstadt, Iserlohn und weitere Kommunen. Sie agieren dann als Vorreiter.

Gerade kleine und mittelständische Unternehmen haben beim Sprung in die digitale Gesellschaft häufig etwas Mühe, sei es aus finanziellen Gründen, sei es wegen fehlender organisatorischer Möglichkeiten. Darauf sind die digitalen Modellkommunen die richtige Antwort für das ganze Land.

Das sind die innovativen Ideen, die wir vorgegeben haben. So machen wir deutlich, dass wir Digitalisierung verstehen und nicht nur darüber sprechen. Ich könnte mir jetzt die Mühe machen und die ganze Bandbreite der Ziele, Initiativen und Maßnahmen aufzeigen, die in der Digitalstrategie festgesetzt sind. Dafür reicht die Zeit jedoch nicht.

Ich möchte nur noch ein Fazit zu Ihrer damaligen und zu unserer heutigen Regierungsarbeit ziehen: Sie hatten viel „MegaHerz“ in der Überschrift, bei uns sind alle Ministerien mit sehr viel Herzblut bei der Arbeit. Deswegen werden die Menschen am Ende der Wahlperiode festgestellt haben, was gut für unser Land gewesen ist, und uns dementsprechend weiter auf dem Weg der Digitalisierung unterstützen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Schick. – Für die Fraktion der Grünen hat nun der Abgeordnete Bolte-Richter das Wort.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Minister! Es gibt ein Phänomen, das heißt „digitale Ungeduld“. Die wurde bei der Unterrichtung heute wieder mal enttäuscht. Das ist der rote Faden, der sich durch Ihr Regierungshandeln zieht.

Herr Pinkwart, Sie wollen die digitale Verwaltung vorantreiben. Sie kündigen an, das E-Government-Gesetz zu beschleunigen. Aber nach Ihrer Ankündigung kommt dann – nichts. Sie sind jetzt zwei Jahre im Amt und haben es in dieser Zeit nicht einmal hinbekommen, eine Jahreszahl im Gesetz zu ändern.

Sie wollen Sicherheit im digitalen Zeitalter schaffen. Aber wie wollen Sie Sicherheit schaffen, wenn Sie mit dem Innenminister, der den Staat zum Hacker machen will, das größte Risiko für die IT-Sicherheit in unserem Land auf der Regierungsbank sitzen haben?

Jeder weiß, dass Daten der Rohstoff des digitalen Zeitalters sind, ganz besonders die öffentlichen Daten. Riesengroß war die Ankündigung, dass Sie ein Open-Data-Gesetz machen wollen. Sie haben den Termin jetzt schon zweimal verschoben. Wir fragen Sie: Wann kommt das endlich?

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur wir Parlamentarier werden enttäuscht. Enttäuscht wird eine junge Generation, die da zu Hause ist, wo man den WLAN-Code kennt, und deren Blick weiter reicht als von hier bis Dortmund.

Enttäuscht werden Bürgerinnen und Bürger, die das von einer Verwaltung erwarten, was sie von ihrer Bank, von ihrem Internetanbieter und von dem Bäcker um die Ecke kennen, nämlich dass Leistungen digitalisiert werden.

Enttäuscht werden Hidden Champions, die unseren Standort stärken. Für all diese ungeduldigen Menschen finden wir in Ihrem Papier keine Antworten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir haben es in der letzten Woche lesen dürfen: Die FDP will jetzt Klimaschutzpartei werden. – Herr Pinkwart, Sie haben hier mehr als 20 Minuten lang geredet; jetzt gerade reden Sie mit dem Kollegen Hovenjürgen. Das Thema „Klimaschutz“ kommt in Ihrer Unterrichtung allenfalls in Stichworten vor.

Das zeigt, Sie haben nicht verstanden, worum es Schülerinnen und Schülern geht, worum es dem „Bundesverband Deutsche Startups“ geht, worum es „Entrepreneurs For Future“ geht. Die Digitalisierung hilft uns, die Klimakrise zu lösen, aber nur, wenn wir sie politisch in die richtigen Bahnen lenken. Solange die FDP das nicht versteht, fürchte ich die Konkurrenz definitiv nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das belegt auch das Strategiepapier. Das Wort „Klimaschutz“ kommt genau sechsmal darin vor, aber leider kein einziges Mal mit konkreten Maßnahmen hinterlegt. Die Landesregierung bewundert vielleicht das Problem, aber sie hat keine Lösungen.

Diese Aufzähleritis, dass Sie einfach alles aufschreiben, was irgendwie digital in diesem Land ist, geht dann im Energiebereich weiter. In Ihrem sogenannten Strategiepapier werden nur bestehende Projekte benannt, keine konkreten Pläne, wie es genau mit der Digitalisierung im Energiesektor weitergehen soll. Das Einzige ist ein bisschen Werbung für Smart Meter. Ich stelle mir das jetzt mal vor: Ein paar Zeitungsanzeigen sollen eine Kernbranche für unser Energieland, für unser Nordrhein-Westfalen retten. Das ist doch zu wenig.

Ihre ganz besonders bemerkenswerte Antwort auf die digitale Verkehrswende sind dynamische Wegweiser. – Herr Verkehrsminister, ich erstarre in Ehrfurcht vor so viel Innovation.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung ermöglicht uns viele Räume für neues Wirtschaften. Wir sehen alternative Formen wie Social Entrepreneurship. Gerade Social Entrepreneurs erhalten durch die Digitalisierung enorme Möglichkeiten. Wo kommen die in der Strategie vor? Gar nicht.

Unsere Initiativen im Landtag, um diesen wichtigen Bereich zu fördern, haben Sie abgelehnt. Außen Start-up, innen RWE – das ist die schwarz-gelbe Landesregierung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch da sehen wir einen klaren Unterschied. Sie fördern Start-ups, damit die Statistik stimmt. Für uns Grüne sind Start-ups mehr als digitale Renditeobjekte. Sie sind die Agenten der sozialökologischen Transformation. Das muss sich dann auch in der Politik niederschlagen.

Den Ankündigungsminister haben wir in den letzten zwei Jahren und auch heute wieder in aller Ausführlichkeit und zur Genüge gehört. Den Umsetzungsminister kennen wir noch nicht.

Aber es gibt noch einen Minister, den Superlativminister. Immer soll alles weltbest, NRW-best, deutschlandbest, europaweit spitze sein.

(Beifall von der CDU)

Ich finde es ja großartig, wenn Menschen große Ziele haben. Aber das muss dann auch mit Maßnahmen unterlegt sein. Beim Superlativminister Pinkwart landet man sehr schnell von der Champions League aus wieder in der Kreisklasse.

Ein aktuelles Beispiel ist KI. Jeder weiß, künstliche Intelligenz ist der Motor für den nächsten digitalen Entwicklungsschritt. China wendet 150 Milliarden Euro in jedem Jahr für die KI-Forschung auf, das MIT – alleine diese Universität in den Vereinigten Staaten – 1 Milliarde Euro. In Nordrhein-Westfalen sollen es 23 Millionen Euro für fünf Jahre sein. Das sind keine 5 Millionen Euro im Jahr.

Herr Pinkwart, Sie wollen – da zitiere ich aus Ihrer letzten Pressemitteilung zu diesem Thema – NRW „zum deutschlandweit führenden Standort für angewandte künstliche Intelligenz aufbauen.“ Aber Sie geben dafür so viel Geld aus, wie das Reinigungspersonal bei Google privat vertelefonieren darf. Zeigen Sie doch mal mehr Einsatz beim Finanzminister und weniger Breitbeinigkeit in der Landespressekonferenz.

(Beifall von den GRÜNEN)

Eine Ankündigung darf beim Ankündigungsminister natürlich nie fehlen, nämlich die Ankündigung irgendeiner Entfesselung. Das liest man in dieser Strategie förmlich heraus. Immer wenn Sie feststellen, ein Absatz ist noch nicht lang genug, dann wird – Kollegin Kampmann hat es gesagt – entweder eine App erfunden oder irgendetwas entfesselt.

Unser Vorschlag: Entfesseln Sie doch mal den Ausbau der digitalen Infrastruktur. Wer in Nordrhein-Westfalen schnelles Internet ausbauen will, muss sich durch 219 Seiten Förderrichtlinien wühlen. Die Ergänzungs- und Änderungsrichtlinien, die es auch noch gibt, sind dabei übrigens nicht mit eingerechnet.

Wem das noch nicht genug Lesestoff ist, der erhält 129 Seiten Leitfäden. Und wer dann noch nicht fertig ist, darf auch noch eine Handlungsanleitung lesen. Das ist ein extrem unbürokratisches Verfahren. So habe ich mir die Politik der FDP immer vorgestellt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben auch bei dieser Strategie die Chance verpasst, ein flächendeckendes Infrastrukturziel auszugeben. Aus dem Ziel „Glasfaser für alle“, das hier jahrelang propagiert wurde, ist ein Alles-kann-nichts-muss-Konstrukt namens „gigabitfähige Netze“ geworden. Das ist die nächste Übergangstechnologie, die uns wieder über Jahre beschäftigen wird.

Glasfaser soll es erst einmal nur in Gewerbegebieten geben, angekündigt – immerhin – bis 2022. Stand jetzt ist eine Anschlussquote von 9 %. Bis Ende 2020 sollen es immerhin 37 % sein. Damit verkaufen Sie übrigens die Initiativen der Anbieter, die genau das schon 2017, also lange vor Gipfeln, Pakten und Masterplänen, angekündigt haben, als Ihren Erfolg. Aber selbst wenn wir 37 % bis zum Jahr 2020 erreicht haben sollten, fehlen immer noch 63 % für die nächsten zwei Jahre. Jeder weiß, dass das wirkliche Problem, die wirkliche Herausforderung die letzten 10 % am Ende sind. Da sind Sie blank, Herr Minister.

Ich kann Ihnen nur sagen: Der Mittelstand wartet nicht. Er wartet zum Glück nicht auf die globale Konkurrenz – darüber können wir froh sein –, aber er wartet eben auch nicht auf Sie, Herr Pinkwart.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das gleiche Spiel erleben wir dann beim Mobilfunk. Alles, was Sie den Mobilfunkanbietern in Ihrem großen Pakt abverhandelt haben, war schon geplant, bevor Sie sich überhaupt hingesetzt haben. Dafür hat die Landesregierung weitreichende Zugeständnisse bei der 5G-Auktion gemacht. Das war ein schlechter Deal zulasten unserer Bevölkerung. Wir haben das immer kritisiert, sind aber bei Ihnen auf taube Ohren gestoßen.

Noch eine Begebenheit: Als ich kürzlich aus dem Zug twitterte, dass ich gerade eine halbe Stunde arbeitsunfähig im Funkloch verbracht hatte – es war übrigens parallel zu Ihrer Pressekonferenz, auf der Sie Ihre Wunderzahlen zur Mobilfunkabdeckung vorgestellt haben, Herr Pinkwart –, antwortete der Kollege Hafke für die FDP: „Einfach mal den Anbieter wechseln!“

Jetzt stelle ich mir mal nicht vor, wie Sie mit Bürgerinnen und Bürgern reden, sondern ich beziehe es einfach mal auf mich. Ich kann Ihnen sagen, lieber Kollege: Ich habe natürlich schon alle Anbieter durch. Deswegen hege ich ja berechtigte Zweifel an diesen Wunderzahlen. Aber: Einfach mal den Anbieter wechseln, wenn man kein Netz hat – das ist moderne Marie Antoinette: Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen.

So weit ist diese Regierung und die sie tragende Mehrheit von den Menschen und ihren Bedürfnissen im digitalen Zeitalter entfernt!

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass sich die Verwaltung digitalisiert. Unter anderem deswegen hat die letzte Landesregierung ein E-Government-Gesetz gemacht, das Leistungen digitalisiert hat. Das ist auch richtig so, denn das Beispiel Estland zeigt, dass aus einer guten öffentlichen IT Chancen für den IT-Standort und für wirtschaftliche Innovation erwachsen.

Diese Chancen werden wir in NRW aber nicht heben, wenn die Regierung nicht in die Puschen kommt. Sie haben fast ein Jahr für diese Förderrichtlinie, für Ihre Modellprojekte gebraucht. Sie haben Ihren Zeitplan beim E-Government-Gesetz und beim Open-Data-Gesetz schon zweimal gerissen. Wir wollen die Digitalisierung der Verwaltung massiv beschleunigen, aber wir wollen vor allem endlich in die Fläche kommen. Das ist die große Herausforderung, dass wir in die Fläche kommen und nicht länger an Leuchtturmprojekten herumwurschteln.

Wir Grüne wollen die Schiffe auf den Ozean bringen, während Sie die motivierten Leute in die Hafenkneipe einladen, um sie mit einem schönen Grog zu sedieren. Das ist der Unterschied. Diese Leuchttürme brauchen wir im Jahr 2019 nicht mehr.

(Beifall von den GRÜNEN)

Noch ein Unterschied zeigt sich hier: Wenn Sie von digitaler Verwaltung reden, dann meinen Sie in der Regel „billiger“. Das ist ein grundsätzliches Missverständnis, denn Digitalisierung kann niemals bedeuten: „das Gleiche wie analog, nur jetzt digital und billiger“, sondern das muss bedeuten: besser. Digitale Verwaltung muss bedeuten: effizienter, agiler, näher an den Bürgerinnen und Bürgern. Das wollen wir gestalten, und zwar mit den Beschäftigten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mediale Echo ist in der Regel so, dass Herr Pinkwart ganz gut ankommt. Das hat auch einen Grund: Wer nichts macht, der macht nichts falsch.

(Zurufe von der FDP)

Digitalisierung wartet nicht, bis Herr Pinkwart und seine Beamtinnen und Beamten sie kleingearbeitet haben. Wir brauchen keinen digitalen Dienst nach Vorschrift. Wir brauchen einen Highspeed-Minister.

Man sagt ja, ein Lächeln sage mehr als tausend Worte. Herr Pinkwart, ich glaube, da haben wir auf der Regierungsbank einen echten Experten sitzen: viel, viel Lächeln, tausend Worte gibt es gratis dazu, nur fehlen leider die Taten.

Da sind wir das Kontrastprogramm, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir Grünen wollen den digitalen Wandel mit Mut und Zuversicht gestalten. Wir stellen seine Chancen in den Mittelpunkt für die Menschen und vor allem für das Klima, den Klimaschutz in unserem Land, für eine digitale Wirtschaft, die die Digitalisierung endlich als Motor des Klimaschutzes betrachtet, für neue, moderne Arbeitsmodelle, in denen es kein digitales Lumpenproletariat gibt, für eine digitale Demokratie, die die Menschen online wie offline mitnimmt, und für eine smarte Heimat, in der niemand abgehängt wird.

Da ist der große Unterschied: Wir haben die Konzepte, Sie haben die Überschriften, aber es gehen keine Maßnahmen daraus hervor. Deswegen ist diese Digitalstrategie viel schön bedrucktes Papier, viel totes Holz, aber es ist kein Fortschritt für ein digitales Nordrhein-Westfalen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bolte-Richter. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Hafke.

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Pinkwart, vielen Dank für Ihre Ausführungen zur vorliegenden Digitalstrategie. Bevor ich dazu ein paar Anmerkungen aus Sicht der FDP-Fraktion mache, möchte ich gerne auf meine beiden Vorredner aus der Opposition eingehen.

Es ist bemerkenswert, dass Sie hier Ihre Redezeit dafür verwenden, ein Haar in der Suppe zu finden, anstatt die Chance zu nutzen, uns Ihre Ideen für die Zukunft des Landes im Parlament darzustellen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Keiner von Ihnen beiden hat auch nur einen einzigen Vorschlag gemacht, wie die digitale Zukunft in Nordrhein-Westfalen aussehen soll. Das ist ein Armutszeugnis. Genau das ist die Bilanz, die Sie uns 2017 hinterlassen haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wir haben folgende Bilanz vorgefunden: Die Schulen waren offline. Die Gewerbegebiete waren offline. Mobilfunk hat nicht funktioniert. Sie haben kein Konzept gehabt. Sie haben fünf Hubs eingerichtet. Das war auch alles. Sie haben sich noch nicht einmal über künstliche Intelligenz ausgetauscht. Die ehemalige Ministerpräsidentin, die heute bei diesem wichtigen Thema noch nicht einmal im Raum ist, hat eine Regierungserklärung dazu gehalten, die megapeinlich war, bei der sie noch ein Kunstherz ausgepackt hat.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Das war Ihre Regierungsbilanz. Deswegen ist es auch richtig, dass Sie abgewählt wurden, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der SPD: Und was machen Sie?)

– Das sage ich Ihnen jetzt.

Die Digitalisierungsstrategie schafft den Rahmen dafür, dass Nordrhein-Westfalen in der Gegenwart ankommt und die Weichen für die Zukunft stellen kann. Ich sage Ihnen deutlich: Es geht hier um die ganzen Zukunftsthemen wie Bildung, Forschung, Mobilität, Arbeit, Wirtschaft und Wissenschaft, eben um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger.

Deswegen ist es so traurig, dass Sie weder in den vergangenen zwei Jahren im Ausschuss noch heute die Chance genutzt haben, uns zu sagen, was Sie besser machen wollen. Denn für gute Ideen sind wir offen. Das ist ja die Chance dieser Digitalstrategie, gute Ideen mit aufzunehmen.

Meine Damen und Herren, Herr Pinkwart hat schon sehr umfangreich über die Inhalte der Strategie gesprochen. Daher konzentriere ich mich auf einige übergeordnete Fragen, warum wir eine solche Strategie brauchen.

Ich will in Erinnerung rufen: In Deutschland sind wir in Teilen etwas verwöhnt. In den westlichen Industrienationen, in Deutschland – in Nordrhein-Westfalen – ging es in den letzten Jahren immer aufwärts. Wir haben Freihandel, Wohlstand, Frieden. Das ist alles exzellent und super. Wir sind die viertgrößte Volkswirtschaft auf der Welt.

Die große Frage, die sich stellt, lautet: Wie sieht es im Jahr 2030 oder 2050 aus? Kann Deutschland, kann Nordrhein-Westfalen da mithalten? Die große Gefahr besteht doch darin, dass wir bequem werden und wichtige Entwicklungen verschlafen. Deswegen ist es so entscheidend, dass wir über die Wertschöpfungsketten in diesem Land sprechen und schauen, wie wir uns dort richtig aufstellen können.

Die Welt um uns herum ist deutlich schneller geworden. Die Wertschöpfung findet nicht mehr unbedingt nur in Deutschland statt. Ich spreche nicht nur von Ländern wie den USA oder China, die aufgeholt haben oder an uns vorbeigezogen sind, sondern von Ländern wie Südkorea, Taiwan, Australien, Kanada oder Israel.

Die Digitalisierung dampft so manchen Wettbewerbsnachteil aus früheren Zeiten ein. Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, zum Beispiel aus Afrika. In Silicon Savannah in Kenia werden manche Phasen der Industrialisierung komplett übersprungen, und die Produktion fließt direkt in das digitale Zeitalter ein. Ein Online-Payment-System, das es dort flächendeckend gibt, sorgt inzwischen überall für Wohlstand, Arbeit, Zugang zu Bildung bis in den letzten Winkel des Landes.

Ich will Ihnen nicht sagen, dass wir das eins zu eins übertragen müssten, aber es zeigt, dass sich die Welt dramatisch schnell verändert und wir unsere Hausaufgaben machen müssen. Wir dürfen nicht in panischen Aktionismus verfallen, aber wir müssen aktiv werden.

Die gute Nachricht ist: Die Landesregierung hat sich seit Amtsübernahme, seit 2017 auf den Weg gemacht, genau das zu tun. Die Digitalisierung ist nämlich eine Gestaltungsaufgabe. Sie ist kein Schicksal. Sie ist im besten Sinne menschengemacht von Menschen für Menschen. Deswegen bin ich auch so enttäuscht über Ihre Kritik in dieser Art und Weise. Statt den Menschen Angst zu machen, hätten Sie hier wirklich große Chancen gehabt, zu sagen, wie Sie sich die digitale Zukunft vorstellen und wie wir die Menschen mitnehmen und Risiken minimieren können.

Ich meine, wir müssen sehr stark auf den Erfindungsgeist und die Tüftler und Denker in unserem Land setzen. Ich möchte Sie hier und heute noch einmal einladen, ein digitales Nordrhein-Westfalen mitzugestalten, das alle Menschen mitnimmt. Denn nur, wenn wir gemeinsam unsere Kräfte bündeln, können wir unser Land erfolgreich in die Zukunft führen.

Die Digitalisierung ist ein allumfassender Prozess. Dafür brauchen wir Antworten. Es gilt nämlich immer noch der Grundsatz, dass in Zukunft alles digitalisiert werden wird, was man digitalisieren kann. Deswegen ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, wobei es die große Herausforderung ist, die Menschen mitzunehmen, über den Wohlstand zu sprechen, Innovationen zu nutzen, nachhaltiger und ressourcenschonender zu leben.

Das Gute an dem Wandel, den wir feststellen, besteht darin, dass es ein tiefgreifender Wandel ist, den wir heute schon in großen Teilen absehen und entsprechend vorbereiten können. Diese Transformation, diese Entwicklung möchte ich gern anhand einiger Punkte noch einmal verdeutlichen, und zwar an einigen Fragestellungen.

Die große Frage ist doch: Wie können wir den Wohlstand in unserem Land sichern? Ich glaube nicht, dass wir es in der Quantität mit China und Indien aufnehmen können. Wir müssen über unsere Stärken und über Qualität sprechen.

Der Kollege Matthias Bolte hat vorhin schon das Thema „künstliche Intelligenz“ angesprochen. Wenn China 115 Milliarden Euro investiert, Amazon hingegen als größtes Forschungsunternehmen 15 Milliarden Euro investiert und die Bundesrepublik Deutschland 4 Milliarden Euro, dann ist es doch klar: Wir werden nie mit dem Investitionsvolumen von China und anderen Ländern mithalten können.

Wir müssen aber schauen, dass wir das Geld, das wir haben, so zielgerichtet einsetzen, dass wir die Stärken, die wir in diesem Land haben, auch richtig nutzen. Da sind solche Dinge wie Industrie 4.0, verknüpft mit künstlicher Intelligenz, Maschinen-Learning und Ähnliches hervorzuheben. Wir haben jetzt beispielsweise die KI-Plattform in Wuppertal ins Leben gerufen, damit man über Forschung spricht und darüber, wie man die guten Ideen tatsächlich in die Anwendung, das heißt in die Produktion, überführt.

Ein zweites großes Thema: Wie nehmen wir die Bürger in unserem Land mit? Wir müssen sie einerseits informieren, wir müssen andererseits aber auch über Medienkompetenz sprechen, sodass Fake News und anderes erkannt werden. Wichtige Stichworte sind: Weiterbildung und lebenslangem Lernen. Es werden Berufe verschwinden, neue werden hinzukommen. Deswegen glaube ich, dass wir eine ganz große Chance haben, wenn wir die digitale Dividende gerade in soziale Tätigkeiten investieren.

Ich will es in aller Deutlichkeit sagen, weil ich den Eindruck habe, dass die SPD da auf einem vollkommen falschen Pfad ist: Es geht nicht darum, den Menschen Angst zu machen, wie viele Arbeitsplätze wir verlieren können.

Es geht vielmehr darum, den Menschen zu sagen, welche Chancen die Digitalisierung bietet: dass wir vielleicht Arbeitsplätze, die im Moment körperliche Schwerstleistungen erfordern, die gesundheitlich problematisch sind, die große Gefahren für die Menschen bergen, outsourcen können, dass man sie durch andere Techniken erledigen kann und die Menschen sich eher auf das konzentrieren können, was sie ausmacht: sich umeinander zu kümmern, füreinander da zu sein und in soziale Berufe zu gehen.

Wir haben einen enormen Pflegenotstand. Den werden wir nicht ohne die Digitalisierung bekämpfen können. Da geht es nicht nur um den Roboter, den wir bei der Arbeit brauchen, sondern wir brauchen die Menschen. Deswegen werden wir darüber sprechen müssen: Wie bekommen wir unsere Arbeit in Zukunft neu organisiert? Wie schaffen wir es, dass Menschen sich auf diesen Weg machen, sich ein Leben lang fortzubilden?

(Beifall von der FDP und der CDU)

Drittens ist da noch die ethische Frage, die meines Erachtens heute zu kurz gekommen ist. Wir werden und müssen darüber sprechen, was Digitalisierung mit unserer Gesellschaft macht und wie wir dort Einfluss nehmen können. Welchen Einfluss hat der Mensch? Wie kann er künstliche Intelligenz und Algorithmen bewerten? Wie gehen wir mit den Daten in unserem Land um?

Ich habe den Eindruck, dass wir viel zu wenig über Datenrecht und Datensouveränität sprechen. In diesem Land wird nur über Datenschutz gesprochen. Da sind wir führend auf der Welt; das ist auch richtig und wichtig. Aber wir müssen, wenn wir den Wohlstand erhalten und neue Innovationen zulassen wollen, schon überlegen: Wie können wir Daten zur Verfügung stellen? Denn der Rohstoff der Zukunft sind Daten.

Deswegen ist es so entscheidend, dass wir vermehrt über ein neues Datenrecht in Europa und in Deutschland reden, damit Innovationen hier stattfinden und nicht in China und Indien, wo auf Datenschutz nicht so viel Wert gelegt wird.

Meine Damen und Herren, ich bin froh, dass diese Digitalstrategie ressortübergreifend ist, dass man die Entwicklung antizipieren kann, dass sie flexibel bleiben wird und dass sie Querschnittsthemen berücksichtigt.

Das ist der große Unterschied zu dem, was wir im Moment in Deutschland in einer Großen Koalition in Berlin feststellen, in der man über Digitalisierung spricht, aber keine Kompetenzzuweisungen hat, wo keine klare Haltung dahintersteht. Dann finden solche Debatten über Milchkannen und 5G statt, was ich teilweise absurd finde, weil – ich habe es eben schon gesagt – in Zukunft alles digitalisiert werden wird, was digitalisiert werden kann. Dann wird und muss auch die Milchkanne dazugehören.

In Nordrhein-Westfalen haben wir uns auf den Weg gemacht, genau das umzusetzen. Wir haben von Anfang an die Menschen mitgenommen in einem Dialogprozess. Wir haben die Akteure aus Wirtschaft, Gesellschaft und der Öffentlichkeit eingebunden. Ich bin froh, dass wir keine statische Strategie haben, sondern eine dynamische, bei der man sich immer wieder an die aktuellen Entwicklungen anpassen kann.

Weil das von den Vorrednern angesprochen wurde, möchte ich Ihnen noch einmal verdeutlichen, wie die Lage vor 2017 aussah und was wir seit 2017 gemacht haben.

Ich habe schon gesagt: Wir haben hier relativ wenig vorgefunden. Wir haben als Allererstes gesagt: Die Infrastruktur in unserem Land muss stimmen. Wir haben 1,5 Milliarden Euro für die Kofinanzierung des Bundesprogramms zur Verfügung gestellt, 55 Millionen Euro für die weitere Netzanbindung der Schulen, weil sie in unserem Land katastrophal war. Nur 13 % der Schulen waren überhaupt an schnelles Internet angeschlossen. Ähnliche Quoten gab es bei den Gewerbegebieten. Unser klares Ziel ist es, bis 2022 Schulen und Gewerbegebiete ans Gigabit-Netz anzuschließen, damit dort Innovationen stattfinden können.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Beim Mobilfunk ist es ähnlich: Auch da haben wir viele weiße Flecken vorgefunden. Andreas Pinkwart hat einen Mobilfunkpakt geschlossen, um diese Lücken in den nächsten Jahren zu stopfen. Die ersten Erfolge sind schon erkennbar: Seit Ende 2018 ist die LTE-Versorgung in 99 % der Haushalte gegeben. Das ist drei Jahre schneller, als der Bund es uns empfohlen hat.

Lieber Kollege Bolte-Richter, wir haben die Digitalen Modellkommunen ins Leben gerufen. Das ist, wie ich meine, eine sehr große Innovation – über 91 Millionen Euro. – Da brauchen Sie nicht die Augen zu verdrehen. Hätten Sie das besser mal gemacht, dann hätten wir jetzt auf diese Ideen zurückgreifen können.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie haben sich dieses wirklich enorm ehrgeizige Ziel – das Sie jetzt auch noch abfeiern – gesetzt, die Landesverwaltung und die Kommunen bis zum Jahr 2031 zu digitalisieren. Was war denn das für ein ambitionsloses Regierungshandeln gewesen?

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Wo sich die Welt drum herum so dynamisch verändert, da muss es doch das Ziel sein, die Verwaltung möglichst schnell zu digitalisieren.

Das Problem ist: Wir haben nichts vorgefunden. – In diesem Land gab es nicht einmal eine E-Akte. Eine solche mussten wir erst einmal entwickeln und einführen. Das ist der Stand, den wir vorgefunden haben.

Kollege Pinkwart hat das eben noch einmal angesprochen; ich finde es abenteuerlich: Seit 15 Jahren gibt es die Möglichkeit, Telematik im Gesundheitswesen einzusetzen. Sie haben das nicht gemacht, obwohl Sie in diesem Land sieben Jahre lang und auch davor schon regiert haben.

Die Online-Gewerbeanmeldung hätten Sie in diesem Land schon vor 20 Jahren einführen können. Das haben Sie nicht getan. Dafür brauchte es Schwarz-Gelb und Andreas Pinkwart, der das innerhalb von anderthalb Jahren umgesetzt hat. Das ist eine riesengroße Leistung.

(Beifall von der FDP und der CDU – Zuruf von Michael Hübner [SPD])

Ich will es noch einmal sagen, weil Sie hier und auch in den Ausschüssen nicht richtig zugehört oder die Strategie nicht richtig gelesen haben: Auch für Gründer und Start-ups haben wir enorm viel gemacht.

Wir haben das „1000 x 1000“-Programm auf den Weg gebracht, um junge Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit zu begleiten. Wir haben das Wagniskapital der NRW.BANK auf 214 Millionen Euro verdoppelt. Außerdem werden wir bis 2022 eine halbe Milliarde Euro an Investitionen für Start-ups zur Verfügung stellen. Das ist fünfmal so viel, wie Rot-Grün zur Verfügung gestellt hat, und damit ein riesiger Sprung nach vorne.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Ich komme zum Kollegen Bolte-Richter, der sich hierhingestellt und gesagt hat, wir würden zu wenig für das Klima machen: Erstens erreichen wir die Klimaschutzziele schneller, als Rot-Grün es jemals geplant hat, und zweitens machen wir das, wovon die Grünen jahrelang nur geträumt haben, und investieren in eine Elektromobilitätsinfrastruktur, die dieses Land in dieser Form noch nicht gesehen hat. Davon könnten Sie sich mal eine Scheibe abschneiden.

Wir investieren in Elektromobilität, in neue Technologien und Antriebsformen, und wir organisieren jetzt den Ausstieg aus der Kohlekraft. Das hätten Sie Jahre vorher schon auf den Weg bringen können. Aber auch dafür brauchte es hier in Nordrhein-Westfalen Schwarz-Gelb.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich will noch einen letzten Aspekt herausgreifen, weil er zukunftsentscheidend ist. Was machen wir im Bereich der künstlichen Intelligenz?

Ich bin enorm froh, dass die Landesregierung sich auf den Weg gemacht hat. Noch bevor andere Bundesländer und die Bundesregierung darüber diskutieren, gibt es hier erste entsprechende Maßnahmen. Mit der Kompetenzplattform Künstliche Intelligenz sind wir den Weg gegangen, um unsere guten Hochschulen zu vernetzen und dann zusammen mit diesen und der Wirtschaft daran zu arbeiten, wie wir die Innovationen – die vorhanden sind – auf die Straße bekommen.

In Deutschland ist es nie daran gescheitert, keine Innovationen zu haben. Die Wissenschaftler haben gute Ideen in ihren Köpfen. Die große Herausforderung ist, diese Ideen auf die Straße, in die Produktion zu bringen, damit Wohlstand und Arbeit entstehen. Genau das ist die Idee dieser Kompetenzplattform. Das ist meiner Meinung nach ein einmaliges Projekt, das wir damit in Deutschland angestoßen haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ein Letztes will ich Ihnen noch mit auf den Weg geben; das äußere ich in Richtung der Opposition als Wunsch: Ich wünsche mir – Ihre Kritik haben Sie jetzt geäußert –, dass Sie sich in den nächsten Jahren auf den Weg machen, gute Ideen zu erarbeiten, und diese im Ausschuss oder im Rahmen der Digitalstrategie vorbringen; denn wir haben alle zusammen die Verantwortung, für unser Land das Bestmögliche zu tun, nicht das Haar in der Suppe zu suchen, sondern zu sagen, was wir verbessern können.

Das ist Ihre Aufgabe. Wir machen unseren Job und bringen gute Vorschläge dazu ein, wie wir unser Land in die digitale Zukunft führen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Tritschler.

Sven Werner Tritschler (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn Grundschüler einen Aufsatz schreiben müssen, dann bekommen sie vom Lehrer manchmal ein bestimmtes Thema vorgegeben.

Kaum einer ist in seiner Schulzeit wohl darum herumgekommen, sein schönstes Ferienerlebnis zu schildern. Mindestens genauso gängig sind Fantasieaufsätze etwa nach dem Motto: „Wie stellst du dir dein Leben in 20 Jahren vor?“ – Daran musste ich denken, als ich gestern die finale Fassung Ihrer Digitalstrategie durchlesen durfte und heute Morgen Ihre Rede gehört habe, Herr Pinkwart.

Vielleicht haben Sie beim Verfassen dieser 76 Seiten an Jesus gedacht, dem ja der Satz „Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ zugeschrieben wird. Vielleicht haben Sie es aber auch mit Herbert Grönemeyer gehalten, der singt: „Gebt den Kindern das Kommando. Sie berechnen nicht, was sie tun.“ Möglicherweise haben Sie auch einfach gedacht: Wenn wir schon unsere Energiepolitik an kleinen Mädchen ausrichten, warum eigentlich nicht gleich alles?

Was auch immer dieses Machwerk geprägt hat – der Glaube an soziale Marktwirtschaft war es jedenfalls nicht. Wo es sich nämlich nicht liest wie ein beliebiger Schulaufsatz, da liest es sich ein bisschen wie der Fünfjahresplan des Obersten Sowjets. Von Walter Ulbricht ist ja das Bonmot „Überholen ohne einzuholen“ überliefert. Das wäre auch an dieser Stelle eine schöne Überschrift gewesen.

An einer ganzen Reihe von Stellen erkennen Sie immerhin ehrlich an, dass es in NRW aktuell nicht so toll aussieht – es besteht Aufholbedarf, hier liegt man im unteren Drittel und dort ist noch viel Potenzial ungenutzt.

Wenn jemand fragt, warum sich die SPD im freien Fall befindet, dann braucht man ihm eigentlich nur diese vermeintliche Strategie vorzulegen. Die Sozialdemokratie ist nämlich scheinbar unsterblich. Sie lebt jetzt im Körper ehemaliger Liberaler und Christdemokraten weiter.

Da wundert es einen nicht, wenn der Verband der Familienunternehmer – immerhin die Vertretung von 180.000 Unternehmen in Deutschland – den CDU-Wirtschaftsminister wieder auslädt, nachdem dieser öffentlich seine krypto-sozialistischen Industriepläne vorgestellt hat.

Es wundert einen auch nicht, dass die Landes-FDP am Wochenende den Restbestand an marktwirtschaftlicher Vernunft über Bord geworfen hat und der Parteitagsbeschluss den Ökosozialismus – natürlich im liberalen Mäntelchen – predigt. Wo Ihr Konzept politisch einzuordnen ist, lässt sich auch an der bisherigen Debatte wunderbar ablesen.

Nein, Frau Kampmann und Herr Bolte-Richter haben keine anderen Ideen. Auch sie glauben, dass unsere wirtschaftliche Entwicklung eines staatlichen Mikromanagements bedarf. Und weil die beiden am Grundtenor dieses Papiers gar nichts auszusetzen haben, blieb ihnen wie immer nichts anderes übrig, als die alte Leier zu singen: Wer hat den Beirat zuerst gegründet? Wer hat den Hub zuerst eingesetzt?

Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Sie schreiben, Sie wollen eine neue Gründerzeit für Nordrhein-Westfalen. Das hört sich erst mal gut an. Aber ich glaube, Sie wissen nicht so recht, was die Gründerzeit war. Historiker verstehen darunter die Phase unmittelbar vor dem sogenannten Gründerkrach 1873, in der die industrielle Revolution ihren Höhepunkt erreichte.

Sie glauben also, Sie können, quasi per Direktive, eine neue industrielle Revolution entfachen. Auch davon ist in Ihrem Papier die Rede. Wir kennen alle die großen Namen dieser Epoche: Krupp, Hoesch, Stinnes, Haniel usw. Nehmen wir mal Krupp: Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass der auch nur einen Kochtopf konstruiert hätte, wenn es 1811 schon das heutige Bürokratiedickicht gegeben hätte.

(Beifall von der AfD)

Wo wäre der wohl hingegangen? In das Land der Rekordstrompreise, der überbordenden Bürokratie, der hohen Steuern, der versagenden Bildungseinrichtungen, der kaputten Infrastruktur und der neosozialistischen Wirtschaftspolitik? In Ihrer Vorstellungswelt hätte er sich vermutlich an den örtlichen Steel-Hub gewendet, hätte dargelegt, dass sein Geschäftsmodell nachhaltig, klimaneutral und – Frau Kampmann ist weg – gendergerecht ist, und was es heute sonst noch alles sein muss. Dann hätte man ihm ein Gründerstipendium genehmigt, er hätte seinen Gewerbeschein natürlich online beantragt, und schon wäre es losgegangen.

Wenn Sie merken, wie absurd diese Vorstellung ist, dann merken Sie vielleicht auch, wie absurd die Denke ist, die aus diesem Papier strömt. Wahrscheinlich aber merken Sie es nicht.

Krupp, das war gestern. Heute geht das anders. Dann nehmen wir mal was Digitales, nehmen wir mal Zuckerberg, Page, Brin, Jobs oder Gates. Sie merken schon, das sind alles keine deutschen Beispiele, nicht einmal europäische; denn davon gibt es auch kaum welche.

Und das liegt an genau der Politik, die sich in diesem Papier manifestiert. Page, Jobs usw. haben keine Förderanträge ausgefüllt und mussten keine Förderbürokraten von ihrem Businessplan überzeugen. Sie hatten nicht mal einen; sie haben einfach gemacht, und man hat sie vor allem machen lassen. Davor – das ist ganz wichtig – waren sie auf Schulen und Universitäten, an denen man Unternehmer nicht verteufelt, sondern verehrt hat.

(Beifall von der AfD)

Da liegt das Problem, meine Damen und Herren. Unsere Politik bremst seit Jahrzehnten jeden aus, der vorankommen will, der Wettbewerbsgeist hat, der etwas schaffen will. Wenn Sie sagen, Sie machen wirtschaftsfreundliche Politik, machen Sie die Politik, die Ihnen von den Lobbyisten einiger weniger großer Player eingeredet wird. Sie machen eine Politik, die diesen großen Playern lästige Konkurrenz vom Leib halten soll, und die es Neueinsteigern quasi unmöglich macht, an den Markt zu gehen. Oder Sie machen eine Politik, die Ihren Hätschelkindern zugutekommt, etwa der Windkraftindustrie, die wir deutschen Stromverbraucher mit ein paar Zehntausend Euro pro Arbeitsplatz und Jahr subventionieren müssen.

Das aktuelle Lieblingskind ist aber die Elektromobilität. Da baut jemand Fahrzeuge, die sich gerne mal selbst entzünden und die sich bei eingeschalteter Heizung recht schnell in einen großen unbeweglichen Haufen Plastik verwandeln. Und Sie tun so, als habe der das Rad erfunden.

Obwohl der Steuerzahler diesen Fahrzeugen noch staatliche Subventionen hinterherwerfen muss, lesen wir gestern in der Presse, dass der Eigner und gleichzeitig größte Kunde dieses Unternehmens über einen Ausstieg nachdenkt. Aber das ist sicher nichts, was Sie nicht mit ein paar weiteren Steuermillionen regeln können.

Wir sind aber nicht mehr in der Marktwirtschaft, nicht einmal mehr in der sozialen Marktwirtschaft, und schon gar nicht mehr im Kapitalismus. Was Sie predigen und leider auch leben, das ist Korporatismus. Das ist die enge Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft, das ist die Ausschaltung von Wettbewerb – und damit auf Sicht leider auch das Ende unseres Wohlstands.

Wer nicht zu Ihren Hätschelkindern gehört, wer die schwächere oder womöglich gar keine Lobby hat, dem werfen Sie fleißig Knüppel zwischen die Beine. Das sind zum einen die kleinen und mittleren Unternehmen, die Sie zwar bei jeder Gelegenheit als das Rückgrat unserer Wirtschaft bezeichnen, für die Sie aber de facto nicht viel tun. Die ächzen unter Bürokratie, unter Steuerlast, leiden an schlechter Infrastruktur und schlecht ausgebildetem Nachwuchs. Außer weiteren, nicht näher definierten Entfesselungspaketen können sie sich von diesem Papier gar nichts erhoffen.

Noch schlimmer sind eigentlich nur die dran, für deren Vernichtung jetzt freitags Kinder demonstrieren, etwa die Automobilindustrie und ihre Zulieferer – die kommen in Ihrem Papier quasi gar nicht mehr vor. Was den Leuten dort blüht, dürfen sie aber schon auf Seite 10 nachlesen, wo von einem – Zitat – „Umbau einer energieintensiven, traditionsreichen Industrie zu einem der weltweit innovativsten sowie klima- und umweltfreundlichsten Produktionsstandorte“ die Rede ist.

Herr Pinkwart, ich habe Nachrichten für Sie: Unsere Automobilindustrie war und ist die innovativste weltweit. Das können Sie nach wie vor an den Absatzzahlen ablesen. Was gut und innovativ ist, das entscheiden zum Glück immer noch die Konsumenten und keine Behörden.

(Beifall von der AfD)

Die Mitarbeiter dieser Industrie, die unseren Wohlstand trägt, die Millionen von Menschen in Lohn und Brot bringt und die die Subventionen erwirtschaftet, die Sie großzügig an Ihre nicht lebensfähigen Hätschelkinder verteilen, die behandeln Sie wie Dreck: etwa die 4.000 Mitarbeiter von Ford Köln, die jetzt entlassen werden – entlassen auch aufgrund Ihrer wahnsinnigen Energiepolitik. Was haben Sie für die getan? Wann haben Sie sich bei denen blicken lassen? – Nichts haben Sie! Es sind halt die Schmuddelkinder, und die sind nicht so wichtig. Man eröffnet lieber wieder einen neuen Hub.

Der Chef der Kölner CDU hat jetzt bezeichnenderweise angeregt, dass man von diesen 4.000 doch die Hälfte in die Dienste der Stadt Köln übernehmen soll. Da sieht man, wie pervertiert Ihre ganze Politik inzwischen ist. Sogar bei der CDU glaubt man, wir könnten davon leben, uns gegenseitig zu verwalten.

So wenig Sie offensichtlich von den einfachsten Gesetzen der Ökonomie verstehen, so wenig verstehen Sie offenkundig auch von Physik. Das Energiekapitel in Ihrem Papier ist da ein neuerlicher Tiefpunkt. Man erwartet nicht mehr sehr viel, nachdem die Grünen-Bundesvorsitzende den Menschen erklärt hat, man könne Strom irgendwie im Netz oder in der Cloud speichern. Aber Ihnen, Herr Pinkwart, hätte ich zumindest ein bisschen mehr zugetraut.

Viel ist das nicht. Smart soll jetzt alles sein: Smart Grid, Smart Meter usw. Aber ich verrate Ihnen etwas: Ihr Netz kann noch so smart sein – es muss trotzdem den Gesetzen der Physik gehorchen. Das wichtigste Gesetz in diesem Fall ist: Du musst so viel Strom einspeisen, wie du an anderer Stelle wieder herausnimmst.

Speichern ist kaum möglich. Aber auch daran haben Sie gedacht: Sie schreiben, dass das Netz der Zukunft unter anderem auf effizienten Speichern beruhen soll. Punkt. Kein Wort darüber, wo diese Speicher herkommen sollen. Das weiß auch kein Mensch.

Vielleicht müssen wir alle nur ganz fest daran glauben. So ersetzt der fromme Wunsch die politische Vernunft, und Schwarz-Gelb ist endgültig im ökonomischen Phantasialand der Grünen angekommen.

Nur ab und an schimmert ein bisschen traurige Wahrheit durch, wenn zum Beispiel von intelligentem Lastenmanagement im Stromnetz die Rede ist. Was das heißt, werden die Bürger spätestens dann erfahren, wenn Sie die letzten Kohle‑ und Kernkraftwerke abgeschaltet haben.

Wenn dann kein Wind weht und französische oder belgische Kernkraftwerke die Lücke nicht mehr schließen können, wird es zum sogenannten Lastabwurf kommen. Dann werden Sie Verbraucher vom Netz nehmen. So macht man das in unterentwickelten Ländern: Man rationiert den Strom.

Das ist die traurige Realität, die Sie in diesem Papier wieder einmal hinter vielen blumigen Buzzwords verstecken. Wenn Sie wirklich unseren Wohlstand erhalten und ausbauen wollen, dann zerschlagen Sie nicht weiter seine Fundamente. Wenn Sie eine neue Gründerzeit wollen, dann schaffen Sie mehr Freiheit und nicht neue Bürokratie.

Ihre planwirtschaftlichen Blütenträume jedenfalls bringen unser Land keinen Millimeter voran. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Tritschler. – Für die Landesregierung hat Herr Minister Professor Dr. Pinkwart jetzt das Wort.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst, Frau Kampmann, zur Zustellung der Strategie: Ich bitte um Nachsicht. Wir haben dem Landtag am Montag um 17:58 Uhr elektronisch die Digitalstrategie mit der Bitte um Weitergabe zur Verfügung gestellt. Das ist dann offensichtlich erst am Dienstagmittag erfolgt. Ich bitte dafür sehr um Verständnis. Sollten dadurch Fehler unsererseits entstanden sein, bitte ich dafür um Entschuldigung.

Uns war sehr daran gelegen, dass die Digitalstrategie die Abgeordneten möglichst noch am Montag erreicht. Am Dienstag habe ich einen Hintergrund gemacht mit der Maßgabe, dass nichts vor der heutigen Debatte veröffentlicht wird, weil sich das dem Hohen Haus gegenüber auch nicht anders gehört.

Ich hoffe und denke, Sie hatten trotzdem Gelegenheit, die Strategie gestern Nachmittag oder gestern Abend zu lesen. Das ist dann natürlich schwierig in der Vorbereitung; das räume ich auch ein: Es sind wirklich viele Felder.

Das würde ich auch gerne zu Herrn Bolte-Richter sagen, bezogen auf sein Thema „Klimaschutz“; aber zunächst komme ich zu Ihnen, Frau Kampmann.

Wir haben thematische Schwerpunkte in den Mittelpunkt gestellt und dann Querschnittsthemen. Von den fünf inhaltlichen Schwerpunkten ist „Wirtschaft und Arbeit“ das erste, das ganz große Thema. Ich bitte Sie, das noch einmal ganz in Ruhe zu lesen und auf sich wirken zu lassen, weil mir das sehr wichtig ist, und dem Kollegen Laumann und der gesamten Landesregierung auch.

Wir haben eine sehr intensive Aussprache mit den Sozialpartnern, mit den Unternehmen wie den Gewerkschaften, die wir beteiligt haben. Ich finde es auch nicht fair, den Beteiligungsprozess so kleinzureden. Es waren auch Abgeordnete bei unserer großen Digitalisierungsveranstaltung dabei, es waren Gewerkschaftsvorsitzende dabei, es waren Arbeitgebervertreter dabei. Sie haben sich an den Workshops beteiligt. Sie haben Ideen eingebracht.

Das ist uns ganz wichtig, weil wir wissen, dass uns die Digitalisierung – das hat auch die Debatte natürlich gezeigt – in nahezu allen Lebensbereichen vor große Herausforderungen stellt. Deswegen ist uns gerade die Frage, wie sich das auf den Arbeitsmarkt auswirkt und wie wir die Unternehmen und die Beschäftigten mitnehmen können, ein so zentrales Anliegen.

Aus dem Grund habe ich Ihre diesbezügliche Kritik – das muss ich ganz ehrlich sagen – überhaupt nicht verstanden. Bitte schauen Sie sich das noch einmal an. Möglicherweise war es in der kurzen Zeit nicht möglich, das alles zu überblicken.

Wir jedenfalls sind der Meinung,: Nur dann, wenn es uns gelingt, die Chancen der Digitalisierung möglichst schnell für die Menschen nutzbar zu machen, die Themen „berufliche Bildung“ und „Weiterbildung“ viel stärker in den Mittelpunkt zu rücken – hier haben wir klare Ziele definiert –, werden wir es schaffen, dass möglichst viele Menschen die Chancen der Digitalisierung für sich nutzen, sich weiterentwickeln und auch neue Berufe annehmen können.

Das ist eine große Herausforderung, aber eben auch eine große Chance. Wir gehen das mutig an und versuchen, das nicht auf einfache Parolen zu reduzieren; das würde uns nicht weiterhelfen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich will zu Herrn Bolte-Richter das Gleiche zum Klimaschutz sagen. Ich weiß nicht, wie Sie es jetzt mit der Suchmaschine durchsucht haben. Ich komme auf 16 Seiten von den 76, die sich auch mit Klimaschutzthemen beschäftigen. Das ist ein eigenes Kapitel, 5. Schwerpunkt „Energie und Klimaschutz“.

Das will ich auch zu Herrn Tritschler sagen: Man kann das hier alles kritisieren, aber wir haben uns als Weltstaatengemeinschaft mit dem Pariser Abkommen entschieden, jetzt in einen Transformationsprozess zu beschreiten. Dafür brauchen wir Zeit.

Wir brauchen vor allem Innovationen, neue Technologien, und die Digitalisierung ist gerade für diesen Transformationsprozess der Industrie hin zu mehr Klimafreundlichkeit einer der zentralen Enabler.

Auch deshalb steht das als ein Schwerpunkt in der Digitalstrategie: Wir wollen die Digitalisierung nutzen, damit wir die sicherlich noch großen Herausforderungen dieses Transformationsprozesses gemeistert bekommen.

Es gibt auch tolle Gründungen in Nordrhein-Westfalen. Ich nenne das NEXT-Kraftwerk in Köln, ein virtuelles digitales Kraftwerk, das 4.500 Stromquellen in Europa vernetzt, zu flexiblen Angeboten im Netz führt und optimiert.

Das haben zwei junge Leute aus einem Forschungsinstitut des Landes heraus gegründet, was auch zeigt: Wir haben eine lebendige Gründerszene, die sich dieser neuen Themen annimmt und mithilfe der Digitalisierung bessere Lösungen erarbeitet.

Herr Bolte-Richter, es ist ja in Ordnung: Klar sagen Sie, wir hätten noch schneller sein sollen, und der Zeitplan wäre zweimal gerissen worden. Das hört sich dramatisch an, weil wir vielleicht nicht Ende März, sondern erst im April oder Mai liefern.

Ich glaube nicht, dass Sie uns ernsthaft vorwerfen können, dass wir in den letzten 18 oder 20 Monaten etwas verzögert hätten – im Gegenteil: Wir sind sehr zügig vorangeschritten.

Bei der Breitbandabdeckung hatten wir im Jahr 2017 86 %, jetzt haben wir 96 %. Sie haben gesagt, die letzten Prozente wären die schwierigsten. Sie wissen, wir haben für die nächsten 2 % Projekte in Arbeit; dann kommen wir hier in Nordrhein-Westfalen auf 98 %.

Beim Mobilfunkpakt kritisieren Sie, wir hätten schlecht verhandelt. Ich habe es hier schon mal gesagt: Wir waren die Ersten in Deutschland, die überhaupt eine Initiative ergriffen haben. Fünf Monate später hat Ihr grüner Wirtschaftsminister in Hessen nach dem Vorbild unseres Mobilfunkpakts auch einen solchen Pakt gemacht.

Jetzt sagen Sie, wir hätten schlecht verhandelt. Lesen Sie sich den hessischen Pakt mal durch. Hessen hat noch 50 Millionen Euro zusätzlich an Landesgeld an die Mobilfunkbetreiber gezahlt. Wir haben nichts bezahlt und trotzdem ganz klare Verabredungen getroffen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Und noch ein Unterschied: Wir haken auch nach und fragen schon nach dem ersten Halbjahr: Wie viele neue Masten sind da? Wie viele sind nachgerüstet? – Es wird durchaus anerkannt, dass wir bei den Nachfragen „Wo stehen wir, und wie können wir das besser machen?“ ehrgeizig sind.

Jedoch können auch wir nicht ausschließen, dass wir Fehler machen. Auch wir können nicht ausschließen, dass es hier und da nicht so schnell geht, wie wir uns das wünschen. Wir könnten uns Vorwürfe machen lassen, wenn wir uns keine klaren Ziele setzen und diese nicht ehrgeizig controllen würden.

Das sind zwei entscheidende Dinge, die wir hier so nicht angetroffen haben; das will ich in aller Klarheit und Freundschaft sagen. Diese zwei Dinge vermissen wir gelegentlich in der Politik insgesamt; denn wir haben doch in Deutschland kein Erkenntnisproblem.

Beim Thema „Digitalisierung“, wie in vielen anderen Fällen, haben wir ein riesiges Umsetzungsproblem, an dem wir arbeiten müssen. Deswegen setzen wir uns in der Digitalstrategie klare Ziele, und wir lassen uns auch daran messen. Wir monitoren diese Ziele und arbeiten daran, sie tatsächlich zu erreichen. Das ist aus meiner Sicht zentral.

Dann kommen Sie noch mal mit den Digital Hubs; darüber haben wir auch gesprochen. Wir haben nicht wie Sie damals versucht, alles rückgängig zu machen, was die Vorgängerregierung an guten Taten für NRW auf den Weg gebracht hat. Was gut ist, führen wir auch weiter, weil wir schneller werden wollen.

Nun zu sagen, Sie wären da besonders vorgeprescht – ich bitte Sie herzlich: Sie haben im September 2016 die Initiative an den Start gebracht, ein Dreivierteljahr vor dem Ende der Legislaturperiode. Wenn ich mir also die persönliche Bemerkung erlauben darf: Da war in Leipzig ein solcher Hub schon seit drei Jahren in Arbeit, der heute zu den drei besten in Deutschland zählt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das soll nicht arrogant wirken, aber zu glauben, hier wäre alles riesig vorangegangen …

Ich denke, wir müssen hier in Nordrhein-Westfalen sehen – da wünsche ich mir, dass wir insgesamt versuchen, das als gemeinsame Aufgabe zu sehen –, dass Nordrhein-Westfalen unheimlich viel kann. Aber wir haben noch nicht alle Chancen genutzt, diejenigen, die Stärken haben, auch für Nordrhein-Westfalen einzubinden, ihre gezielten Stärken weiter auszubauen und die Sichtbarkeit nach außen zu erhöhen.

Wenn Sie mir etwas kritisch vorgehalten haben, dass ich das vielleicht zu positiv dargestellt hätte, sage ich: Nein, meine Damen und Herren, die Menschen, die wir in Nordrhein-Westfalen haben – die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Unternehmerinnen und Unternehmer –, das sind schon tolle Leute. Die brauchen nicht den Staat, der ihnen vorschreibt, wie sie was zu machen haben.

Aber sie erwarten vom Staat, dass er erstens ihre Leistung anerkennt, dass er ihnen zweitens nicht zu viele Knüppel in den Weg legt und dass er drittens das, was er unterstützen muss, auch unterstützt und sichtbar werden lässt, damit die klugen Köpfe hierbleiben und zusätzliches Chancenkapital nach Nordrhein-Westfalen kommen kann.

Gerade bei Letzterem haben wir noch den größten Handlungsbedarf. Ich wünsche mir sehr, dass wir mit dieser Digitalstrategie und mit den Maßnahmen, die wir dazu ergreifen, unsere Sichtbarkeit weiter erhöhen können, damit noch mehr Menschen Lust haben, hier in Nordrhein-Westfalen mitzumachen und es als das Land zu sehen, mit dem sie ihre Zukunft verbinden wollen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Professor Dr. Pinkwart. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Professor Dr. Rudolph.

Prof. Dr. Karsten Rudolph (SPD): Schönen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss etwas zu der Rede des Kollegen Schick sagen.

(Bodo Löttgen [CDU]: War gut!)

Herr Kollege Schick, diese Rede hat bei mir große Nachdenklichkeit über den emotionalen Zustand der Koalition hervorgerufen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wenn jemand neun Minuten zu einer Regierungserklärung Kraft spricht, die vor Jahren stattgefunden hat, und eine Minute zu der Unterrichtung, von der heute die Rede sein sollte, scheint bei Ihnen eine geheime Leidenschaft dahinterzustecken, die unerfüllt bleibt.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Heiterkeit)

Man kann das auch rationalisieren und einfach sagen: Ich rede lieber über die Vergangenheit als über die Gegenwart; sonst müsste ich den FDP-Minister loben, und das fällt mir schwer.

(Zuruf von der FDP: Warum denn?)

Das Zweite, Herr Minister, haben Sie gerade wieder falsch gesagt. Sie behaupten ständig, es hätte einen breit angelegten Beteiligungsprozess gegeben.

(Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Hat es auch!)

– Ja, das sagen Sie immer. Sie sagen sogar, es gebe Tausende von Zuschriften. Das habe ich im „Behörden Spiegel“ gelesen.

Wir haben 178 Registrierungen auf Ihrer Homepage ausgemacht, wo dazu aufgerufen wurde, sich zu beteiligen. Wir haben gesehen – der Bereich ist öffentlich zugänglich –, dass es 32 Stellungnahmen zu Ihrer Strategie im Entwurf gab. Davon stammten 24 von Verbänden und acht von Bürgerinnen und Bürgern, bei denen man nicht ganz genau weiß, ob sie als Bürger oder vielleicht doch in beruflichen Eigenschaften eine Stellungnahme geschickt haben.

(Zuruf von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, dass das eine Bürgerbeteiligung war. Das war eine Verbände‑ und Lobbyanhörung – nicht mehr und nicht weniger.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Dann haben Sie gesagt: Digitalisierung endet nicht an den Landesgrenzen. – Das ist richtig. Aber für Sie endet Digitalisierung an den Landesgrenzen. Wir reden jetzt mal über die Frage: Welche Rolle spielen Sie eigentlich als Regierung des größten Bundeslandes in der deutschen und europäischen Debatte über digitale Themen?

An der Rede vom Kollegen Hafke hat mir einiges gefallen, auch der Punkt mit der Datensouveränität. – Und nun? Wo ist denn die Initiative der Landesregierung für mehr Datensouveränität?

Zur Digitalsteuer habe ich ein Interview von Ihnen gelesen. Das ist ja eine interessante Frage: Wie steht die Landesregierung eigentlich zur Digitalsteuer? – Verschwurbelt.

(Zuruf von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

Sie sagen: gesamteuropäisch, sonst nicht. – Es würde mich interessieren, ob es die Meinung der gesamten Landesregierung ist, auf eine Digitalsteuer de facto zu verzichten, denn mit diesem Interview haben Sie der Digitalsteuer de facto eine Absage erteilt.

(Zuruf von Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie)

In der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten wurde immerhin der bekannte amerikanische Kritiker Jaron Lanier zitiert, der die Sozialisierung der Daten, die von großen Konzernen erhoben werden, fordert.

Was ist denn Ihre Meinung zu dieser Datenerhebung? Wie stellen Sie sich als Landesregierung konkret zu Facebook, WhatsApp, Instagram? Was sagen Sie zur Forderung des CDU/CSU-Spitzenkandidaten für die Europawahl, man müsse diese Konzerne zerschlagen und die Monopolfrage stellen? – Fehlanzeige.

Auch zu der Frage, ob wir europäische Player auf dem Markt, den Sie beschrieben haben, brauchen, sagt diese Landesregierung überhaupt nichts.

Wenn man das betrachtet, was Sie hier machen, führt das zu folgendem Ergebnis: Sie folgen vielfach einer Logik lokaler Möglichkeiten der Berichterstattung, aber keiner Strategie,

(Beifall von der SPD)

die auf der Höhe der Zeit ist, und die sich mit den Themen beschäftigt, die die Öffentlichkeit, die Menschen, Europa und Deutschland beschäftigt. Das ist Ihr Problem.

Ein Letztes noch: der Mensch im Mittelpunkt. – Im Lyrikteil Ihrer Strategie, in dieser positiven Utopie, die sehr technologisch und technokratisch ist, wird der Mensch immer erwähnt. Ich habe mir die Mühe gemacht, die 78 Seiten zu lesen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Prof. Dr. Karsten Rudolph (SPD): Je tiefer Sie in die Sache reinkommen, desto mehr verschwindet der Mensch. Deswegen sage ich: Bei Ihnen steht der Mensch nicht im Mittelpunkt, er steht im Hintergrund.

(Zuruf von der CDU: Oh!)

Das ist schade. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rudolph. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Braun.

Florian Braun (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Es ist mittlerweile ein gern genommener Sport der Opposition, sich darüber zu beklagen, dass die Regierungsbänke vermeintlich zu karg besetzt seien.

Ich habe das heute auch wieder vernommen. Dabei schaue ich in die Reihen der Opposition und sehe ein dramatisches Bild, wenn man diesen Vorwurf so erheben möchte.

Insbesondere in Richtung der SPD, die immer gerne betont, Arbeitsmarktpolitik in der Digitalisierungszeit sei so wichtig, möchte ich fragen: Wo ist denn Ihr Enquete-Sprecher für die digitale Arbeitswelt, wo ist Ihr arbeitspolitischer Sprecher? – Keiner von ihnen ist da, keiner verfolgt diese Debatte.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich habe festgestellt, dass unser Arbeitsminister große Teile der Debatte mitverfolgt; also sollten Sie diese Kritik zukünftig vorsichtiger dosieren. Sie bewegen sich auf dünnem Eis.

Auch sonst tue ich mich schwer, den teilweise sehr überheblichen Auftritt der Oppositionsvertreter zu akzeptieren.

Frau Kampmann, Sie konnten selbst kaum ernst bleiben, weil Sie es offensichtlich selbst fast schon lächerlich fanden. Sie haben es zum Sport gemacht, fehlende inhaltliche Kritik mit persönlichen Spitzen zu kaschieren. Das mag Applaus in den eigenen Reihen bringen, ist aber nichts, was diese Debatte auch nur in einem Punkt nach vorne bringt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Herr Rudolph hat eben kritisiert – auch das hören wir hier gerne –, dass wir uns an der Vergangenheit abarbeiten würden. Aber was ist denn vorhin passiert? Hier wurden Wahlprogramme zitiert, um zu einer aktuellen Digitalstrategie Stellung zu nehmen. Das ist Ihre Antwort auf eine hier erarbeitete Digitalstrategie.

Offenbar hat unser CDU-Wahlprogramm 112 Seiten; ich wusste es selber gar nicht mehr so genau. Sie haben gesagt: Davon geht es auf dreieinhalb Seiten um Digitalisierung. – Ich hatte eben ein wenig Zeit und habe recherchiert: Ihr Wahlprogramm hatte ganze 116 Seiten. Man kann sich streiten, ob das gut oder schlecht ist. Jedenfalls gab es bei Ihnen zweieinhalb Seiten Digitalpolitik.

(Beifall von der CDU und der FDP – Bodo Löttgen [CDU]: Ups!)

Was soll ich darüber urteilen, ob zweieinhalb oder dreieinhalb Seiten richtig sind: Es kommt doch auf die Inhalte an und dass es gesamtflächig gelebt wird, dass Digitalisierung nicht nur ein Spartenthema ist.

Unser Ansatz ist jedenfalls, bei der Digitalstrategie ganzheitlich zu denken und zu argumentieren und sich nicht darüber zu echauffieren, wie groß ein Kapitel einmal war oder ist oder was vor drei oder vier Jahren einmal war.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Wir müssen schauen, wie es um die Zukunft der Digitalpolitik in unserem Land beschaffen ist.

Wir können die Zahlenspiele auch noch erweitern: Sie haben von Apps gesprochen. Ich habe in der Digitalstrategie dreimal das Wort „App“ gefunden. Wenn Ihnen das zu viel App-Politik ist, wird das der Minister in der näheren Ausarbeitung sicherlich berücksichtigen.

Wenn Worte wie „knapp“ oder „gewappnet“, in denen auch die Kombination „app“ auftaucht, mitgezählt werden – weil Sie nur nach „app“ gesucht haben –, kommt man vielleicht auf höhere Werte.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Ich befürchte, dass Sie noch nie einen Strategieprozess mitgemacht haben. Es ist nämlich ureigenste Aufgabe eines Strategieprozesses, zu überlegen, zu hinterfragen, einen Prozess aufzusetzen, Fragen zu stellen. Das haben wir in den letzten Monaten getan.

Dazu gehört auch, Ziele zu formulieren. Das ist der richtige Weg, auch für alle Ministerien, um herauszufinden, wie der nächste Schritt aussehen soll. Das mag Ihnen als Ansammlung erscheinen oder als nicht fokussiert; das können Sie alles kritisieren.

Wir haben jedenfalls für uns eine klare Strategie. In der Rückschau hätte ich mich gefreut, wenn Sie einfach mal losgelaufen wären, auch wenn Sie sich damals über die Richtung nicht klar gewesen wären.

Herr Bolte-Richter, Sie machen sich über digitale Wegweiser lustig. Ich nehme für mich mit, dass die Grünen offenbar wieder einmal dagegen sind und kein Interesse an digitalen Wegweisern haben.

Aber auch hier gibt es eine Gesamtstrategie des Verkehrsministeriums: Es geht darum, ein smartes Verkehrsleitsystem aufzusetzen. Es geht um Vernetzung, es geht um Leitungen zu Parkplätzen, es geht um Seamless Mobility. Es geht darum, dass man übergreifend weiß: Wo kann ich auf welche Verkehrsträger zugreifen?

Es gibt zahlreiche Ansätze, die Sie in der Strategie finden, und die Sie heute im Laufe des Nachmittags im Rahmen eines Antrags der NRW-Koalition zur Verkehrspolitik diskutieren können. Auch dort gibt es reichlich zu diskutieren.

Was aber dem Fass den Boden ausgeschlagen hat – Herr Kollege Hafke ist schon kurz darauf eingegangen –, war Ihre Aussage, dass man in China 150 Milliarden Dollar in künstliche Intelligenz investieren wolle.

Ich darf Sie darüber aufklären, dass im NRW-Haushalt gerade einmal die Hälfte davon zur Verfügung steht. Wie wollen Sie auch nur mit minimalem Respekt vor diesem Haus solche hohen Ausgaben für künstliche Intelligenz rechtfertigen? Damit zeigen Sie, dass Sie keinerlei Ahnung von Finanz‑ und Haushaltspolitik haben.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Horst Becker [GRÜNE])

Das ist völlig fern von jeglichem Realismus. Wir müssen diejenigen sein, die Realpolitik betreiben, und schauen, wie wir auch mit klugen Vernetzungen, mit Netzwerken – sprich: mit dem, was jetzt angestoßen worden ist – unseren Beitrag leisten können, zusammen mit den vorhandenen Playern, mit dem Mittelstand, den Hidden Champions. Dort müssen wir Chancen suchen und finden.

Ich habe bereits Bezug auf den Prozess genommen, angefangen mit dem Koalitionsvertrag und den Positionspapieren der Fraktionen. Wir haben als NRW-Koalition im Frühjahr letzten Jahres eine umfassende Sachverständigenanhörung durchgeführt, um die Fragen zu diskutieren.

Auch das war uns von Anfang an wichtig; das haben Sie schon damals kritisiert. Es war jedoch eine notwendige Grundlage für diese Digitalstrategie, die großen Fragestellungen zu klären: Woran wollen und müssen wir uns abarbeiten? Wo sind die Zusammenhänge zu sehen?

Das haben wir damit gewährleistet. Daraufhin hat die Landesregierung im Sommer 2018 den ersten Entwurf der Digitalstrategie vorgelegt und – das begrüße ich sehr – ressortübergreifend allen Interessierten in Nordrhein-Westfalen zur Diskussion gestellt.

Dazu gehören natürlich Verbände und Unternehmen, aber auch jeder Einzelne war dazu eingeladen. Es freut mich, dass dies auch zukünftig genauso geschehen soll. Es gab auch die Digitalkonferenz, zu der man sich analog getroffen hat.

Jetzt können Sie wieder Zahlen hin und her schubsen, wie Sie wollen, aber Fakt ist: Es hat eine breite Beteiligung stattgefunden. Das Ministerium hat hier neue Wege beschritten und will das auch so fortführen, was ich sehr begrüße.

Darüber hinaus gab es die Möglichkeit zur parlamentarischen Beteiligung. Wir als NRW-Koalition haben davon Gebrauch gemacht und, nachdem der Entwurf vorlag, weitere Ideen zusammengeschrieben, die schon vielfach Eingang in die vorliegende Strategie gefunden haben. Das habe ich bei anderen vermisst. Dort ist nichts in den parlamentarischen Prozess eingegangen. Offensichtlich haben Sie als Opposition geschlafen.

Wir haben Schnittstellen formuliert und diese noch stärker in den Blick genommen. Mensch zu device – genau das, was gerade eben kritisiert wurde – ist eingegangen.

Die Datensouveränität soll gestärkt, die öffentliche Verwaltung mit in die Pflicht genommen und Pilotprojekte – im Bereich von Block-Chain-Anwendungen – sollen realisiert werden.

Das alles finden Sie in dieser Strategie, angefangen mit einer Vision, um ein Leitbild zu formulieren. Auf den folgenden 60 Seiten wird die digitale Zukunft analysiert und mit 40 ganz konkreten Handlungsvorgaben ausgestattet. Man hat zugehört, und man hat umgesetzt.

Die Landesregierung setzt sich hiermit Benchmarks, um sich messen zu lassen. Es geht darum, Ziele zu formulieren und alle anzuspornen. Niemand sollte so vermessen sein, zu behaupten, dass wir das alles problemlos schaffen, aber gerade die Herausforderung setzt den Anreiz. Bei der Weiterentwicklung, beim Monitoring werden wir auch wieder die Unterstützung anderer benötigen.

Es liegt also vor, was es für eine erfolgreiche Digitalpolitik in Nordrhein-Westfalen braucht: eine ganzheitliche Strategie. Ich danke jedem, der seinen Beitrag dazu geleistet hat. Diejenigen, die sich bislang nicht an der Erarbeitung der Digitalstrategie beteiligt haben, sind leider Sie: die Opposition; das haben Sie heute wieder einmal unter Beweis gestellt.

Eine offenere Einladung konnte die Landesregierung allerdings auch nicht aussprechen. Was sollen die Menschen denken, die sich die Mühe gemacht haben? Vielleicht wollen Sie deren Beispiel zumindest in Zukunft folgen, wenn es weitere Beteiligungsmöglichkeiten auch im parlamentarischen Verfahren gibt.

So haben Sie jedenfalls aus dem „MegaHerz“-Desaster nicht dazugelernt, und in Ihrem Portfolio digitalpolitischer Ideen scheint immer noch gähnende Leere zu herrschen.

Schon in der Debatte im November letzten Jahres habe ich gesagt: Die Digitalstrategie ist die Grundlage – nicht mehr und nicht weniger. Wir werden die formulierten Ziele jetzt Schritt für Schritt umsetzen und zusammen mit der Landesregierung weiterhin genau betrachten, wie das voranschreitet, und gegebenenfalls auch aus den Reihen des Parlaments weitere Ideen formulieren und die Strategie weiterentwickeln.

Die Landesregierung jedenfalls hat den nächsten Schritt gemacht, und ich freue mich auf die weiteren, die noch kommen. Klar ist mit dem heutigen Tag: Sie sind definiert, und wir sind in Bewegung – ob mit Ihnen oder ohne Sie. Wir sind in Bewegung auf dem Weg in die digitale Zukunft. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Braun. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Bolte-Richter.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich würde gern noch ein paar Antworten loswerden.

Ich will nicht ausschließen, dass ich an der einen oder anderen Stellen etwas überlesen habe. Wir haben festgestellt, warum das so lange gedauert hat und warum Sie erst ein Pressehintergrundgespräch hatten und das Dokument erst danach dem Parlament zugegangen ist. Vielleicht schicken Sie uns demnächst einfach direkt eine Mail; dann können wir solche Probleme überwinden.

Herr Minister, Sie haben den Mobilfunkpakt und Hessen angesprochen. Dieses Argument haben wir heute nicht zum ersten Mal gehört. Wir haben uns das einmal angeschaut und festgestellt, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt: Hessen hat sich auf eine klare Zielmarke festgelegt, was den Infrastrukturausbau angeht. Ich habe kritisiert, dass dies in Ihrer Strategie nicht thematisiert wird,

(Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Das haben wir gemacht!)

sondern dass es wieder um gigabitfähige Netze geht, was wie Glasfaser klingt, aber eben keine Glasfaser ist.

Lieber Kollege Hafke, Sie haben Konzepte angemahnt. Wir haben in den letzten Jahren genügend Punkte vorgeschlagen.

(Marcel Hafke [FDP] unterhält sich mit Ralf Witzel [FDP].)

– Herr Witzel ist spannender.

Wir haben genügend Konzepte vorgeschlagen, die Sie aber leider alle abgelehnt haben. Es ist also nicht so, dass von unserer Seite nichts gekommen wäre.

Damit bin ich auch sofort beim Kollegen Braun, denn ich will Ihnen ganz klar sagen: Der Ort, wo sich die regierungstragenden Fraktionen und die Oppositionsfraktionen über digitalpolitische oder sonstige politische Konzepte auseinandersetzen, ist genau hier und nicht irgendeine Homepage irgendeiner Regierung.

(Beifall von den GRÜNEN – Florian Braun [CDU]: Was haben Sie denn dann gemacht? Nichts!)

Ich möchte damit nicht das Beteiligungsverfahren infrage stellen. Es ist schließlich schön, dass Sie auch mal ein Beteiligungsverfahren machen. Wir haben das mit Rot-Grün ständig gemacht.

(Florian Braun [CDU]: Und was macht ihr jetzt?)

Insofern ist es nichts Neues, wenn Schwarz-Gelb jetzt auch mal ein Beteiligungsverfahren macht. Man muss aber eines bedenken: Uns liegt eine Stellungnahme der Sozialverbände zum Thema „Social Entrepreneurship“ vor. Das ist für uns ein wichtiges Thema. In dieser Stellungnahme sind konkrete Maßnahmen vorgeschlagen worden. Aber nichts davon ist angekommen.

(Florian Braun [CDU]: Was sind denn Ihre Maßnahmen?)

Zum Thema „KI“: Ich habe überhaupt nicht verlangt, dass wir die Summen ausgeben, die China ausgibt; denn ich weiß sehr wohl, wie groß der Landeshaushalt ist. Sie müssen nicht die Summen ausgeben, die China ausgibt. Aber Sie müssen Nordrhein-Westfalen auch nicht kleiner machen, als es tatsächlich ist.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Das ist auch genau der Punkt, den wir an Ihrer Strategie kritisieren. Es wird nicht groß gedacht; es ist nicht durchdekliniert; es ist am Ende nicht durchfinanziert.

Herr Pinkwart, ein letzter Punkt noch, weil Sie eben in aller Freundschaft mit uns gesprochen haben: Ich habe auch schon mal mit einer Kabinettskollegin von Ihnen zu tun. Ihnen nehme ich immerhin ab, dass Sie sich für alle Themen in Ihrem Ressort interessieren. Das unterscheidet Sie wohltuend von Ihrer Kollegin Pfeiffer-Poensgen.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Matthi Bolte-Richter: Dafür erst einmal herzlichen Dank. Wir werden uns gerne auch weiter mit Ihnen auseinandersetzen. – Schönen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bolte-Richter. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit sind wir am Ende der Aussprache, die ich hiermit schließe.

Ich rufe auf:

2   Endlich wirksame Maßnahmen gegen Wohnungsnot ergreifen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5693

In Verbindung mit:

Effektive Wohnungspolitik setzt auf Investitionen statt Enteignungen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5694

In Verbindung mit:

Aktivierende Stadtentwicklung jetzt! Wohnungs- und Flächenmangel bekämpfen – Aufstockung und intelligente Nachverdichtung unterstützen: Die Landesregierung muss umgehend zu einem Städtebau-Gipfel einladen!

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5617

In Verbindung mit:

Schluss mit der verfehlten Wohnraumförderpolitik der CDU/FDP-Landesregierung: Nordrhein-Westfalen braucht endlich eine zeitgemäße Soziale Wohnraumförderung!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5627

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie die Fraktionen von CDU und FDP haben jeweils mit Schreiben vom 8. April dieses Jahres gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu den genannten aktuellen Fragen der Landespolitik eine Aussprache beantragt. In Verbindung damit behandeln wir die beiden aufgerufenen Anträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der SPD.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die antragstellende Fraktion der Grünen Herrn Kollegen Klocke das Wort.

Arndt Klocke (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit Erlaubnis der Präsidentin meine Rede und die heutige Debatte mit zwei Zitaten beginnen.

Gestern erschien im „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein Interview mit dem Chef des Kölner Mietervereins, Herrn Franz-Xaver Corneth. Herr Corneth, aktives Mitglied der Kölner CDU, führt zu der aktuellen Debatte um die Mieterpolitik und zur Forderung nach Enteignungen aus – ich zitiere ihn hier wörtlich –:

„Ich habe Verständnis für die Forderung. Wenn der Markt aus den Fugen gerät, ist das ein naheliegender Gedanke. Der Artikel 15 des Grundgesetzes sieht vor, dass Vergesellschaftungen gegen Entschädigungen möglich sind. Das ist keine linke Forderung, sondern eine christlich-soziale.“

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Hört, hört!)

Das sagt Franz-Xaver Corneth, CDU, Chef des Kölner Mietervereins.

Mein zweites Zitat ist ein Auszug aus dem heute noch gültigen Baugesetzbuch, geändert in diese Form im Jahr 1987. Die damalige Regierungskoalition bestand aus CDU/CSU und FDP; Bauminister war ein Herr Schneider von der CSU. Das Baugesetzbuch führt im Ersten Kapitel, Allgemeines Städtebaurecht, unter § 85, Enteignungszweck, aus:

„(1) Nach diesem Gesetzbuch kann nur enteignet werden, um

1.  entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans ein Grundstück zu nutzen oder eine solche Nutzung vorzubereiten,

2.  unbebaute oder geringfügig bebaute Grundstücke, die nicht im Bereich eines Bebauungsplans, aber innerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile liegen, insbesondere zur Schließung von Baulücken, entsprechend den baurechtlichen Vorschriften zu nutzen oder einer baulichen Nutzung zuzuführen, …“

Sehr geehrte Damen und Herren, das ist geltendes Recht und von einer christlich-liberalen Koalition Mitte der 80er-Jahre entsprechend geändert worden.

Schaut man sich diese beiden Zitate an – sowohl die Ausführungen von Herrn Corneth von der CDU als auch diesen Paragrafen –, muss man eines ehrlich sagen: Dass Sie hier heute einen solchen Antrag stellen, hat mindestens ein hartes Geschmäckle. Es geht kurz vor der Europawahl um Parteipolitik und darum, dass Sie hier ein Thema hochjazzen wollen. Das hat mit der realen wohnungspolitischen Debatte überhaupt nichts zu tun.

(Beifall von den GRÜNEN)

Am Wochenende haben wir Großdemonstrationen erlebt. In Berlin waren mehrere Zehntausend auf den Straßen; in Köln waren es einige Tausend. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein großes Bündnis, bestehend aus Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Mieterbund. Warum schließen sich solche Menschen zusammen? Warum gehen Tausende auf die Straße? Weil die aktuelle Situation auf dem Wohnungsmarkt, insbesondere in den Ballungsgebieten, insbesondere in den großen Städten, mehr als drängend und besorgniserregend ist.

Wir stehen unter großem Handlungsdruck. Wir nehmen steigende Mieten wahr. In großen Städten müssen viele Familien 40 % bis 50 % ihres Einkommens für die Miete ausgeben. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt hat sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Deswegen müssen wir heute diese Debatte führen, sehr geehrte Damen und Herren.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Zahlen in Nordrhein-Westfalen sind nicht ermutigend. Wir saßen letzte Woche im NRW-Beirat für Wohnraumförderung zusammen, Frau Ministerin. Die Regierungskoalition bezeichnet in ihrem Antrag die 1,2 Milliarden Euro als Rekordsumme für Wohnraumförderung. Ja, das ist richtig; es gibt mehr Geld. Aber es gibt immer weniger fertiggestellte Wohnungen. In der letzten Bilanz, die die NRW.BANK vorgelegt hat, bestätigt sie, dass im letzten Bilanzjahr 1.100 Wohnungen fertiggestellt wurden. Das sind 15 % weniger als im Vorjahr.

Frau Ministerin Scharrenbach, wer hier so schneidig auftritt wie Sie in letzter Zeit, indem Sie an andere Fraktionen Haltungsnoten verteilen, und wer nach zwei Jahren als Wohnungsbauministerin in Nordrhein-Westfalen eine so mäßige Bilanz hat wie Sie, der sollte möglicherweise verbal ein bisschen abrüsten und vielleicht anders auf Bündnispartner zugehen, als Sie das bisher hier im Landtag gemacht haben, Frau Kollegin.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Was würde in der aktuellen Situation helfen? Wir brauchen natürlich ein Maßnahmenbündel. Wir Grünen hatten ja im letzten Plenum einen Antrag vorgelegt, der bemerkenswerterweise von CDU und FDP in einigen Teilen durchaus positiv beschieden worden ist. Wir haben für heute einen weiteren Antrag eingebracht, den Herr Kollege Remmel gleich vorstellen wird.

Notwendig ist eine deutliche Stärkung der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und ‑genossenschaften. Wir brauchen eine sozial orientierte Bodenpolitik.

Hier ist Münster ein wirklich gutes Beispiel in Nordrhein-Westfalen. In Münster erfolgt die Vergabe der Flächen nicht mehr nach Höchstgebot, sondern nach Konzept und dann, wenn die entsprechenden Pläne vorsehen, dass 30 % bis 40 % preisgebundener Wohnraum angeboten werden.

Das heißt: ein anderer Umgang mit Bauland, die Stärkung eines Flächenpools, die Stärkung der Erbpacht als wichtiges Instrument, die Unterstützung der Kommunen bei einer Bodenvorratspolitik, beschleunigte Genehmigungsverfahren.

Effizienzsteigerungen sind auch beim Bau möglich. Ich hatte gestern eine sehr spannende Podiumsdiskussion beim BFW. Dort stand ich mit Herrn Bauwens-Adenauer, Präsidiumsmitglied des CDU-Wirtschaftsrates, auf dem Podium, als er sagte: Allein durch Digitalisierung erreichen wir beim Bau ein Zeitersparnispotenzial von 30 %, sodass der Bau entsprechend schneller werden kann. – Auch das ist eine spannende Zahl.

Es gibt auf Bundesebene die Debatte um eine neue Gemeinnützigkeit – von meiner Fraktion vorangetrieben, auch wenn ich da einige Fragezeichen habe.

Der Tübinger Oberbürgermeister Palmer und der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann sind mit der Frage einer Baupflicht auf entsprechenden Flächen, die über Jahre freigehalten werden, sehr in der Öffentlichkeit aktiv. Mit Bauland darf nämlich nicht spekuliert werden. Das sagt auch das Bundesverfassungsgericht, weil es bei Grund und Boden eine besondere Verpflichtung des Eigentums gibt. Das muss durchgesetzt werden, sehr geehrte Damen und Herren.

(Beifall von den GRÜNEN)

Zum Abschluss meiner Rede würde ich gerne noch einige Sätze an Herrn Kollegen Kutschaty richten. Sie haben sich in dieser Woche ebenfalls geäußert. Ich muss ehrlich sagen: Die Not bei der SPD muss ziemlich groß sein, wenn man gegen die Grünen die Tonalität benutzt, die 2005 im Zusammenhang mit den Hamstern gegen die Regierung Steinbrück und gegen Bärbel Höhn verwendet worden ist. Das fand ich schon ziemlich armselig.

In den Städten findet natürlich eine Debatte statt – ich weiß das aus Köln, aus meinem Wahlkreis –, in der die Frage „Bebauungsflächen versus Frischluftschneisen?“ und die Frage „innerstädtisches Grün oder Bauland?“ diskutiert werden. Es gibt auch Bürgerinitiativen, die sich entsprechend engagieren. Da ist manches richtig; manche Debatte wird zu Recht geführt.

Lieber Kollege Kutschaty, wenn man sich die aktuelle Diskussion um Klimapolitik in diesem Land anschaut, gewinnt man mittlerweile den Eindruck, dass die FDP in diesen Fragen fortschrittlicher und moderner aufgestellt ist als die SPD.

(Zuruf: Koalitionsangebot!)

Denn das, was Sie Anfang der Woche in dieser Debatte geäußert haben, war noch nicht einmal 70er-Jahre; das war 60er-Jahre.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Die Bewahrung von Grün in den Städten ist kein Gegensatz zu Bebauungsplänen. Ehrlich gesagt, fand ich Ihre Äußerungen ziemlich armselig und unter der Gürtellinie. Das haben Sie eigentlich auch politisch nicht nötig. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Klocke. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Schrumpf das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Fabian Schrumpf (CDU): Herr Klocke, wer mehr Wohnraum braucht und dazu diejenigen enteignet, die für mehr Wohnraum sorgen, wird am Ende nur die Knappheit vergrößert und die Mietpreise erhöht haben.

(Beifall von der CDU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Debatte um bezahlbaren Wohnraum hat in den vergangenen Tagen zweifelsohne Fahrt aufgenommen.

(Sarah Philipp [SPD]: Aber nicht durch Sie!)

Bei dieser Debatte stand insbesondere die Forderung nach Enteignung von privaten Wohnungseigentümern im Fokus. Zu unserem Entsetzen wurde dabei deutlich, dass sowohl einige Sozialdemokraten als auch und ganz besonders Vertreter der Grünen Sympathien für Enteignungen hegen.

So spricht etwa der Vorsitzende der NRW-SPD Sebastian Hartmann davon, dass Enteignungen – Zitat – „kein Tabu“ seien. Auch Ralf Stegner, immerhin stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, möchte sie nicht ausschließen.

(Sarah Philipp [SPD]: Das steht im Grundgesetz!)

Doch den Vogel in der Debatte schießt ohne Zweifel die Ein-Mann-Doppelspitze der Grünen, Robert Habeck, ab. Er lässt seine bürgerlich angestrichene Maske fallen

(Zuruf: Hui!)

und spricht sich klar für Enteignungen aus. Sekundiert wird dies durch die Landesspitze der Grünen in NRW.

(Monika Düker [GRÜNE]: Sozialismus?)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in welcher Zeit leben wir eigentlich? Enteignung und Verstaatlichung als das Rezept gegen Wohnungsnot? Was kommt denn als Nächstes?

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die Forderung nach einem sozialistischen Fünfjahresplan für die Bau- und Wohnungswirtschaft?

(Zurufe von den GRÜNEN)

Wer Enteignungen fordert und sie ernsthaft als adäquates Mittel gegen Wohnungsnot bezeichnet, handelt schlichtweg verantwortungslos. Das hat mit seriöser Politik in unserem Land rein gar nichts zu tun.

(Beifall von der CDU)

Uns sollte doch hoffentlich allen klar sein: Durch Enteignung oder Verstaatlichung von Wohnungsgesellschaften

(Sarah Philipp [SPD]: Was machen Sie denn jetzt?)

entsteht keine einzige neue Wohnung. Ganz im Gegenteil! Dies würde ein verheerendes Signal an all diejenigen senden, die für mehr Wohnraum sorgen sollen.

(Sarah Philipp [SPD]: Was machen Sie denn jetzt?)

Genau das ist doch der entscheidende Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Staat müsste Milliarden Euro an Entschädigung an die betroffenen Unternehmen zahlen. So könnten – am Beispiel von Berlin – nach Kostenschätzung des Berliner Senates allein Entschädigungszahlungen in Höhe von bis zu 36 Milliarden Euro und jährliche Folgekosten von bis zu 340 Millionen Euro entstehen.

Für diese gigantische Summe könnten aber auch 300.000 neue Wohnungen gebaut und mehr als eine Viertelmillion Haushalte mit Mieten von nicht mehr als 6,50 Euro pro Quadratmeter versorgt werden. So rechnete es uns der GdW jüngst vor.

(Beifall von der CDU)

Worum geht es Rot und Grün bei dieser Debatte also wirklich? Haben Sie noch ernsthaftes Interesse an der Lösung des eigentlichen Problems, nämlich dem der Wohnungsnot? Oder geht es darum, mit provokanten Thesen und Scheinlösungen politische Geländegewinne zu erzielen und das Problem damit künstlich hochzuhalten?

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Sie können sich nun entweder weiterhin in ideologischen Grabenkämpfen verlieren oder gemeinsam mit uns den Fokus darauf legen, eine für die Menschen in unserem Land gute und realistische Lösung für mehr bezahlbaren Wohnraum zu finden.

(Michael Hübner [SPD]: Mit Ihnen?)

Nun zum Antrag der SPD: Der Bestand an öffentlich geförderten, preisgebundenen Mietwohnungen geht bereits seit Jahren zurück – und das vor allem und gerade auch in der Regierungszeit von Rot-Grün. In diesem Zusammenhang habe ich die Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit im Antrag der SPD durchaus mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Dort heißt es nämlich auf Seite 2:

„Der Niedergang des mietpreisgebundenen Wohnungsbaus ist hausgemacht.“

Auch im Herbst 2017 haben Sie selbst in einem ähnlichen Antrag geschrieben – ich zitiere –:

„Gründe für den Mangel sind, dass die Bevölkerung von 2009 bis 2016 deutlich gewachsen ist, mehr Menschen in die Ballungsräume ziehen und zeitgleich zu wenige Wohnungen neu gebaut wurden, …“

(Zuruf von Sven Wolf [SPD])

So viel Ehrlichkeit und weniger populistische Dramaturgie, Herr Wolf, hätte ich mir auch für den Rest des heutigen Antrags gewünscht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Doch leider müssen wir hier erneut zur Kenntnis nehmen, dass die SPD auch beim Niveau ihrer Anträge nun endgültig bei 16 % angekommen ist.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Tosender Applaus für den Joke!)

Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, für die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, den Sie so gerne predigen, ist es eben nicht hilfreich, immer wieder das Feindbild des bösen Vermieters zu skizzieren, indem Sie zum Beispiel von Miethaien oder Ähnlichem sprechen. Herr Ott läuft ja hier schon die ganze Zeit mit einem Hai als Stofftier durch die Gegend.

(Jochen Ott [SPD]: Hat ja schon geklappt, wie Sie sehen!)

An die Adresse der Grünen gerichtet, sage ich noch einmal: Lassen Sie Ihren großen Ankündigungen und Forderungen nach mehr Wohnbauflächen,

(Sarah Philipp [SPD]: Was machen Sie jetzt eigentlich?)

die Sie in Ihrem Antrag erneut erheben, doch bitte vor Ort in den Kommunen endlich konkrete Taten folgen.

So wurde beispielsweise in Essen jüngst das Bürgerforum „Wo wollen wir wohnen?“ durchgeführt. In der letzten Ratssitzung wurde dann die Stadtverwaltung damit beauftragt, 28 von den Essener Bürgerinnen und Bürgern vorgeschlagene und priorisierte Flächen hinsichtlich einer möglichen Wohnbebauung zu prüfen. Welche Fraktion hat natürlich dagegen gestimmt? Die Grünen. Anspruch und Realität klaffen bei Ihnen leider nach wie vor – zumindest vor Ort – weit auseinander.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir als NRW-Koalition nehmen die Sorgen der Menschen in unserem Land ernst. Wir sind davon überzeugt, dass nur ein Mehr an Wohnraum in allen Segmenten nachhaltig dazu beitragen wird, die Situation auf dem Wohnungsmarkt zu entspannen und die Preise zu stabilisieren.

Um das zu erreichen, haben wir in nicht einmal zwei Jahren Regierungsverantwortung bereits zahlreiche wichtige Maßnahmen auf den Weg gebracht.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Aber keine Wohnungen gebaut!)

Dazu zählt neben der Modernisierung des Baurechts insbesondere die neu aufgestellte öffentliche Wohnraumförderung. So sind allein im Jahr 2019 fast 1,3 Milliarden Euro für die Schaffung und Erhaltung von preisgebundenem Wohnraum zur Verfügung gestellt worden. Zugleich haben wir die Förderkonditionen verbessert und Restriktionen abgebaut. Als NRW-Koalition haben wir damit ein klares Bekenntnis zum öffentlich geförderten Wohnungsbau in unserem Land abgegeben.

Doch nach wie vor gibt es zu viele Investitionshemmnisse, und zwar insbesondere aufgrund fehlenden Baulands. Dabei wird es ohne bezahlbares Bauland keinen bezahlbaren Wohnungsbau und erst recht keine bezahlbaren Mieten geben.

Was wir dazu brauchen, sind aber keine zusätzlichen Wohn- oder Flächengipfel. Was wir brauchen, sind gezielte Konzepte zur Baulandgewinnung, um so Anreize für Investitionen zu setzen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Sarah Philipp [SPD]: Machen Sie doch! Bisher haben Sie noch nichts gemacht! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie sind doch die Regierung!)

Eine gesetzliche Überregulierung des Wohnungsmarktes oder gar der Eingriff in Eigentumsrechte durch Enteignungen ist und bleibt der falsche Weg. Nur durch den Bau von neuen Wohnungen kommen wir bei der Lösung des Problems voran. Wir setzen auf Investitionen statt auf Enteignungen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen Sie zur Vernunft. Vergraben Sie die sozialistische Mottenkiste wieder, und lassen Sie uns gemeinsam an einer guten Lösung für die Menschen in unserem Land arbeiten.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Schrumpf. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP Herr Abgeordneter Paul das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Stephen Paul (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arndt Klocke hat eben gesagt, unser Antrag auf eine Aktuelle Stunde habe nichts mit der realen Debatte zu tun. Das fand ich bemerkenswert. Wenn Sie zu einem Wortbeitrag Ihres Bundesvorsitzenden, der eine entsprechende Debatte, die im Land geführt wird, mit angefacht hat, sagen, das sei keine reale Debatte, ist das bemerkenswert. Er hat – ich fasse es einmal zusammen – gesagt: Wenn alles nichts nützt, dann einfach enteignen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Robert Habeck persönlich wird die Folgen seiner Sprüche nicht spüren. Der Schriftsteller und Gelegenheitsphilosoph wohnt behütet in einem Flensburger Wohlfühlviertel, vielleicht sogar im Wohneigentum. Das soll heute nicht unser Thema sein. Dort kann er seinen Enteignungsfantasien auch prima nachgehen. Er kann sie da gut pflegen, während er vielleicht in einem Latte Macchiato rührt oder bedeutungsvoll am grünen Tee nippt.

(Zurufe von der SPD)

Einen solchen Lösungsansatz bekommen aber die vielen Wohnungssuchenden sehr wohl zu spüren. Wer Investoren im Mietwohnungsbau,

(Monika Düker [GRÜNE]: Geht es mit dem Niveau noch tiefer?)

gleich ob privatwirtschaftlich oder genossenschaftlich, wegen der politischen Umstände verunsichert, der schadet dem Klima für den Neubau im ganzen Land.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Im Zweifel wird weniger investiert. Wer Vermietern keine Sicherheit mehr geben will und mit der Wegnahme ihrer Bestände droht, der vermiest das Klima fürs Vermieten. So einfach ist das.

Ich warne Sie ganz klar davor. Die Wohnungssuchenden, die Mieterinnen und Mieter, werden einen solchen Klimawandel, den Sie hier auslösen, als Allererste zu spüren bekommen. Wie naiv muss man denn sein, wenn man glaubt, all diese Enteignungsfantasien hätten keine negativen Auswirkungen auf die Investitionsbereitschaft oder die Bereitschaft, Mietwohnungen anzubieten? Wer keinen Respekt vor dem Eigentum hat, verschreckt Investoren, statt sie zu ermutigen.

(Beifall von der FDP und Fabian Schrumpf [CDU])

Wer Wohnungsanbieter knechtet, schafft nicht mehr Wohnraum. Wer den Eindruck hat, es gebe zu wenig und zu teures Brot, nimmt doch auch nicht dem Bäcker seine Backware weg und bezahlt sie ihm dann auch noch, sondern sorgt dafür, dass es mehr Bäcker und dadurch mehr und günstigeres Brot für alle Leute gibt.

(Beifall von der FDP, der CDU und Roger Beckamp [AfD])

Es gibt erhebliche Zweifel, ob eine Enteignung von Wohnungen überhaupt verfassungsrechtlich angemessen und verhältnismäßig wäre.

Eine Enteignung ist ein unzulässiger Eingriff in die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 unseres Grundgesetzes. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Wer letztlich keinen Respekt vor dem Eigentum hat, legt die Axt an einen zentralen Wert unseres Rechtsstaates. Wer das Eigentum nicht achtet, riskiert dadurch den sozialen Frieden in unserem Land und unsere gesellschaftliche Stabilität.

Mit linkem Häuserkampf-Populismus, mit gesellschaftlicher Stimmungsmache erweist man unserer Demokratie einen Bärendienst und treibt die Wählerinnen und Wähler auch den rechten Populisten zu.

(Beifall von der FDP und der CDU – Roger Beckamp [AfD]: Ach!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Enteignung bei uns in Deutschland auch Entschädigung heißt, haben andere Grüne bereits besser verstanden. Tarek Al-Wazir, der stellvertretende Ministerpräsident von Hessen, wendet sich klar gegen Enteignung. Er sagte gestern – nachzulesen im „Handelsblatt“ –, die brachliegenden Flächen in Ballungsräumen seien das eigentliche Problem; die Politik müsse die Besitzer motivieren, ihren Grund und Boden für den öffentlichen Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Das klingt doch schon vernünftiger.

Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg Winfried Kretschmann bezeichnet sogar die ganze vom Bundesvorsitzenden der Grünen mit angefachte Enteignungsdebatte als – wörtlich – Unsinn. Das Geld solle man besser für den Wohnungsbau nutzen.

Nichts anderes sagen wir hier heute, und nichts anderes hat der Kollege Fabian Schrumpf gerade schon erklärt.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dieser gesamten Politik, die sich auch Enteignungen zumindest vorstellen kann, liegt eine weitere Fehlannahme zugrunde, die ich hier im Landtag offen aussprechen möchte, nämlich die Annahme, im Zweifel könne man auf all die Investoren und Wohnungsanbieter, auf die in Nordrhein-Westfalen bewährten Partner, verzichten. Ich spreche von den genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen, von der mittelständischen Wohnungswirtschaft, die ihren Beitrag leisten, und von den kirchlichen Investoren.

Ist man mit diesen Partnern dann so schlecht umgegangen, dass sie sich zurückhalten oder gar vom Wohnungsmarkt zurückziehen, zieht man eben mit Steuergeldern eine große staatliche Wohnungsbaugesellschaft auf. Seien wir ehrlich: Manche hier im Saal links der Mitte träumen geradezu von einem solchen ideologischen Ziel, von einem solchen – sprechen wir es doch offen aus – sozialistischen Zustand.

(Zuruf von Heike Gebhard [SPD])

Doch wie naiv muss man denn sein, wenn man glaubt, allein der Staat könne den erforderlichen Wohnraum schaffen? Die Zahlen im Wohnungsneubau hinken schon länger dem Bedarf hinterher.

(Heike Gebhard [SPD]: Ach, ist das schön!)

In einer solchen Lage brauchen wir hier in Nordrhein-Westfalen jeden – ich betone: jeden – seriösen Partner, der bereit und in der Lage ist, einen Beitrag zu leisten, um das Angebot an verfügbarem und preisgünstigem Wohnraum zu erhöhen. Es bedarf einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Wohnungswirtschaft und Politik.

Wir von der NRW-Koalition sagen ganz klar: Wir brauchen in unserem Land die Wohnungsgenossenschaften, die mittelständischen Wohnungsunternehmen und die kirchlichen Investoren.

(Sarah Philipp [SPD]: Und die kommunalen!)

Wir setzen auf sie und heißen sie in Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Sie dürfen sich hier sicher fühlen. Hier ist ein gutes Klima für den Neubau, für die Pflege von Immobilienbeständen und für das Vermieten von Wohnraum. Dafür steht die Mehrheit von Christdemokraten und Freien Demokraten im Landtag.

Im Interesse der Menschen, die nur ein geringes oder durchschnittliches Einkommen haben, fördert das Land den Mietwohnungsbau mit einer Rekordsumme.

(Zuruf von Arndt Klocke [GRÜNE])

– Ja, genau; vor allem den Bau neuer Mietwohnungen

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Immer weniger! – Sarah Philipp [SPD]: Und Eigentumswohnungen!)

und die Pflege älterer Bestände. Das ist doch nachhaltig. Das Land fördert auch den Bau von Wohnheimen für Studentinnen und Studenten sowie behindertengerechtes Wohnen.

(Zuruf von der SPD: Wo?)

Wir haben auch erkannt: Wer Familien mit ihrem Wunsch, Wohneigentum zu bilden, über die Schwelle hilft,

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

hilft damit auch wieder den Wohnungssuchenden, die in die dadurch frei werdenden Mietwohnungen einziehen können.

(Sarah Philipp [SPD]: Das ist eine sehr gewagte These!)

Wir werden diesen Weg gemeinsam weitergehen. – Danke schön.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Paul. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der SPD Herr Kollege Ott das Wort. Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Jetzt wird es sachlich!)

Jochen Ott (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Kann es sein, dass nun die drei strukturkonservativen Parteien gesprochen haben, deren Anhänger überproportional in jeder Bürgerinitiative gegen Wohnungsbau vor Ort vertreten sind?

(Beifall von der SPD)

Wohnen ist ganz wichtig – aber nicht bei uns vor der Tür. Hier gehe ich mit dem Hund spazieren. Mehr als zwei Geschosse? Das verdeckt ja meinen Blick. Oder: Hier ist doch gar kein Platz mehr, damit die alle parken können, die Hunderte von Studenten, die hier wohnen.

Jahrelang wurde insbesondere von Vertretern der Konservativen sozialer Wohnungsbau, geförderter Wohnungsbau gleichgesetzt mit sozialem Brennpunkt. Die Hartzer sollten mal schön im Ruhrgebiet und in Köln bleiben, aber doch nicht ins Umland kommen. Dort machen wir keinen geförderten Wohnungsbau.

(Sarah Philipp [SPD]: So ist es!)

Die CDU hat ihren Konrad Adenauer, nämlich den Chef des Kölner Haus- und Grundbesitzervereins. Er ist der Auffassung, dass sich die Bewohner von Sozialwohnungen in Villenvierteln sozial deklassiert fühlen. Für ihn ist Geschosswohnungsbau da, wo Eigentümer sind, also vollkommen undenkbar.

Die FDP hat soziale Baulandmodelle ständig als Investorenschreck gebrandmarkt. Für sie sind die Renditen von 3 % viel zu niedrig. Sie hat auch – das haben wir gerade vom Kollegen Paul gehört – den Art. 14 des Grundgesetzes verdrängt. Darin steht nämlich auch die Sozialverpflichtung des Eigentums.

Wer das ignoriert, der riskiert den sozialen Frieden in unserem Land, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Diese renditeorientierte FDP und diese CDU, die seit Jahren geförderten Wohnungsbau diskreditiert hat, sind mitverantwortlich für die Situation, in der wir heute stecken.

(Beifall von der SPD – Bodo Löttgen [CDU]: Sie haben sieben Jahre regiert! – Gegenruf von Michael Hübner [SPD])

Lieber Kollege Klocke, ich hätte mich zurückgehalten. Aber eines muss ganz klar sein: In den Städten, in denen die Grünen mitentscheiden, sind im Zweifel Frosch und Kröte wichtiger als Wohnungsbau für Menschen in diesem Land.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Arndt Klocke [GRÜNE])

Gefühlt konnten in halb Köln Wohnungen deshalb nicht gebaut werden, insbesondere in bürgerlichen Vierteln.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Wie schlecht muss es denen doch gehen?)

Deshalb muss man klar festhalten: Die Enteignungsdebatte, die hier gerade stattfindet, ist ein großes Ablenkungsmanöver, sowohl von Herrn Habeck als auch von CDU und FDP.

(Beifall von der SPD – Zurufe von Fabian Schrumpf und Josef Hovenjürgen [CDU])

In Berlin wird ein massiver Kampf gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes geführt.

Und jetzt wundert man sich: Herr Habeck selbst hat in Schleswig-Holstein gegen die Mietpreisbremse gestimmt, als er Kabinettsmitglied war. Das ist keine glaubwürdige Politik. Das ist billiger Populismus, um in linksliberalen Großstadtmilieus zu punkten, ohne die Bereitschaft und den Anspruch auf Umsetzung zu haben. Deshalb handelt es sich dabei um reine Ablenkung.

Jetzt zur CDU: Die Entgegnung der CDU auf die Forderung nach Enteignung macht einen allerdings fassungslos. Laschet und Co. sind die größten Enteigner Nordrhein-Westfalens. 92.000 Menschen bei der LEG sind von Ihnen enteignet und der Steuerzahler um 6 Milliarden Euro erleichtert worden.

(Beifall von der SPD – Lachen von der CDU)

Das ist die bittere Wahrheit. Deshalb sage ich Ihnen: Enteignung ist nach unserer Verfassung und nach dem Baugesetzbuch möglich. Es ist ein Instrument. Wenn Finanzinvestoren weiter die soziale Marktwirtschaft, den Staat und die Menschen hintergehen, dann sage ich ganz klar: Alle Instrumente sind denkbar.

Aber Investor ist nicht gleich Investor, Eigentümer ist nicht gleich Eigentümer. Deshalb ist es zwingend, sich die Sache genau anzuschauen. Zehn Jahre lang, Herr Kollege Schrumpf, haben die Finanzinvestoren, die großen börsennotierten Wohnungsgesellschaften doch überhaupt keine Wohnungen gebaut. Die Private-Equity-Gesellschaften haben abgezogen, aber eben nicht investiert.

Im Gegenzug haben die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften Milliarden in den Wohnungsbau investiert. Sie haben außerdem in den barrierefreien Umbau investiert und sich nicht auf Luxussanierungen konzentriert, wie das die Finanzinvestoren getan haben.

Es ist schon pervers, wenn nun unter Bezugnahme auf die Beschlussfassung der Großen Koalition die großen Private-Equity-Unternehmen erklären, sie würden jetzt nur noch mit Pinsel und Farbe arbeiten; denn die Menschen seien ja gegen die Luxusmodernisierung. Deshalb könne der altersgerechte Umbau von Wohnungen nicht mehr stattfinden. – Das ist eine bodenlose Unverschämtheit.

(Beifall von der SPD – Zuruf von der SPD: Genau!)

Und deshalb: Wir wollen wohnen. In den letzten Wochen haben Tausende von Menschen in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus in einem großen Bündnis aus Mietervereinen, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften demonstriert. Sie alle haben Ihnen und der Politik insgesamt die gelb-rote Karte gezeigt.

Sie haben nämlich gesagt: Wacht endlich auf! Wir haben das Vertrauen in die Politik und dass sie für preiswerten Wohnraum in unseren Städten sorgen könnte, verloren. Wenn jetzt nichts passiert und wenn die Politik nicht handlungsfähig ist, dann wird sich diese Lage weiter zuspitzen.

Schauen wir uns also an, wie es in NRW aussieht.

Die NRW.BANK beschrieb letzte Woche eindrucksvoll, dass zu der Gruppe der am meisten Betroffenen auf dem Mietermarkt vor allem die Menschen mit niedrigem Einkommen gehören, mit 900 Euro oder 1.500 Euro Nettomonatseinkommen. Was ist unsere Antwort darauf, dass gerade die Menschen, die nicht viel ihr Eigen nennen, Probleme haben, eine Wohnung zu finden? Die Antwort ist ein Sonderprogramm für die, die zwischen 75.000 Euro und 105.000 Euro Jahreseinkommen haben. Das ist ein wohnungspolitischer Skandal, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 46.000 Euro muss das Bekenntnis lauten, dass wir uns um die kümmern, die besondere Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt haben. Was macht Schwarz-Gelb? 9.300 geförderte Wohnungen im Jahr 2016. Und jetzt? 6.159 Wohnungen, ein Rückgang um 34 %. Deshalb brauchen wir endlich ein Umsteuern in der Politik hinsichtlich des Baus geförderter Wohnungen.

Daher in aller Kürze folgende Punkte:

Eine Landeswohnungsbaugesellschaft ist für uns Sozialdemokraten zentral. Eines sage ich Ihnen: Wenn Wien in Ihren Augen sozialistisch ist, dann bin ich für eine sozialistische Wiener Wohnungspolitik in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der SPD)

Der Staat muss selbst bauen. Er muss gleichzeitig kommunale Gesellschaften und Genossenschaften fördern.

Wir müssen den Werkswohnungsbau wieder nach vorn bringen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Flächen endlich auf den Markt gebracht werden, und zwar nicht zu überteuerten Preisen, wie es in unseren Kommunen derzeit geschieht, und wie es dieses Land betreibt. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass Grundstücke über Erbpachtsysteme an den Markt gebracht werden, damit der Boden in öffentlicher Hand bleiben kann.

Wir müssen die soziale Baulandnutzung nach Konzeptvergabe weiter vorantreiben. Wir dürfen auf keinen Fall darauf verzichten, die gesetzlichen Vorgaben anzupassen, die wir hinsichtlich der Wohnraumförderung gemacht haben. Die Gebietskulissen müssen angepasst werden. Es muss höher gebaut werden können, und die Mischung in höheren Häusern muss möglich werden.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Deshalb zum Schluss: Wenn wir in der Wohnungspolitik Scheindebatten führen, kommen wir nicht weiter. Was wir brauchen, ist, um es mit Minister Groschek zu sagen, eine Willkommenskultur für röhrende Bagger in Nordrhein-Westfalen, damit die Wohnungen gebaut werden können.

(Zurufe von der CDU)

Was wir brauchen,

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

ist eine neue Bereitschaft dieser Landesregierung, um endlich zu kapieren: Mit dem Frontalangriff auf die Bündnisse werden wir keine Wohnungen schaffen.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Jochen Ott (SPD): Vielmehr brauchen wir die Bereitschaft, im Konsens den Wohnungsbau voranzutreiben. Die Reden der Vertreter der Koalition haben gezeigt: Sie haben nichts verstanden.

(Unruhe von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Jochen Ott (SPD): Deshalb ist es richtig und wichtig, Debatten auch über das Thema „Enteignung“ zu führen, bis Sie verstanden haben, dass wir in der Wohnungspolitik endlich liefern müssen.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Ott. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD Herr Abgeordneter Beckamp das Wort. Bitte sehr.

Roger Beckamp (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn Herr Ott von einer Landeswohnungsbaugesellschaft spricht, dann muss ich immer daran denken: Auffangposten für eine SPD auf dem Weg zu 5 % Stimmenanteil. Das sind genau die Ambitionen, die dahinterstecken.

Aber zu der Rede: Der Wohnungsmarkt ist in einem Teilbereich in Schieflage. Darin sind wir uns alle in diesem Haus einig. Fraglich oder jedenfalls nicht einmütig benannt sind die Ursachen und damit die Lösungsansätze, die Abhilfe schaffen könnten.

Die Grünen verweisen in ihrem Antrag auf die Mietendemos vom letzten Wochenende. Da ging es um bezahlbaren Wohnraum durch zahlreiche Verbote, Gebote, Eingriffe, Übergriffe, Ideen.

Was aber bei all den Forderungen auf den Demos und genauso hier im Landtag seit Monaten auffällt, ist die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Auf der einen Seite fordern Sie ständig neuen Wohnraum, der auch bezahlbar sein muss. Auf der anderen Seite sollen Wohnungen besser und umweltfreundlich werden.

Dann können sie aber schwerlich billiger sein; denn Sie, die Politiker, verteuern ständig das Angebot durch energetische Vorgaben, die nicht nur unwirtschaftlich, sondern teilweise völlig unsinnig sind. Den Mietenwahnsinn, den Sie beklagen, schaffen Sie durch Dämmwahnsinn.

Ja, es fehlt auch Wohnraum wegen fehlenden Baulandes. Aber daran sind überwiegend die Kommunen schuld.

(Zuruf von Dr. Ralf Nolten [CDU])

Zugleich lassen Sie – damit komme ich wieder zum Punkt – immer noch und seit Jahren hunderttausendfach neue Nachfrager ins Land.

(Beifall von der AfD)

Es gibt die Vereinzelung in der Gesellschaft, also mehr Haushalte, es gibt eine Binnenwanderung, aber es gibt auch und vor allem hunderttausendfach Asyleinwanderer, neue Nachfrager. Das bedingt eine Verdrängung, die Sie nicht zu benennen bereit sind.

(Beifall von der AfD)

Da sind Sie eben unehrlich. Das geht durch alle Reihen der Regenbogenfraktionen. Die wahren Probleme wollen Sie nicht benennen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere, frei nach dem Motto: Haltet den Dieb!

Im Übrigen ist das Thema bei denjenigen, die es angeht, nämlich bei der Wohnungswirtschaft, längst angekommen. Diese hat gestern einen sehr interessanten Immobilientag veranstaltet. Einige von Ihnen haben daran ebenfalls teilgenommen; unter anderem war Herr Klocke da.

Die fühlen sich von SPD und Grünen aber alleine gelassen. Sie haben das sehr deutlich gesagt und Herrn Klocke, der gerade nicht da ist, einige Dinge mit auf den Weg gegeben. Dort wurde jedenfalls offen und zielführend diskutiert.

Ganz anders war es am vergangenen Wochenende auf einer Mietendemo in Köln, bei der ich auch anwesend war, wo sich DGB und Antifa die Hand gereicht haben. „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘„ – auch an dieser Stelle, wunderbar, klappt das hervorragend.

Ich war da und wollte mit den Leuten sprechen. Ich habe nämlich Verständnis für einige Forderungen, die ich diskussionswürdig finde. Das hat aber nicht geklappt. Es war einfach nur ein linkes Tamtam vor Ort, Übergriffe, Handgreiflichkeiten, Niedergebrülle. Das war die Mietendemo in Köln.

Oder sehen Sie das anders, Herr Kossiski? Sie waren doch auch da. Welche Erkenntnisse haben Sie mitgenommen? Haben Sie da gegen sich selbst demonstriert? Denn Sie sind ja für die Situation auf dem Wohnungsmarkt mitverantwortlich.

(Beifall von der AfD)

Genauso war es: überall DKP-Fahnen, Hammer und Sichel, Handgreiflichkeiten, Geschrei. Und Sie sind fröhlich mit dabei: DGB, Sozialverbände, Antifa an einem Strang.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Was für ein Blödsinn!)

Sie können es im Internet und sonst wo bewundern, überall.

(Zuruf von Arndt Klocke [GRÜNE])

– Da haben wir uns nicht gesehen.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Nein, darüber bin ich auch froh!)

Dann waren Sie vielleicht nachher beim Antifa-Umzug. Ich war bei der normalen Demo vorher. Das war schlimm genug.

Ich komme zum Antrag. Sie wollen weg von der Eigentumsförderung, alles Geld, 1,2 Milliarden Euro im letzten Jahr, in den sozialen Wohnraum, alles Geld in den Mietwohnungsbau. Warum denn eigentlich? Warum soll der Wunsch nach Eigentum von Leuten mit nicht allzu hohem Einkommen nicht erfüllt werden? Wissen Sie besser, was die Leute wollen? Wahrscheinlich nicht.

Die Zahlen – sie wurden eben schon von Herrn Schrumpf genannt – zeigen: knapp 1,3 Milliarden Euro in die soziale Wohnraumförderung gesteckt, 100 Millionen Euro davon für Eigentumsförderung. Doch weder die Eigentumsförderung noch die Mietwohnungsförderung wurde voll ausgeschöpft. Es sind Millionen Euro übrig. Das heißt, nicht Geld ist das Problem, sondern Sie bekommen den vielen Beton einfach nicht in den Boden – mangels Bauland und mangels Kapazitäten bei den Unternehmen. Somit ist Ihr Lösungsvorschlag der Umschichtung untauglich.

Wie könnte es anders gehen? Ihrer Ansicht nach mit Enteignung. SPD und Grüne Seit‘ an Seit‘! Überlegen wir kurz: Die Miete ist der Preis für eine Wohnung. Steigt die Nachfrage nach Wohnungen mehr als das Angebot, sind Wohnungen knapp, und die Miete steigt. Das ist ein ganz normaler Mechanismus im Markt.

Was kann man tun, um die Mieten wieder sinken zu lassen? Man kann die Nachfrage verringern – schwierig. Man kann das Angebot ausweiten – derzeit auch schwierig; das wird ja von allen Seiten versucht.

Wie passt da die Enteignung rein? Verringert sie die Nachfrage? Macht sie mehr Angebot? Nein, nichts von alledem. Es werden lediglich Wohnungsbestände von der einen zur anderen Seite verschoben. Vielleicht erreicht man ein paar Leute, die dann günstiger wohnen, dafür müssen aber alle bezahlen.

Solche Maßnahmen sind unbezahlbar. Jedermann bezahlt für ein paar Leute, die in diesen Wohnungen bleiben dürfen, vielleicht zu verringerten Mieten. Das ist völlig unsozial. Dann wollen Sie vielleicht Kitas und Schwimmbäder schließen, um das zu finanzieren. Also hilf- und kopflose Forderung auch auf dieser Seite!

Es bleibt, wie eigentlich von allen Vorrednern grundsätzlich bejaht, die Forderung nach mehr Bauland und vielleicht auch nach mehr Vernunft, nach innen und außen zu bauen, Innenverdichtung. Auf der Angebotsseite wird schon viel getan.

Auf der Nachfrageseite sorgen Sie weiterhin für viel Zuspruch, Zulauf, Zuwanderung. Der Markt wird weiterhin der Nachfrage hinterherlaufen. Daran sind Sie maßgeblich schuld, denn Sie sorgen weiterhin dafür. – Alles Weitere im Anschluss an die nächste Rede.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Beckamp. – Als nächste Rednerin hat für die Landesregierung Frau Ministerin Scharrenbach das Wort. Bitte sehr, Frau Ministerin.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Es ist schon bemerkenswert, dass man vonseiten der Oppositionsfraktion SPD versucht, die Problematik des Landes Berlins auf Nordrhein-Westfalen zu übertragen. Es ist ein untauglicher Versuch, das, was dort unter der Verantwortung der rot-rot-grünen Landesregierung stattfindet, für Nordrhein-Westfalen geltend zu machen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wenn Sie sich das Ergebnis der öffentlichen Wohnraumförderung für das letzte Jahr ansehen, dann stellen Sie fest, dass de facto 753 Einheiten weniger in der öffentlichen Wohnraumförderung entstanden oder modernisiert worden sind als im Jahr 2017. Das ist die Zahl. Sie können gerne Äpfel mit Birnen vergleichen, um zu versuchen, die Leute hinters Licht zu führen, aber Zahlen trügen und lügen an dieser Stelle nicht. Deswegen: 753 Einheiten sind es weniger, 923 Millionen Euro wurden dafür ausgekehrt.

Wir haben beispielsweise auch – das wissen Sie, hier wurde mehrfach auf eine Sitzung im Rahmen der NRW.BANK eingegangen – großes Lob aus dem Städtetag erfahren. Der Vertreter sagt überall, intern wie extern, wie hervorragend die Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf dem Gebiet der Wohnraumversorgung und der Baupolitik voranschreitet.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: In den sieben Jahren Rot-Grün hat er das auch schon erzählt! Das sagt er immer!)

Das sind die Fakten, die Sie hier unter den Tisch fallen lassen.

Gestatten Sie mir noch ein Faktum vorneweg, nämlich die Zahlen von IT.NRW für das Jahr 2018. Der Bau von Wohnungen und Häusern in Nordrhein-Westfalen zieht wieder an. Behörden gaben 2018 die Freigabe für mehr als 7 % Wohnungsbau. Das ist insofern bemerkenswert, als die Baugenehmigungen in 2017, also im Wesentlichen unter Ihrer Regierungsverantwortung, gesunken waren.

Diese Zahlen sprechen für sich und für ein Vertrauen der Investoren – groß wie klein – in die Rahmenbedingungen, die CDU und FDP rechtlich wie finanziell in Nordrhein-Westfalen für mehr Wohnungsbau auf den Weg bringen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Diese Landesregierung hat von Beginn an gesagt: Wir stehen für ein Mehr an Wohnungsbau in allen Segmenten, weil nur eine Verbreiterung des Angebots nachhaltig auf die Preise wirken wird.

(Beifall von der CDU)

Deshalb ist diese Enteignungsdebatte – das wiederhole ich gerne hier – eine Kapitulation derer, die sie vor der Ursachenbekämpfung führen.

(Beifall von der CDU)

Das ist ein Eingeständnis Ihres Fehlverhaltens in den vergangenen Jahren. Darauf möchte ich jetzt gerne konkret eingehen.

Die SPD fordert, die entsprechenden Eckwerte der Wohnraumförderung insbesondere auf den geförderten mietpreisgebundenen Wohnungsbau auszurichten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie behaupten falsch und lesen nicht, was Ihnen vorliegt.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Die CDU/FDP-geführte Landesregierung stellt in diesem Jahr 1,18 Milliarden Euro nur für den geförderten Mietwohnungsbau und den preisgebundenen Wohnungsbestand im Mietbereich zur Verfügung. Das ist mehr, als Sie jemals auf den Weg gebracht haben. 1,18 Milliarden Euro!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sie behaupten, es gäbe eine Fehlausrichtung zugunsten des Eigentums. Von der öffentlichen Wohnraumförderung, die sich an bestimmte Einkommensgruppen richtet, geben wir 100 Millionen Euro in diesem Jahr an Familien, die sich den Traum vom Eigentum erfüllen wollen, und zwar an diejenigen, die über eine geringe Zahlungsfähigkeit am Markt verfügen.

Das ist genau dieselbe Zielgruppe wie für den Mietwohnungsneubau. Dafür geben wir 100 Millionen Euro. Ich frage Sie hier erneut: Was haben Ihnen die jungen Familien in Nordrhein-Westfalen getan, dass sie kein Eigentum bilden dürfen, wenn es nach der SPD geht? Was?

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die SPD fordert, Gebäude mit bis zu zehn Stockwerken vorzusehen, um sie im Rahmen der öffentlichen Wohnraumförderung zu fördern. Sie kommen mit Lösungen von gestern, die in den Städten heute die Probleme bereiten.

(Beifall von der CDU)

In Duisburg sprengen wir diese Dinger weg. In Chorweiler gehen wir rein und engagieren uns zusammen mit der GAG für 1.200 Wohnungen in diesen Beständen, die dem Grunde nach eine Fehlleistung der 70er-Jahre gewesen sind, um den Bewohnerinnen und Bewohnern eine vernünftige, verlässliche Perspektive für die Zukunft zu geben. Sehr engagiert gehen wir damit um.

Sie fordern, diese Fehlleistungen der 70er-Jahre im Jahre 2019 zu wiederholen, vielgeschossige Gebäude im öffentlichen Mietwohnungsbau zu errichten.

(Jochen Ott [SPD]: Sie wissen schon, wie hoch Chorweiler ist!)

Das widerspricht dem Handeln in den Städten und Gemeinden. Das widerspricht dem Anspruch quer über alle Parteien hinweg, dass man sozial gemischte Quartiere bauen will.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD])

Insofern vertraue ich da auf die Städte und Gemeinden, die mit sehr viel mehr Verantwortungsgefühl an den Bau von öffentlichen Wohnungen gehen, als die SPD es gleichzeitig verlangt.

(Beifall von der CDU und der FDP – Jochen Ott [SPD]: Sie scheitern an Ihren Vorgaben!)

Die SPD fordert die Landesregierung auf, ein Wohnflächenkataster für im Landesbesetz befindliche Grundstücke vorzulegen. Lesen Sie bitte einfach mal die Berichte, die wir Ihnen erstatten. Diese Landesregierung ist die erste, die alle im Landesbesitz öffentlich verfügbaren Flächen in einem öffentlichen Liegenschaftsmanagement zusammenführt und bewertet, was sich davon für eine Wohnbebauung eignet. Das wissen Sie. Das haben wir Ihnen schon mehrfach vorgetragen.

Sie fordern uns auf, die Digitalisierung voranzutreiben. Diese Landesregierung aus CDU und FDP ist die erste Landesregierung, die ein Modellprojekt Digitale Baugenehmigungen auf den Weg gebracht hat. Diese Landesregierung wird die erste sein, die noch in diesem Jahr ein Landesbauportal auf den Weg bringt.

Ich darf Ihnen auch noch eines an Ihre Adresse mitgeben. Es ist schon bemerkenswert, wenn mir die Ruhr-Universität Bochum mitteilt: Wir engagieren uns in einem Digitalisierungsprozess in Hamburg. Ich habe gefragt: Warum machen Sie das in Hamburg und nicht in Nordrhein-Westfalen? Die Antwort lautete: weil die Vorgängerregierung kein Interesse daran hatte. – Grandiose Leistung, meine sehr geehrten Damen und Herren!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir haben als erste Landesregierung – Sie haben das nicht gemacht – die Kommunen seit dem 1. Januar 2019 befähigt, kommunale Grundstücke unter Buchwert abgeben zu dürfen, wenn öffentliche Wohnraumförderung realisiert wird. Sie haben das nicht auf den Weg gebracht. Die CDU/FDP-geführte Landesregierung hat es auf den Weg gebracht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wir gleich noch kommen, weil die Redezeit in der Tat abgelaufen ist.

Gestatten Sie mir eines: Sie brauchen CDU und FDP nicht aufzufordern, soziale Marktwirtschaft im Wohnungsbau umzusetzen. Wir setzen sie um. Wir denken daran, und wir machen es.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Das, was Sie vorgelegt haben, ist dem Grunde nach eine Schlussrechnung Ihrer Regierungszeit, in der Sie all das, was Sie heute fordern, noch nicht einmal angepackt haben. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Ministerin Scharrenbach. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun in die zweite Runde. Es hat für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Baran das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Volkan Baran (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wir wollen wohnen!“ – das forderten Tausende Menschen letzte Woche in vielen Städten in der gesamten Bundesrepublik, so auch bei uns in Nordrhein-Westfalen. In Köln gingen mehrere Tausend Menschen für diese Forderung auf die Straßen. Gründe dafür sind Wohnungsnot und steigende Mieten.

Aber auch Sie, Frau Ministerin, sind ein Teil dieses Problems, wie wir gerade noch einmal gehört haben. Herzlichen Glückwünsch dafür!

(Beifall von der SPD)

Ihre Aufgabe als Ministerin sollte es sein, die Interessen der 10,1 Millionen Mieterinnen und Mieter in diesem Land zu vertreten, die soziale Wohnraumförderung auszuweiten und ihre Rechte zu schützen. Doch leider haben Sie bereits mit Ihrem Koalitionsvertrag den Krieg gegen den landesrechtlichen Mieterschutz eingeläutet.

Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin aus dem Koalitionsvertrag:

„Das Bundesrecht enthält bereits einen weitreichenden Mieterschutz. Darüber hinausgehende landeseigene Regelungen sind daher nicht erforderlich.“

Zugegeben, mittlerweile ist aus der Abschaffung erst ein Auslaufenlassen und dann wegen des Drucks dank des Bündnisses „Wir wollen wohnen!“ eine Evaluation der Mieterschutzverordnung geworden. Das ist wahr. Wahr ist aber auch, dass niemand in diesem Haus glaubt, dass diese Evaluation tatsächlich ergebnisoffen stattfindet, sondern dass dabei das herauskommt, was Sie möchten, nämlich die Abschaffung des landesrechtlichen Mieterschutzes.

(Beifall von der SPD)

Sie spielen auf Zeit und werfen mit Nebelkerzen, sonst nichts. Alle von Ihnen im Koalitionsvertrag genannten Verordnungen sind wichtige und richtige Mieterschutzmaßnahmen in Nordrhein-Westfalen, auch wenn Sie das bestreiten.

Die Mietpreisbremse beispielsweise begrenzt bei Neuvermietungen den Anstieg der Miete für Bestandswohnungen auf maximal 10 %. Das wird, wenn die Landesregierung nicht handelt, 2020 auslaufen.

Die Kappungsgrenzenverordnung begrenzt den Mietanstieg bei Bestandsmieten auf 15 % in drei Jahren. Das betrifft fast jede siebte Kommune in Nordrhein-Westfalen. Solange nichts passiert, läuft auch die Verordnung 2020 aus.

Die Kündigungssperrfristverordnung sorgt dafür, dass die Sperrfrist bei Eigenbedarfs- und Verwendungskündigung des Mieters von drei auf zehn Jahre verlängert werden kann. Auch das, liebe Landesregierung, betrifft 37 Kommunen und wird 2021 auslaufen.

Die Umwandlungsverordnung erlaubt eine anderweitige Nutzung von Wohngebäuden als zu Wohnzwecken bei ausdrücklicher Genehmigung. Sie tritt auch 2020 außer Kraft.

Die Möglichkeit von Zweckentfremdungsverboten nach § 10 des Wohnungsaufsichtsgesetzes Nordrhein-Westfalen steht zur Disposition. Hier hilft die Regelung, Airbnb und Co. einzudämmen. Denn gerade in großen Ballungsgebieten, in Großstädten wird Wohnraum immer stärker gewerbemäßig genutzt. Allein in Köln und Düsseldorf sind jeweils Tausende Wohnungen davon betroffen, die langfristig dem Wohnungsmarkt entzogen werden.

Jede einzelne Verordnung wirkt und ist eigentlich unverzichtbar.

(Beifall von Jochen Ott [SPD])

Sie alle werden sogar immer wichtiger, weil Sie, Frau Ministerin, im Bereich der sozialen Wohnraumförderung auf ganzer Linie versagt haben.

(Beifall von der SPD)

Deshalb müssten die Mieterschutzverordnungen eigentlich noch verstärkt werden.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Schutz kann die Ministerin nicht!)

Wenn weniger Wohnungen gebaut werden, aber unsere Städte wachsen, viele Zweckbindungen wegfallen und damit der Bestand an mietpreisgebundenem Wohnraum sinkt, dann ist klar, dass die Wohnungsnot und die Mieten ungebremst in absurde Höhen steigen.

Aber das wissen Sie alles, und trotzdem fördern und regieren Sie an der Bedarfslage vorbei.

(Beifall von der SPD – Josef Hovenjürgen [CDU]: Genau, das hat sich wahrscheinlich alles in den letzten anderthalb Jahren entwickelt!)

Sie haben Ihre Energie in ein völlig unnötiges Moratorium der Landesbauordnung investiert, das die Bautätigkeit einbrechen ließ.

(Sven Wolf [SPD]: Richtig! Vollkommen ausgebremst!)

Sie konzentrieren sich insbesondere darauf, Investoren Vorteile zu verschaffen und – nicht zu vergessen – mit einer Eigentumsförderung Leuten unter die Arme zu greifen, die eigentlich ohnehin schon gut gefüllte Taschen haben.

Die Mieterinnen und Mieter stehen im Regen, während die Wohnungsnot größer wird und Mieten weiter ins Unermessliche steigen.

(Henning Höne [FDP]: Das besprechen wir mal mit den Betroffenen!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Baran.

Volkan Baran (SPD): Liebe Frau Ministerin, Wohnen ist ein Menschenrecht. Die Pflicht der Landesregierung ist es, dieses Menschenrecht zu gewähren und es nicht so sträflich zu vernachlässigen, wie Sie das tun.

(Beifall von der SPD)

Es kann nicht sein, dass Menschen in Nordrhein-Westfalen den größten Teil ihres Einkommens für ihre Wohnung aufwenden müssen, sich ihrer Wohnung nicht sicher sein können und nicht wohnen können, wo sie wollen, sondern da, wo sie es sich leisten können, dass sie heraussaniert und aus ihrem Zuhause vertrieben werden, der Willkür einiger Vermieter ausgeliefert sind und die Landesregierung nicht auf ihrer Seite steht.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

All diese Dinge hat die Landesregierung zu verantworten. Sie haben es aber auch in der Hand, diese Dinge zu verändern. Deshalb appelliere ich an Ihre Vernunft. Packen Sie es an, und machen Sie endlich Ihren Job! Die herrschende Wohnungsnot im Jahr 2019 fordert nachdrücklich einen für einen stärkeren Mieterschutz.

Der Antrag der Grünen, zu einem Städteplanungsgipfel einzuladen, trifft bei uns auf offene Ohren, weil wir denken, dass Stadtentwicklung und ‑quartiere nicht nur am grünen Tisch, sondern natürlich mit Blick auf Klimawandel und Lebensqualität – so wie wir es auch unter Mike Groschek gefordert haben – gemeinsam mit anderen Städten, Kommunen, aber auch mit den Verbänden diskutiert und organisiert werden müssen.

Wenn ich das Auftreten von Herrn Paul und Herrn Schrumpf hier sehe, muss ich sagen: Als Bündnispartner hätte ich null Interesse daran, mit Ihnen zu sprechen.

(Christof Rasche [FDP]: Unfassbar!)

Es geht Ihnen nicht um die Sache, sondern darum, Investoren und Miethaien hinterherzulaufen, wie auch Herr Ott gesagt hat.

Wir werden den Überweisungen zustimmen und freuen uns auf die Fachdiskussionen im Ausschuss. – Glück auf!

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Baran. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Hovenjürgen das Wort. Bitte schön, Herr Kollege

Josef Hovenjürgen (CDU): Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ott, was war das vorhin für ein Auftritt?

(Zurufe von der SPD: Ein guter!)

Ich kann nur sagen: Was war das? Hoch lebe der Plattenbau – oder was war Ihre Forderung?

(Beifall von der CDU – Michael Hübner [SPD]: Das war vor allem ideologiefrei!)

Ich kann Ihnen nur eins mit auf den Weg geben: Ja, Eigentum verpflichtet; Eigentum stellt aber nicht unter Generalverdacht. Und das machen Sie, indem Sie hier agieren, wie Sie agieren.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Noch einmal: Wer Flächen, wie Sie es in Ihrer Regierungszeit gemacht haben, verknappt und dadurch verteuert, wer Auflagen macht, die zu teurerem Bauen führen, der kann sich doch an fünf Fingern abzählen, dass das Auswirkungen auf den Mietpreis haben wird und haben muss.

Es ist also Ihr Werk, das Sie heute beklagen. Nehmen Sie doch mal die Eigenverantwortung, die Sie haben, zur Kenntnis. Das gehört zur Wahrheit dazu. Und fangen Sie bitte an, sich dieser Eigenverantwortung zu stellen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Frau Kampmann ist jetzt leider nicht da, sie ist aber im Netz mit einem Schild in Bielefeld auf der Straße zu sehen: Hier können 22.443 kostengünstige Wohnungen entstehen.

(Gordan Dudas [SPD]: Ja, genau!)

– Ja, aber da regieren Sie seit zehn Jahren. Warum sind Sie denn nicht da, liebe Freundinnen, liebe Freunde?

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Dann machen Sie es doch da, wo Sie es könnten. Beweisen Sie doch, dass es geht. Offensichtlich schaffen Sie aber selbst das nicht.

Die Rationalität, mit der wir an diese Dinge herangehen – die Ministerin hat sie beschrieben –, ist das, was dieses Thema meiner Meinung nach verdient hat. Ich denke, wir versuchen wirklich alles, um den Menschen in allen Bereichen eine Perspektive zu geben.

Das gilt im Übrigen auch für die Menschen, die in den Dörfern wohnen. Sie sollen auch in Orten unter 2.000 Einwohnern wieder Wohnraum entwickeln können, weil sie sich entschieden haben, vor Ort wohnen zu bleiben.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Wir möchten den Menschen die Chance geben, ihre Träume zu erfüllen, und ihnen nicht vorschreiben, was sie zu träumen haben. Insofern denke ich, dass wir hier eine ganz vernünftige Politik auf den Weg bringen.

Lassen Sie auch mich noch einmal sagen – Kollege Schrumpf und Kollege Paul haben es beide schon ausgeführt –: Die Zahlen sprechen für sich. Wir kommen weiter.

Wir wollen den Menschen aber auch die Chance auf das Eigenheim ermöglichen, vernünftige Mietstrukturen schaffen sowie Erkenntnisse, die wir haben gewinnen können, in aktuelle Bewertungen einfließen lassen.

Sie haben davon gesprochen, was Kollege Groschek zum Schluss seiner Amtszeit propagiert hat. Die röhrenden Bagger unterschreibe ich ja noch, aber dafür hätte man dann auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen müssen und nicht den umgekehrten Weg einschlagen dürfen.

Ich glaube nicht, dass das vertikale Bauen die Lösung unserer Probleme ist, weil die Menschen dieses Bauen nicht annehmen. Schauen Sie sich doch die Probleme in den Stadtbezirken an, wo wir diese verdichtete Bauweise haben. Schauen Sie sich bitte auch mal die Situation an, wenn vor Ort Verantwortung von der CDU getragen wird. Dann spricht sich die SPD plötzlich gegen verdichtetes Bauen aus. Insofern müssen wir schon bereit sein, die Dinge gemeinsam zu verantworten und so umzusetzen, wie wir sie auf den Weg gebracht haben.

Alles in allem bin ich der Auffassung, dass diese Landesregierung, diese NRW-Koalition das Thema endlich angefasst hat. Frau Ministerin, dafür herzlichen Dank. Die Summe, die Sie hier noch einmal dargestellt haben, zeigt deutlich, dass auch der Mietwohnungsbau im Sozialbereich bei uns in guten Händen ist.

Diese NRW-Koalition fühlt sich den Menschen verpflichtet. Sie möchte ihnen die Perspektive für ihr Wohnen so geben, wie sie es sich vorstellen. Sie möchte Perspektive in Großstädten, in Mittelstädten, in Kleinstädten und in Dörfern schaffen. Und das tun wir auch: Wir stellen Fläche zur Verfügung, wir verknappen nicht.

Lieber Johannes Remmel, die Art und Weise, wie man Fläche verknappt hat, liegt zum Teil auch in grüner Verantwortung: Das 5-Hektar-Ziel, wie es Rot-Grün angewandt hat, indem Fläche als versiegelt galt, die sozusagen zur Kompensation mit herangezogen wurde etc., hat Fläche nochmals verknappt. Damit haben Sie nochmals zu einer Preisrunde für die Fläche eingeladen bzw. selbige eingeläutet. Insofern tragen Sie eine große Mitverantwortung für das, was Sie heute bekritteln.

Das ist übrigens ein Phänomen, das ich jetzt seit anderthalb Jahren bei Ihnen feststelle: Sie fordern auf der Stelle und sofort unverzügliches Handeln dieser Regierung, um die Probleme zu lösen, die Sie bis zum Mai vorletzten Jahres als nicht existent bezeichnet haben.

Insofern: Kommen Sie zurück in die Realität und stellen Sie sich der eigenen Verantwortung. Sie können da mithelfen, wo Sie meinen, mithelfen zu wollen. Aber wenn Sie nicht wollen, stellen Sie sich wenigstens Ihrer Verantwortung für das, was Sie in diesem Land zu verantworten haben.

(Zuruf von Volkan Baran [SPD])

Das, was es im Moment an Mangel und Protest gibt, ist nicht in den letzten anderthalb Jahren vom Himmel gefallen, sondern das ist das Ergebnis von sieben Jahren verfehlter Politik. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hovenjürgen. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Remmel.

Johannes Remmel (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute mit einer Erläuterung zu unserem Antrag einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Darauf komme ich auch noch zurück.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Aber, Herr Hovenjürgen, angesichts der Kübel von Schizophrenie und Bigotterie, die hier von SPD und den Koalitionsfraktionen in den Raum gegossen werden, muss man das einfach kommentieren. Das geht nicht anders.

(Beifall von den GRÜNEN – Lachen von Josef Hovenjürgen [CDU])

Also, zunächst in Richtung SPD: Die Problemdiskussion über Enteignungen und entsprechende Initiativen, die in Berlin laufen, sind doch darin begründet, dass ein SPD-Finanzsenator sämtliche Wohnungen in Berlin verscherbelt hat. – Das gehört zur Wahrheit in der Debatte dazu.

(Beifall von den GRÜNEN – Michael Hübner [SPD]: Ja, das war falsch!)

Sich hier heute aufzuregen, aber das nicht zu erzählen?! Wie kann man denn im Landesvorstand der SPD mit Hurra das erfolgreiche Volksbegehren in Bayern begrüßen und unterstützen und hier und heute die Artenschutzdebatte gegen die Wohnungsnot ausspielen? Das ist einfach bigott!

(Beifall von den GRÜNEN)

An die Adresse von CDU und FDP, die heute das Hohelied des Eigentums singen: Offensichtlich gibt es Eigentum erster Klasse und zweiter Klasse. Das, was Sie heute vorgetragen haben, würde ich gerne einrahmen und den Menschen in Morschenich, Manheim, Kuckum und Keyenberg schicken.

(Beifall von den GRÜNEN)

Da gibt es auch Heimat, die weggebaggert wird,

(Bodo Löttgen [CDU]: Und wer hat das entschieden? Sie haben das entschieden!)

angeblich, um dem Gemeinwohl zu dienen. Sie haben offensichtlich einen geteilten Begriff von Eigentum.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das gehört zur Wahrheit in der Debatte dazu.

Frau Ministerin, ich kann Sie angesichts der Erfolgsmeldungen, die Sie vortragen, aus einer Frage nicht entlassen. Darauf geben Sie keine Antwort. Nun können wir über die Fragen der Vergangenheit philosophieren, auch in Richtung CDU und FDP. Es war keine rot-grüne Koalition, die die Landesentwicklungsgesellschaft verkauft hat. Das waren Sie, die die verkauft haben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Angesichts der Erfolgsmeldungen würde ich gerne fragen, wie die absehbaren Zahlen aussehen: Auch wenn jetzt mehr gebaut wird – fallen in der Tendenz mehr Sozialwohnungen aus der Sozialbindung heraus, als neue Sozialwohnungen hinzukommen? Darauf hat bisher keiner eine abschließende Antwort, auch Sie nicht. Das müssen Sie der Ehrlichkeit halber dazusagen.

Warum und weshalb diskutieren wir hier? Mir kommt ein Besuch in San Francisco, Kalifornien, in Erinnerung. Wir sind damals im Vorfeld der Weltklimakonferenz dorthin gefahren.

(Bodo Löttgen [CDU]: Sie sind dahin gefahren? Sie sind doch geflogen!)

– Moment! Wir sind damals da gewesen, und was mir in Erinnerung geblieben ist … – Herr Löttgen, hören Sie doch einfach zu, das kann auch Ihnen helfen.

(Zuruf von Christof Rasche [FDP])

Die Erkenntnis war, dass es in San Francisco selbst die kleinste Zwei-Zimmer-Wohnung nicht unter 5.000 Dollar im Monat gibt, und zwar im Umkreis von 10 km um das Stadtzentrum. Das führt nicht nur dazu, dass man dort als Normalverdiener keine Wohnung mehr bekommt, sondern es führt auch zu einer sozialen Spaltung dieser Stadt. Das ist die Entwicklung, die wir in Berlin, München, Köln und anderen großen Städten vor Augen haben. Darauf eine Antwort zu finden, ist auch die Aufgabe eines Landesparlaments und einer Landesregierung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das hat nicht nur mit sozialem Wohnungsbau zu tun. Deshalb komme ich zum Abschluss auf den von uns gestellten Antrag zu sprechen. Es ist nicht der große Wurf, aber es ist ein Baustein zur Lösung. Es gibt eine Untersuchung der TU Darmstadt, laut der 400.000 Wohnungen machbar wären, wenn beispielsweise die 20 größten Discounter ihre eingeschossigen Verkaufsgebäude aufstocken würden.

Dazu gibt es Modelle in Berlin. 400.000 Wohnungen – heruntergerechnet auf Nordrhein-Westfalen ist das immerhin eine gewichtige Größenordnung. In Hessen macht diese Initiative der dortige Bauminister Tarek Al-Wazir, und selbst Herr Söder in Bayern schreibt sich das auf die Fahnen.

Unsere Forderung ist, dass die Landesregierung die Discounter, die Betreiber von entsprechenden Gewerbeimmobilien und die Kommunen zu einem Gipfel einlädt, um auch in Nordrhein-Westfalen zu einer solchen Initiative zu kommen, um sowohl über Förderung …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Johannes Remmel (GRÜNE) … als auch über Begleitung und Beratung mehr Wohnungen gerade auf Freiflächen, Parkflächen und Flächen von Discountern zu schaffen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Remmel. – Für die FDP-Fraktion hat Herr Kollege Rasche jetzt das Wort.

Christof Rasche (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Bibel und in der Weltgeschichte redet man immer wieder von sieben mageren Jahren und sieben guten Jahren. Wir haben sieben Jahre erlebt, einen Bauminister Mike Groschek, eine Koalition von SPD und Grünen in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von Heike Gebhard [SPD])

In diesen sieben Jahren sind die Mieten in Nordrhein-Westfalen so gestiegen wie in keinem Zeitraum vorher; die größte Mietsteigerung geschah unter der Regierungsverantwortung von Rot-Grün.

Natürlich hatte Jochen Ott eben recht mit seiner Kritik an den Grünen, als er formulierte: Den Grünen sind oft Kröten wichtiger als Bauland und Menschen. – Jochen Ott spricht aus langjähriger Erfahrung hier in der Landespolitik, auch in seiner Heimatstadt Köln. Genauso ist es. Jochen Ott hat es auf den Punkt gebracht.

Mike Groschek hat es doch zum Schluss der Legislaturperiode der Verantwortung von SPD und Grünen ebenfalls verbal auf den Punkt gebracht. Er hat von einer „Durchgrünung“ des Landes Nordrhein-Westfalen geredet,

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Ihr habt doch gerade einen Landesparteitag zum Thema „Umweltschutz“ gemacht!)

weil die Grünen in Nordrhein-Westfalen eine völlig überzogene grüne Politik umgesetzt haben, völlig überzogen, weit über die Ziele hinausgeschossen. Auch das hat Mike Groschek völlig zu Recht kritisiert.

Ich wundere mich darüber, dass der Redner der SPD sich über die Einladung ausgerechnet dieser Grünen freut, und dass die SPD an deren Wohnungsgipfel teilnimmt. Ich bin gespannt, wie dann Herr Klocke und Herr Remmel Sie als früheren Koalitionspartner erneut beschimpfen werden. Herr Klocke hat das eben ein Stück weit unter der Gürtellinie getan.

(Zuruf von Arndt Klocke [GRÜNE])

– Also, der Fraktionsvorsitzende der Grünen sagte zum Fraktionsvorsitzenden der SPD Herrn Kutschaty in der Debatte mehrfach, er sei armselig, armselig, armselig. Wenn das Ihr Vokabular ist, Herr Klocke, ist vielleicht das ein bisschen armselig. Herr Kutschaty ist es sicherlich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der FDP)

Sie waren sieben Jahre in der Verantwortung – ich komme wieder zu Jochen Ott und der SPD –, und plötzlich fordern Sie jetzt eine Landeswohnungsbaugesellschaft. Sie hätten sieben Jahre lang eine gründen können.

(Zurufe von der SPD)

Sie haben es sieben Jahre lang nicht gemacht, weil Mike Groschek ganz genau wusste: Das ist nicht die Lösung. – Deshalb hat er als Landesvorsitzender der SPD seinerzeit genau diese Gesellschaft nicht gefordert.

Jochen Ott hat eben gesagt, die Eigentumsdebatte oder die Enteignungsdebatte – in Wahrheit ist es eine Enteignungsdebatte – sei ein Ablenkungsmanöver. Das ist das Zitat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen doch, was in Berlin läuft. Das ist doch kein Ablenkungsmanöver. Das ist genau das Gegenteil. Das ist das Thema schlechthin in der Hauptstadt Berlin, und diejenigen, die es dort organisieren, möchten es zu gerne aus parteistrategischen Gründen auch auf Nordrhein-Westfalen und auf das Ruhrgebiet übertragen.

(Zuruf: Das ist doch Quatsch!)

Wir wissen, dass die SPD im Moment in den Umfragen mit dem Rücken an der Wand steht.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Das ist doch bei euch auch so! 6 % bundesweit! Das ist doch so! – Weitere Zurufe)

– Die Arroganz des Kollegen Klocke, liebe Kolleginnen und Kollegen, kennt keine Grenzen.

(Beifall von der FDP – Arndt Klocke [GRÜNE]: Euch muss es richtig schlecht gehen bei so einer Rede! Meine Güte!)

– Das ist verdammt mies, Herr Kollege Klocke. Sie kennen keine Grenzen.

Aber, liebe Kollegen der SPD: Überlegen Sie sich doch mal, ob es klug ist, mit dem Thema „Enteignung“ punkten zu wollen.

(Zuruf von Arndt Klocke [GRÜNE])

Zu dieser guten, alten, traditionellen Partei der SPD, die über 150 Jahre die Geschicke von Deutschland gut gelenkt hat, passt das Thema „Enteignung“ definitiv nicht. Ich glaube auch nicht, dass Sie mit dieser Debatte über Enteignung und mit diesem Wort „Enteignung“ die Menschen in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland zurückgewinnen können.

Wir haben gerade Johannes Remmel erlebt bei seiner Rede – er hat ja früher hier maßgeblich Verantwortung getragen –, und da wurde es noch einmal ganz deutlich: Grüne in Regierungsverantwortung – ob in den vergangenen sieben Jahren oder in Zukunft – bedeutet weniger Bauen und höhere Mieten. Noch einmal: Grün bedeutet weniger Bauen und höhere Mieten.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Das ist die Übersetzung der Rede des Kollegen Remmel.

Noch einmal kurz zur SPD: Sie müssen wissen, was Sie tun. Ich glaube nicht, dass es klug ist, wenn Sie diesen Linksrutsch weiter fortsetzen. Ich glaube, es wäre klug für Sie und auch für das Land Nordrhein-Westfalen, wenn Sie zu rationaler Politik zurückkehren würden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Rasche. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Beckamp.

Roger Beckamp (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem Herr Rasche schon so fleißig angefangen hat, in Richtung Grüne zu sprechen, möchte ich mich gerne anschließen. Ich würde Ihnen gerne eine kleine Einsicht zum Thema „Gentrifizierung“ mitgeben, die Sie ja so lautstark in Ihrem Antrag beklagen.

Gerade die Erfolge der Grünen in den Städten sind eine Folge der Gentrifizierung. In diesen gentrifizierten Vierteln der Großstädte, dort, wo einst SPD-Klientel wohnte, hat sich Ihr grünes Selbstverwirklichungsbürgertum breitgemacht. Anders als klassische Linke der alten SPD, als Konsumkritiker der frühen Grünen vielleicht mal, aber auch als klassisches Bürgertum sind die heutigen Grünen nämlich die Gewinner dieser sozialen Umwandlungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte. Das ist genau die Gentrifizierung, die stattfindet.

Also: Die Ablösung der SPD durch die Grünen als Führungsmacht der politischen Linken ist somit nichts anderes als der zynische Sieg der Gentrifizierer über die Gentrifizierten. Das ist alles sichtbar in den Vierteln, die immer teurer und angesagter werden. Insofern: Herzlichen Glückwunsch! Auch Sie haben letzten Samstag bei der Mieten-Demo gegen sich selbst protestiert.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Beckamp. – Für die Landesregierung hat jetzt Frau Ministerin Scharrenbach das Wort.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind nicht in San Francisco, wir sind nicht in Berlin, wir sind nicht in München. Wir sprechen über Köln, Düsseldorf, Dülmen, Münster, den Kreis Coesfeld, über den Rheinisch-Bergischen Kreis und andere. Deshalb darf ich Sie einmal zurückholen in dieses Land Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Auch wenn es Ihnen offensichtlich sehr viel Freude macht, die anderen Märkte exemplarisch für Nordrhein-Westfalen zu erklären – das sind sie aber nicht. Weder steht das Land Berlin vergleichbar für die Bundesrepublik, noch steht die Stadt Köln für den Wohnungsmarkt in Nordrhein-Westfalen.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Das hat niemand behauptet!)

Wir haben hier ganz viele verschiedene Wohnungsmärkte. Wir haben Märkte mit mehr Angebot als Nachfrage mit der Folge, dass Preise sinken. Wir haben Märkte, auf denen die Nachfrage das Angebot übersteigt, ohne Frage. Dort steigen die Preise, und das bekommen Sie nur in den Griff, wenn mehr gebaut wird.

Deswegen: Der beste Mieterschutz ist mehr Wohnraum in allen Segmenten. Nur das wird nachhaltig die Preise senken und letztendlich Verfügbarkeiten erhöhen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich weiß nicht, ob Sie ernsthaft die Dinge verfolgen, die Ihnen vorgelegt werden. Ich wiederhole das jetzt zum zweiten Mal. Anfang dieses Jahres hat der Zentrale Immobilien Ausschuss sein Frühjahrsgutachten veröffentlicht. Lesen Sie es bitte! Lesen Sie es!

An vielen Städten in Nordrhein-Westfalen gehen der Mietenanstieg und der Preisanstieg im Eigentum vorbei, und zwar deswegen, weil wir hier eine vernünftige Bau- und Wohnungsbaupolitik betreiben. Sie haben dort Städte aufgeführt, wo die Mietbelastung 2018 real – unter Berücksichtigung der Inflation – unter den Mieten 2005 liegt.

Deswegen ist es unredlich, wenn Sie immer wieder versuchen, den Menschen draußen ein X für ein U vorzumachen, was den nordrhein-westfälischen Wohnungsmarkt angeht. – Wir haben die Märkte, in denen die Nachfrage das Angebot übersteigt, mehr als im Blick.

Sie fordern von uns ein Mehr an studentischem Wohnraum, meine sehr geehrten Damen und Herren. Die CDU/FDP-geführte Landesregierung ist die erste Landesregierung, die in den Hotspots der universitären Städte alle Beteiligten an einen Tisch holt und prüft: Wo bekommen wir die Grundstücke für studentischen Wohnraum her? – Das haben Sie schlichtweg nicht gemacht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sie dürften doch an den Ergebnissen der Wohnraumförderung 2018 gesehen haben, dass endlich wieder ein hoher zweistelliger Millionenbetrag in den studentischen Wohnraum geflossen ist. Das nur als Beispiel. Wir bringen Menschen zusammen in der Verantwortung, um für ein Mehr an Bauland einzutreten: Landesinitiative Bauland an der Schiene, Verknüpfung von Siedlungs- und Mobilitätsentwicklung, erstmals gestartet durch die CDU/FDP-geführte Landesregierung, über 240 Kommunen in Nordrhein-Westfalen angeschrieben, mit einem hohen Rücklauf.

Wir bringen alle zusammen: diejenigen, die mit Flächenplanung unterwegs sind; die Kommunen, die übrigens als Einzige darüber entscheiden, wo was gebaut wird; die Landesregierung, die zur Frage der öffentlichen Wohnraumförderung mit am Tisch sitzt – welche Instrumente können wir gängig machen? –, das Verkehrsministerium ist dabei.

Erstmals geschieht das in diesem Land. Und wofür? Wir brauchen mehr Wohnbauland. Wir wollen die Flächen zur Verfügung gestellt sehen. Wir wollen, dass mehr gebaut wird – im Interesse der Bürgerinnen und Bürger und damit im Interesse künftiger Mieterinnen und Mieter, aber auch künftiger Eigentümerinnen und Eigentümer.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Immer wieder kommt hier ein spannender Ansatz: das Heraussanieren – ein großes Wort. Auch da übertragen Sie Effekte aus Berlin auf Nordrhein-Westfalen. Das ist unredlich.

(Zuruf von der SPD: Köln!)

Wenn Sie heute große Wohnungsbestände anpacken – und ich spreche von den bestandshaltenden Gesellschaften; das sind übrigens genauso kommunal verantwortete Gesellschaften wie kirchliche Gesellschaften oder Genossenschaften –,

(Bodo Löttgen [CDU] signalisiert Zustimmung.)

dann setzen Sie heute sowohl die Barrierearmut oder -freiheit um, wenn Sie es hinbekommen, aber Sie passen auch die energetische Optimierung an. Und die Energieeinsparvorschriften 2016 führen in Summe mit verschiedenen Maßnahmen dazu, dass die Modernisierung von Wohnraum einfach teuer wird, weil Sie Klimaschutzziele einhalten müssen.

Wir haben nichts gegen Klimaschutzziele – im Gegenteil. Wenn Sie sich die Wohnraumförderung 2019 durchlesen, sehen Sie, dass wir das Programm deutlich ausgeweitet haben, auch zur Unterstützung von Klimafolgenanpassungsmaßnahmen in den Wohnbeständen. – Das haben Sie nicht gemacht. Die CDU/FDP-geführte Landesregierung macht das. Sie nicht; wir machen es. Das ist der wesentliche Unterschied in dieser Angelegenheit.

Vor diesem Hintergrund treten wir sehr deutlich dafür ein, im Rahmen der energieeffizienten Optimierung der Gebäude technologieoffener werden zu dürfen in der Bundesrepublik Deutschland, flexibler werden zu dürfen in der Bundesrepublik Deutschland. Denn wir erleben vielerorts – und das müssen Sie bitte zugestehen –, dass Wärmedämmverbundsysteme das Gesicht unserer Städte zerstören, weil sie Städte uniform machen,

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

weil sie städtebauliche Qualität nicht mehr zulassen.

Eines kommt hinzu – dafür darf ich auch als Bauministerin dieses Landes immer werben –: Gebäude haben den Menschen zu dienen, Gebäude werden nicht um ihrer selbst willen gebaut. Wenn wir Wärmedämmverbundsysteme an Gebäudeaußenhüllen anbringen und nachher, damit die Innenraumluft für Menschen erträglich wird, in diese Gebäudehülle reinbohren müssen, um einen Außenluftaustausch zu erreichen, dann merken Sie den Wahnsinn, den wir über die bundesrechtlichen Regelungen gerade miteinander betreiben.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, Sie fordern uns auf, einen Städtebaugipfel zu veranstalten, um das Thema „Nachverdichtung“ auch auf Handelsimmobilien zu erreichen. Wir brauchen diese Aufforderung nicht, wir machen das bereits.

Wir stehen in Kontakt mit den Eigentümerinnen und Eigentümern und Managern der Handelsimmobilien, ob und inwieweit das in Nordrhein-Westfalen realisierbar ist. Denn – das wissen Sie auch – Sie können nicht auf jeder Handelsimmobilie eine Wohnbebauung realisieren. Das hängt davon ab, in welchem Gebietsausweis diese Immobilie steht. Steht sie in einem Gewerbegebiet, werden Sie in der Regel eine Bebauung mit Wohnungen vor dem Hintergrund des Schutzgedankens nicht hinbekommen.

Wir werden uns in der Allianz für mehr Wohnungsbau, die im Mai dieses Jahres stattfinden wird, im Kuratorium unter anderem unter Beteiligung des Mieterschutzbundes, der sich auch in der Initiative der Landesregierung bewegt, konkret mit dieser neuerlichen Studie aus Darmstadt beschäftigen. Es gab sie schon einmal. Dort wird ein theoretisches Potenzial aufgezeigt; es geht weniger um das Praktische.

Abschließend möchte ich bei Ihnen, den Grünen, um eines werben: Tragen Sie bei Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, wo Sie mitregieren, dafür Sorge, dass das Bundes-Immissionsschutzgesetz und die Technische Anleitung Lärm dahin gehend verändert werden, dass wir dort Innenverdichtung betreiben können, wo wir es heute nicht dürfen – zugunsten von mehr Wohnraum für die Menschen, für die Sie eigentlich werben! Denn die von Ihnen mitgeführten Landesregierungen sind die, die das verhindern.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Für die SPD-Fraktion hat noch einmal Herr Kollege Ott das Wort.

Jochen Ott (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zur Ministerin: Man hat wirklich den Eindruck, dass Sie bestimmte Teile der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens nicht besonders wertschätzen.

(Widerspruch von der CDU und der FDP)

Wenn Sie Menschen, die jeden Tag erleben, dass ihre Wohnkosten steigen, erzählen: „Es gibt in Nordrhein-Westfalen eigentlich kein Mietenproblem“,

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

dann ist das wirklich ein unfassbarer Vorgang für eine Ministerin.

(Beifall von der SPD)

Wenn Sie schon die Stadt Köln erwähnen, ist es Ihre Aufgabe, Stadt und Land zusammenzuhalten und nicht zu separieren.

(Zuruf von der SPD: So ist das!)

Nur, weil Sie die Kölner Oberbürgermeisterin anderthalb Stunden vor der Tür hat warten lassen, heißt das nicht, dass Sie Ihre schlechte Laune jetzt auf alle Kölnerinnen und Kölner übertragen müssen.

(Beifall und Heiterkeit von der SPD)

Wenn Sie sagen, Gebäude haben den Menschen zu dienen, frage ich Sie: Warum haben Sie denn im Zusammenhang mit dem barrierefreien Wohnen alles dafür getan, dass Menschen mit Handicap vor der Tür stehen müssen, Frau Ministerin? Das ist doch die Wahrheit.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Kollege Hovenjürgen hat hier gesagt, all das wäre total rationale Politik. – Wir brauchen 100.000 Wohnungen in diesem Land. Von mir aus sollen es 80.000 Wohnungen im Jahr sein. Was schaffen Sie in der Wohnraumförderung? – 6.100! Und anschließend freuen Sie sich noch über 611 Eigenheime in Bereichen des Landes, in denen es gar keinen Mietdruck gibt. Das nennen Sie eine erfolgreiche Wohnungspolitik?

(Zuruf von der SPD: Bravo, Landesregierung!)

Ehrlich gesagt, das ist eine Verhohnepipelung der Menschen, so etwas ernsthaft zu beschreiben. Angesichts eines Rückgangs von 34 % bei den geförderten Wohnungen, während Sie eine Milliarde Euro investieren, müssen wir uns doch die Frage stellen: Sind Sie nicht mit Ihrer Förderpolitik gescheitert? – Ja, Sie sind mit dieser Förderpolitik gescheitert, und der Markt ebenso.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ich komme zum Kollegen Remmel. Wir sind sehr dafür, Bienen und Wohnen miteinander zu verbinden.

In der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, in der ich für die Ratsfraktion unterwegs bin, gibt es zum Beispiel reine Bienenprojekte. Man kann das miteinander verbinden. Aber um das miteinander verbinden zu können, muss man erst einmal dafür sorgen, dass diese Wohnungsbau- und Quartiersprojekte überhaupt genehmigt werden. Das scheitert oft eben auch an den grünen Kollegen.

Ich komme zum Kollegen Rasche und der FDP. In Köln ist es so, dass die FDP der Blinddarm von Schwarz-Grün ist und diese Wohnraumverhinderungspolitik mit beschlossen hat.

Deshalb habe ich das am Anfang ganz bewusst gesagt: Am Ende geht es darum, ob wir bereit sind, gemeinsam Wohnungspolitik nach vorne zu bringen. Für die FDP bedeutet der Wohnungsmarkt vor allen Dingen eines: Kasse machen für wenige. Das Gemeinwohl interessiert nicht. Es geht darum, mit Umverteilung die Starken stärker zu machen.

(Beifall von der SPD – Widerspruch von der FDP)

Privat vor Staat – ich will es hier noch einmal sagen: CDU und FDP sind die größten Enteigner der Bürgerinnen und Bürger und von 92.000 Mietern.

(Beifall von der SPD – Widerspruch von der CDU und der FDP)

Sie haben die LEG verkauft. Sie haben uns ein Instrument geraubt. Dieses Instrument wäre heute nämlich in der Lage, zu bauen.

(Zurufe von der CDU und der FDP)

Ich komme zu einem interessanten Aspekt der Demonstration vom vergangenen Wochenende. Der Chef des NRW-Mieterbundes, Herr Witzke, hat darauf hingewiesen, dass Eucken und Müller-Armack im Zusammenhang mit der Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft immer gesagt haben, dass es auch einen Ordnungsrahmen geben müsse. Das Gut Wohnen dürfe nicht dem freien Markt allein überlassen sein, sondern es brauche einen Ordnungsrahmen.

Wenn der Markt außer Rand und Band ist, dann ist es in der sozialen Marktwirtschaft so, dass dort eingegriffen werden muss. Deshalb brauchen wir einen starken Staat, der gesetzliche Ordnungseingriffe ermöglicht. Das gilt sowohl für die Zweckentfremdung von Airbnb als auch für Finanzinvestoren und Clans, die Häuser im Ruhrgebiet haben und Menschen sklavenähnlich halten. Dagegen muss der Staat mit aller Härte vorgehen! Wir sind der festen Überzeugung, dass solche ordnungspolitischen Maßnahmen notwendig sind.

Mit der Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich zum Schluss:

„Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Dreimal dürfen Sie raten, von wem dieses Zitat ist. – Es befindet sich im Ahlener Programm der Christlich Demokratischen Union Deutschlands und zeigt, auf welche Abwegen Sie im Vergleich zu Ihren Vorvätern sind.

(Widerspruch von der CDU)

Wie widersinnig es ist, uns vorzuwerfen, dass wir die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätten, offenbart sich mindestens hieran.

(Zurufe)

Ihre Verantwortung ist es, dafür zu sorgen, dass der Wohnungsmarkt den Menschen dient und nicht Profitinvestoren und einigen Haien, die die Menschen durch hohe Mieten abzocken.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Ott. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. – Das bleibt auch so. Damit schließe ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 2.

Wir kommen zur Abstimmung, erstens über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/5617. Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, den Antrag zur Beratung an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen zu überweisen. Dort sollen auch die abschließende Beratung und Abstimmung in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand gegen diese Überweisung stimmen? – Das ist nicht der Fall. Sich enthalten? – Auch nicht. Dann haben wir so überwiesen.

Wir kommen zur zweiten Abstimmung, und zwar über den Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/5627. Auch hier empfiehlt der Ältestenrat die Überweisung des Antrages an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen in der Federführung und zur Mitberatung an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand gegen diese Überweisung stimmen? – Das ist nicht der Fall. Sich enthalten? – Auch nicht. Dann haben wir auch hier überwiesen, und wir sind am Ende von Tagesordnungspunkt 2.

Ich rufe auf:

3   Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes und weiterer wahlrechtlicher Vorschriften

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/3776

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Heimat, Kommunales,
Bauen und Wohnen
Drucksache 17/5666

zweite Lesung

Änderungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5712

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat für die CDU-Fraktion Herr Dr. Geerlings das Wort.

Dr. Jörg Geerlings (CDU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kommunalpolitik ist die Wiege der Demokratie. So lautet ein gemeinhin bekanntes Zitat.

Als Jurist füge ich hinzu: Das Recht der Kommunen, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln und daraus folgend auch das Recht und die Pflicht, demokratische Strukturen zu bilden, ist eines von Verfassungsrang – niedergeschrieben in Art. 28 Abs. 2 unseres Grundgesetzes und in Art. 78 Abs. 1 unserer Landesverfassung.

Es ist gut und richtig, dass wir das Kommunalwahlrecht vor jeder Kommunalwahl überprüfen und unter Berücksichtigung der Veränderungen im Wahlrecht sowie der Erfahrungen in der Verwaltungspraxis fortschreiben.

Im Oktober hat die Landesregierung einen Gesetzentwurf dazu eingebracht. Wir haben ihn intensiv in den Ausschüssen diskutiert, Experten angehört, Kritik von Sachverständigen berücksichtigt und eine Vielzahl von Änderungsanträgen beraten. Denjenigen, die dieses Verfahren kritisieren und skandalisieren wollen, sei gesagt: So geht ordentliche, gute und an der Sache orientierte parlamentarische Arbeit.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, Ihr Ergebnis stand bereits fest. Wir hören zu und entscheiden erst danach. Heute, zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, möchte ich zwei Anliegen der NRW-Koalition noch einmal ganz besonders in den Blick nehmen.

Erstens stärken wir die Legitimation von Bürgermeistern und Landräten, indem wir die Stichwahl abschaffen.

(Lachen von der SPD)

Bei der Ausgestaltung der Bürgermeister- und Landratswahlen hat das Parlament einen weiten Gestaltungsspielraum. Dies hat der Verfassungsgerichtshof Nordrhein-Westfalens festgestellt.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Da müssen Sie aber selber lachen!)

– Bei Ihren Anmerkungen vergeht mir das Lachen. Wir halten uns an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und orientieren uns daran und nicht an Ihren komischen Zwischenbemerkungen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zurufe von der SPD)

Davon hat der Landtag in der jüngeren Vergangenheit rege Gebrauch gemacht.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Dr. Geerlings, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Es gibt zweimal den Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar einmal bei Herrn Kollegen Dahm und einmal bei Herrn Kollegen Mostofizadeh.

Dr. Jörg Geerlings (CDU): Ja, bitte.

Christian Dahm (SPD): Vielen Dank, Herr Dr. Geerlings, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie die Legitimation der Bürgermeister stärken wollen. In der Anhörung ist sehr deutlich geworden, dass Sie, wenn die Bürgermeister in einem ersten Wahlgang weniger als 30 % der Stimmen erhalten, nicht unbedingt die Legitimation stärken.

(Bodo Löttgen [CDU]: 29,4 %!)

Vielmehr holen Sie damit Minderheitenbürgermeister ins Amt. Wie erklären Sie uns dann eine stärkere Legitimation?

Dr. Jörg Geerlings (CDU): Herr Kollege Dahm, vielen Dank für die Frage. Wie erklären Sie, bitte schön, dass im zweiten Wahlgang die Wahlbeteiligung deutlich gesunken ist? – Das werde ich gleich noch genauer ausführen. Das ist die Frage, die hier relevant ist.

(Beifall von der CDU und der FDP – Christian Dahm [SPD]: Das ist ja falsch! Das ist falsch!)

Umgekehrt darf man sagen: Wir stärken die Legitimation.

(Sarah Philipp [SPD]: Das war aber keine Antwort! – Christian Dahm [SPD]: Das war nur eine Gegenfrage, nicht die Begründung!)

Ich glaube, es gab noch eine zweite Frage.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben eben ausgeführt, dass Sie sich auf die Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichtes berufen. Der Vorsitzende Richter, der das damalige Urteil gesprochen hat, sagte gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ – ich zitiere –:

Bei ihrem Vorhaben, diese Regelung jetzt erneut zu streichen, beruft sich die CDU/FDP-Koalition auf das erwähnte Urteil des Verfassungsgerichtes von 2009, zu Unrecht, wie ich meine.

Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

Dr. Jörg Geerlings (CDU): Interessanterweise hat er das Urteil mit gefällt, aber verschiedene Meinungen sind zulässig.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Aha!)

Sie haben eine politische Auffassung, er hat vielleicht eine Auffassung; das weiß ich nicht. Ich vertraue jedenfalls auf das Verfassungsorgan Verfassungsgerichtshof und auf diesen Landtag, der mit Mehrheit beschließen wird. Warten wir den weiteren Gang ab. Ich werde im Kommenden noch auf diese Fragen eingehen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Der Landtag hat von dieser Möglichkeit des Gestaltungsspielraums in der jüngeren Vergangenheit rege Gebrauch gemacht. Im Jahr 2007 – damals waren CDU und FDP in der Mehrheit – wurde die Stichwahl schon einmal abgeschafft.

Den von der damaligen Opposition gestellten Normenkontrollantrag – und damit komme ich auf Ihre Frage zurück – wies der Verfassungsgerichtshof klar zurück. Mit anderen Worten: Die Abschaffung der Stichwahl ist verfassungsgemäß.

(Zurufe von der SPD)

Dennoch beschloss der Landtag im Jahr 2011, nachdem die Mehrheitsverhältnisse sich geändert hatten, wiederum die Einführung einer Stichwahl der Hauptverwaltungsbeamten.

In Rechtsprechung und Literatur ist anerkannt, dass die Abschaffung der Stichwahl weder den Grundsatz der Wahlgleichheit noch den Grundsatz der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb verletzt und auch nicht gegen den Grundsatz der unmittelbaren Wahl verstößt.

Der Verfassungsgerichtshof hat im Landtag im Jahr 2009 allerdings eine fortdauernde, gesetzgeberische Beobachtungspflicht aufgegeben – ich zitiere –:

„Der Gesetzgeber ist allerdings gehalten, die Wahlverhältnisse daraufhin im Blick zu behalten, ob das bestehende Wahlsystem den erforderlichen Gehalt an demokratischer Legitimation auch zukünftig zu vermitteln vermag. Ändern sich die tatsächlichen oder normativen Grundlagen wesentlich, kann sich hinsichtlich der Zulässigkeit der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte auf der Basis eines einzigen Wahlgangs mit relativer Mehrheit eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung ergeben. Findet der Wahlgesetzgeber in diesem Sinne veränderte Umstände vor, muss er ihnen Rechnung tragen“.

(Michael Hübner [SPD]: Es gibt ja keine veränderten Umstände!)

Mit anderen Worten: Wir müssen ständig überprüfen, ob der Wahlmodus der Bürgermeister‑ und Landratswahlen in der Praxis eine ausreichende demokratische Legitimation sicherstellt. Das haben wir getan, und zwar mit folgenden Ergebnissen:

(Christian Dahm [SPD]: Jetzt bin ich gespannt!)

Erstens. Die Zahl der durchgeführten Stichwahlen ist rückläufig. 1999 gab es noch 131 Stichwahlen, 2004 sank die Zahl schon auf 112. Bei den seit 2011 durchgeführten 426 Wahlen kam es nur noch in 98 Fällen zu einer Stichwahl.

Zweitens. Bei den untersuchten 98 Stichwahlen ist ein deutlicher Rückgang der Wahlbeteiligung zu verzeichnen.

(Monika Düker [GRÜNE]: Was ist das denn für ein Argument?)

Lag die Wahlbeteiligung bei den Oberbürgermeisterstichwahlen 1999 noch bei knapp 45 %, sank sie 2014 auf nicht einmal 34 % und 2015 sogar auf unter 32 %. Eine ähnliche Tendenz gibt es auch schon bei den Landratswahlen.

Nur in vier der 98 untersuchten Stichwahlen seit 2011 ist die Wahlbeteiligung mit dem zweiten Wahlgang gestiegen.

(Michael Hübner [SPD]: Wenn die Richter in Münster das lesen, fangen die auch an zu lachen! – Monika Düker [GRÜNE]: Dann schaffen Sie die Wahl gleich ganz ab!)

Im Extremfall ist die Wahlbeteiligung bei der Stichwahl sogar um mehr als die Hälfte gesunken. So sank sie 2014 im Rhein-Sieg-Kreis …

(Weitere Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

– Hören Sie doch erst einmal in Ruhe zu und lassen Sie die Zahlen sacken. Ich weiß, Sie rechnen nicht so gern; aber Zahlen sind vielleicht nicht schlecht für Ihre Betrachtung.

(Beifall von der CDU – Widerspruch von der SPD)

So sank die Wahlbeteiligung im Jahr 2014 im Rhein-Sieg-Kreis von 56,1 % auf nur 25,7 %. Stellen Sie sich bitte einmal vor, was das heißt: Der damals Gewählte hat am Ende eine Legitimation von lediglich 14,2 % der Wahlberechtigten. Das nennen Sie demokratische Legitimation? Ich finde, das ist jedenfalls problematisch.

(Beifall von der CDU)

Drittens. In 95 von 98 Stichwahlen – das sind mehr als drei Viertel – obsiegt in der Stichwahl derjenige Kandidat, der auch im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. In den Stichwahlen bei der Kommunalwahl 2004 lag dieser Wert noch bei nur 62,5 %. Es ist also eine klare Tendenz erkennbar hin zum Wahlsieg des in der ersten Runde bereits vorne liegenden Kandidaten und weg von einer Ergebnisumkehr durch die Stichwahlen.

Aus all diesen Zahlen – und ich könnte noch viele weitere hinzufügen – ergibt sich ein klarer Negativtrend für die demokratische Legitimation.

Der bereits 2009 gegenüber den in den Jahren 1999 und 2004 durchgeführten Stichwahlen festgestellte Rückgang demokratischer Legitimation hat sich seit der Wiedereinführung der Stichwahlen im Jahr 2011 noch einmal deutlich verstärkt. Die sinkende Legitimation der gewählten Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte stellt ein Demokratiedefizit dar, das wir zwingend abschaffen müssen.

(Beifall von der CDU – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Ei, ei, ei, ei, ei! – Christian Dahm [SPD]: Da klatscht noch nicht mal die FDP!)

Deshalb wollen wir die Stichwahl abschaffen und damit die demokratische Legitimation der Amtsträger weiter stärken. Wir stärken die Gleichheit der Wahl, indem wir die Wahlkreiseinteilung verfassungsgemäß anpassen; das ist ein weiterer Aspekt unserer Änderungsanträge.

Für die Wahl der Stadt‑ und Gemeinderäte wird das Wahlgebiet in Wahlbezirke eingeteilt. Dabei ist nach dem bisherigen Gesetzeswortlaut die Einwohnerzahl maßgeblich.

Schon jetzt begegnet diese Vorschrift allerdings erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken und muss deshalb verfassungskonform ausgelegt werden. Dort, wo sogenannte Drittstaatler, also Einwohner, die weder Deutsche noch Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union sind, ungleichmäßig auf das Wahlgebiet verteilt wohnen, dürfen sie bei der Wahlkreiseinteilung nicht berücksichtigt werden. Es kommt nur auf die Anzahl der Deutschen und EU-Bürgerinnen und ‑bürger an.

Hintergrund für diese einschränkende Anwendung der Vorschrift ist der in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 unseres Grundgesetzes niedergeschriebene Grundsatz der Gleichheit der Wahl: Die Stimmen aller Wahlberechtigten sollen eine möglichst gleiche Stimmkraft haben und damit die Chancengleichheit ermöglichen. Zählwert und Erfolgswert sollen möglichst gleich sein.

Das sind die großen Errungenschaften unserer Demokratie. Dazu sind annähernd gleich große Wahlbezirke erforderlich. Die Heranziehung von Deutschen und EU-Bürgern ist dafür ein gutes und zulässiges Kriterium, weil es sich bei diesen Eigenschaften – abgesehen von Alter und Wohnort – um das wesentliche Kriterium für die Zuerkennung des aktiven und passiven Kommunalwahlrechts handelt.

Eine noch feingliedrigere Herangehensweise, etwa eine Differenzierung nach Alter und Wahlberechtigung, ist laut Bundesverfassungsgericht nicht zwingend geboten, solange sich der Anteil der nicht Wahlberechtigten unter 16 Jahren in den Wahlbezirken nicht erheblich unterscheidet. Dieses Vorgehen wird durch das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bestätigt, etwa im 130. Band, Seite 212 ff. Ich zitiere:

„Anknüpfungspunkt des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 38 Abs. 1 GG sind die Wahlberechtigten (…), nicht die Wohnbevölkerung. Die Wahlgleichheit ist an die Trägerschaft von Rechten, konkret des Wahlrechts, gekoppelt.“

Und außerdem – Zitat –:

„Die Wahlrechtsgleichheit wird allerdings auch bei Heranziehung der deutschen Wohnbevölkerung als Bemessungsgrundlage nicht beeinträchtigt, solange sich der Anteil der Minderjährigen an der deutschen Bevölkerung regional nur unerheblich unterscheidet.“

Eine vergleichbare Regelung findet sich übrigens in § 3 Abs. 1 des Bundeswahlgesetzes, der bei der Wahlkreiseinteilung bei Bundestagswahlen die deutsche Bevölkerung zum Kriterium nimmt; Gleiches gilt bei Landtagswahlen.

Wenn wir unser Kommunalwahlgesetz heute in diesem Sinne ändern, handelt es sich dabei um eine Klarstellung der vorhandenen, sich durch verfassungskonforme Auslegung ergebenden Rechtslage, nicht um eine im materiellen Sinne wesentliche Änderung.

Dennoch sagen wir damit klar: Wir stärken die Gleichheit der Wahl, denn klar ist doch: Die gewählten Vertreter sind für alle in einem Wahlkreis lebenden Menschen zuständig, unabhängig vom Wahlrecht.

Ich bin Mitglied des Neusser Stadtrats als direkt gewählter Stadtverordneter für die Stadtteile Reuschenberg und Selikum. Ebenso bin ich direkt gewählter Landtagsabgeordneter. Ich fühle mich allen Einwohnern des Wahlkreises unabhängig von ihrer Nationalität verpflichtet und setze mich für alle ein; das ist für mich selbstverständlich.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stärken die Legitimation von Bürgermeistern und Landräten, und wir stärken den Grundsatz der Gleichheit der Wahl; das ist die entscheidende Aussage unserer Änderungsanträge. Damit stärken wir die kommunale Selbstverwaltung, ein hohes Gut unserer Verfassung.

Stimmen Sie diesem Antrag zu. Tun Sie etwas Gutes für unsere Kommunen im Land und für die vielen ehrenamtlich engagierten Menschen vor Ort.

Am Ende eines langen und intensiven Gesetzgebungsprozesses danke ich allen, die sich in den Prozess konstruktiv eingebracht und uns dabei unterstützt haben. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Geerlings. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Kämmerling.

Stefan Kämmerling (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute findet unter diesem Tagesordnungspunkt eine Lesung statt, die es so und mit ihrem Vorlauf eigentlich nicht geben dürfte. Ich will Ihnen im Laufe meiner Ausführungen darlegen, warum ich das so sehe, und selbstverständlich werde ich auch unseren Änderungsantrag ausführlich begründen.

Zunächst will ich auf das Verhüllungsverbot für die Mitglieder von Wahlorganen eingehen. Das kann ich sehr kurz tun, denn treffender, als es der Sachverständige eines kommunalen Spitzenverbandes in der Sachverständigenanhörung formuliert hat, kann man es kaum sagen. Darum zitiere ich ihn wie folgt: „Uns sind keine Probleme bekannt. Nach unserer Einschätzung sollte der Gesetzgeber die Probleme lösen, die tatsächlich anstehen.“

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Damit bin ich schon beim Thema „Wahlkreiseinteilung“. Hier geht es um eine tiefgreifende Veränderung: CDU und FDP wollen die erprobte, bewährte und vor Ort für gut befundene Art und Weise verändern, in der die Kommunalwahlkreise in unserem Land zuzuschneiden sind.

Bislang galt in Nordrhein-Westfalen, dass sich unsere Ratsvertreter jeweils um annähernd gleich viele Menschen kümmern. Wir alle gemeinsam gingen davon aus, dass bei der Zählweise jeder Mensch gleich viel wert ist. Wir gingen davon aus, dass Ratsvertreter gleich viel Zeit benötigen, beispielsweise für Deutsche, für Polen, für Türken, für US-Bürger, für Franzosen, für Belgier, für Niederländer,

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

für Luxemburger, für Israelis, für Chinesen, für Japaner und für Briten.

Diese Aufzählung ist nicht abschließend; sie gibt nur die Nationalitäten wieder, mit denen dieses Hohe Haus im Rahmen von Parlamentariergruppen internationale Freundschaften pflegt. Und dieses Haus, das zu Recht diese parlamentarischen Freundschaften pflegt, soll heute beschließen, dass der rechnerische Wert vieler dieser Menschen bei der Einteilung von Kommunalwahlkreisen zukünftig keine Rolle mehr spielt?

Ich sage Ihnen: Das machen wir als Sozialdemokraten nicht mit. Diesen Irrweg werden Sie alleine beschreiten müssen.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

EU-Bürger sind in Ihrem Vorhaben berücksichtigt – ja, das stimmt –, so wie Deutsche, aber das macht es nicht besser. Unter dem Strich riskieren Sie eine Wahlkreiseinteilung, die große Kommunalwahlbezirke schaffen wird, in denen die Bevölkerung auch jetzt schon häufig den Eindruck hat, abgehängt zu sein. Sie senden nicht weniger als ein fatales Signal.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Was ist mit den Ratsvertretern? Wie erklären Sie denen, warum der eine künftig viele und der andere weniger Menschen betreuen und im Rat vertreten soll?

Ich sage Ihnen: Lassen Sie das bleiben. Belassen Sie es bei der bisherigen Regelung, die auch fast alle anderen Bundesländer so praktizieren. Erkennen Sie an, dass es ausdrücklich keine verfassungsrechtliche Vorgabe gibt, das zu tun, was Sie hier vorhaben.

Dann wäre da noch ein weiterer wichtiger Punkt, meine Damen und Herren von CDU und FDP: Sie ignorieren komplett, dass die Kommunen mit der Umsetzung überfordert sind.

Wir wissen, dass IT.NRW die zukünftig in den Kommunen benötigten Bevölkerungszahlen derzeit gar nicht bereitstellen kann. Das sage nicht ich, sondern das haben uns die Sachverständigen in der Anhörung mitgeteilt, und die Landesregierung hat es bestätigt.

Sämtliche Kommunen haben die Vorbereitungen auf die Kommunalwahlen 2020 anlaufen lassen, und Sie grätschen jetzt mit Wucht in die Seite rein und riskieren vor Ort organisatorisches Chaos.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Beschließen Sie heute so, wie hier vorgelegt, nehmen Sie eine nicht ordnungsgemäße Vorbereitung der Kommunalwahlen wissend und billigend in Kauf.

Ich komme zum Thema „Stichwahlen“. Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte stellen das Gegenwicht zu Räten und Kreistagen dar. Ihre Rolle ist schon daraus resultierend besonders und grenzt sie gegenüber anderen direkt gewählten Politikern wie etwa Bundes‑ oder Landtagsabgeordneten ab.

Diese besondere Stellung ist in Nordrhein-Westfalen und allen anderen – ich wiederhole: allen anderen – Flächenländern der Bundesrepublik mit Maßgabe der absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang beauflagt. Wird die absolute Mehrheit nicht erreicht, schließt sich in allen anderen Flächenländern ein zweiter Wahlgang an.

CDU und FDP wollen jetzt Nordrhein-Westfalen zum einzigen Flächenland machen, in dem diese anerkannte Praxis aufgehoben wird. Nicht umsonst hat man die Stichwahl in unserem Bundesland eingeführt. Ich darf an die Kommunalwahlen im Jahr 2009 erinnern, die ohne Stichwahlen durchgeführt wurden: In Wülfrath und Monheim beispielsweise wurden Bewerber mit nur 27 % bzw. 30 % gewählt.

(Zurufe von der CDU)

Rund 70 % der Wählerinnen und Wähler entschieden sich also für andere Kandidaten. Solche Wahlergebnisse schwächen die Demokratie, denn sie statten Gewählte nicht mit dem notwendigen Rückhalt der Bevölkerung aus.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Am 15.02.2019 wurde in der Anhörung von den Sachverständigen im Kommunalausschuss ausführlich dargestellt, wo am Entwurf der Landesregierung in Verbindung mit dem dazugehörigen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. Dargelegt wurde hier, dass zwei abstrakte Argumente im ersten Änderungsantrag der Regierungsfraktionen unzureichend bzw. nicht vergleichbar und somit zurückzuweisen sind.

Während die Mehrheit hier im Haus auf die Wahlbeteiligung abstellt, kamen zahlreiche Sachverständige zu der Einschätzung, dass vielmehr die Entwicklung der absoluten Stimmenzahl zwischen erstem und zweitem Wahlgang berücksichtigt werden müsse.

(Bodo Löttgen [CDU]: Genau!)

Bei 76 Stichwahlen in den Jahren 2014 und 2015 war ein Anstieg der Stimmenzahl für den siegreichen Kandidaten zu verzeichnen. Diese Tatsache kann man nicht außer Acht lassen.

(Beifall von der SPD – Bodo Löttgen [CDU]: Völliger Quatsch!)

Zudem wird dieses Bild gemäß den Ausführungen der Sachverständigen auch in anderen Bundesländern widergespiegelt.

Außerdem lassen CDU und FDP in ihrer Argumentation bewusst oder unbewusst völlig außen vor, dass im Jahr 2015 die Bürgermeister‑ und Landratswahlen nicht zeitgleich mit der Wahl der Kommunalparlamente stattfanden.

Von sogar bemerkenswerter Einfachheit ist die Koalitionsargumentation, auch Landtags‑ und Bundestagsabgeordnete würden mit unter 50 % gewählt. Hierzu führt Professor Wißmann aus, dass der mit relativer Mehrheit gewählte Abgeordnete mitnichten mit Hauptverwaltungsbeamten zu vergleichen sei,

(Bodo Löttgen [CDU]: Wo steht das denn drin?)

die – gestützt auf ihre Wahl – auf Dauer eine Gegengröße zur gegebenenfalls immer wieder neu zu bestimmenden absoluten Mehrheit in der Kommunalvertretung darstellen.

Professor Morlok sieht in der Abschaffung der Stichwahl gar eine – ich zitiere – „Perversion der Mehrheitsentscheidung“.

Stichwahlen, meine Damen und Herren, verbessern die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Prozessen und damit an der Demokratie selbst.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Sie dienen auch der Befriedigung und der Integration unterschiedlicher politischer Meinungen. Von enorm großem Gewicht ist zudem die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 26. Mai 2009.

(Bodo Löttgen [CDU]: Genau!)

Diese hat dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht auferlegt, ob die Legitimation eines Hauptverwaltungsbeamten auf der Basis nur eines Wahlgangs mit relativer Mehrheit bei veränderten rechtlichen und faktischen Umständen vermittelt werden kann. Das Gericht hatte also nicht weniger als die potenzielle Gefährdung der demokratischen Legitimation von Gewählten bei relativ geringen Mehrheiten im Auge.

Ein vom Verfassungsgerichtshof ausdrücklich geforderter sachlicher Grund bei einer Veränderung des Wahlrechts ist im vorliegenden Versuch der Abschaffung der Stichwahl weder gegeben, noch wurde der Versuch gemacht, diesen zu begründen.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Vielmehr wird von CDU und FDP ein nachträglich begründender Änderungsantrag eingebracht, der, wie von mir in der Sitzung des Kommunalausschusses am vergangenen Freitag ausführlich dargelegt, auch noch inhaltliche Fehler und Flüchtigkeitsfehler sowie schlichte Additionsfehler beinhaltet.

Die offenkundige und zwingende Tatsache, dass bei einer so weitgehenden und tiefgreifenden Änderung des Wahlrechts zahlreiche weitere Aspekte hätten Berücksichtigung finden müssen, wird auch durch den zweiten Änderungsantrag der Koalition nicht ansatzweise bedient.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, Sie regeln Überflüssiges zu Verhüllungen in Wahllokalen, die nie stattgefunden haben. Sie wollen Wahlkreise wider der Vernunft zuschneiden und ausländische Einwohnerinnen und Einwohner unberücksichtigt lassen. Sie verursachen damit potenzielles Chaos in den Rathäusern.

Sie nehmen in Kauf, mit der Abschaffung der Stichwahl erheblich die demokratische Legitimation von Bürgermeistern und Landräten zu schwächen. Sie ignorieren die Tatsache, dass der Gesetzgeber eine Beobachtungs‑ und Rechtfertigungspflicht hat.

Sie begehen – und hiervon bin ich zutiefst überzeugt – Verfassungsbruch und haben im Laufe der Beratungen zudem mehrfach und bewusst parlamentarische Rechte mit Mehrheitsbeschlüssen gebrochen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich fordere die Koalitionsfraktionen auf: Erkennen Sie, dass Sie kurz davor stehen, die Demokratie in unserem Land zu beschädigen. Ziehen Sie die Reißleine! Ziehen Sie Ihre Anträge zurück. Tun Sie es nicht, sehen Sie sich einer entschlossenen sozialdemokratischen Fraktion gegenüber, die Ihnen das nicht durchgehen lassen wird. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD – Bodo Löttgen [CDU]: Sieht man deutlich!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kämmerling. – Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Höne das Wort.

Henning Höne (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits im November letzten Jahres haben wir hier in einer Aktuellen Stunde das Thema „Stichwahl“ diskutiert. Schon damals habe ich gesagt, dass ich es für wichtig halte, dass man Fragen des Wahlrechts in gebotener Lautstärke, Ruhe und Sachlichkeit diskutiert.

Ich muss sagen: Seit der Debatte im November, insbesondere im Ausschuss, ist dieser Wunsch leider nicht Wirklichkeit geworden. Die Opposition versucht es auch gar nicht erst mit sachlichen Argumenten, sondern vor allem mit Mythen, Geschichten und Erzählungen.

(Zuruf von der SPD: Gerade nicht zugehört?)

Kollege Mostofizadeh ließ sich gestern in den Medien mit der Behauptung zitieren, dass alles ohne Rücksicht auf Parlamentsrechte passiere.

(Vereinzelt Beifall von der SPD – Stefan Kämmerling [SPD]: Recht hat er! Recht hat er! Genau!)

Kollege Kutschaty sagte in der „WZ“, die SPD wolle auf eine dritte Lesung drängen. Wahr ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Koalitionsfraktionen haben in der PG-Runde proaktiv eine dritte Lesung angeboten. Die Koalitionsfraktionen sind auf den Wunsch der Opposition nach einer längeren Redezeit am heutigen Tag eingegangen.

(Christian Dahm [SPD]: Minderheitenrecht! Das sind Oppositionsrechte! Da müssen Sie doch jetzt nicht gnädig sein!)

In der letzten Sitzung des Kommunalausschusses gab es eine einstündige …

(Zurufe von der SPD)

– Ich scheine Sie getroffen zu haben; trotzdem müssen Sie es noch ein bisschen ertragen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Nein, wegen der Frechheit! – Zuruf von der SPD: Unverschämtheit!)

In der letzten Sitzung des Kommunalausschusses gab es eine fast einstündige Debatte zur Geschäftsordnung und zum Verfahren,

(Stefan Kämmerling [SPD]: Weil Sie es nicht können!)

an deren Spitze Ihre Behauptung stand, dass der Änderungsantrag 17/5082 noch nicht ausreichend debattiert worden sei. Die Ausschusssitzung fand am 5. April dieses Jahres statt; der Änderungsantrag datiert auf den 12. Februar.

In diesem Änderungsantrag geht es noch nicht einmal um die Stichwahl; vor lauter Schaum vorm Mund haben Sie das gar nicht gemerkt. Ihnen geht es nicht um die sachliche Debatte.

(Beifall von der FDP und der CDU – Stefan Kämmerling [SPD]: Falscher Antrag!)

Meine Damen und Herren, wir haben keine Angst vor dieser Debatte; darum sollten wir eine sachliche Debatte führen.

In diesem Gesetzespaket geht es um das Kommunalwahlgesetz und, wie es im Titel heißt, weitere wahlrechtliche Vorschriften: die Verkleinerung der Räte und die Fristen hierzu sowie die Möglichkeit, den Wahltermin zur Kommunalwahl im September stattfinden zu lassen. Um diese Punkte drehten sich die Debatten in den letzten Wochen und Monaten aber nicht; daher will ich das außen vor lassen.

Ich möchte gerne die Stichwahl und die Frage der Wahlkreiseinteilung ansprechen. Ich wiederhole noch einmal in Richtung der SPD zu Ihren Debattenbeiträgen, zu Ihren Äußerungen in den Medien: Ihre Vorwürfe, dass man die Stichwahl abschaffen wolle, um CDU-Bürgermeister zu retten, lässt weiterhin, wie ich auch schon im November gesagt habe, nur einen Umkehrschluss zu:

(Stefan Kämmerling [SPD]: Sagt das Fähnlein im Wind!)

Sie wollen an der Stichwahl festhalten, um mehr SPD-Bürgermeister zu bekommen. Ich sage Ihnen: Beides sind keine zulässigen Argumente, ebenso wie ich finde, dass die Kostenfrage bei einer Stichwahl kein zulässiges Argument ist.

(Beifall von der FDP und der CDU – Zuruf von der SPD: Was ist denn das Argument?)

Es geht um etwas ganz anderes. Worauf kommt es an? – Es geht um ganz nüchterne Zahlen. Es gilt zu beobachten und zu analysieren: Die Stichwahlen 1999, 2004 und die seit 2011, also die in den Jahren 2014 und 2015.

Was ist das Ergebnis? – Von Wahl zu Wahl in dieser Zeitreihe hat die Anzahl der Stichwahlen deutlich abgenommen. Wir kommen von 131 Stichwahlen im Jahr 1999 über 112 Stichwahlen im Jahr 2004 zu 98 Stichwahlen in den Jahren 2014, 2015.

Von den 98 gab es dann bei 94 eine deutliche gesunkene Wahlbeteiligung bis hin zu 20 Prozentpunkten. Die absoluten Zahlen sind eben eingefordert worden: 436.000 Stimmen, fast 15 % weniger abgegebene Stimmen im zweiten Wahlgang. Bei den OB-Stichwahlen betrug die Wahlbeteiligung im Jahr 1999 noch 45 %  und im Jahr 2015 nur noch 31 %.

Die Befürworter der Stichwahl argumentieren mit einer höheren demokratischen Legitimation. Ich sage: Wenn zwei Drittel der Wählerinnen und Wähler an einer Wahl nicht teilnehmen, dann sinkt die demokratische Legitimation.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Die Anhörung ist thematisiert worden. Ich möchte sie auch gerne noch einmal ansprechen, weil die Kollegen Dahm und Kämmerling nach ca. zwei Dritteln der Anhörung diese leider verlassen mussten und offensichtlich wichtigere Dinge zu tun hatten.

Landkreistag sowie Städte‑ und Gemeindebund zum Beispiel haben in der Anhörung gesagt, dass sie für die Abschaffung der Stichwahl seien, dies auch rechtlich geprüft hätten und der Meinung wären, dass das ginge.

Weitere Sachverständige haben gesagt, grundsätzlich bestehe genau dieser Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers; sie haben aber eine Begründung angemahnt.

Diese Hinweise haben wir aufgenommen; wir haben sie ernstgenommen. Darauf bauen die Änderungen und die ergänzenden Begründungen auf. Das ist in einem gesetzlichen Beratungsverfahren möglich. Das muss auch möglich sein, sonst bräuchten wir das ganze Verfahren nicht, wenn man über diesen Zeitraum nicht auch schlauer werden dürfte.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Hinsichtlich der Wahlkreise war in den Medien zu lesen, dass die Opposition das Verfahren kurzfristig findet. Wahr ist: Die Einteilung der Wahlkreise findet sich wieder im Änderungsantrag 17/4305, datiert auf den 21. November 2018. Dass Sie das erst jetzt entdeckt haben, können Sie nun wirklich nicht uns vorwerfen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dann möchte ich noch auf die Berichtsvorlage verweisen, die wir letzten Freitag im Ausschuss hatten, Drucksache 17/1882: Mit der Änderung bei der Einteilung der Wahlkreise kommt es zu einer Analogie zum Bundeswahlrecht. Da frage ich mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und den Grünen, ob Sie eigentlich auch vor 2021 gegen das Bundestagswahlrecht klagen wollen.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Quatsch! Unsinn!)

Sind Sie der Meinung, dass Bundestagsabgeordnete etwa nicht für den gesamten Wahlkreis und alle Menschen darin zuständig sind? Damit stellen Sie sich in der Argumentation selber ein Bein.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Darüber hinaus haben sowohl die Debatte im Ausschuss wie auch die Erläuterungen des Landeswahlleiters gezeigt:

(Christian Dahm [SPD]: Der Vertreter der Landesregierung, nicht der Landeswahlleiter!)

Käme es schon heute nach der gültigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Unwuchten durch Drittstaatler in Wahlkreisen, wäre das schon heute von den Kommunen bei der Wahlkreiseinteilung zu berücksichtigen.

Insofern ist das hier eine Klarstellung und hilft der Rechtssicherheit bei der Einteilung vor Ort. Das ist für die NRW-Koalition ganz klar.

Herr Kämmerling, dass Sie hier die Frage aufmachen, ob Menschen nicht gleich viel wert sind, ist eine Nebelkerze, wie ich sie selten erlebt habe.

Hier geht es um das Wahlrecht, bei dem eine andere Frage im Mittelpunkt steht: Ist eigentlich jede abgegebene Stimme, ist jede Wählerin und jeder Wähler gleich viel wert? – Darum geht es bei dieser Wahlkreiseinteilung.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Höne, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Frau Kollegin Düker.

Henning Höne (FDP): Bitte sehr.

Monika Düker (GRÜNE): Danke, Herr Kollege Höne, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Was ich aber nicht herausgehört habe – und Ihre Antwort auf diese Frage würde mich doch brennend interessieren –, ist:

Was hat sich zwischen 2011, als Sie der Wiedereinführung der Stichwahl hier im Haus zugestimmt haben – hierzu hielt seinerzeit der wertgeschätzte Kollege Horst Engel eine sehr gute Rede, in der er eine gute Argumentation vorgetragen hat,

(Christian Dahm [SPD]: Sehr gut!)

warum diese Stichwahl wieder eingeführt werden sollte –, und 2019, also acht Jahre später, an der Argumentation geändert hat, dass Sie jetzt zu einem diametral anderen Ergebnis kommen und die Stichwahl jetzt wieder abgeschafft werden soll?

Das habe ich aus Ihrer Rede noch nicht herausgehört, zumal Sie ja auf dem Parteitag ein paar gute Argumente mitbekommen haben, warum die Stichwahl eigentlich richtig ist. Das müssten Sie uns noch einmal erklären.

Henning Höne (FDP): Sicherlich wollte die Kollegin Düker formulieren: „Würden Sie uns das bitte noch einmal erklären?“, damit das dann doch eine Zwischenfrage ist.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: „Können Sie uns erklären“ ist eine auch eine Zwischenfrage!)

Das ist dann aber eine andere Debatte.

Liebe Frau Kollegin Düker, was ist der Unterschied zwischen 2011 und 2019, unabhängig von den acht Jahren? – Das sind die Kommunal‑ und Stichwahlen 2014 und 2015, auf die ich mich gerade bezogen habe.

(Beifall von der FDP und der CDU – Bodo Löttgen [CDU]: So es das!)

So einfach ist die Antwort.

(Christian Dahm [SPD]: Das scheint Ihre Basis aber anders zu sehen, Herr Höne!)

Stimmen von Wählern in Wahlkreisen mit vielen Drittstaatlern haben, wenn wir eine solche Korrektur nicht vornehmen, ein größeres Gewicht, und darum ist diese Änderung notwendig.

Im Übrigen darf ich noch einmal auf Folgendes hinweisen: Durch das kommunale Wahlsystem ändert sich im Zweifelsfall der Wahlkreiszuschnitt. Aber es ändert sich nicht die Gesamtzusammensetzung des Rates, da im kommunalen Wahlrecht durch Überhang- und Ausgleichsmandate komplett ausgeglichen wird. Auch an dieser Stelle laufen Sie also fehl.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Was?)

Was das Organisatorische angeht, Herr Kollege Kämmerling, traue ich den Kommunen deutlich mehr zu, als Sie das offensichtlich tun.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir diskutieren den Gesamtgesetzentwurf seit dem 1. Oktober des letzten Jahres

(Michael Hübner [SPD]: Da werden sicher noch mehrere Juristen in Münster nachdenken!)

und die Fragen der Stichwahl und der Wahlkreiseinteilung seit dem 21.11.2018 in einem ausgiebigen Verfahren. Auf der Grundlage dieses Verfahrens stimmt die FDP-Fraktion dem Gesetzentwurf zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU – Stefan Kämmerling [SPD]: Was ist mit meiner Zwischenfrage?)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der Grünen erteile ich nun Herrn Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Höne hat mich nicht enttäuscht.

(Heiterkeit von Christian Dahm [SPD])

Er hat alle Argumente wiederholt, die in der Debatte schon gefallen sind. Er hat nur keine Argumente für die Abschaffung der Stichwahl auf den Tisch gelegt. Das macht sehr deutlich, dass CDU und FDP keine inhaltlichen Argumente haben, sondern hier Machtspielchen betreiben und mit Mehrheit etwas durchsetzen wollen, was auf dem CDU-Parteitag im letzten Jahr erdacht worden ist.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich will zunächst auf das Stichwort „Wahlkreise“ eingehen. Ich möchte gar nicht so tief in die Materie einsteigen. Aber eindeutig ist, dass es der völlig falsche Zeitpunkt ist, um diese Änderungen vorzunehmen.

(Bodo Löttgen [CDU]: Was?)

Es ist kaum zu administrieren. Es hat keine Debatte stattgefunden. Insofern wundert es mich auch nicht, dass der Verfassungsminister diesem Parlament diese Änderung gerade nicht vorgelegt hat,

(Bodo Löttgen [CDU]: Bitte?)

weil er nämlich davon ausgeht, dass die jetzige Auslegung ebenfalls verfassungskonform und auch angemessen ist.

(Bodo Löttgen [CDU]: Aber die Gesetzesvorlage haben Sie schon gelesen?)

Deswegen sollte es auch so bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ein zweiter Punkt – das hat der Kollege Kämmerling eben schon angesprochen – ist das Verhüllungsverbot. Ich hatte Herrn Dr. Kuhn gefragt, wie viele Fälle es gegeben hat. Herr Kämmerling hat es eben schon aufgeklärt: keine. Aber Herr Dr. Kuhn hat auch noch angefügt: Die Landesregierung sollte die Probleme lösen, die da sind, und nicht welche, die fiktiv im Raum stehen. – Das bedarf wohl keiner weiteren Kommentierung.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Was die Angemessenheit und Tonalität angeht, Herr Kollege Höne, zitiere ich aus der von Ihnen angesprochenen Aktuellen Stunde einmal das, was Sie dem Kollegen Zimkeit an den Kopf geworfen haben:

„Herr Kollege Zimkeit, wenn Sie intellektuell nicht in der Lage sind, Dinge auch mal voneinander zu abstrahieren und sich unterschiedliche Ebenen im Vergleich anzuschauen, dann klären Sie das doch bitte mit sich selbst und machen es nicht mit mir hier über die Zwischenrufe aus.“

Das ist der Stil, mit dem die FDP die ganze Zeit hier durch die Debatte geritten ist.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Worauf hatte der Kollege Zimkeit abgestellt? Der Kollege Zimkeit hatte nämlich auf Ihr Argument abgestellt, das Sie gebracht hatten. Sie hatten gesagt, wir müssten doch die Wahlen eines Landtagsabgeordneten und eines Bundestagsabgeordneten mit der Wahl von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vergleichen. Sie haben sich in Ihrem ersten und zweiten Redebeitrag zwölf Minuten lang nur auf dieses einzige Argument gestützt.

Was ist seitdem passiert? Herr Dr. Geerlings hat ja gesagt, Sie hätten gelernt. Tatsächlich haben Sie an dieser einen Stelle gelernt. Sie haben gelernt, dass Ihnen die Sachverständigen ins Stammbuch geschrieben haben: Das ist nicht vergleichbar, weil wir ein Verhältniswahlrecht haben.

Was der Kollege Höne an dieser Stelle gesagt hat, geht also völlig fehl.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

So viel zur intellektuellen Transferleistung, die der Kollege Höne in jener Sitzung an den Tag gelegt hat,

(Zurufe von der FDP: Oh!)

und die Herr Zimkeit ohne Sachverständigenanhörung vorher schon erbracht hat.

(Ralph Bombis [FDP]: Ich weine gleich!)

Ich will Ihnen auch noch sagen, was er inhaltlich vorgetragen hat. Es ist manchmal sehr schön, Plenarprotokolle durchzublättern. Da stellt man nämlich fest, dass Sie, Herr Kollege Höne – und es ist die FDP, die heute springen muss; das will ich an dieser Stelle einmal klar sagen –, gesagt haben: Wer als Rechtsstaatspartei das Wahlrecht einschränkt, ohne Argumente zu haben, muss das klar erklären. – Das ist nicht erklärt worden. Deswegen sind Sie hier auch am Zuge.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sie haben allen Ernstes behauptet, die Stichwahl sei im deutschen Wahlrecht die Ausnahme. Tatsächlich ist die Stichwahl im deutschen Wahlrecht Standard, was die Bürgermeisterinnen- und Bürgermeisterwahlen betrifft.

(Stefan Kämmerling [SPD]: So ist es!)

Aber Sie haben sich zu dem Vergleich hinreißen lassen, dass rund 7.669 Vertreterinnen und Vertreter mit relativer Mehrheit gewählt worden sind. Dabei stellen Sie auf die Ratsvertreterinnen und Ratsvertreter ab. Sie haben Äpfel mit Birnen verglichen. Das haben Sie mittlerweile eingesehen. Ihr Argument ist weg.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Insofern müssten Sie an dieser Stelle auch einmal Ihre Meinung ändern.

In diesem Zusammenhang kurz zur Chronologie des ganzen Verfahrens: Wir haben im letzten Jahr, im Mai 2018, einen Entwurf von Herrn Minister Reul bekommen, der ohne Stichwahl und ohne Änderung der Wahlkreise, aber mit Verhüllungsverbot – das will ich hier schon sagen – ins Rennen gegangen ist. Im Juni 2018 hat es dann den Parteitagsbeschluss der CDU gegeben. Im Juli 2018 hat die SPD-Fraktion angefragt: Wie sieht denn die Landesregierung die Frage der Stichwahl?

Daraufhin hat die Landesregierung ausgeführt: Wir sehen keinen Handlungsbedarf,

(Stefan Kämmerling [SPD]: Richtig! Stimmt! Genau! Ganz genau!)

und wir überlassen es den Fraktionen, das zu beurteilen. – Das ist der Stand der Landesregierung bis heute. Sie haben weder Fakten, noch Zahlen, noch inhaltliche verfassungsrechtliche Argumente geliefert, die es zwingend machen, diese Änderung vorzunehmen. Stand heute lehnt die Landesregierung diesen Punkt offensichtlich ab. Da müssen Sie sich einmal festlegen, Herr Minister Reul.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Sie müssen zuhören!)

– Sie können das ja richtigstellen, wenn ich es falsch dargestellt habe.

An dieser Stelle will ich noch auf die Zahlen eingehen, weil hier der eine Punkt massiv mit dem anderen Punkt verwechselt wird.

Es geht nicht – das hat der Sachverständige Wißmann in der Sachverständigenanhörung ausgeführt – insgesamt um die Wahlbeteiligung, sondern im Wesentlichen um die Frage: Mit wie vielen Stimmen ist die Hauptverwaltungsbeamtin bzw. der Hauptverwaltungsbeamte ins Amt gewählt worden?

Auf die Frage von Frau Düker, was zwischen 2011 und 2019 passiert ist, hat Herr Höne auf die Wahlen 2014/2015 hingewiesen. In 75 % der Fälle – ohne die Landratswahlen – hat die Bewerberin bzw. der Bewerber im zweiten Wahlgang einen höheren Stimmenanteil gehabt als im ersten Wahlgang.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU] – Gegenruf von Rainer Schmeltzer [SPD]: Prozentrechnen können Sie nicht, Herr Löttgen!)

Das ist die Wahrheit, die heute auf dem Tisch liegt.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Nehmen wir einmal den kreisangehörigen Raum. In einem Drittel der Fälle, in denen Stichwahlen stattgefunden haben, haben die Kandidaten im zweiten Wahlgang nicht nur einen höheren Stimmenanteil als im ersten Wahlgang gehabt, sondern es hat sogar die Mehrheit gewechselt.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Das heißt auf Deutsch: Diese Stichwahl ist so gut wie nie zuvor. Sie führt dazu, dass im jeweiligen Fall nicht die falsche Kandidatin bzw. der falsche Kandidat zum Stadtoberhaupt gewählt wird.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Lassen Sie mich zum Schluss – denn die Redezeit geht dem Ende zu – noch zwei Argumente nennen, die ganz wichtig sind.

Sie haben doch gar keinen Versuch unternommen, andere Mittel zu verwenden. Sie haben gar nicht versucht, für die Wahlrechtsbeschränkung anderweitig Abhilfe zu schaffen. Was ist mit der Idee, die Bürgermeisterwahl, die Personenwahl, zwei Wochen vor der verbundenen Ratswahl durchzuführen?

Wenn es Ihnen allein um die höhere Wahlbeteiligung ginge, würden Sie feststellen, dass bei der verbundenen Wahl natürlich mehr Menschen zur Wahl gingen und ein höheres Abstimmungsergebnis zustande käme. Im Jahr 1994 haben mehr als 80 % der Wahlberechtigten an der Kommunalwahl teilgenommen, weil die Bundestagswahl am selben Tag stattgefunden hat.

Ich kann Ihnen nur sagen: Es geht Ihnen nicht um eine höhere Wahlbeteiligung. Ihnen geht es darum, das, was Sie sich einmal in den Kopf gesetzt haben, durchzusetzen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Das werden wir in Münster sehr klar zur Sprache bringen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sie haben es nicht geschafft, hier einen politischen Diskurs darüber zu führen, warum Menschen vielleicht anders abstimmen. Ich habe an den Zahlen deutlich gemacht, dass es auch eine aktive Wahlenthaltung geben kann. Die Menschen haben nicht deshalb nicht am zweiten Wahlgang teilgenommen, weil sie keine Lust hatten, sondern, weil sie den Kandidaten oder die Kandidatin nicht wählen wollten. Trotzdem hat in den allermeisten Fällen – in 75 % der Fälle, wenn man alles zusammennimmt, oder in 65 % der Fälle – der Kandidat bzw. die Kandidatin gewonnen, der bzw. die in allen Wahlgängen mehr Stimmen hatte.

Das ist die Wahrheit, und darüber reden wir heute. Es gibt überhaupt keinen Grund, die Stichwahl abzuschaffen – außer, einen CDU-Parteitagsbeschluss durchzusetzen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die AfD spricht nun der Abgeordnete Tritschler.

Sven Werner Tritschler (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Bananenrepubliken mit klangvollen Namen wie Panama, Papua-Neuguinea oder Paraguay ist es gelebte Tradition, dass sich derjenige, der gerade an der Macht ist, ein Wahlrecht schreibt, das diesen Zustand möglichst lange erhalten soll.

Gewachsene und stabile Demokratien hingegen ändern ihr Wahlrecht äußerst sparsam – und wenn, dann zumeist mit großen Mehrheiten. Gemessen daran – und leider nicht nur daran – ist unser Bundesland offenbar im demokratiepolitischen Rückwärtsgang. Auch wenn man es nach den Redebeiträgen nicht hätte meinen können: Das schmutzige Spielchen spielen leider alle Altparteien.

In der letzten Legislaturperiode hat sich eine ganz große Koalition aus SPD, CDU und Grünen erst einmal selbst bedient, die Verfassung gebrochen und eine Sperrklausel für Kommunalvertretungen eingeführt. Dafür haben Sie sich eine kräftige Klatsche beim Verfassungsgericht geholt.

Jetzt kommen Sie, nachdem Sie unseren Antrag dazu abgelehnt hatten, den Maßgaben des Gerichts nach. Weil das Gericht Bezirksvertretungen und die RVR-Versammlung nicht nennt, setzen Sie dieses unwürdige Verhalten in diesen beiden Fällen sogar noch fort. Das zeugt nicht nur von einem fragwürdigen Demokratieverständnis. Es ist bei den Bezirksvertretungen auch noch völlig sinnfrei; denn aufgrund ihrer Größe braucht ein Wahlvorschlag ohnehin mindestens ca. 5 %, um zum Zuge zu kommen.

Aber weil SPD und Grüne bei diesem Selbstbedienungsgeschäft Komplizen sind, hört man natürlich keine Beschwerden dagegen. Schaut man auf Ihren Änderungsantrag, ist es Ihnen vielmehr wichtig, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, dass man jetzt auch mit einer Burka Wahlhelfer sein darf. Angesichts Ihrer Zuwanderungspolitik ist das natürlich konsequent.

Ganz schlimm ist für Sie offenbar auch, dass Wahlkreise zukünftig nach der Wählerzahl bemessen werden, wie das auch bei allen anderen Wahlen üblich ist. Ihrer Meinung nach sollen Nichtwahlberechtigte mitgezählt werden, also Ausländer ohne EU-Pass.

Auch hier sind bemerkenswerte Prioritäten festzustellen. Im Kölner Rat haben das Ihre Genossen übrigens deshalb befürwortet, weil es – Zitat – in solchen Vierteln besonders viele Probleme gebe. Das ist wenigstens ehrlich. Wenn das einer von uns gesagt hätte, könnte ich das Ende der Lichterkette wahrscheinlich nicht mehr sehen.

Aber, meine Damen und Herren von Rot-Grün, was Sie hier wollen, ist nichts anderes als eine versteckte Repräsentanz für Nicht-EU-Ausländer. Dann machen Sie sich doch ehrlich und beantragen das gleich. Beantragen Sie ein Wahlrecht für Ausländer.

(Michael Hübner [SPD]: Das haben wir auch schon gehabt!)

Es steht ohnehin schon in Ihrem Programm. Ich freue mich auf die Debatte.

CDU und FDP nehmen diese Änderung jetzt natürlich nicht uneigennützig vor. Aber an dieser Stelle sehen wir kein Problem. Im Gegenteil!

Schließlich haben wir noch das große Thema „Abschaffung der Stichwahl“. Da braucht man keinen Rechenschieber, um die Beweggründe der CDU zu erkennen. Nach der jüngsten Umfrage liegt sie im Landesschnitt etwa 7 Prozentpunkte vor der SPD, ist also die sogenannte Volkspartei mit der deutlich höheren Bindungskraft.

Wenn jetzt schon eine relative Mehrheit ausreicht, um Bürgermeister oder Landrat zu werden, kann sich die CDU natürlich ausrechnen, dass sie besonders viele Rathäuser einnehmen wird. In Köln hat die CDU sicherheitshalber auch noch einen Demoskopen befragt. Sogar dort liegen Sie inzwischen vor der Konkursmasse der Sozialdemokratie.

Da braucht man eben nicht mehr viel Fantasie, um zu erkennen, warum die CDU das unbedingt haben will, und warum die SPD das unbedingt verhindern will: reines Eigeninteresse. Die FDP mosert ein bisschen herum, macht aber mit. Die Grünen sorgen sich um ihre Rolle als Mehrheitsbeschaffer und sind natürlich dagegen.

So viel zur profanen Realität, die Sie hinter großen Worten wie Demokratie, Verfassung und Rechtsstaat zu verbergen suchen! Wenn es Ihnen um die Demokratie ginge, wenn es also der SPD wirklich darum ginge, keinen Bürgermeister im ersten Wahlgang zu bekommen, der nur eine relative Mehrheit auf sich vereinen konnte, und wenn es der CDU wirklich darum ginge, keinen Bürgermeister im zweiten Wahlgang zu bekommen, an dem kaum jemand teilnimmt, dann wären Sie unserem Kompromissvorschlag gefolgt.

Wir haben im Ausschuss vorgeschlagen, den ersten und den zweiten Wahlgang zusammenzufassen. Eine Möglichkeit, das zu tun, wäre beispielsweise das Verfahren der übertragbaren Einzelstimmgebung, bei dem der Wähler die Kandidaten nicht ankreuzt, sondern ihnen in absteigender Reihenfolge seiner Präferenz eine Ziffer zuweist. In Nichtbananenrepubliken wie Irland, Australien, Malta, Neuseeland oder Schottland ist das schon bewährte Praxis.

Wenn Sie im Gegensatz zu mir unsere Wähler für nicht klug genug halten, so etwas anzuwenden, hätten Sie auch das Verfahren der Zustimmungswahl nehmen können. Das befürwortet zum Beispiel Mehr Demokratie e. V. Hier darf der Wähler so viele Kandidaten ankreuzen, wie er möchte.

Ganz egal, welches dieser Verfahren man anwendet: Eine Stichwahl wird überflüssig, und der am Ende gewählte Kandidat hat eine große Mehrheit hinter sich. Das vermeintliche Problem der Regierungskoalition wäre gelöst, das vermeintliche Problem der Linksopposition ebenfalls.

Dass sich weder die eine noch die andere Seite ernsthaft mit unserem Vorschlag oder meinetwegen dem Vorschlag von Mehr Demokratie e. V. auseinandersetzen wollte, zeigt aber, dass es mal wieder nur um eines geht: um Beute.

Machen Sie sich selbst die Hände schmutzig, meine Damen und Herren. Meine Fraktion wird weder dem Koalitionsantrag noch dem Änderungsantrag zustimmen.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Reul das Wort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Die Landesregierung begrüßt, dass wir heute ein Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes und weiterer wahlrechtlicher Vorschriften beschließen werden, und zwar in Form der Beschlussempfehlung des dafür zuständigen Ausschusses. Damit wird das Kommunalwahlgesetz für die im Herbst 2020 anstehende Kommunalwahl in angemessener Weise aktualisiert und ergänzt.

Lassen Sie mich auf einige wichtige Anliegen dieses Regierungsentwurfs stichwortartig eingehen: Wiedereröffnung der Option zur Verringerung der Mandatszahl in Räten und Kreistagen, Wahltermin auch im vorletzten Monat der laufenden Wahlperiode, frühere Stichtage für das Wählerverzeichnis und die Einreichung und Zulassung von Wahlvorschlägen zur Optimierung der Briefwahl, Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Sperrklausel.

Schließlich ist zu nennen die Verankerung der Direktwahl der Verbandsversammlung des Regionalverbands Ruhr auch im Kommunalwahlgesetz; sie erfordert umfangreiche Regelungen und ist daher Gegenstand des vollständig neuen Abschnittes im Gesetz.

(Christian Dahm [SPD]: Dem haben wir zugestimmt! – Stefan Kämmerling [SPD]: Alles zustimmungsfähig!)

Uns allen ist bewusst, dass sich die politische Diskussion im Grunde auf zwei Themen fokussiert. Beide waren Gegenstand eines Änderungsantrags von CDU und FDP im November des letzten Jahres. Danach soll Maßstab für die Einteilung von Wahlbezirken nicht mehr die gesamte Bevölkerung einer Gemeinde oder eines Kreises sein, sondern die Zahl der Einwohner mit deutscher Staatsangehörigkeit oder der Staatsangehörigkeit eines anderen EU-Mitgliedslandes. Vor allen Dingen war im Antrag die erneute Abschaffung der Stichwahl vorgesehen.

Beide Änderungen finden sich in der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses wieder, nachdem sie – das ist demokratischer parlamentarischer Brauch – in den Ausschüssen mehrfach und kontrovers diskutiert worden sind.

Die Landesregierung sieht in der Anpassung des Maßstabes – um zum ersten Punkt zu kommen – für die Wahlbezirkseinteilung eine Klarstellung der Rechtslage, die sich bisher im Wege der Auslegung ergab. Bei der Mehrheitswahl der Direktkandidaten im Wahlbezirk von Gemeinde oder Kreis erfordert der Grundsatz der Gleichheit der Wahl zwei Dinge: erstens eine möglichst gleiche Stimmkraft aller Wahlberechtigten und zweitens die Chancengleichheit für die Bewerber, in allen Wahlbezirken mit einer ähnlich großen Anzahl gültiger Stimmen ein Mandat erringen zu können.

Beides setzt annähernd gleich große Wahlbezirke voraus, die sich auf der Basis der deutschen Einwohner und der Einwohner mit der Staatsangehörigkeit eines anderen EU-Mitgliedstaates bilden lassen. Abgesehen von Alter und Wohnort handelt es sich dabei um das wesentliche Kriterium für die Zuerkennung des aktiven und passiven Kommunalwahlrechts.

Demgegenüber wird die Bezugnahme auf die Gesamtbevölkerung problematisch, wenn sich nicht wahlberechtigte Drittstaatler ungleichmäßig im Gemeinde- oder Kreisgebiet verteilen und dies Auswirkungen auf die Wahlbezirkseinteilung hat. Hierzu genügt übrigens bereits eine verstärkte Wohnsitznahme von Drittstaatlern in bestimmten Stadtteilen oder auch eine größere Flüchtlingsunterkunft im Gemeindegebiet.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Gut, dass man sich um die nicht kümmern muss!)

Weil das in der Realität nicht selten ist, macht die entsprechende Änderung des § 4 Abs. 2 Kommunalwahlgesetz Sinn. – Das ist das Erste.

Zweitens. Über das Für und Wider einer Abschaffung der Stichwahl hat das Plenum – ich glaube, zum ersten Mal aufgrund eines Antrags der SPD-Fraktion – im November des letzten Jahres diskutiert. Auch die Sachverständigenanhörung zum Gesetzentwurf des Ausschusses für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen am 15. Februar 2019 und die Auswertung am 15. März 2019 waren von dieser Debatte geprägt. Das ist auch nachvollziehbar.

In der Folge haben die Fraktionen CDU und FDP die Begründung zur Abschaffung der Stichwahl in ihrem dritten Änderungsantrag vom 2. April 2019 erweitert und durch umfangreiches Datenmaterial aus den vergangenen Wahlen ergänzt.

(Christian Dahm [SPD]: Ein Begründungsversuch!)

Schließlich soll die Abschaffung der Stichwahl erst zum 1. September 2019 in Kraft treten, sodass die Änderung in der Praxis erst bei der Kommunalwahl im Herbst 2020 greifen wird. Die Bürgermeisterwahlen in Stolberg und Lage am 26. Mai 2019 werden davon nicht tangiert.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Das wäre ja noch schöner!)

Die Landesregierung vertritt die Auffassung, dass die Abschaffung der Stichwahl verfassungskonform möglich ist. Das heißt nicht, dass man sie machen muss; aber es ist erlaubt.

Zunächst sei der Hinweis gestattet, dass auch bei der Wahl von Rats- und Kreistagsmitgliedern in den Wahlbezirken seit jeher die relative Stimmenmehrheit in einem Wahlgang genügt, ebenso wie bei der Wahl von Landtags- oder Bundestagsabgeordneten.

(Zurufe von der SPD)

Präsident André Kuper: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Mostofizadeh?

Herbert Reul, Minister des Innern: Nein, ich rede durch. – Abgesehen davon zeigt das in der parlamentarischen Beratung beigezogene Datenmaterial, dass die Stichwahl keinen relevanten Zuwachs an demokratischer Legitimation bedeutet. An dieser Stelle müssen wenige Zahlen genügen. Das ist ja alles rauf und runter diskutiert worden. Ich nenne trotzdem einige Zahlen.

(Stefan Kämmerling [SPD]: Aber nicht von Ihnen! Sie waren kein einziges Mal anwesend!)

– Da haben Sie recht. Ich kann nicht überall gleichzeitig sein.

(Christian Dahm [SPD]: Aber Sie sind der Verfassungsminister! – Stefan Kämmerling [SPD]: Wer ist denn Verfassungsminister?)

– Das Ministerium war immer ausreichend vertreten, und zwar in Person des Staatssekretärs. Wenn Ihnen das nicht genügt, dann sagen Sie es einmal. Das ist doch albern. Wer da sitzt, ist doch nicht entscheidend für die Frage, was man politisch will.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es geht hier um einen handfesten politischen Unterschied. Das ist auch legitim. Aber machen Sie doch nicht solche Nebendebatten darüber auf, wer wo gesessen hat.

Ich möchte einige Zahlen vortragen.

Erstens. Bei der letzten Wahl von Landräten und Bürgermeistern ohne Stichwahl im Jahr 2009 hatte nur ein geringer Teil der Gewählten, nämlich 32 von 406, also 8 %, ein Ergebnis von weniger als 40 % vorzuweisen. Mehr als 92 % der erfolgreichen Bewerber konnten auch ohne Stichwahl einen höheren Stimmanteil für sich verbuchen.

Zweitens. Die Zahl durchgeführter Stichwahlen ist rückläufig: 1999 noch 131 Stichwahlen, 2004 noch 112 Stichwahlen.

Drittens. In den Jahren 2011 bis 2015 hat es lediglich in 98 von 426 Fällen, also nur bei 23 % aller Bürgermeister- und Landratswahlen, eine Stichwahl gegeben. Bei 75 dieser Stichwahlen – das ist ein Anteil von knapp 77 % – haben Bewerberinnen und Bewerber gewonnen, die bereits bei der Hauptwahl die Mehrheit der Stimmen errungen hatten.

Viertens. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung bei den Stichwahlen betrug zuletzt nur noch 31,5 %.

In dieser Gesamtschau wird deutlich, dass die Bedeutung für die Legitimation der Gewählten nicht überschätzt werden sollte und zudem weiter abnimmt.

Bei gut drei Vierteln aller Wahlen im Beobachtungszeitraum 2011 bis 2015 hat überhaupt keine Stichwahl stattgefunden. In den restlichen Fällen haben durchschnittlich mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht keinen Gebrauch gemacht. Das mag man bedauern; aber es ist Fakt.

Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass die Wahlen von kommunalen Vertretungen, Bürgermeistern und Landräten – von Ausnahmen abgesehen – künftig wieder gleichzeitig stattfinden werden. Dies sollte – das hoffen wir alle – zu einer höheren Wahlbeteiligung und damit zu mehr demokratischer Legitimation auch für Hauptverwaltungsbeamtinnen und ‑beamte beitragen.

(Zuruf von Michael Hübner [SPD])

Deswegen bleibt die Landesregierung bei ihrer Einschätzung, dass die geplanten Änderungen, die jetzt im Parlament beschlossen werden, in Übereinstimmung mit der Verfassung und demokratiekonform sind.

Gestatten Sie mir einen letzten Satz. Dass Parlamentarier sich darüber aufregen, dass ein Gesetzentwurf der Landesregierung von den Parlamentariern im Parlamentsverfahren geändert wird, überrascht mich ein wenig. – Danke.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Es gibt eine Kurzintervention aus den Reihen der Grünen. Der Kollege Mostofizadeh ist angemeldet und hat jetzt das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Minister Reul, ich bin schon einigermaßen erstaunt über Ihren Auftritt. Wenn Sie uns allen Ernstes vorwerfen, irgendjemand hätte hier in der Debatte gesagt, wir seien erstaunt darüber, dass es einen Änderungsantrag gibt, dann ist das eine Verdrehung der Tatsachen.

Sie haben es in dem Verfahren bisher abgelehnt, ausführlich mit Zahlen und Fakten Stellung zu der Frage zu nehmen, aus welchem Grund es verfassungsmäßig geboten ist, diese Änderung des Wahlgesetzes vorzunehmen.

Sie haben auch in der Aktuellen Stunde vom 16.11.2018, wie dem Plenarprotokoll zu entnehmen ist, wörtlich ausgeführt, eine Auswertung der Kommunalwahlen von 2014 und 2015 zeige, dass es in der Mehrzahl der Fälle zu einer geringen Wahlbeteiligung gekommen sei.

Herr Minister Reul, das Gegenteil ist der Fall. Sie setzen sich nicht damit auseinander.

(Beifall von Horst Becker [GRÜNE])

Tatsächlich ist es folgendermaßen gewesen: In den kreisangehörigen Gemeinden hatte in allen Fällen, die untersucht worden sind, derjenige, der in der Stichwahl gesiegt hat, mehr Stimmen als der Kandidat im ersten Wahlgang. In einem Drittel der Fälle ist der unterlegene Kandidat der siegreiche Kandidat geworden.

Herr Verfassungsminister Reul, Sie drücken sich auch heute vor einer systematischen verfassungsrechtlichen Beurteilung des Vorgangs. Das wird in Münster sicherlich von Interesse sein. Aber dass Sie dem Parlament vorwerfen, hier nicht vernünftig zu arbeiten, finde ich schon ein starkes Stück.

Kollege Becker und ich haben eine Kleine Anfrage an Ihr Haus gerichtet. Da haben Sie die Zahlen geliefert und keine Auswertung gemacht. Im Ausschuss wurde gesagt, das Ministerium nehme keine Auswertung vor, um die Zahlen nicht zu verkürzen.

Präsident André Kuper: Die Redezeit, bitte.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Das, Herr Minister Reul, ist das Ziel Ihres Hauses. Das finden wir nicht in Ordnung.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Herr Minister, Sie haben jetzt das Wort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Danke sehr. – Erstens. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zeigen würden, wo ich gesagt hätte, dass das Parlament nicht ordentlich gearbeitet habe. Das habe ich heute hier nicht gesagt. Da müssen Sie auf einem anderen Stern gewesen sein.

Zweitens. Ich habe dem Parlament und Ihnen auch nicht vorgeworfen, dass Sie hier keine Änderungsanträge gestellt hätten. Ich habe nur gesagt: Ich verstehe nicht, dass sich Parlamentarier darüber aufregen, wenn das Parlament einen Gesetzentwurf der Landesregierung ändert. – Das ist Ihr Recht. Das dürfen Sie. Insofern habe ich die Aufregung nicht verstanden – sonst gar nichts.

(Zuruf von Rainer Schmeltzer [SPD])

Drittens. Ich habe überhaupt nicht gesagt, dass das verfassungsmäßig geboten sei. Ab und zu muss man die Ohren mal aufmachen. Entschuldigung, dass ich das sage.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Eine Frechheit!)

Ich habe gesagt, dass das möglich ist. Das waren meine Worte. Es ist eine politische Entscheidung, ob man es macht oder nicht macht. Aber verfassungsgemäß ist es. – Danke.

(Beifall von der CDU und der FDP – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das, was Sie sagen, ist schlicht falsch!)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächstem Redner erteile ich für die Fraktion der SPD dem Kollegen Körfges das Wort.

Hans-Willi Körfges (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahlrecht ist das Betriebssystem der Demokratie. Wenn man das Wahlverhalten beobachtet und aufgreift, kann es gelegentlich zu Änderungen am Wahlrecht kommen, die Sinn machen. Ich erinnere an Debatten, die zum Beispiel im Deutschen Bundestag stattgefunden haben.

Nur, wer ohne Anlass und ohne Grund an unserem Wahlrecht herumfummelt und herumbastelt, der gefährdet die demokratische Legitimation und die politische Glaubwürdigkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Kollege Höne hat eben darauf hingewiesen, dass man durch Anhörungen schlauer wird. Ich sage einmal ganz vorsichtig: Das gilt offensichtlich nur für einen Teil des Hauses und für Kabinettsmitglieder überhaupt nicht.

Herr Minister Reul, wer sich als Verfassungsminister nach dieser Anhörung mit den eindeutigen Aussagen zu verfehlten Vergleichen zwischen Bundestags-, Landtags-, Kommunalwahlen hier hinstellt und diese Vergleiche, die allen Sachverständigengutachten zuwiderlaufen, wiederholt, der ist nicht nur nicht schlauer geworden, sondern der geht ziemlich dreist mit dem um, was in den Anhörungen gesagt worden ist.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Respekt und Chapeau, dass zumindest der Minister – deshalb war Ihr Auftritt für uns doch lohnend – auf die am 02.04.2019 vorgenommene Änderung hingewiesen hat! Wir haben uns nicht über die Änderungsanträge, die im November 2018 gekommen sind, aufgeregt.

Am 02.04.2019 haben Sie die Freundlichkeit gehabt, erstmals den Versuch zu unternehmen, das, was Sie da vorhaben, inhaltlich zu begründen. Als wir dann als Parlamentarier mit dem guten Recht der Opposition gesagt haben, dass es, wenn das eine erstmalige vernünftige Begründung sei, pflichtig einer Anhörung bedürfe, haben Sie das niedergestimmt.

(Stefan Kämmerling [SPD]: So war das, genau so!)

So viel zu Ihrem Verhältnis zur Demokratie und zur kommunalen Selbstverwaltung.

(Beifall von der SPD)

Denn wir hätten gerne die Sachverständigen gefragt, die beim ersten Mal Ihren Entwurf bzw. Ihren Änderungsantrag verrissen haben, und zwar alle juristischen Sachverständigen. Die Professoren Baetge, Morlok und Wißmann haben unisono gesagt, dies sei verfassungsrechtlich bedenklich und beinhalte ein Demokratieproblem.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben Sie gemacht? Sie haben sich sechseinhalb Wochen lang schriftstellerisch betätigt, uns das Ergebnis drei Tage vor der Ausschusssitzung vor die Füße geworfen und dann verhindert, dass wir es den Sachverständigen noch einmal vorlegen. So geht man mit den Rechten des Parlaments nicht um.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Zur Einteilung der Wahlkreise: Was da gemacht wird, entbehrt jeder Notwendigkeit. Verfassungsrechtlich ist das nicht notwendig! Herr Schellen hat uns im Ausschuss – gut, dass ein Fachmann da war und nicht der Minister – sehr deutlich gesagt, dass es keinen einzigen Fall in Nordrhein-Westfalen gibt, der ihm bekannt sei.

(Zurufe von der CDU)

– Ich merke, dass Ihnen das wehtut. Aber fehlende Sachkunde muss hier auch einmal angemerkt werden dürfen.

(Beifall von der SPD)

Es gibt in ganz Nordrhein-Westfalen nicht einen einzigen Fall, den Sie vortragen können, in dem anzunehmen wäre, dass unsere Kommunen die Wahlkreise nicht verfassungskonform gebildet hätten.

Das, was Sie wollen, hat eine ganz andere Motivation. Sie drehen aus parteiegoistischen Gründen auch an dieser Stelle am Wahlrecht.

(Beifall von der SPD)

Zur Stichwahl: Wenn ich die Notwendigkeit der Stichwahl hätte begründen wollen, dann hätte ich Teile aus der Begründung des Antrags von CDU und FDP genommen. Es ist mehrfach gesagt worden: Die Legitimation eines Hauptverwaltungsbeamten, der einem Rat gegenübersteht, ist bescheiden, wenn sie nur auf einer Basis von 20 % bis 30 % beruht.

Wenn im zweiten Wahlgang in Stichwahlen – gerade in Großstädten – Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister und auch die Gegenbewerberinnen und Gegenbewerber mehr Stimmen bekommen als im ersten Wahlgang,

(Bodo Löttgen [CDU]: In keinem einzigen Fall!)

dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass die Stichwahl gut und notwendig ist.

(Beifall von der SPD, Monika Düker [GRÜNE] und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Alle anderen Bundesländer sehen das so, und auch die CDU wählt ihre Bundesvorsitzende wie selbstverständlich im zweiten Wahlgang in der Stichwahl. Sie wollen den Bürgerinnen und Bürgern Rechte nehmen, die Sie für sich selber selbstverständlich in Anspruch nehmen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Eine offene Frage habe ich noch: Die FDP hat sich bei der Angelegenheit in den letzten zehn Jahren erheblich bewegt – mal so und mal so.

(Marlies Stotz [SPD]: Mal hü und mal hott!)

Meine Damen und Herren, sachlich haben Sie nichts beigetragen. Mich interessiert: Was haben Sie dafür bekommen, dass es da eine solche inhaltliche Wendung gibt?

(Beifall von der SPD – Zurufe von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Herr Kollege, die Redezeit.

Hans-Willi Körfges (SPD): Ich erlaube mir, insbesondere wegen der fragenden Blicke auf der FDP-Seite und einiger Zwischenrufe, die ich zur Kenntnis nehme, einen kleinen Hinweis: Wer innerhalb von zehn Jahren seine Meinung zum Thema „Stichwahl“ dreimal ändert, der kann als Fraktion sicherlich bei der Echternacher Springprozession mitmachen, der hat aber jedes Recht darauf verloren, in dieser Frage ein ernst zu nehmender Diskussionspartner zu sein.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Herr Kollege, die Redezeit ist um 45 Sekunden überschritten. Letzter Satz, und dann schreite ich ein.

(Zuruf von der CDU)

Hans-Willi Körfges (SPD): Ich komme zum Ende. – Nicht alles, was die CDU für ihr Parteiinteresse hält, dient der Demokratie, und nicht alles, was Sie mit Mehrheit beschließen, ist automatisch verfassungsgemäß.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Und das von einem Sozialdemokraten!)

Meine Damen und Herren, wir werden das überprüfen lassen. Ich freue mich jetzt schon auf die Auseinandersetzung vor dem Verfassungsgerichtshof. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe daher die Aussprache.

Ich darf vor den Abstimmungen darauf hinweisen, dass die Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen eine dritte Lesung des Gesetzentwurfs beantragt haben.

Wir stimmen jetzt also in zweiter Lesung über den Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Grünen und die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen ab.

Wir kommen zu den Abstimmungen, erstens über den Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/5712. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Das sind SPD und Grüne. Wer ist dagegen? – Das sind CDU, FDP, AfD und die beiden fraktionslosen Abgeordneten Neppe und Langguth. Wer enthält sich? – Damit ist der Änderungsantrag Drucksache 17/5712 mehrheitlich abgelehnt.

Wir stimmen zweitens ab über die Beschlussempfehlung Drucksache 17/5666. Der Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen empfiehlt in Drucksache 17/5666, den Gesetzentwurf Drucksache 17/3776 in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses anzunehmen. Wir kommen somit zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung Drucksache 17/5666 und nicht über den Gesetzentwurf. Dies ist die Abstimmung in der zweiten Lesung. Da eine dritte Lesung erfolgen wird, handelt es sich nicht um eine Schlussabstimmung.

Wer möchte diesem Beschluss folgen? – Das sind CDU, FDP und die beiden fraktionslosen Abgeordneten Neppe und Langguth. Wer ist dagegen? – Das sind SPD, FDP und AfD. Gibt es Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf Drucksache 17/3776 in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses in zweiter Lesung angenommen.

Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben Rücküberweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/3776 an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen zur Vorbereitung der dritten Lesung gemäß § 78 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung beantragt. Über diesen Antrag lasse ich jetzt abstimmen. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind SPD, Grüne und die AfD. Wer ist dagegen? – Das sind CDU, FDP und die beiden fraktionslosen Abgeordneten.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Gibt es Enthaltungen? – Damit ist dieser Antrag auf Rücküberweisung abgelehnt.

Die Fraktionen haben sich bereits darauf verständigt, die dritte Lesung am morgigen Donnerstag, dem 11. April 2019, als Tagesordnungspunkt 6 durchzuführen. Wir werden morgen vor Eintritt in die Tagesordnung entsprechend beschließen.

Ich rufe auf:

 

 

4   Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum Behördenskandal im Zusammenhang mit dem publik gewordenen langjährigen und vielfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde („PUA Lügde“)

Antrag
der Abgeordneten
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5635

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellende Fraktion der AfD Herrn Abgeordneten Wagner das Wort. Bitte.

(Unruhe – Glocke)

Markus Wagner (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die widerlichen kriminellen Akte und das Versagen des Staates im ostwestfälischen Lügde machen in ihrem schrecklichen Ausmaß fassungslos.

Ein bestialisches Verbrechen paart sich mit einem unglaublichen Fehlverhalten von Polizei und Jugendamt. Es verquicken sich individuelle Schuld einzelner Täter und strukturelle Defizite, für die der Staat die Verantwortung trägt.

Ein kleines Mädchen wird von staatlicher Seite dem auf einem Campingplatz lebenden, alleinstehenden, arbeitslosen und einschlägig belasteten Andreas V. in Obhut gegeben. Man muss wohl besser sagen: Das Mädchen wurde ihm ausgeliefert. Aber er konnte das Mädchen nicht nur wegen des Wegsehens einzelner Polizisten und Jugendamtsmitarbeiter missbrauchen, sondern kam über sie und ihren Freundeskreis an weitere Opfer.

Weit über tausend Mal wurden Kinder sexuell missbraucht, weit über tausend Mal wurde sich an ihnen und ihren Seelen vergangen. Tausende von Kinderpornos wurden angefertigt, wieder und wieder. Niemand half, keiner sah wirklich hin. Und das Schlimmste: Es war staatliches Versagen, das zu diesem Ausmaß des Grauens geführt hat. Mindestens 40 Opfer erlitten dabei größtes Unrecht.

Es ist an der Zeit, dass die politische Klasse Nordrhein-Westfalens sich ihrer politischen und moralischen Mitverantwortung stellt.

(Beifall von der AfD)

Gegen acht Tatverdächtige wird bis dato ermittelt. Deren individuelle Schuld festzustellen, ist natürlich Sache des Gerichts; so wie es die natürliche Aufgabe des Parlaments ist, in einem Untersuchungsausschuss die politischen Konsequenzen aus diesem Fall zu ziehen. Aber – und das ist schon bitter – nur eine Fraktion im Landtag beantragt den dringend nötigen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, nur die AfD.

Dabei stellen sich zahlreiche Fragen, zum Beispiel: Wie kann es angehen, dass ein kleines Mädchen überhaupt dort untergebracht wurde? Wie ist es möglich, dass Anzeigen und Hinweise wegen sexuellen Missbrauchs nicht bearbeitet wurden, dass Akten gefälscht und geschönt werden konnten, dass Beweismittel nicht gesichert wurden, das Asservate abhandengekommen sind, dass womöglich strafrechtlich relevantes Verhalten von Staatsbediensteten vorliegt?

All das wurde begünstigt durch ein Chaos von Zuständigkeiten. Nirgendwo gab es eine richtige Aufsicht, Kontrolle oder Sanktionen – nicht durch den Landrat, nicht durch die übergeordneten Behörden, nicht durch die Minister. All das konnte ohne deren Wissen im Dickicht unzureichender Strukturen gedeihen.

Wie viele Taten hätten verhindert werden können, wenn es ordentliche Standards, funktionierende Kontrollen und Durchgriffsmöglichkeiten gäbe? Was hätte bei einer adäquateren Ausstattung mit Personal, Finanzen und Sachmitteln besser laufen können?

Das alles muss durchleuchtet, ermittelt und analysiert werden. Und das – Sie wissen es selbst am besten, meine Damen und Herren – kann einzig und allein durch das Instrument eines PUA, eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, geleistet werden.

(Beifall von der AfD)

So müsste man doch eigentlich erwarten, dass aus den Reihen von CDU, FDP, besonders aber von Rot-Grün hier und heute ein solcher Antrag vorliegt. Aber: Fehlanzeige!

In den letzten Monaten haben Sie zwei PUAs beantragt und genehmigt bekommen, den einen für einen Flüchtling, der unter ungeklärten Umständen in seiner Zelle verbrannte – diesem Antrag haben wir auch zugestimmt –, den anderen, weil die ehemalige Landwirtschaftsministerin Probleme bei der Bedienung ihres privaten Fernsehers hatte. In beiden Fällen konnte es Ihnen gar nicht schnell genug gehen. Aber bei über tausend Missbrauchsfällen – wie gesagt: Fehlanzeige!

Den Antrag auf Einsetzung haben wir jetzt auf den Tisch gelegt. Er ist umfangreich, er ist strukturiert, er bietet eine perfekte Grundlage für die Konstituierung, und trotzdem haben wir ihn so formuliert, dass der Auftrag des Ausschusses jederzeit erweiterbar ist. Natürlich sind Änderungsanträge aus Ihren Reihen jederzeit willkommen. Aber offensichtlich hatten Sie dazu keine Lust.

70 Jahre lang haben Schwarz, Rot, Gelb und Grün diese defizitären Strukturen geschaffen. Und nun soll es statt echter parlamentarischer Aufklärung lieber Kommissionen und Arbeitskreise geben, ohne Zeugenbefragungsrecht und ohne jede Ermittlungskompetenz.

Lassen Sie doch wenigstens ein einziges Mal in dieser Legislaturperiode die parteipolitische Pseudotaktiererei sein. Wir agieren hier als Repräsentanten unserer Wähler. Als Volksvertreter zeigen wir gemeinsam, dass das Parlament seinem Anspruch gerecht wird und diesen Fall, so wie es sich gehört, in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufklärt.

Zeigen wir, dass der ohrenbetäubende Weckruf aus Lügde, die strukturellen Probleme bei Jugendamt und Polizei zu lösen, uns alle erreicht hat. Erweisen wir den Opfern und ihren Angehörigen den ihnen gebührenden Respekt.

Wer jetzt nicht endlich alles dafür tun will, dass wir umgehend damit beginnen, das Staatsversagen zu analysieren und abzustellen, der versündigt sich an den nächsten Opfern. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der CDU hat der Abgeordnete Sieveke das Wort.

Daniel Sieveke (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion hat zur heutigen Sitzung den vorliegenden Antrag gestellt und sieht gemäß Antragstext den Bedarf – ich zitiere – „einer umfassenden politischen und parlamentarischen Aufarbeitung dieses Missbrauchsskandals“ auch „jenseits der juristischen Bearbeitung, Klärung und Aburteilung der einzelnen Straftaten“. Herr Kollege Wagner hat die Sichtweise seiner Fraktion gerade erläutert.

Mir ist es an dieser Stelle auch persönlich sehr wichtig, zu betonen, dass wir in diesem Hohen Hause zuallererst – wirklich zuallererst – an der Seite der Opfer und ihrer Angehörigen stehen. Wir alle sind erschüttert; da spreche ich sicherlich im Sinne aller Kolleginnen und Kollegen, gerade der aus dem Innen- und Rechtsausschuss.

Die momentan weiterhin sehr intensiv fortschreitende Aufklärung, die Informierung durch den Innenminister, die Beratung im Ganzen bewegt nicht nur die Mütter und Väter unter uns emotional, sondern hat wirklich jeden mehr als nur erschreckt und traurig gemacht.

Allerdings begrenzen Sie mit der Namensgebung, der inhaltlichen Antragsbegründung und dem konkreten Untersuchungsauftrag, zu lesen ab Seite 5 des Antrags, den möglichen PUA „Lügde“ auf diesen Tatort, die zugehörigen Fälle im Kreis Lippe sowie die betroffenen Behörden.

Sie, die Fraktion der AfD, wissen, dass seit der Einreichung des Antrages leider ein zweiter Fall von sexuellem Missbrauch in Bad Oeynhausen aufgetreten ist. Hierzu liegen uns erst wenige Erkenntnisse vor. Über etwaige vernetzte kriminelle Strukturen oder auch Zusammenhänge zwischen den benachbarten Kreisen Lippe und Minden-Lübbecke kann und will ich hier und heute nicht mutmaßen.

Ich sage aber auch: Wenn hier eine Relevanz für einen möglichen PUA sichtbar würde, könnte sich eine zu starke Begrenzung des Untersuchungsauftrages auf Lügde später als Fehler herausstellen. Denn Sie wissen auch, dass das Gesetz über die Einsetzung und das Verfahren von Untersuchungsausschüssen – hier § 3 Abs. 2 – einen PUA klar an den ihm erteilten Auftrag bindet und eine etwaige Ausdehnung als nicht berechtigt untersagt.

Daher möchte ich an dieser Stelle auch den Abschnitt B Ihres Antrages zumindest infrage stellen, wonach der Landtag den Untersuchungsauftrag jederzeit später ausdehnen könnte.

Das ist aber letztendlich gar nicht entscheidend. Denn die Aufklärungsarbeit und die Sensibilisierung für dieses Thema sind gerade jetzt voll im Gange. Ob Erkenntnisse aus diesen laufenden Ermittlungen später die Einsetzung eines PUA rechtfertigen, ist dann zu beraten und möglichst auch parteiübergreifend zu beschließen, wenn ein überwiegender Teil dieses Hohen Hauses das für gegeben hält. Jetzt wäre das zu voreilig.

Ich gehe davon aus, Herr Wagner und auch Ihre Fraktion, dass Sie sich den Antrag von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen zur Wiedereinsetzung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Anis Amri“ vom Juni 2017, also nach der Landtagswahl, zum Vergleich noch einmal angeschaut haben. Zumindest finden sich in den Antragstexten einige Parallelen, was sogar nachvollziehbar ist.

Wenn man aber Ihren heutigen Antrag zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und den zum „Amri“-Untersuchungsausschuss nebeneinanderlegt, dann komme zumindest ich zu dem Ergebnis, dass für die sinnvolle Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses nicht allein ein langer Fragenkatalog ein erfolgversprechendes Fundament darstellt.

Ich unterstelle Ihnen in dieser Sache auch keinen billigen Populismus. Das Thema – ich habe es eben schon einmal erwähnt – ist einfach zu furchtbar, als dass daraus irgendjemand – ich betone: irgendjemand – politisches Kapital schlagen könnte und vor allem sollte.

Gerade deswegen empfehle ich Ihnen und bitte Sie darum, Ihren Antrag aus den genannten sachbezogenen Gründen heute zurückzuziehen.

Lassen Sie uns gemeinsam als Parlamentarier in den jeweiligen Beratungen die weiteren Entwicklungen intensiv und zeitnah begleiten. Aus Fehlern von Behörden müssen Konsequenzen gezogen werden. Das ist beispielsweise vom Innenminister unmissverständlich verdeutlicht worden.

Ich darf Sie alle noch einmal daran erinnern: Wir müssen zuallererst die Schritte unternehmen bzw. zulassen, die im Sinne der Opfer und gerade auch zur Verhinderung etwaiger zukünftiger Straftaten erforderlich sind. Diese liegen derzeit ganz klar operativ bei der Polizei und der Justiz. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. Es ist eine Kurzintervention angemeldet worden. – Herr Abgeordneter Wagner.

Markus Wagner (AfD): Vielen Dank. – Herr Kollege Sieveke, Sie haben selbst auf Abschnitt B auf Seite 18 unseres Antrages Bezug genommen. Ich möchte in diesem Zusammenhang an einen anderen Untersuchungsausschuss erinnern, nämlich den PUA II der 16. Wahlperiode. Damals wurde der Auftrag per Erweiterungsbeschluss vom 1. Oktober 2014, also mehr als ein Jahr nach dessen Einsetzung, einstimmig noch um ganze Themenkomplexe erweitert.

Das heißt, es ist uns nach wie vor vorbehalten, auch die Vorkommnisse in Bad Oeynhausen – das ist ja meine Heimatstadt; davon bin ich besonders betroffen, wie Sie sich vorstellen können – in diesen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit einfließen zu lassen, so wie es beim Untersuchungsausschuss II der 16. Wahlperiode geschehen ist. – Das ist das eine.

Zweitens möchte ich noch einmal an den Untersuchungsausschuss II der 16. Wahlperiode erinnern. Nach 45 Sitzungen und vier Jahren Arbeit wurde ein umfangreicher Abschlussbericht vorgelegt. Es hatte sich damals um 16 Fragekomplexe mit 170 Fragen gehandelt, während unserem Antrag derzeit fünf Fragenkomplexe – das kann ja noch erweitert werden – mit 125 Fragen zugrunde liegen. Ich denke also nicht, dass der Umfang unseres Antrages nicht bearbeitbar wäre, sondern glaube schon, dass das angesichts der Historie der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse möglich wäre.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Herr Sieveke.

Daniel Sieveke (CDU): Herr Kollege Wagner, zum zweiten Teil Ihrer Kurzintervention: Ich habe vorhin nicht zum Ausdruck bringen wollen, dass ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss den Fragenkomplex nicht bearbeiten könnte. Aber es ist einfach der falsche Zeitpunkt.

Es ist der falsche Zeitpunkt, weil nun einmal alle, die daran beteiligt sind, jetzt gerade die Ermittlungen aufnehmen. Jeder, der zurzeit in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss sitzt – ich sehe auch Kopfschütteln –, weiß: Es geht doch darum, dass ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss qualitativ und nach vorne gewandt die Aufgaben löst. Gerade während der Ermittlungen, die im Moment durch die Staatsanwaltschaft und durch alle anderen geleistet werden, ist es der falsche Zeitpunkt.

Das habe ich eben auch betont. Es macht keinen Unterschied, ob Sie als einzige Fraktion das hier beantragt haben; denn ich glaube, dass diese Ereignisse keine Kollegin und keinen Kollegen – ob sie Eltern sind oder nicht – kaltlassen. Deswegen sollten wir hier so sachlich, so nüchtern und so fair wie möglich miteinander umgehen.

Wir sollten das Thema so beraten, dass wir am Ende des Tages den Opfern helfen – nicht uns, sondern den Opfern und ihren Angehörigen. Da sollten wir zusammenbleiben. Das ist unsere Aufgabe. Dafür sind wir nicht nur gewählt worden, sondern dafür sollten wir jeden Tag arbeiten. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die SPD spricht der Abgeordnete Ganzke.

Hartmut Ganzke (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will Ihnen eingangs sagen, dass ich mit dem CDU-Abgeordneten Daniel Sieveke bestimmt nicht immer einer Meinung bin. Aber mit dem Vorsitzenden des Innenausschusses, Herrn Kollegen Sieveke, bin ich in der Quintessenz seiner gerade gehaltenen Rede voll und ganz einer Meinung.

Genauso sage auch ich: Seitens der SPD-Fraktion werden wir die Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu diesem Zeitpunkt ablehnen und damit auch Ihren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion.

Ich nenne Ihnen einen konkreten Grund dafür. Ich nehme Ihnen ab, dass auch Sie daran interessiert sind, die Aufklärung weiter fortzuführen. Eines will ich Ihnen aber ganz klar sagen: Wenn Sie, Herr Kollege Wagner, hier vorne erklären, wie Sie es gerade getan haben, wir Abgeordnete, die möglicherweise gegen Ihren Antrag stimmen, würden uns an den Opfern versündigen, indem wir bei Ihrem Antrag mit einem Nein stimmen, dann antworte ich: Versündigt an den Kindern, an den Opfern haben sich diese schwierigen Täter, die zum Glück in Untersuchungshaft sind.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN und der FDP)

Versündigt haben sich wohl auch andere Täter, die wir noch nicht ermittelt haben. Aber nicht wir versündigen uns an den Opfern, an den Kindern, wenn wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.

Ich will Ihnen weiterhin ganz klar sagen, warum wir das zu diesem Zeitpunkt nicht machen werden. Ihr Antrag ist in Bezug auf den Zeitraum und den Zeitpunkt falsch.

Erstens. Sie haben in dem vorgelegten Antrag einen Zeitraum von insgesamt 28 Jahren angegeben. Sie wollen die letzten 28 Jahre, also von 1991 an, aufarbeiten, Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion. Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein.

Zweitens. Sie reichen Ihren Antrag zu einem Zeitpunkt ein – damit komme ich wieder zu dem, was Herr Kollege Sieveke gesagt hat –, zu dem wir dieses Thema auf die Tagesordnung jeder Innenausschusssitzung setzen. Mit einer Allianz in diesem Parlament wollen wir zeigen, dass uns dieses Thema wichtig ist.

Ich will aber auch ganz klar sagen: Es kann sein, dass wir über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses noch einmal hier im Parlament diskutieren werden. Indem wir Ihren Antrag heute ablehnen, sagt die SPD-Fraktion nicht, dass sie die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses per se oder möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt ablehnen wird.

Die Argumente dafür, die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses jetzt abzulehnen, habe ich auch im Innenausschuss mitgeteilt. Ich will sie noch einmal kurz zusammenfassen:

Wir sehen die Gewaltenteilung auch hier in Nordrhein-Westfalen als ein sehr hohes Gut an. Der Landtag ist nicht eine zweite Staatsanwaltschaft. Zurzeit sind die Staatsanwaltschaft und die Polizei am Zug, obwohl wir – das sage ich ganz offen und ganz klar –erleben mussten, dass die Polizei auch haarsträubende Fehler gemacht hat. Wir unterstützen die Staatsanwaltschaft und die Polizeibeamtinnen und ‑beamten darin, Aufklärung zu leisten. Wir haben das Vertrauen in die Personen, die diese Aufgabe übernehmen.

Wir haben abzuwarten. Die Staatsanwaltschaft muss innerhalb von sechs Monaten die Anklage vorlegen – ansonsten müsste sie beim Oberlandesgericht einen neuen Antrag stellen –, weil der Haupttäter in Untersuchungshaft ist. Insoweit, Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion: Die sechs Monate sind Ende Mai vorbei. Das bedeutet, wir müssen abwarten, bis die Anklage vorliegt. Dann werden wir uns mit der Anklage und den weiteren Angelegenheiten befassen.

Auch vor dem Hintergrund dessen, was wir manches Mal nicht zu glauben wagten und was uns im Innenausschuss an Information gegeben wurde, würden wir uns etwas abschneiden. Wir würden uns die Möglichkeit abschneiden, dass der Innenminister noch weitere Informationen gibt, die er nicht hören und nicht geben will, und die wir auch nicht hören wollen – und hoffentlich nicht mehr hören –, weil wir der Ansicht sind, dass gerade in diesem Bereich genug Fehler passiert sind.

Damit komme ich zu folgendem Punkt: Der Minister hat dies zu seinem Projekt gemacht. Das ist im Innenausschuss immer klar gewesen. Herr Reul, wir nehmen Ihnen ab, dass Sie das zu Ihrem Projekt gemacht haben. Wir sehen wohl alle im Innenausschuss, wie Sie sich bemühen und versuchen, dieses Projekt der Öffentlichkeit zu erklären bzw. uns mitzuteilen, dass Sie gewillt sind, die Aufklärung zu leisten.

Ein Projekt endet immer mit einem Abschluss. Diesen Projektabschluss muss man unter die Lupe nehmen und in der Politik dann sehen: Ist der vorgelegte Abschluss für uns und die Öffentlichkeit ausreichend, damit die Öffentlichkeit nachvollziehen kann, was bei der Aufklärung versucht worden ist?

Diesen Projektabschluss, den Sie, Herr Minister, uns vorzulegen haben, werden wir bewerten. Und dann werden wir bewerten, ob dieser Tagesordnungspunkt möglicherweise noch einmal zum Aufruf kommen muss, und ob wir dann mit Ja oder Nein abstimmen werden. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Es gibt eine Kurzintervention der AfD. Herr Wagner hat das Wort.

Markus Wagner (AfD): Vielen Dank. – Herr Kollege Ganzke, ich möchte auf zwei Dinge eingehen. Ein paar andere behalte ich mir noch vor, weil ich nachher noch mal ans Pult gehe.

Sie sprachen vom Untersuchungszeitraum. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen. Es gab einmal den PUA III der 16. Wahlperiode zum NSU-Terror. Wir hatten damals einen Untersuchungszeitraum von Oktober 1991 bis zur Einsetzung des Ausschusses am 5. November 2014 – immerhin 23 Jahre.

Das zweite Beispiel ist der von mir jetzt schon zweimal zitierte PUA II der 16. Wahlperiode, in dem es um den Niedergang der Westdeutschen Landesbank ging. Der Untersuchungszeitraum reichte vom Beginn der 80er-Jahre bis Juni 2012, also über 30 Jahre.

Glauben Sie mir eines, Herr Kollege: Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Aber wir haben uns letztlich durch die Taten des mutmaßlichen Täters gezwungen gesehen, den Beginn des Untersuchungszeitraums auf 1991 zu legen, weil wir keines der mutmaßlichen Opfer außen vor lassen wollten. 1991 ist die älteste uns derzeit bekannte mögliche Tat geschehen. Daher lässt sich das nicht anders stricken.

Aber wir wären einverstanden, auch später anzufangen, wenn Sie der Meinung sind. Ich persönlich glaube nur, wir sollten und müssten tatsächlich in der Zeit anfangen, in der es unserer Kenntnis nach das erste Opfer gegeben hat. Das war 1991.

Das Zweite: Sie haben zu Recht gesagt, dass Minister Reul die Angelegenheit zu seiner Sache macht.

Präsident André Kuper: Die Redezeit.

Markus Wagner (AfD): Das finde ich auch gut. Aber es geht nicht darum, dass Exekutive die Exekutive kontrolliert, sondern es geht auch darum, dass die Legislative die Exekutive kontrolliert, und das sind wir als Parlament. Deswegen bin ich der Meinung, dass ein Untersuchungsausschuss da positiv begleitend und unterstützend wirken kann. – Danke.

(Beifall von der AfD)

Hartmut Ganzke (SPD): Herr Kollege Wagner, ich glaube, mit Ihrer Kurzintervention haben Sie etwas getan, was wir als Politik nicht machen dürfen. Sie haben diesen schrecklichen Kindesmissbrauch in Zusammenhang mit dem Niedergang einer Landesbank gesetzt.

Wir sind uns insoweit einig, dass Kindesmissbrauch eine existenzielle Bedrohung für das Klima in diesem Lande ist. Es ist eine Unverschämtheit und nicht nachvollziehbar, dass Kindesmissbrauch, der insgesamt geächtet ist, immer noch vorkommt. Da müssen wir ansetzen. Ich glaube, wir dürfen da nicht Laufzeiten von PUAs miteinander vergleichen, wie Sie es gerade gemacht haben.

(Beifall von der SPD)

Und der zweite Punkt: Sie haben doch zugehört. Manchmal sollte man eine Chance, die man bekommt, vielleicht zunächst liegenlassen, weil man im Endeffekt eher und auch richtiger über etwas entscheiden kann. Ich habe ja klargemacht: Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir hier noch einmal darüber diskutieren, ob ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss einzurichten ist oder nicht. Wenn wir dann darüber diskutieren und uns dafür entscheiden, ihn einzurichten, dann haben wir doch viel mehr Informationen, als wir jetzt haben. Das ist der Grund, warum wir Ihren Antrag jetzt ablehnen werden. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD – Zuruf von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Ganzke. – Für die FDP hat nun der Abgeordnete Lürbke das Wort.

Marc Lürbke (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Kindesmissbrauch“ macht uns ohne Frage zutiefst betroffen. Wir nehmen das alle hier im Raum sehr, sehr ernst.

Ich will einmal festhalten, dass es bei allem, was wir hier tun, in erster Linie immer um die Opfer dieser furchtbaren Taten gehen sollte. Dass Kinder so etwas erleben mussten und sie und ihre Familien nicht nur dem Schmerz, sondern auch einer riesengroßen Öffentlichkeit ausgesetzt sind, ist im Grunde unerträglich. Deswegen mein Appell, dass wir die Opfer im Blick behalten müssen. Um sie geht es, Kolleginnen und Kollegen.

Klar ist, die Vorfälle von Lügde müssen vollumfänglich und lückenlos aufgeklärt werden. Die Wahrheit ist aber auch, dass dies bereits geschieht. Die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen laufen im vollen Umfang.

Auch für den Landtag und die Landesregierung hat dieses überaus besorgniserregende Thema höchste Priorität. Ich erinnere daran, dass der Landtag fraktionsübergreifend bereits Ende Februar dieses Jahres eine Initiative auf den Weg gebracht hat, um die bestehenden Maßnahmen im Kampf gegen Kindesmissbrauch – in der Prävention, in der Repression und beim Opferschutz – gemeinsam mit Experten aus Kinderschutz, Wissenschaft und Kommunen kritisch auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.

Wir haben ebenso eine effektive Verfolgung und Bestrafung von Tätern und Unterstützern dieser abscheulichen Taten ganz oben auf die Agenda gesetzt. Das ist ein klares Signal an diejenigen, die so kranke Dinge tun, dass Nordrhein-Westfalen ihnen künftig ganz anders auf den Füßen stehen wird.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Ich erinnere daran, dass im Innenministerium umgehend eine Stabsstelle eingerichtet wurde, die Strukturen und auch Abläufe bei der Polizei im Zusammenhang mit Ermittlungen bei Kindesmissbrauch vernünftig analysieren und aufbereiten soll. Das ist die Grundlage für weitere Überlegungen. Der Innenminister hat zudem eine feste Runde der Obleute eingerichtet, in welche die Fraktionen eingebunden sind, und über deren Ergebnisse die Fraktionen laufend informiert werden. Das finde ich gut.

Gegenüber dem Parlament herrscht maximale Transparenz. Hier wird nichts zurückgehalten. Alle Karten sind immer auf dem Tisch, und das finde ich richtig. Das ist auch der richtige Umgang mit diesem schwierigen Thema. Ich finde übrigens auch gut, dass in dieser Runde der Obleute vertrauensvoll fraktionsübergreifend miteinander umgegangen wird. Auch vorläufige Informationsstände wurden bislang immer vertrauensvoll behandelt. Diese gemeinsame Zusammenarbeit sollten wir uns bewahren. Das bringt uns in der Sache weiter. Herr Ganzke sprach von einer Allianz; ich glaube, das ist der richtige Geist.

Auch das Familienministerium hat in enger Abstimmung mit dem Ministerium für Kommunales bereits eine Arbeitsgruppe einberufen, die sich gezielt mit der Situation von Jugendämtern vor Ort befasst. Das heißt, auch hier wird schon intensiv daran gearbeitet, dass Strukturen und Abläufe klar verbessert werden. Im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend ist außerdem eine umfassende Anhörung zu eben diesem tragischen Thema geplant.

Man sieht in Summe, dass die Landesregierung und das Parlament unverzüglich an den Stellen tätig geworden sind, an denen es hakt. Aber unser Ziel muss doch nicht sein – das will ich noch einmal deutlich sagen –, die Arbeit der Staatsanwaltschaft in diesem Fall zu erledigen. Es geht nicht darum, die Arbeit der Staatsanwaltschaft zu machen. Unser Ziel muss sein, dass wir systematisch alle gemeinsam in allen relevanten Bereichen und Ressorts daran arbeiten, bestmöglich zu verhindern, dass Kinder zu Opfern werden.

Sowohl auf Bundesebene als auch in anderen Bundesländern wurden in vergleichbaren Situationen unabhängige Kommissionen eingesetzt. Gleiches, also eine Kommission Kinderschutz, schlagen wir auch für Nordrhein-Westfalen vor. Das wird uns in der Sache im Gegensatz zu einem PUA momentan wirklich weiterbringen.

Es klang bei den Vorrednern eben schon durch, und ich bin auch fest davon überzeugt, dass das richtig ist: Grundsätzlich sind diese monströsen Missbrauchsfälle für parteitaktische Profilierungsversuche denkbar ungeeignet. An die staatsanwaltschaftlichen Akten wird ein PUA aktuell ohnehin nicht kommen.

Es ist auch die Frage, ob wir das überhaupt wollen. Denn ich möchte in keinem Fall, dass die parlamentarische Aufarbeitung für eine Verzögerung bei der Bestrafung derjenigen sorgt, die eine Strafe wirklich verdienen. Wir müssen uns vor Augen führen, dass ein Gezerre um Zeugen, Akten und Infos ein fatales Signal an die Opfer wäre.

Vielmehr muss es darum gehen, die vielen Initiativen, die wir bereits angestoßen haben, zu bündeln und Behördenabläufe zu optimieren. In Baden-Württemberg wurde im September 2018 die Kommission Kinderschutz zur Aufarbeitung des Missbrauchsfalls in Staufen und zur Weiterentwicklung des Kinderschutzes eingerichtet, die Vertreter der betroffenen Landesministerien und unabhängige Experten vereint.

Diesen Weg sollten wir auch in Nordrhein-Westfalen gehen, denn er wahrt den Respekt für die Opfer und bringt uns vor allen Dingen in der Sache bezüglich eines besseren Kinderschutzes deutlich weiter. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Lürbke. – Als nächster Redner hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Schäffer das Wort. Bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Fall Lügde macht uns alle fassungslos. Das ist in den vorangegangenen Reden sehr deutlich geworden. Er macht uns fassungslos, weil Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg Opfer sexualisierter Gewalt wurden.

Er macht uns auch deshalb fassungslos, weil es immer wieder Hinweise gegeben hat. Im Jahr 2016 hat es gleich drei Hinweise gegeben: von einem Vater zweier Kinder, von einer Mitarbeiterin im Jobcenter und – das haben wir vor kurzer Zeit erfahren – auch von einer Kindergartenpsychologin, die im Kindergarten der Pflegetochter des Hauptverdächtigen gearbeitet hat.

Die Berichte, die wir bislang im Ausschuss für Kinder, Jugend und Familie, aber auch im Innenausschuss erhalten haben, konnten bisher nicht wirklich erklären – und haben zudem viele Widersprüche aufgezeigt –, warum diese Hinweise zu nichts führten und warum der Hauptverdächtige die Pflegeerlaubnis bekommen hat. Ich glaube, man muss hier von einem Behördenversagen sowohl der Polizeibehörden als auch der Jugendämter sprechen. Was uns so fassungslos macht und uns erschüttert, ist die Tatsache, dass es möglich ist, dass Hinweise vorliegen und trotzdem nichts passiert.

Erst – und das ist mir klar geworden, als ich mir die Zeitleisten noch einmal angeschaut habe – als im Oktober 2018 von der Mutter eines missbrauchten Kindes endlich eine Strafanzeige gestellt wurde, haben die Behörden wirklich gehandelt. Es hat also offenbar eine Strafanzeige gebraucht. Es wäre hochproblematisch, wenn genau das der Fall wäre; denn es würde bedeuten, dass Hinweise bei den Jugendämtern offenbar als weniger gewichtig angesehen werden als eine Strafanzeige. Es muss aber möglich sein, auch solche Hinweise niedrigschwellig an die Jugendämter zu geben.

Am 6. Dezember 2018 kam es dann zu der Durchsuchung des Campingwagens und auch zu der Festnahme des Hauptverdächtigen. Aber das Versagen der Behörden ging weiter, in dem Fall das Versagen der Kreispolizeibehörde Lippe. Die Ermittlungskommission ist erst eine Woche später eingerichtet worden. 155 Datenträger sind verschwunden. Wir wissen noch immer nicht, wo sie sind.

Es gab ganz offensichtlich Mängel bei den Durchsuchungen auf dem Campingplatz – das haben wir im Innenausschuss mehrfach diskutiert –, und nach neuen Erkenntnissen, vor allem aus dem letzten Innenausschuss, gab es offensichtlich auch Fehler bei der Befragung von Opfern. Auch das ist total dramatisch, weil es bedeutet, dass Kinder, die schon so etwas Schlimmes durchgemacht haben, ein zweites Mal vernommen werden müssen, was zu Retraumatisierungen, aber auch zu Problemen im Prozess führen kann, weil sich eine Aussage bei einer zweiten Befragung natürlich auch verändern kann.

Das sind alles Punkte, die wir diskutiert haben. Man kann diese vielen Versäumnisse nicht damit erklären, dass es individuelle Fehler gegeben habe. Meiner Meinung nach liegt hier ein strukturelles Versagen vor.

Am 31. Januar 2019 wurden dann die Ermittlungen endlich auf die Polizeibehörde Bielefeld übertragen. Hier bleibt mein Vorwurf – Herr Reul, Sie kennen den Vorwurf –, dass die Ermittlungen viel zu spät von der Kreispolizeibehörde Lippe – die aus meiner Sicht völlig ungeeignet war, diese Ermittlungen durchzuführen – auf Bielefeld übertragen wurden.

Ich frage mich jedes Mal, wenn neue Erkenntnisse und neue Fehler publik werden: Was macht das eigentlich mit den Opfern? Was macht es aber auch mit deren Familien, also mit den Eltern, den Geschwistern, den Großeltern, mit anderen Bezugspersonen? Was macht es eigentlich mit ihnen, wenn sie von diesen Fehlern aus der Zeitung erfahren müssen?

Deshalb ist die Strafverfolgung zum jetzigen Zeitpunkt so wichtig. Jetzt ist doch der Zeitpunkt, dass Ermittlungen gründlich geführt, die Täter überführt und zur Verantwortung gezogen werden müssen. Deshalb kommen wir als Grüne zu dem Schluss, dass ein Untersuchungsausschuss zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn macht. Jetzt müssen die Ermittlungen geführt werden.

All diejenigen, die schon einmal in einem Untersuchungsausschuss gesessen haben, wissen, dass man als Allererstes Akten beantragt. Dann müssen diese Akten aber auch in den jeweiligen Behörden gesichtet werden. Sie müssen herausgesucht werden, und es muss geschaut werden: Was wird wie eingestuft? Was kann überhaupt herausgegeben werden, um die Ermittlungen nicht zu gefährden?

Die Akten müssen kopiert und an den Landtag geliefert werden. Das klingt so banal. Aber wer schon einmal in einem Untersuchungsausschuss gearbeitet hat, weiß, dass das nicht so banal, sondern ziemlich viel Aufwand ist – nicht nur für die Abgeordneten in einem Untersuchungsausschuss, sondern auch für diejenigen, die in den Strafverfolgungsbehörden arbeiten und diese Akten heraussuchen müssen. Das muss alles von Menschen geleistet werden.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Untersuchungsausschuss ist. Der Untersuchungszeitraum würde mit dem Einsetzen des Untersuchungsausschusses enden. Aber alles, was womöglich noch bis zur Anklageerhebung kommen mag, wäre nicht von diesem Untersuchungsauftrag gedeckt. Das hielte ich für falsch.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Die Staatsanwaltschaft hat schon angekündigt, dass sie sehr bald Anklage erheben will, und hat dazu einen sehr ehrgeizigen Zeitplan vorgelegt. Wir Grüne werden zu diesem Zeitpunkt, wenn die Anklage erhoben ist, eine Entscheidung über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses treffen. Es gibt nach wie vor viele offene Fragen. An erster Stelle steht jetzt aber, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeitnah zur Anklage führen und auch in der Folge zur Verurteilung der Täter führen. Das hat für uns als Grüne jetzt die größte Priorität. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schäffer. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD noch einmal Herr Abgeordneter Wagner das Wort. Bitte sehr, Herr Kollege.

Markus Wagner (AfD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf ein paar Argumente dafür, diesen PUA nicht zuzulassen, eingehen.

Zunächst einmal wird immer wieder gesagt: Ja, wir müssen abwarten, was die Ermittlungen, was das Verfahren gegen den Beschuldigten erbringt etc. pp. – Ich erinnere hier an die Einsetzung des PUA zum Zellenbrand in der JVA Kleve und möchte sinngemäß wiedergeben, was Herr Wolf argumentativ anführte, um diesen PUA einzusetzen.

Herr Wolf sagte in etwa, die Staatsanwaltschaft werde die strafrechtliche Dimension des Falles ausermitteln, der PUA müsse sich hingegen primär der politischen und strukturellen Dimension zuwenden. Genau das ist es, was wir wollen. Wir greifen also Ihre Argumentation, Herr Wolf, für die Einsetzung des PUA „Kleve“ hier auf.

Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, dass die Zeitspanne, die vergeht, bis dieser Parlamentarische Untersuchungsausschuss tatsächlich seine Arbeit aufnimmt, durchaus ein paar Monate betragen kann. Bis dahin wäre das Verfahren normalerweise schon abgeschlossen. Selbst wenn es noch nicht abgeschlossen wäre, könnte sich der PUA erst einmal mit anderen Fragen beschäftigen. Er könnte die behördlichen Standards, die Personalschlüssel, die Vergleichsdatensätze anderer Bundesländer beschaffen oder über die Messbarkeit unserer Fragen beraten.

All das wäre möglich. Ohne in irgendeiner Form in irgendein Verfahren, in strafrechtliche Ermittlungen oder Ähnliches einzugreifen, könnten wir bereits während des Verfahrens strukturelle Defizite aufarbeiten und uns damit beschäftigen.

(Bodo Löttgen [CDU]: Das ist nicht Aufgabe eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses!)

Sie alle wissen, wie lange es beispielsweise von der Einsetzung des PUA II in dieser Legislaturperiode bis zur ersten Zeugenvernehmung gedauert hat, nämlich fünf Monate.

Aus unserer Sicht bleibt kein wirklich stichhaltiges Argument übrig, um diesen PUA nicht einzusetzen. Ich möchte aber nicht verhehlen, dass ich Ihnen zugestehe, dass Sie selbst Argumente haben, von denen Sie glauben, sie seien richtig. Aber wenn es doch dazu kommen sollte, dass zu einem späteren Zeitpunkt ein PUA eingesetzt werden soll, dann bin ich mal gespannt, ob das unter Einbeziehung aller Fraktionen dieses Hauses geschieht.

Wenn das dann nämlich nicht der Fall wäre, würden Sie sich heute schon dem Verdacht aussetzen, der Einsetzung dieses PUA nur deswegen nicht zugestimmt zu haben, weil ihn die AfD beantragt hat. Ich glaube, das können Sie wirklich nicht wollen, und das sollte auch nicht geschehen.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

In diesem Sinne hoffe ich darauf, dass Sie der Einsetzung dieses PUAs zustimmen, auch wenn ich Ihren Äußerungen entnommen habe, dass Sie dies nicht tun werden.

Darüber hinaus hoffe ich darauf, dass, wenn es doch irgendwann einmal endlich zu der Einsetzung …

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Markus Wagner (AfD) … eines PUAs kommt, dies unter Beteiligung aller Fraktionen dieses Hohen Hauses geschieht. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Wagner. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir liegen keine weiteren Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt vor. – Das bleibt auch beim Blick in die Runde so, sodass wir am Ende der Aussprache angekommen sind.

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellende Fraktion der AfD hat gemäß § 44 unserer Geschäftsordnung eine namentliche Abstimmung über den Antrag Drucksache 17/5635 beantragt. Nach Abs. 2 dieses Paragrafen erfolgt die namentliche Abstimmung durch Aufruf der Namen der Abgeordneten. Die Abstimmenden haben bei Namensaufruf mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten oder zu erklären, dass sie sich der Stimme enthalten.

Ich darf Frau Abgeordnete Aymaz bitten, mit dem Namensaufruf zu beginnen.

(Der Namensaufruf erfolgt.)

Einige Kolleginnen und Kollegen haben meines Erachtens Ihre Stimme bei dem ersten Aufruf noch nicht abgegeben und melden sich gerade freundlich, sodass wir noch einmal die Namensliste durchgehen und die Kolleginnen und Kollegen aufrufen, die vorhin noch nicht anwesend waren.

Frau Kollegin Aymaz, darf ich Sie noch einmal bitten, den Namensaufruf durchzuführen.

(Es erfolgt ein erneuter Namensaufruf.)

Ich frage jetzt noch einmal: Haben alle Abgeordneten ihre Stimmen abgegeben? – Herr Dr. Bergmann möchte noch seine Stimme abgeben; er votiert mit Nein.

Gibt es noch weitere Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht abgestimmt haben? – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, die Auszählung vorzunehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ich würde uns empfehlen und vorschlagen, dass wir, bis wir das Ergebnis nach der Auszählung verkünden, bereits den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen. Das erfolgt auch mit Einverständnis der antragstellenden Fraktion. – Ich sehe keinen Widerspruch; dann verfahren wir so. Wir warten dann das Ergebnis der Auszählung ab.

Ich rufe auf:

5   Konsequenzen aus dem Polizeifiasko von Köln-Kalk: Der Innenminister muss die Chancengleichheit der Parteien im Wahlkampf sicherstellen

Eilantrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5696

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktion Herrn Abgeordneten Tritschler das Wort. Bitte sehr.

Sven Werner Tritschler (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede gleich klarstellen:

(Zuruf: Das Mikrofon!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Das Mikro ist an; aber es würde uns helfen, wenn alle, die ordnungsgemäß das Wort haben, dieses auch mit lauter und kräftiger Stimme ergreifen, und alle anderen, die das Wort nicht haben, entsprechend leiser sind. Bitte sehr.

Sven Werner Tritschler (AfD): Unsere Kritik an dieser Stelle richtet sich ausdrücklich nicht an die einzelnen Polizisten; sie sind hier und waren am vergangenen Sonntag in Köln auch nur Leidtragende. Sie leiden wie wir unter dem Versagen unserer – nein, ihrer Führung oder eben unter einer politisch gewollten Sabotage des AfD-Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen. Sie leiden unter dem Kölner Polizeipräsidenten, und sie leiden unter Innenminister Reul.

Ich habe leider nicht die Zeit, das Totalversagen der Kölner Polizeistrategie hier in allen hässlichen Details vorzutragen. Die Aktuelle Stunde, die wir dazu beantragt haben, wurde ja leider abgelehnt.

Unser Antrag stellt den Sachverhalt bereits einigermaßen umfassend dar. Ich will Ihnen stattdessen etwas vorlesen; auch da geht es um Wahlkampf – ich zitiere –:

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Tritschler, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, bevor Sie das Zitat beginnen. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Abgeordneten Braun.

Sven Werner Tritschler (AfD): Sehr gerne.

(Der Abgeordnete Braun ist nicht anwesend.)

– Wo ist er denn?

(Zuruf: Technisches Versagen!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Dann hat sich dort irgendjemand eingedrückt. Wir löschen die Wortmeldung direkt wieder.

Sven Werner Tritschler (AfD): Ich hoffe, diese ganzen Regieanweisungen gehen nicht von meiner Redezeit ab. – Unser Antrag stellt den Sachverhalt einigermaßen umfassend dar. Ich zitiere:

„Im Einzelnen ist mit folgenden Aktionen zu rechnen: (…)

–   Schmiererei an Hauswänden, Mauern, Brücken (…) usw.;

–   Versuche, die Veranstaltungen ausfallen zu lassen durch (…) Verhinderung des Zugangs zu Veranstaltungsräumen durch
–     Blockieren der Zufahrtswege und  Saalein-     gänge
–     tätliche Angriffe auf Veranstaltungsbesucher
–     Behindern, Belästigen, Beschimpfen, Belei     digen, Provozieren der Veranstaltungsbesu-       cher

–   Umfunktionieren und Übernehmen der Veranstaltung für eigene Zwecke oder Abbruch erzwingen durch
–     gewaltsames Eindringen in den Versamm-      lungsraum
–     Besetzen taktisch entscheidender Positio-       nen im Versammlungsraum        
–     Sprechchöre, Gesang, rhythmisches Klat-       schen, lautes Gelächter, provozierende Zwi-       schenrufe, Lärmen unter Verwendung von     Lärminstrumenten,
–     Werfen von Konfetti, Papierschlangen und     anderen karnevalistischen Scherzartikeln
–     Ständiges Hin- und Herlaufen während des   Vortrags

Das, Herr Reul, ist nicht nur die Bedienungsanleitung für alles, was am Sonntag in Kalk unter den Augen Ihrer weitestgehend untätigen Polizei geschehen ist. Das ist aus einem Erlass des NRW-Innenministers vom 28. August 1969. Der Innenminister hieß Willi Weyer und war von der FDP. Im Land regierte er zusammen mit der SPD. Von diesen Störungen war in erster Linie Ihre Partei betroffen, Herr Reul: Das war die CDU. Vielleicht erinnern Sie sich.

(Zuruf von Herbert Reul, Minister des Innern)

Weil der Minister Weyer im Gegensatz zu manchem seiner Nachfolger offenbar kein Versager war, hat er auch den Wahlkampf seiner politischen Wettbewerber schützen lassen.

Ich zitiere weiter:

„1. Wahlversammlungen dienen der Meinungsäußerung der Parteien und der Meinungsbildung der Wähler. Werden die Veranstaltungen in der Weise gestört, dass diese Ziele vereitelt werden, so liegen schwere Beeinträchtigungen der Grundrechte der freien Meinungsäußerung, der Informationsfreiheit und der Versammlungsfreiheit vor. Handlungen, die darauf abzielen, die Veranstaltungen oder die Teilnahme an ihnen zu verhindern oder zu erschweren, sind rechtswidrig.

2. Die Polizei hat die Veranstaltungen zu schützen und alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um ihren störungsfreien und gesetzmäßigen Ablauf zu gewährleisten. Der Schutz ist gleichermaßen den Veranstaltungen aller nicht verbotenen Parteien und Organisationen unbeschadet ihrer politischen Zielsetzung zu gewähren.

3. Eine Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit liegt insbesondere dann vor, wenn Versammlungsteilnehmern der freie und ungehinderte Zugang zum Versammlungsraum verwehrt wird oder wenn sie auf dem Weg dahin behindert oder gar tätlich angegriffen werden. (…)

5. Absperrungen zum Schutz der Versammlungen sind der Örtlichkeit entsprechend möglichst weiträumig vorzunehmen. In der Absperrlinie sind gegebenenfalls mehrere Durchlassstellen einzurichten. Dadurch wird die Blockierung der Zugänge erschwert (…).

6. Die Durchlassstellen erfüllen nur dann ihren Zweck, wenn sie auch freigehalten werden. (…) Versuche, sie zu blockieren, sind zu unterbinden. Durch Polizeibeamte gebildete Gassen durch Menschenansammlungen sind so breit zu halten, dass die Besucher ungehindert passieren können. Es darf nicht der Eindruck des „Spießrutenlaufens“ entstehen. (…)

11. Bei jedem Einsatz ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu prüfen. Die Beachtung dieses Grundsatzes rechtfertigt jedoch nicht, dass die Polizei bei groben Rechtsverletzungen und empfindlichen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung untätig bleibt.“

Herr Minister Reul, nichts davon, aber auch gar nichts hat die Kölner Polizei unter Ihrer Verantwortung sichergestellt – gar nichts. Unter Ihrer Verantwortung fallen wir offenbar nicht nur hinter die Zustände von 1969 zurück, sondern gleich in die 20er‑ und 30er-Jahre. Sie sollten sich schämen!

(Beifall von der AfD)

Da meine Redezeit leider zu Ende ist – ich hätte noch einiges dazu zu sagen –, lasse ich Ihnen den Erlass hier. Da können Sie mal schauen, wie Demokraten das machen, Herr Reul.

(Sven Werner Tritschler [AfD] legt Herrn Minister Reul ein Schriftstück vor.)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Tritschler. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Boss das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Frank Boss (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wenn ich Ihre Rede, Herr Tritschler, verfolge und Ihren Antrag lese, kann ich heute nur eines sagen: Man kann dieses – man muss fast schon sagen – Gejammere eigentlich nicht mehr hören, dass Ihnen …

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

– Hören Sie erst mal zu. Hören Sie erst mal zu.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Ich weiß doch, was Sie sagen wollen!)

– Ja, wenn Sie es schon wissen, dann muss ich sagen, haben Sie eine Glaskugel. Gratulation.

Man kann dieses Gejammere einfach nicht mehr hören, dass Ihnen hier nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wurde, dass Ihnen dort nicht geholfen worden sei. Alles das ist gerade noch einmal zum Ausdruck gekommen. Sie wollen hier wieder einmal eine Opferrolle einnehmen, die Ihnen nicht zusteht.

(Beifall von Sven Werner Tritschler [AfD])

Allein der Titel Ihres Antrages, in dem Sie von einem „Polizeifiasko“ sprechen, sagt schon alles. Wissen Sie eigentlich, woher das Wort „Fiasko“ kommt? Ich sage es Ihnen: Es kommt aus der Theatersprache und bezeichnet ein Theaterstück, das beim – Achtung! – Publikum nicht ankommt.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Boss.

Frank Boss (CDU): Nichts anderes ist Ihr Antrag auch – ein reines Theaterstück, ein Fiasko.

– Frau Präsidentin?

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Boss, der Abgeordnete Beckamp möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie die zulassen.

Frank Boss (CDU): Bitte sehr, Herr Beckamp.

Roger Beckamp (AfD): Vielen Dank, Herr Boss. – Vielen Dank für Ihre Ausführungen. Sie waren, soweit ich erkennen kann, am Sonntag nicht vor Ort; ich war es sehr wohl.

Von den – sagen wir – knapp 120, 130 Teilnehmern, die zunächst Teilnehmer in den Räumlichkeiten waren, waren wahrscheinlich an die 90 Störer: Antifa Seit‘ an Seit‘ mit Links und Grün. Sie haben massiv gestört. Sie haben ältere Herrschaften, sie haben Frauen handgreiflich bedrängt. Draußen wurden Schlagstöcke eingesetzt. Es wurde Pfefferspray eingesetzt.

Die Leute waren schockiert. – Tut mir leid: Unsere Mitglieder sind nicht alle bereit und in der Lage, so etwas auszuhalten.

Wie, denken Sie, soll unsere Veranstaltung am Samstag – wir werden noch eine Veranstaltung in Köln durchführen – denn anders ablaufen, wenn sich nicht seitens der Polizei etwas ändert? Was wird denn getan? Was muss sich ändern? Oder gar nichts? Soll es genauso wieder geschehen?

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Beckamp, ich darf Ihnen auch noch einmal die Lektüre der Geschäftsordnung empfehlen.

(Roger Beckamp [AfD]: Das waren Fragen!)

Sie haben hinterher noch die Kurve zur Frage gekriegt; aber da gibt es noch ein paar andere Hinweise. Sie wissen, was ich meine. – Bitte schön, Herr Kollege Boss.

Frank Boss (CDU): Herr Kollege Beckamp, wenn Sie einverstanden sind, würde ich Ihre Frage im weiteren Verlauf meiner Rede beantworten; dann werden Sie heraushören, wie ich das sehe.

Im Übrigen: Dass Sie persönlich dort waren, setze ich voraus. Dass ich dort nicht anwesend war, setze ich ebenfalls voraus. Aber unabhängig davon, dass dem so ist,

(Zuruf von Roger Beckamp [AfD])

– hören Sie doch einmal zu, Herr Beckamp –, gibt es auch Filmberichte darüber, die man sich anschauen kann. Es ist alles in der Welt; das kann man sich anschauen. Dann bekommt man schon ein Bild davon.

(Zuruf von Roger Beckamp [AfD])

– Jetzt hören Sie erst einmal zu!

Meinen Sie, auf den Veranstaltungen der anderen Parteien gäbe es keine Demonstrationen?

(Roger Beckamp [AfD]: Zeigen Sie mal!)

Meinen Sie, dass es so ist, dass wir uns nicht bei anderen parteipolitischen Veranstaltungen mit Störern auseinandersetzen?

(Roger Beckamp [AfD]: Erzählen Sie mal!)

Was wir dagegen tun, kann ich Ihnen sagen: Wir haben ein Veranstaltungskonzept, das sich offensichtlich wesentlich von Ihrem unterscheidet. Mit Ihrem Antrag zeigen Sie vor allem, dass Sie vom Versammlungsrecht keinerlei Ahnung haben.

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie haben eine Versammlung – unabhängig davon, ob es sich um eine Wahlkampfveranstaltung handelt oder nicht – in einem Saal und damit für das Versammlungsrecht in einem geschlossenen Raum veranstaltet. Hier gelten nun einmal andere Rechte und Pflichten als unter freiem Himmel. Das ist so.

(Roger Beckamp [AfD]: Das ist nicht neu!)

Solange Ihre Versammlung auf verfassungsgemäßem Boden steht, wird die Polizei auch alles tun, damit sie stattfinden kann. Nach meiner vielleicht subjektiven Einschätzung aufgrund der Informationen, die ich bisher habe, hat unsere Polizei alle erforderlichen Maßnahmen getroffen, um allen Beteiligten die ungehinderte Ausübung ihrer Grundrechte zu ermöglichen. Ohne den Schutz der Polizei vor Ort wäre Ihre Versammlung wohl ganz anders ausgegangen.

Entgegen Ihrer Ansicht ist die Polizei aber nicht dazu da, dass nur Sie Ihre Veranstaltung wie geplant durchführen können; dazu haben Sie nämlich eigene Ordnungskräfte zu stellen – in der Hoffnung, dass Sie sie hatten.  Sie, die AfD, sind Veranstalter.

Sie haben innerhalb der Räume auch das Hausrecht, siehe § 7 des Versammlungsgesetzes.

In § 8 heißt es zudem: „Der Leiter bestimmt den Ablauf der Versammlung. Er hat während der Versammlung für Ordnung zu sorgen.“

§ 6 sagt, dass bestimmte Personen oder Personengruppen von der Teilnahme an der Versammlung ausgeschlossen werden können. Davon hatten Sie bereits bei Ihrer Veranstaltung im Dezember letzten Jahres ebenso keinen Gebrauch gemacht. So wurde es auch durch die Landesregierung in der Antwort auf Ihre Kleine Anfrage vom Dezember bzw. Januar beantwortet.

Jetzt stellen Sie sich wieder hin und sagen, dass Ihnen seitens der Polizei nicht geholfen wurde – und das in dem Wissen, dass Sie von Ihren versammlungsrechtlichen Möglichkeiten selbst keinen Gebrauch gemacht haben. Das, verehrte Kollegen von der AfD, ist nicht nachvollziehbar. Wenn Sie es nicht schaffen, beim Einlass die Spreu vom Weizen zu trennen,

(Roger Beckamp [AfD]: Das ist eine Unverschämtheit!)

und es ihnen dann nicht gelingt, mit Ihren Ordnungskräften für Ruhe zu sorgen,

(Zurufe von der AfD)

zeigt das wieder nur, dass Sie nicht in der Lage sind, solche Veranstaltungen durchzuführen.

Was Sie hier dargestellt haben, hat nichts mit dem Wahlkampf zur Europawahl zu tun. Ihnen geht es nur darum, Populismus zu betreiben und für Ihre Klientel Theater zu spielen.

(Beifall von der CDU)

Was hingegen die Gegendemonstration angeht, steht auf einem ganz anderen Blatt.

(Roger Beckamp [AfD]: Erzählen Sie mal!)

Wenn ich richtig informiert bin, haben sich hier ca. 2.000 Personen als sogenannte Gegendemonstration versammelt. Sie haben gezeigt, dass ihnen das, was in ihrem Viertel passiert, nicht egal ist. Engagement und Zivilcourage nennt man das – und das finde ich gut.

(Zurufe von der AfD – Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Es geht jedoch nicht – das möchte ich betonen, bevor ich falsch zitiert werde –, dass Chaoten gegen unsere Polizisten und andere Bürgerinnen und Bürger gewalttätig vorgegangen sind. Das ist nicht zu akzeptieren.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Frank Boss (CDU): Die Polizistinnen und Polizisten stehen vor Ort, um unsere Grundrechte und damit die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land zu schützen. Sie stehen da, um zwei Versammlungen stattfinden lassen zu können.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Frank Boss (CDU): Es ist daher nicht vertretbar, dass unsere Polizisten mit Flaschen und körperlicher Gewalt angegriffen werden, sodass nur noch der Einsatz von Reizgas hilft.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege …

Frank Boss (CDU): An dieser Stelle muss ich mich – Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig – an das andere extremistische politische Lager wenden und sagen, dass das so auch nicht geht.

Wenn man Feuer mit Feuer bekämpft, bleiben nur Asche und verbrannter Boden übrig. Wenn Linksextremisten hier mit Gewalt gegen unsere Polizeibeamten vorgehen, sind sie keinen Deut besser als diejenigen, derentwegen sie auf die Straße gegangen sind.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege, Sie haben die Redezeit jetzt um 1:20 Minuten überzogen. Ich bitte Sie, zu dem angekündigten Ende zu kommen.

Frank Boss (CDU): Ich sage dann an dieser Stelle schon danke.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank. Sie werden aber sehen, dass von der Kollegin Dworeck-Danielowski für die Fraktion der AfD eine Kurzintervention angemeldet worden ist. Wenn Sie freundlicherweise den Knopf drücken, schalte ich das Mikrofon für 90 Sekunden Kurzintervention frei. Bitte sehr.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Vielen Dank. – Ich bin in diesem Moment wirklich unfassbar erregt.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

– Ja, wirklich.

Das als Jammern zu bezeichnen, ist so eine Unverschämtheit! Ich muss wirklich sagen: Gegendemonstration, Ausbuhen, Pfeifen – alles geschenkt; das ist normal – aber nicht, dass man einer Meute zum Fraß vorgeworfen wird. Das ist ein Unterschied. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

Ich wollte diese Veranstaltung besuchen. Die Polizei sagte: Hier können Sie schon mal gar nicht entlang, hier kann ich nicht für Ihre Sicherheit Gewähr bieten. – Auf der anderen Seite, links, einmal um den Block sagen die Einsatzkräfte: Okay.

Ich wurde von einer Traube von 15 behelmten Polizisten an der Wand entlang begleitet. Es hieß: Die sind hier aufgeheizt, die wollen Krawall, die wollen Gewalt sehen. Reagieren Sie auf nichts, einfach durch. Dann noch über den Zaun klettern.

Dann wurden wir zusammen mit allen anderen Gästen, die ernsthaft interessiert waren, in einer Garageneinfahrt geparkt. Wir wurden dort mehr als eine Stunde lang festgehalten. Man konnte nicht hineingehen. Es hieß: Nein, Sie dürfen noch nicht rein, erst wenn die Veranstaltung beginnt.

Wissen Sie, was dann geschah? Das, was Sie gerade gesagt haben, was wir angeblich nicht können. Wir hätten das sehr gerne so gemacht.

Die Stadt Köln sagt: Wenn Sie unsere Räume nutzen, dürfen Sie nicht selber selektieren. Das machen wir. Das ist eine öffentliche Veranstaltung.

Die Polizei hat gesagt: Jetzt beginnt die Veranstaltung. Es dürfen zehn von den gewaltbereiten Gegendemonstranten rein und dann fünf von Ihnen. Richten Sie sich schon einmal darauf ein, dass nicht alle von Ihnen reinkommen. – Dieses Verhältnis hat die Polizei festgelegt.

Man muss sich das einmal umgekehrt vorstellen: ein Neonaziumzug in Dortmund, der eine Veranstaltung der SPD besuchen will. Dann steht die Polizei davor und sagt: Okay, zehn Neonazis und fünf von der SPD. – Das dürfen die, wenn man eine öffentliche Veranstaltung macht. Das ist zu Recht unvorstellbar. Aber bei uns ist das richtig? Das kann nicht wahr sein!

Dann ist die Veranstaltung zu Ende, und wir wollen mit einer Handvoll Leute zum Parkhaus gehen, was mit der Polizei abgesprochen wird.

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Die Polizei sagt zum Raumkonzept: Kein Problem, gehen Sie raus. – Wir stehen dann draußen vor der Tür, und es stehen Leute da, die unser Totschlagen besingen und hochgradig gewaltbereit und aggressiv sind, sodass die Polizei wieder mit einer Verstärkung anrücken muss …

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): … und wir dann mit einer Hundertschaft zum Parkhaus geleitet werden müssen, wo wieder an allen Ausfahrten die Leute stehen, weil man uns dort auflauert. Das ist etwas anderes als eine Gegendemonstration.

Ich muss mich fragen, ob ich meiner Familie mein Engagement überhaupt noch zumuten kann, weil die Gefahr besteht, dass ich bei nächster Gelegenheit totgeschlagen werde. Das ist ein Unterschied und hat nichts damit zu tun, dass wir jammern würden. Das ist unverschämt.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin, da Herr Boss seine Redezeit großzügig überzogen hat, war ich auch bei der Kurzintervention entsprechend großzügig. Insofern hat jetzt Kollege Boss das Wort zur Erwiderung für bis zu 90 Sekunden.

Frank Boss (CDU): Sehr verehrte Kollegin, ich bedaure sehr, dass es Sie jetzt so erregt, weil Sie vor Ort waren und Ihre Schilderungen so sind, wie sie sind.

Ich will erst einmal annehmen, dass Sie das so erlebt haben und dass das für Sie persönlich alles andere als eine gute Erfahrung ist – im Gegenteil: Es ist wahrscheinlich für Sie sehr beängstigend. All das kann ich erst einmal nachvollziehen. Das ist schon klar.

Aber es ging hier um Ihren Antrag. Der Antrag beinhaltet eigentlich, dass die Polizei an dieser Stelle nicht genügend getan hätte, damit die Sicherheit gewährleistet wäre und Ihre Veranstaltung durchgeführt werden könnte. Darum geht es. Das werfen Sie vor. Das ist aber gewährleistet gewesen, nach alledem, was wir bisher zur Kenntnis bekommen haben.

Wenn es Einzelfälle oder sogar mehrere Fälle gibt, die sich so ereignet haben, dann bedaure ich das. Aber ich bleibe bei der Auffassung, dass unsere Polizei hier bestmöglich aufgestellt war und gute Arbeit geleistet hat. Für den Rest der Veranstaltung – ich wiederhole mich – sind Sie verantwortlich.

(Beifall von der CDU – Roger Beckamp [AfD]: Sie sind herzlich eingeladen in Köln!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Boss. – Das waren Kurzintervention und Erwiderung.

Jetzt hat als nächste Rednerin für die Fraktion der SPD Frau Abgeordnete dos Santos Herrmann das Wort. – Bitte schön, Frau Kollegin.

Susana dos Santos Herrmann (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den persönlichen Erlebnissen Einzelner kann ich natürlich nichts sagen.

Ich kann nur sagen: Ich war am Sonntag vor Ort, und was ich gesehen habe, zeugte von einem Polizeieinsatz, der gut vorbereitet war, der offensichtlich nicht ganz ohne Zwischenfälle verlaufen ist, der aber im Wesentlichen dafür gesorgt hat, dass die Veranstaltung im Bürgerhaus Kalk stattfinden konnte und dass diejenigen, die ihre Meinung darstellen wollten, dies genauso tun und ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen konnten.

Lassen Sie mich kurz festhalten – das ist, glaube ich, für den weiteren Verlauf der Debatte von Wichtigkeit; Kollege Boss hat es ja auch so gesagt –: Natürlich besitzen in unserer Demokratie alle Parteien, alle Verbände, Vereinigungen und jeder Einzelne das Recht, Veranstaltungen durchzuführen. Versammlungs‑ und Demonstrationsrecht sind verbriefter Bestandteil unserer Grundordnung.

Selbstverständlich, werte Kolleginnen und Kollegen der AfD, haben Sie die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen auch – nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Im Kölner Stadtteil Kalk haben viele schon lange Erfahrungen damit, wie man in einer vielfältigen Gesellschaft das Zusammenleben organisiert, und das manchmal unter sehr schwierigen Bedingungen. Was die Kalkerinnen und Kalker allerdings erwarten, ist gesellschaftliche und politische Unterstützung, damit Integration gelingt. Was sie nicht brauchen können, sind Provokationen von interessierter Seite.

Da bin ich auch schon beim Kern des Problems, das ich auch mit diesem Antrag habe: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es oft auch wieder heraus. Wenn eine Partei wie die AfD im gerade beginnenden Europawahlkampf plakatiert, man warne vor einem angeblichen Eurabien, hat das natürlich Reaktionen zur Folge.

Gerade in Stadtteilen wie Kalk mit einem hohen Migrationsanteil wird so etwas natürlich und zwangsläufig fast schon als Provokation aufgefasst, und es zieht entrüstete Reaktionen nach sich.

(Zurufe von der AfD)

Bevor Sie sich sinnlos empören: Selbstverständlich dürfen Entrüstung und Empörung niemals zur Anwendung von Gewalt führen. Protest muss in einer Demokratie immer gewaltfrei sein. Das ist selbstverständlich und darf nicht infrage gestellt werden.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin.

Susana dos Santos Herrmann (SPD): Ich habe schon erwähnt: Ich war am Sonntag vor Ort, wie im Übrigen auch die Kollegin Aymaz, um mir ein Bild zu machen. Wir können jetzt nicht einen Polizeieinsatz bewerten oder gar beurteilen, zu dem es noch keinen abschließenden Bericht gibt.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin.

Susana dos Santos Herrmann (SPD): Aber nach meinem persönlichen Eindruck ist dieser Einsatz eben nicht geeignet, sich selbst als Opfer oder gar Märtyrer einer angeblichen Feindschaft und Unvorbereitetheit durch die Polizei gegenüber der AfD aufzuspielen. Das ist es in keinem Fall.

Damit will ich nicht sagen, dass es nicht auch einzelne Vorfälle gab, die schwierig waren.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Beckamp möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie die zulassen.

Susana dos Santos Herrmann (SPD): Bitte.

Roger Beckamp (AfD): Vielen Dank, Frau Dos Santos Herrmann. – Wir teilen die Erfahrung, dass wir am Sonntag beide vor Ort waren. Haben Sie erlebt, dass es zu Handgreiflichkeiten gegenüber AfD-Leuten bzw. Leuten, die die Veranstaltung besuchen wollten, kam? Haben Sie irgendwelche Dinge erlebt, die Sie auf Ihren Veranstaltungen mit Gegenprotesten auch in diesem Ausmaß erleben? Haben Sie so etwas schon einmal erlebt? Ist das für Sie normal?

Susana dos Santos Herrmann (SPD): Gewalt ist nie normal, Herr Kollege Beckamp.

(Roger Beckamp [AfD]: Ich rede davon, was ist, nicht, was sein soll!)

– Ja, ich sage nur: Gewalt ist nie normal. – Zu Ihrer Frage: Ich war sowohl auf der Josephskirchstraße an einem Durchgang als auch später an der Kalk-Mülheimer Straße. Ich habe an einer Stelle tatsächlich erlebt, dass es eine etwas schwierige Situation gab, allerdings nur sehr kurze Zeit.

Die Polizistinnen und Polizisten, die an der Josephskirchstraße an einem Punkt standen, haben auf den Versuch der Demonstrierenden, in einen Bereich einzudringen, der für sie nicht vorgesehen war, sofort reagiert. Ich kann es nicht genau einschätzen; aber ich behaupte einfach einmal: In weniger als zehn Sekunden hatten die anwesenden Polizistinnen und Polizisten die Lage absolut im Griff. Es gab überhaupt keinen Zweifel daran, wer die Situation auf der Straße kontrolliert. Das war die Staatsgewalt. Sie ist im Übrigen die einzige Gewalt, die dazu legitimiert ist.

Es geht überhaupt nicht darum – ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin aus Ihrem Antrag zitieren –, „den demokratischen Wettbewerber AfD im Wahlkampf zu benachteiligen.“ Darum geht es nicht. Sie haben natürlich dieselben Rechte wie alle anderen Parteien auch. Aber Sie haben nicht mehr Rechte als andere. Sie können auch nicht erwarten, dass Sie in besonderer Weise begleitet werden.

Auf den anderen Teil Ihrer Frage kann ich Ihnen Folgendes antworten: Ja, auch ich habe schon mal im Wahlkampf Situationen erlebt, die sogar für mich persönlich überhaupt nicht schön waren. Ein ganzer Wahlstand ist mir entgegengeschleudert worden. Deswegen stelle ich aber nicht grundsätzlich infrage, dass Menschen kritisch mit der SPD und auch mit mir persönlich umgehen können. Das ist ihr gutes Recht.

Deswegen sehe ich auch nicht die Notwendigkeit – schon gar nicht auf Grundlage dieses Polizeieinsatzes –, „die Polizeidienststellen im Land entsprechend zu instruieren“, um – wahrscheinlich meinen Sie das – den AfD-Wahlkampf in besonderer Weise zu begleiten. Wollen Sie tatsächlich erreichen, dass alles, was die AfD im Wahlkampf macht, von der Polizei begleitet wird? Wollen Sie in Kauf nehmen, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen dafür ihrer eigentlichen Aufgabe, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, nicht nachgehen kann?

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Wenn das in Ihrem Sinne sein sollte, dann verstehe ich wiederum Ihren Antrag nicht.

Ich glaube, dass Sie versuchen, sich hier als Märtyrer aufzuspielen. Dieser Einsatz bietet dafür überhaupt keine Grundlage.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Redezeit.

Susana dos Santos Herrmann (SPD): Mein Appell: Lassen Sie das mit Ihrer peinlichen Weinerlichkeit sein. Das kommt weder in Kalk noch im Kindergarten gut an.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Dos Santos Herrmann. Auch bei Ihnen haben wir das mit der Redezeit etwas großzügiger gehandhabt. – Jetzt hat der Abgeordnete Lürbke für die Fraktion der FDP das Wort. Bitte sehr, Herr Kollege.

Marc Lürbke*) (FDP): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der AfD, Sie haben einen Eilantrag zu einem ganz konkreten Sachverhalt und Verlauf eines Polizeieinsatzes gestellt. Das kann man machen. Das machen Sie im Innenausschuss auch. Hier ist es aber schon ein wenig anders als im Innenausschuss, wo wir erst einen sachlichen Bericht lesen oder zumindest erst den Minister hören können, um uns einen Eindruck von der polizeilichen Situation und von den Hintergründen zu verschaffen.

Ich finde es schon schwierig, wenn sich jetzt 199 Abgeordnete über ein konkretes Ereignis eine Meinung bilden sollen, obwohl wahrscheinlich 186 – jetzt höre ich: 184 – von uns aus dem Parlament nicht vor Ort waren und sich deshalb allein auf die Schilderung der AfD verlassen sollen.

Ich selbst war auch nicht vor Ort – weder bei Ihnen, bei der AfD, noch bei den Demonstranten. Deswegen fällt es mir jetzt schwer, hier irgendwelche Bewertungen anzustellen. Dass Sie aber gleich von einem „Polizeifiasko“ sprechen, erscheint mir doch recht weitgehend.

Nach dem, was ich in den Kölner Medien gelesen habe, hat die Polizei Pfefferspray gegen die Demonstranten eingesetzt und später auch 41 Störer aus dem Saal entfernt. Bei dem ganzen Einsatz haben sich im Übrigen auch drei Beamtinnen verletzt. Das spricht für mich wirklich nicht dafür, dass die Polizisten ihrem Auftrag nicht nachgekommen wären. Den verletzten Beamtinnen wünsche ich an dieser Stelle übrigens ebenfalls alles Gute und schnelle Genesung.

Über die Chancengleichheit von Parteien, insbesondere im Wahlkampf, muss der Landtag Nordrhein-Westfalen meines Erachtens wirklich nicht noch einmal beschließen. Dafür gibt es nämlich schon das Grundgesetz, auf dessen Boden wir hoffentlich alle stehen. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP, der CDU und der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Lürbke. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Abgeordnete Schäffer das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Verena Schäffer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am vergangenen Sonntag haben 2.000 Bürgerinnen und Bürger in Köln-Kalk das hohe Gut der Versammlungsfreiheit genutzt.

Ganz überwiegend haben sie friedlich für eine demokratische, vielfältige Gesellschaft und gegen Hass und Hetze demonstriert. Wir haben als Landtag hier schon oft gemeinsam Beschlüsse für gesellschaftliche Vielfalt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefasst. Deshalb gebührt allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich genau für diese Werte einsetzen, unsere Anerkennung.

(Beifall von den GRÜNEN – Zurufe von der AfD)

Ja, es hat, wie gerade schon deutlich geworden ist, Störaktionen im Veranstaltungssaal gegeben. Diese will ich nicht rechtfertigen. Ganz im Gegenteil! Aber eines will ich schon noch einmal feststellen, weil ich glaube, dass es für die rechtliche Betrachtung, die wir hier vornehmen müssen, wichtig ist: Es war eine öffentliche Veranstaltung. Und bei einer öffentlichen Veranstaltung hat erst einmal jede und jeder das Recht, daran teilzunehmen.

Dann kam es in diesem Saal zu der Störaktion. Der Versammlungsleiter der Veranstaltung hat offenbar die Polizei aufgefordert, die Störerinnen und Störer aus der Versammlung zu entfernen.

Die AfD kritisiert jetzt in ihrem Antrag, dass die Versammlungsleitung die ausgeschlossenen Personen einzeln benennen musste, und sieht das offenbar als Schikane an. So lese ich Ihren Antrag. Das ist aber mitnichten der Fall. Deshalb lohnt sich auch der Blick in die Gesetze.

Die Polizei hat sich nach unserer rechtlichen Bewertung völlig korrekt verhalten; denn die Versammlungsautonomie der Versammlungsleitung ist als sehr hoch anzusehen, und die Polizei kann bei einer Störung der inneren Ordnung – es handelte sich hier ja um eine Veranstaltung in einem geschlossenen Raum; wir reden nicht von einer Versammlung unter freiem Himmel – nur mit Zustimmung des Versammlungsleiters handeln. Die Versammlungsautonomie der Versammlungsleitung ist, wie gesagt, sehr hoch. Deshalb hat sich die Polizei, wenn sie dazu aufgefordert hat, jede einzelne Person, die entfernt werden sollte, einzeln zu benennen, korrekt verhalten.

Die Polizei hat 41 Personen aus dem Saal geführt. Das verlief wohl völlig friedlich und ohne Widerstand. Das will ich hier noch einmal betonen, weil ich einer anderen Erzählung entgegenwirken will. Die Polizei hat dann gegen diese Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Es wurden Platzverweise erteilt.

Deshalb ist weder eine Kriminalisierung der Demonstrantinnen und Demonstranten durch die AfD noch die Kritik an der Polizei angemessen.

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

Die AfD führt in ihrem Antrag noch weitere Vorwürfe gegen die Polizei auf, die aus meiner Sicht ebenso wenig nachvollziehbar sind.

Das bezieht sich unter anderem auf die Einsatzstärke der Polizei. Dies ist bei uns ja ein beliebtes Diskussionsthema, wenn es um Versammlungen geht. Wenn ich die Berichterstattung und die Pressemitteilung der Polizei richtig gelesen habe, gibt es überhaupt keinen Hinweis darauf, dass zu wenig Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte eingesetzt wurden.

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

Außerdem wird der Vorwurf erhoben, es habe nach der Demonstration keinen Begleitschutz gegeben. Auch dazu muss ich sagen, dass es zumindest laut meinen Informationen – also der Presseberichterstattung und der Pressemitteilung der Polizei – keine Hinweise darauf gibt, dass es nach den Versammlungen zu Übergriffen auf die AfD-Anhänger gekommen ist. Auch hier kann man der Polizei also keinen Vorwurf machen.

Wirklich Sorge bereitet mir aber, dass auf der Facebook-Seite der AfD-Landtagsfraktion anlässlich dieser Veranstaltung in Köln-Kalk mal wieder in höchstem Maße gehetzt und in manchen Kommentaren auch zu Gewalt aufgerufen wird. Widerspruch seitens der AfD-Landtagsfraktion findet man aber so gut wie gar nicht. Das halte ich tatsächlich für gefährlich.

Auf der einen Seite inszeniert sich die AfD hier mal wieder als Opfer. Auf der anderen Seite lässt sie Hetze und Aufrufe zu Gewalt unwidersprochen stehen. Damit heizen Sie eine ohnehin schon polarisierte Stimmung an. Das halte ich für wirklich gefährlich und auch für unverantwortlich.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schäffer. – Als nächster Redner hat für die Landesregierung Herr Minister Reul das Wort. Bitte sehr, Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herrn Abgeordnete! Die Chancengleichheit aller politischen Parteien ist ein wesentliches Element unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Deshalb werden alle Parteien gleich behandelt. Das ist nicht nur gut so, sondern sogar gesetzlich vorgeschrieben und unstrittig.

Mein Haus hat per Erlass den eigenen Geschäftsbereich aus Anlass der anstehenden Europawahl explizit für diese Frage sensibilisiert. Die Landesregierung setzt sich selbstverständlich für die Chancengleichheit ein. Dazu bedarf es eines solchen Antrags im Parlament wirklich nicht.

Derzeit finden landesweit zahlreiche Wahlkampfveranstaltungen der unterschiedlichen Parteien statt. Die Polizei schützt diese Veranstaltungen im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags und unter selbstverständlicher Beachtung des Neutralitätsgebotes. – So viel grundsätzlich vorab.

Bei der in Rede stehenden Wahlkampveranstaltung am 7. April 2019 kam es zu einem deutlichen Gegenprotest, der ebenfalls unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fiel. Das haben wir sehr häufig. Es war also nicht das erste Mal der Fall. Vielmehr gibt es dies auch von anderen politischen Seiten. Den Tatbestand, dass eine Veranstaltung und eine Gegendemonstration stattfinden, haben wir wirklich sehr häufig. Diese Situationen bereiten uns sehr viel Kummer; das ist wahr.

Zurück zum Sachverhalt: Einzelne Störer verließen darüber hinaus den gesetzlich definierten Bereich des friedlichen Protests. Auf gut Deutsch: Sie haben sich nicht an die Regeln gehalten. Dagegen ist die Polizei konsequent vorgegangen. Sie hat die fortgesetzten Begehungen von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten unterbunden und anlassbezogene Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Aufgrund der polizeilichen Maßnahmen konnte die Veranstaltung fortgeführt werden. Ohne den Einfluss der Polizei – ich verkürze das einmal – hätte man hinsichtlich der Veranstaltung also Probleme gehabt. Die Polizei hat ihren Job gemacht. Ihr eine falsche Einsatzstrategie vorzuwerfen, ist deshalb wirklich nicht in Ordnung.

Nach den mir vorliegenden Berichten der einsatzführenden Polizeibehörde Köln stellt sich der Sachverhalt vielmehr wie folgt dar:

Die Polizei hat zum Schutz der angemeldeten Versammlungen unter anderem ein umfangreiches Sperrstellenkonzept entwickelt. An der Teilnahme interessierte Personen wurden gesammelt – die Kollegin, die jetzt nicht mehr hier ist, hatte recht; sie wurden gesammelt – und durch die Polizei geschützt in Kleingruppen zur Veranstaltungsörtlichkeit geleitet, damit nichts passiert. Das war eine Schutzmaßnahme.

Dies erfolgte, wie im Vorfeld im Rahmen des Kooperationsgesprächs mit dem Versammlungsleiter abgestimmt, alsbald nach Öffnung der Veranstaltungsörtlichkeit durch diesen. Dass die Personen gesammelt und geschützt in die Versammlung geführt wurden, war also sogar mit dem Versammlungsleiter abgesprochen. Auch das war also kein wilder Zugriff.

Die Polizei ist übrigens nicht zögerlich gegen Störer eingeschritten. Im Gegenteil! Nach erfolgtem Ausschluss der Störergruppe durch den Versammlungsleiter – er muss das aber erst einmal machen – nach akustischen Störungen in Form von Pfiffen, Klatschen und Rufen sowie der Aufforderung, dem Entfernungsgebot nachzukommen, entfernte die Polizei 41 Personen, die den Saal nicht freiwillig verlassen hatten.

(Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

So ist das nach dem Versammlungsrecht. Der Versammlungsleiter fordert dazu auf, und wenn man nicht herausgeht, dann kommt die Polizei.

Hierzu hatte der Versammlungsleiter den ihm zur Verfügung gestellten polizeilichen Verbindungsbeamten ersucht – so, wie dies im Vorfeld abgestimmt war. Es war also ebenfalls im Vorfeld mit dem Versammlungsleiter abgestimmt.

Das ist übrigens auch keine Besonderheit. Es wird immer so gemacht, dass man es abstimmt, damit die Polizei keine willkürlichen Eingriffe vornimmt.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ich mache weiter. – Der Zeitaufwand für Ansprechen, Verweisen, Bitte um Unterstützung an die Polizei, Heranführung weiterer polizeilicher Kräfte und Begleitung der Störer aus dem Gebäude von weniger als 40 Minuten ist nicht zu beanstanden.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Anderthalb Stunden!)

– 40 Minuten. Sie müssen immer wissen, wo Sie anfangen, zu messen. Es gilt der Zeitpunkt, zu dem der Versammlungsleiter um die Hilfe der Polizei bittet.

Bereits im Kooperationsgespräch wurden dem Versammlungsleiter mögliche Risiken einer unbeschränkten Einladung zu einer öffentlichen Versammlung erläutert. Ihnen wurde also explizit gesagt: Wenn ihr das öffentlich macht und jeden hineinlasst, können auch Menschen kommen, die stören.

Das hat auch jeder gewusst. Dieser Hinweis wurde vom Versammlungsleiter jedoch nicht berücksichtigt. Stattdessen hat man sich anders entschieden – was vollkommen in Ordnung ist.

In der Folge hatte jedermann, unabhängig von seiner politischen Einstellung, das Recht, an der Versammlung teilzunehmen. Dann darf der Zutritt rechtlich nicht mehr verweigert werden, wenn nicht von vornherein klar ist, dass diese Personen stören wollen. Das war die Konsequenz. Die Polizei hatte einen Rat gegeben. Dieser Rat wurde nicht befolgt. Das ist kein Problem. Aber dann muss man auch damit leben, dass alle hineinkommen.

Nachdem es dann zu Störungen kam, hat die Polizei auch eingegriffen. Nach dem polizeilichen Einschreiten und dem Abführen von Personen aus dem Gebäude konnte die Veranstaltung fortgesetzt und beendet werden.

Zum Abschluss der AfD-Veranstaltung hat die Polizei ein Raumschutzkonzept eingesetzt, um insbesondere die sich entfernenden Versammlungsteilnehmer vor Übergriffen zu schützen. So wurde zum Beispiel eine Personengruppe von der Polizei zu einem nahe gelegenen Parkplatz begleitet. Dieses angepasste Vorgehen entsprach dem Einsatzkonzept und ermöglichte einen umfassenden Schutz der sich entfernenden Versammlungsteilnehmer.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Polizei duldet keine rechtswidrigen Störungen von rechtmäßigen Veranstaltungen – egal von wem. Außerdem geht sie konsequent gegen Straftäter vor und gewährleistet auch bei starkem Gegenprotest, unabhängig von der politischen Couleur, die Ausübung der Grundrechte.

Die Ergebnisse der insgesamt 95 eingeleiteten Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren bleiben natürlich abzuwarten. Das ist jetzt Sache der Staatsanwaltschaft und der Gerichte.

Ich möchte abschließend daran erinnern, dass Demokratie auch Gegenmeinungen und Gegenprotest aushalten muss. Die Polizei hat dafür zu sorgen, dass keine Straftaten begangen werden. Aber hundertprozentigen Schutz kann es – wie so oft im Leben – nicht geben.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Auf eines lege ich Wert: So etwas unschön und nicht in Ordnung zu finden, ist das eine. Ich lehne es übrigens genauso ab, wenn andere Veranstaltungen von der anderen politischen Seite gestört werden. Aber in diesem Fall lief alles nach Recht und Gesetz. Die Polizei hat alle Regeln eingehalten. Deshalb finde ich es nicht akzeptabel, dass die Polizei in diese falsche Ecke gedrängt wird.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Ich darf darauf hinweisen, dass die Landesregierung ihre Redezeit um 1:56 Minuten überzogen hat. Damit gehen im Nachhinein auch alle vorherigen Redezeitüberziehungen in Ordnung.

Jetzt gibt es – Herr Minister, Sie haben es gesehen – eine angemeldete Kurzintervention der Fraktion der AfD. Der Abgeordnete Tritschler erhält für 90 Sekunden das Wort. Bitte sehr.

Sven Werner Tritschler (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Reul, ich sage es jetzt noch einmal: Wir haben ausdrücklich nicht die Polizei kritisiert, sondern die Polizeiführung. Ich finde es unredlich, dass Sie uns die ganze Zeit unterstellen, wir hätten einzelne Polizisten kritisiert.

Insgesamt war Ihre ganze Darstellung zynisch und menschenverachtend – es sei denn, Sie sind auch der Meinung, dass AfDler nicht mehr als Menschen zählen. Das kann natürlich sein.

Sie lassen sich unter Personenschutz durchs Land gondeln. Sie lassen sich von einem halben Dutzend Personenschützern auf dem Rosenmontagszug begleiten und erzählen uns, wir sollten uns nicht so anstellen.

Herr Reul, wir haben am Samstag die nächste Veranstaltung in Köln, und es ist schon wieder ziemlich viel angekündigt. Ich lade Sie ein: Kommen Sie mal mit mir mit – vielleicht ohne Personenschutz –, und dann schauen Sie mal, ob Sie das Polizeikonzept immer noch so toll finden. Schauen Sie mal, ob man das aushalten muss. Schauen Sie mal, ob Sie das aushalten können, Herr Reul. Dann können Sie große Töne hier im Landtag spucken. Aber bitte nicht so!

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Minister, Sie haben die Möglichkeit, für 90 Sekunden zu entgegnen.

Herbert Reul, Minister des Innern: Dass ich hier menschenverachtend vorgetragen haben soll, macht mich fassungslos. Herr Tritschler, wenn ich mir so manche Äußerung aus Ihren Reihen zur politischen Lage anhöre, empfinde ich diesen Begriff dort manchmal als passender.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Im Übrigen bleibt es Ihnen unbenommen, meine Maßnahmen zum Personenschutz hier vorzutragen. Ich kann nur sagen, dass das keine Freude macht, aber leider nicht anders zu machen ist. Ich war in meinem Leben auch schon ohne Personenschutz unterwegs und habe viele Veranstaltungen erlebt, auf denen es zu Angriffen kam, auch von außen. Ich weiß, dass das nicht in Ordnung ist. Ich habe so etwas immer kritisiert. Auch linke Gewalt gegen Rechte habe ich immer kritisiert.

Eines ist aber klar: Die Polizisten müssen trotz allem – ob es ihnen politisch passt oder nicht; es ist für Polizisten auch irre anstrengend, das auszuhalten – dafür sorgen, dass jeder sein Recht auf Meinungsäußerung wahrnehmen kann. Das ist Demokratie. Das ist der anstrengende Teil. Für Polizisten im Einsatz ist das viel anstrengender als für viele von uns.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das waren Kurzintervention und Entgegnung. Ich schaue jetzt einmal in die Runde. Weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nämlich nicht vor. – Dabei bleibt es auch. Dann sind wir am Schluss der Aussprache angelangt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

 Wir kommen zur Abstimmung. Über den Eilantrag wird bekanntlich direkt abgestimmt. Daher darf ich fragen, wer dem Inhalt des Eilantrags Drucksache 17/5696 seine Zustimmung geben möchte. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der AfD. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der SPD, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie der fraktionslose Abgeordnete Langguth. Gibt es Enthaltungen? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Damit ist der Eilantrag Drucksache 17/5696 mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir zu Tagesordnungspunkt 6 übergehen, kommen wir noch einmal zu Tagesordnungspunkt 4 zurück. Wir haben noch das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag Drucksache 17/5635 der Fraktion der AfD zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bekannt zu geben. Ihre Stimme abgegeben haben 189 Abgeordnete. Mit Ja stimmten 12 Abgeordnete. Mit Nein stimmten 176 Abgeordnete. Ein Abgeordneter hat sich der Stimme enthalten. Damit ist der Antrag Drucksache 17/5635 abgelehnt.

Ich rufe auf:

6   Fragestunde

Drucksache 17/5680

Mit dieser Drucksache liegen Ihnen die Mündlichen Anfragen 39, 40 und 41 vor.

Ich rufe die

Mündliche Anfrage 39

des Abgeordneten Stefan Engstfeld von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf.

Das Thema heißt: „Schließt Innenminister Herbert Reul im Fall Amad A. eine nachträgliche Datenmanipulation aus?“

Ich darf vorsorglich darauf hinweisen, dass die Landesregierung in eigener Zuständigkeit entscheidet, welches Mitglied der Landesregierung eine Mündliche Anfrage im Plenum beantwortet.

Da die Landesregierung angekündigt hat, dass Herr Minister Reul antworten wird, schalte ich sein Mikrofon zur Beantwortung der Anfrage 39 frei. Bitte sehr, Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich für diese Anfrage, weil wir damit die Gelegenheit erhalten, einen Sachverhalt klarzustellen, der offenkundig in der Öffentlichkeit nicht ganz so klar war, um es einmal vorsichtig vorzutragen. Ich würde das gerne jetzt auch im Einzelnen tun.

In meinen früheren Berichten – ich muss das nur kurz sagen – hatte ich immer erklärt, dass Ausgangspunkt des tragischen Brandverlaufs eine Verwechslung bei einer polizeilichen Identitätsfeststellung am 6. Juli 2018 in Geldern war.

Diese Verwechslung war – das habe ich immer betont – ein schwerer Fehler. Da gibt es überhaupt nichts zu beschönigen. Darum habe ich den Fehler übrigens nicht nur benannt, sondern auch Disziplinarverfahren in Gang gesetzt und den Fall der Staatsanwaltschaft übergeben. Deren Ermittlungen hierzu laufen noch. Die Verfahrenshoheit der Staatsanwaltschaft respektiere ich natürlich.

Auch habe ich mich am Rande der Beerdigung von Amed A. im Sommer in Bonn bei der Familie des Opfers hierfür in aller Form entschuldigt. Das war mir persönlich ein wichtiges Anliegen.

Es gibt aber – jetzt zur Frage – keine wie auch immer gearteten Anhaltspunkte für eine Datenmanipulation der nordrhein-westfälischen Polizei.

Die am 6. Juli zur Identifizierung durchgeführte Abfrage des Automatisierten Fingerabdruckidentifizierungssystems ergab die Personaldaten des späteren Brandopfers. Bei den weiteren Überprüfungen dieser Personaldaten in den polizeilichen Fahndungsbeständen wurden nach allem, was wir wissen und uns berichtet wurde, Verknüpfungen zu weiteren Personendatensätzen angezeigt. Dazu später noch mehr.

Nach den uns danach vorgelegten Berichten der Kreispolizeibehörde Kleve sind wir im Ministerium davon ausgegangen, dass bei diesen Abfragen auch die Daten des Amedy G. auf den Bildschirmen der Polizeibeamten angezeigt wurden. Diese Hypothese besteht bei uns heute noch.

Sie ist jedoch aufgrund der heute vorliegenden Erkenntnisse dahin gehend zu konkretisieren, dass die Personendaten des Amedy G. wahrscheinlich nicht als Aliaspersonalien des Amed A. oder umgekehrt angezeigt wurden. Das habe ich auch lernen müssen. Aliasnamen heißt: Dieselbe Person hat mehrere Namen, unter der sie auftaucht. Das ist ein wichtiger Punkt. Das werden Sie gleich sehen.

Das Landeskriminalamt Hamburg hat dazu unserem Landeskriminalamt berichtet, dass zu den Führungspersonalien des Amedy G. erst am 9. Juli, also drei Tage nach der Kontrolle, die Aliaspersonalien Amed A. zugeordnet wurden und diese Datenveränderung durch eine Mitarbeiterin des Landeskriminalamts Hamburg vorgenommen wurde. Diese Zuordnung fand also in Hamburg statt.

Da diese Veränderungen am 9. Juli vorgenommen worden waren, wurden bei allen Abfragen nach dem Brandereignis im September diese Verknüpfungen naturgemäß angezeigt und haben so Eingang in unsere Berichte gefunden. Das heißt, wir haben natürlich alles erklärt nach dem Eintrag, der am 9. Juli geändert wurde. Das muss man wissen.

Nach den Berichten des Landeskriminalamtes Hamburg hätte es jedoch am 6. Juli 2018 bei der polizeilichen Abfrage mit den Daten des Amed A. nicht zu einem Fahndungstreffer auf den Datensatz des Amedy G. kommen können und ist es wohl auch nicht.

Wie konnte es denn dann zu dieser tragischen Verwechslung kommen? Das war die Frage, die uns dann auch umgetrieben hat, nachdem wir die Hinweise hatten.

Wir haben das untersucht, genauer gesagt: das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. Es hat dazu berichtet, dass bei Personenabfragen in dem nordrhein-westfälischen Landessystem ViVA anders als in dem Bundessystem INPOL sogenannte Kreuztreffervergleiche erfolgen. Das ist jetzt der Unterschied zu dem Alias. Dabei werden Namensbestandteile und Geburtsdaten von rechtmäßigen Personalien und Aliaspersonalien gesuchter Personen in unterschiedlichen Kombinationen mit den abgefragten Daten verglichen.

Ich erkläre es einmal an einem Beispiel und nehme dafür meinen Namen Herbert Reul. Darin würde stehen: Herbert Reul, geboren am 31.08.1956. – Der wird kontrolliert und mit dem Datenbestand gesuchter Personen abgeglichen. Bei einem Kreuztreffervergleich würden auf dem Monitor – das ist das andere; das ist aber NRW, also unser System – auch Kombinationen mit zwei übereinstimmenden Merkmalen angezeigt. So würden zum Beispiel ein Hans Wilhelm Reul, der am 31.08.1956 geboren ist, oder ein Herbert Mustermann, der am 31.08.1956 geboren ist, auch angezeigt.

Diese angezeigten Kreuztreffer geben Hilfestellungen und Hinweise für weitere Überprüfungen, sind aber nie alleine die Grundlage für freiheitsentziehende polizeiliche Eingriffsmaßnahmen.

Ich versuche, es noch einmal zu erklären. Unser System hat diese Kreuztreffervergleiche, weil wir aufgrund der Flüchtlingsdebatte sagen, dass wir genau hinschauen müssen, weil es auch manchmal Menschen gibt, die falsche Namen angeben. Das ist der Grund für dieses System. Dann kommen eben mehrere Namen.

Aber das ist nicht ausreichend, um deshalb freiheitsentziehende Maßnahmen stattfinden zu lassen, sondern sie erfordern immer eine kriminalfachliche Analyse, Bewertung und Schlussfolgerung durch die einschreitenden Beamten.

Diese Suchsystematik für ViVA wurde entwickelt, um trotz unterschiedlicher Schreibweisen von rechtmäßigen Personalien oder auch von Aliaspersonalien vollständige Überprüfungen im Landesdatenbestand durchführen zu können.

In Vorbereitung auf die heutige Sitzung habe ich die Mitarbeiter unseres Hauses am gestrigen Tage noch einmal um Prüfung gebeten – denn das wollte ich jetzt auch selber sehen –, welche Daten im nordrhein-westfälischen Landessystem ViVA bei einer Abfrage der Daten des Amed A. aktuell angezeigt werden. Im Ergebnis werden sowohl seine Daten als auch im Kreuztreffer die Daten des Amedy G. angezeigt. Also: Das ist auch heute noch der Fall, was auch logisch ist.

Es ist nach wie vor Gegenstand – das ist der nächste Punkt – der weiteren Untersuchungen im Strafverfahren, was genau am 6. Juli 2018 auf den Monitoren in den Polizeidienststellen in Kleve angezeigt wurde. Das heißt, das Ganze ist immer noch in der Untersuchung. Ich gebe jetzt nur eine Antwort, die wir heute geben können, und mische mich damit nicht – das muss ich noch mal sagen – in die Verfahren der Staatsanwaltschaft ein.

Auf Veranlassung meines Hauses wird die mit der Aufklärung des Gesamtsachverhalts beauftragte Ermittlungskommission des Polizeipräsidiums Krefeld durch Fachleute des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen bzw. des Landesamtes für Zentrale Polizeiliche Dienste unterstützt. Diese Aufgabe liegt allerdings in den Händen der Justiz; denn es handelt sich um ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren.

Ich halte fest:

Erstens. Die in diesem Sachverhalt relevanten Aliasdatensätze zu Amedy G. sind zu keinem Zeitpunkt aktiv durch Bedienstete des Landes Nordrhein-Westfalen bearbeitet worden.

Zweitens. Die in den Presseveröffentlichungen erwähnten Datenänderungen an den Aliaspersonen sind, wie vom Landeskriminalamt Hamburg bestätigt, dort vorgenommen worden. Ein Aliasname wurde mit „Amed A.“ überschrieben.

Das ist übrigens auch ein Vorgang, den wir uns nicht erklären können, warum die Hamburger den Namen überschrieben und nicht ausgetauscht haben. Das spielt aber, glaube ich, in unserem Fall keine Rolle.

Drittens. Der von einem Fernsehmagazin geäußerte Manipulationsvorwurf oder Manipulationsverdacht gegen Bedienstete des Landes Nordrhein-Westfalen ist daher nicht gerechtfertigt.

In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass es den Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen schon rein technisch nicht möglich ist, Datensätze anderer Länder in dem polizeilichen Auskunftssystem INPOL zu ändern. Jede Landespolizei kann nur die Datensätze bearbeiten, die sie selbst angelegt hat. Die Datensätze, über die wir hier sprechen, sind aus Hamburg.

Auf gut Deutsch: Die Datensätze, um die es hier geht, konnte niemand aus Nordrhein-Westfalen verändern, weil das technisch gar nicht geht. Nur derjenige, der die Daten angelegt hat, kann sie verändern. Das macht ja auch Sinn.

Ich habe Ihnen versprochen, alles daranzusetzen, dass sich ein solch tragischer Fall nicht wiederholt. Ich habe, damit ein solches nicht zu akzeptierendes Missverständnis nicht mehr passieren kann, deshalb veranlasst, dass die Datenanzeigen und die Datenausgaben in unserem Informationssystem die aktiven Fahndungstreffer deutlicher hervorheben und dass die Portraitbilder der gesuchten Personen bereits auf der Startseite angezeigt werden.

Letzteres war ja Gegenstand unserer ersten Debatte. Ich wollte Ihnen nur sagen: Das haben wir gemacht. Denn die Verwechslung hätte nie stattgefunden, wenn man die Bilder gesehen hätte. Die sind jetzt auf der ersten Seite, sodass dieses Problem nicht mehr auftreten kann.

Die polizeilichen Fahndungs- und Datensysteme wurden auch in weiteren Details optimiert. Aber das sind wohl die beiden zentralen Punkte. Ich wollte diese Frage nur nutzen, um Ihnen Auskunft dazu zu geben. Ich glaube, dass zumindest Risiken, die in unserer technischen Hand liegen, jetzt minimiert worden sind. – Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Die nächste Frage stellt Herr Engstfeld. Bitte schön, Herr Engstfeld.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Innenminister, für die Antwort auf meine Frage. Aus meiner Sicht haben Sie den Vorwurf der nachträglichen Datenmanipulation nicht ausgeräumt.

Ich habe auch den „Monitor“-Bericht nicht so verstanden, dass der Vorwurf darin bestand, dass nordrhein-westfälische Beamte den Datensatz manipuliert haben, sondern ich habe die Ausstrahlung so verstanden, dass festgestellt wurde: Am 09.07., drei Tage nach der Verhaftung von Amad A., wurde der Datensatz dahin gehend verändert, dass der Aliasname Amad Ahmad der Führungspersonalie Amedy G. zugeordnet wurde. Erst durch diese Zuordnung erfolgte ein Treffer im Fahndungssystem, und es konnte eine Verknüpfung zwischen Aliasnamen und Führungspersonalie stattfinden.

So habe ich auch das LKA Hamburg verstanden, das klar gesagt hat, dass vor dieser Zuordnung am 09.07. gar keine Treffer möglich waren, also auch keine Zuordnung möglich war. Deswegen steht das große Fragezeichen, das Sie auch beschrieben haben, im Raum: Warum gab es trotzdem eine Zuordnung durch die Beamten in Kleve?

Ich komme zu meiner ersten Frage. Sie haben es, glaube ich, gerade als Hypothese beschrieben. Ein Erklärungsmuster dafür, dass solch eine Zuordnung trotzdem möglich wäre, könnte ein sogenannter Kreuztreffervergleich sein. Das haben Sie gerade ausgeführt. Das ist eine theoretische Möglichkeit; dem würde ich zustimmen. Aber es ist eine theoretische Möglichkeit, eine reine Hypothese, ich würde sagen, eine Spekulation.

Deswegen meine Frage: Gibt es irgendeinen Beleg dafür, dass dieser Kreuztreffervergleich Auslöser für die Verwechslung am 06.07. auf der Polizeiwache in Geldern war, oder ist das bis jetzt nicht einfach nur reine Spekulation?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Erstens. Ich habe mich immer bemüht, und ich fand, es war zwischen uns immer eine sehr faire Debatte.

Noch mal: Natürlich ist am 9. etwas geändert worden; da haben Sie recht. Aber der Vorwurf in den Zeitungen war doch landauf, landab – auch bei „Monitor“ –, dass es in Nordrhein-Westfalen gemacht worden wäre, und zwar durch Beamte, die betroffen sind. Da wurde doch ständig der Verdacht genährt, da wären irgendwelche bösen Mächte am Werk.

Das können wir auch weglassen. Wichtig ist ja nur, dass wir gemeinsam feststellen können: Diese Veränderung ist in Hamburg geschehen, weil sie technisch nur in Hamburg geschehen konnte und weil die Hamburger uns das auch schriftlich bestätigt haben. Damit kann man diesen Fall wegtun und sagen: Das ist erledigt.

Es bleibt die Frage offen: Warum hat man das in Hamburg verändert? Die Frage kann ich aber nicht beantworten, sondern die müssen die Hamburger beantworten. Das ist ja klar.

Zweitens. Sie haben noch mal auf die Zeitdiffererenz hingewiesen. Für diesen Hinweis bin ich sehr dankbar, den hatte ich gerade aus dem Auge verloren. Am 06.09. wird er festgenommen, und dann kommt die ganze Maschinerie erst in Gang. Am 9. findet dieser Vorgang in Hamburg statt.

Das hat mich am Anfang auch verwirrt, aber manchmal hilft ein Blick in den Kalender. Der 6. war ein Freitag. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe – legen Sie mich nicht auf die genaue Zeit fest –, ist die Einlieferung in die Haftanstalt in Kleve um 21 Uhr und noch was passiert.

So, wie die Polizei arbeitet – ich war nicht dabei –, ist es relativ wahrscheinlich, dass sie danach nach Hamburg geschrieben haben, was sie gemacht haben. Das können sie nicht vorher machen, das ist ja logisch. Am Freitagabend wurden die Daten in der Behörde in Kleve eingegeben. Dann kommt ein Samstag, ein Sonntag, ein Montag. Am Montagmorgen kommen die Klever Behördenmitarbeiter wieder in den Dienst und leiten die Daten weiter nach Hamburg. Die können dann erst am 9. handeln. Die Sache ist also relativ einfach zu erklären.

Es bleibt Ihre letzte Frage offen: Wie ist das mit dem Kreuztreffer? Warum haben die beiden in Kleve denn am Anfang den Namen überhaupt so erfasst? Wie kommen sie auf diesen anderen Namen?

Da haben Sie zu Recht beschrieben – und ich teile diese Auffassung –: Wir wissen nur, dass es diesen Mechanismus des Kreuztreffers gibt. Ich habe ihn gestern noch einmal nachvollzogen. Es gibt ihn immer noch. Es ist relativ plausibel – nicht mehr, Sie können auch „wahrscheinlich“ sagen –, dass dies der Grund ist, warum die Polizisten auf diesen Namen gekommen sind.

Ich weiß das nicht. Ich kann das auch gar nicht wissen, weil ich nicht dabei war. Das ist doch klar. Das kann ich Ihnen vorläufig auch nicht beantworten. Diese Frage können eigentlich nur zwei Personen beantworten, nämlich die Polizisten, die das gemacht haben. Die müssen die Frage beantworten, ob der Kreuztreffer der relevante Mechanismus war oder nicht.

Das müssen sie aber bei der Staatsanwaltschaft machen, da komme ich im Moment nicht weiter. Wir müssen warten, weil das logischerweise im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen die beiden geprüft wird. Das ist garantiert einer der zu klärenden Punkte, wahrscheinlich sogar einer der zentralen. Denn die Staatsanwaltschaft will auch wissen, warum die beiden auf den Weg gekommen sind.

Ich bitte um Verständnis, dass ich versuche zu erklären, was nach dem, was wir wissen, sein könnte. Sicher ist es nicht, ich halte es aber für sehr wahrscheinlich. Wissen kann es nur der, der es gemacht hat, oder jemand, der dabei war. Es ist theoretisch auch noch vorstellbar, dass es jemand gesehen hat und dies dann beurteilen kann. Aber auch das würde erst im Rahmen von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zutage treten.

Es sind ganz unterschiedliche Sachen. Bei einigen Dingen sind wir klar, über die kann ich Ihnen heute eine Auskunft geben. Bei anderen Dingen sind wir noch nicht klar.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Wolf von der SPD-Fraktion hat eine Frage. Bitte schön, Herr Wolf.

Sven Wolf*) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich hätte Ihnen jetzt gerne die Frage gestellt, wer die Veränderung der INPOL-Daten veranlasst hat.

Sie selber haben gerade eine Hypothese mit dem Zeitablauf von Freitag bis Montag geliefert, also Informationen, die von NRW nach Hamburg geflossen sind. Das lasse ich jetzt einmal als Hypothese im Raum stehen und schließe daraus – um die Frage selbst zu beantworten, dann brauche ich Sie Ihnen nicht zu stellen –, dass die Veranlassung aus NRW kam, in Hamburg die INPOL-Daten zu ändern. So habe ich es verstanden.

Die Frage, die ich Ihnen eigentlich stellen wollte, ist die nach dem Zeitpunkt: Wann war Ihnen bekannt, dass es eine andere technische Analyse des Landeskriminalamts gegeben hat? Wann gab es die technische Analyse des LKA über die Veränderung der Daten? Wann ist Ihnen diese Information zugegangen? Die Presseberichterstattung begann teilweise am 8., teilweise am 9. Wann haben Sie diese Information bekommen? Wann lag sie Ihnen vor?

Diese Frage stelle ich vor dem Hintergrund – ich will das noch einmal erläutern –, dass wir auch in anderen Ausschüssen, unter anderem im Rechtsausschuss, darüber diskutiert haben, und darauf konnte Ihr Kollege Herr Biesenbach natürlich nicht antworten.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Wolf. – Herr Minister, bitte Ihre Antwort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Bei der INPOL-Veränderung spielt eine Rolle, dass es zwei Systeme betrifft. Da muss man immer aufpassen. Die INPOL-Veränderung in dem Datenbestand am 9. ist in Hamburg passiert. Das ist keine Hypothese, das ist klar.

(Sven Wolf [SPD]: Aber auf wessen Veranlassung?)

– Aufgrund der Daten, die sie bekommen haben, ist unsere Vermutung – der Anfrage.

(Sven Wolf [SPD]: Aus NRW?)

– Nein, es gab keine Anforderung aus Nordrhein-Westfalen und keinen Hinweis, sie mögen die Daten so verändern. Das ist klar. Das kann ich Ihnen 100%ig sagen.

Was die Frage des Zeitpunkts vom 6. bis 9. betrifft – da haben Sie recht oder unrecht, vielleicht beides –, das ist ein Erklärungsversuch von mir, mehr nicht. Ich war zwar nicht dabei, aber es hat ja eine hohe Plausibilität. Wenn man etwas am Freitag gegen 21 Uhr und noch was in der eigenen Behörde weitergibt und dies von dort dann nach weiter Hamburg gegeben wird, ist es logisch, dass die Information frühestens am Montag dort angekommen sein kann. Das würde erklären, warum die die Daten am 9. in Hamburg verändert wurden. Die Hamburger haben auch bestätigt, dass sie es verändert haben. Noch mal: Technisch waren nur sie alleine dazu in der Lage.

Zur eigentlichen Frage: Wir haben relativ früh, als die Frage auftauchte, warum da dieses Loch ist – im November, wenn ich mich recht erinnere –, das Landeskriminalamt schon gebeten, all diesen Fragen nachzugehen. Das ist sehr kompliziert und aufwendig. Die haben auch sehr lange mit Hamburg in dieser Frage korrespondiert.

Das Unangenehme für mich war, dass dies, als der „Monitor“-Bericht kam, noch nicht abgeschlossen war. Da habe ich natürlich eine Sekunde gezuckt, das ist ja klar. Man denkt: Lass sich das nicht festsetzen. – Da stand ja dann der Vorwurf der Manipulation durch Nordrhein-Westfalen im Raum. Aber ich hatte keinen abgeschlossenen Bericht. Und wie Sie mich kennen: Ich sage erst dann etwas, wenn ich es weiß.

Jetzt weiß ich, dass es so ist. Das Ergebnis kam vor zwei Tagen. Deswegen kam es mir jetzt auch zupass, dies vortragen zu können.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Frau Kapteinat hat eine Frage. Bitte schön.

Lisa-Kristin Kapteinat*) (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Reul, Sie haben eben sehr schön deutlich gemacht, wie es sich mit den Aliasnamen verhält, und auch die Kreuztreffer, die Sie für möglich halten, erläutert.

Ich frage: Wie lauteten die Aliasnamen des eigentlich gesuchten Maliers am Tage der Verhaftung, dem 06.07.2018, und wie lauteten sie am 09.07.2018?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Eine Sekunde, das ist eine Riesenliste. – Die Aliasnamen von Amed A. mit dem Datum usw. lauten A., Ahmed, mit h geschrieben und dem gleichen Geburtsdatum, dann A. Ahmad, der Nachname auch mit h geschrieben, am 13.07. geboren, dann noch einmal A. Ahmad, geschrieben wie davor, geboren am 01.01.92. Es gab also sowohl unterschiedliche Schreibweisen als auch unterschiedliche Daten.

Zur zweiten Frage: Sie wollten auch die Aliasnamen von Geuira haben. Die Liste mit den Aliasnamen von Geuira Amedy ist natürlich auf dem Stand nach dem 09.07. Davor haben wir gar keine. Wir haben erst den Stand nach dem 09.07., also nachdem das in Hamburg so geschrieben worden ist.

Hierzu liegen folgende Aliasnamen vor: M., Amedy; M., Abdoul; A., Amed; G., Amedy-Mamadou; S., Amed; G., Amedy; G. Amedy mit einem anderen Geburtsort und A., Geuira, wieder mit einem anderen Geburtsort. Ich habe das jetzt nicht so genau betont, aber manchmal sind die Schreibweisen unterschiedlich, manchmal die Geburtsorte und manchmal die Geburtsdaten.

Jedenfalls sind das – ich bin dankbar für den Hinweis – die Aliasnamen vom 09.07., also nicht 06. sondern 09.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Engstfeld hat eine zweite Frage. Bitte schön, Herr Engstfeld.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Herr Minister, Sie haben von Fairness gesprochen. Deswegen bin ich so fair und stelle das noch einmal richtig. Ich habe die Medienberichterstattung nicht so verstanden, dass der Vorwurf war, dass NRW-Beamte den Datensatz manipuliert haben.

Ich sage es noch einmal – und so steht es auch in meiner Mündlichen Anfrage, das können Sie nachlesen –: Es steht der „Verdacht eines absichtlichen irregulären Vorgehens bei der Inhaftierung des Syrers“ am 06.07. bei der Polizei in Geldern im Raum.

Deswegen ist die Frage – das ist die Thematik an dem 09.07., drei Tage später –, ob Sie eine nachträgliche Datenmanipulation ausschließen können, weil – das haben Sie auch ausgeführt – am 09.07. der Datensatz mit den Aliasnamen verändert wurde und dadurch überhaupt erst eine Zuordnung und ein Treffer im Polizeidatenbanksystem möglich gewesen sind. Alle Abfragen davor hätten negativ ausgehen müssen.

Wir haben den Vergleichsfall zwei Tage vor der Verhaftung in Geldern am 06.07. sowie am 04.07. in Krefeld, wo Amed A. wegen Schwarzfahrens auch zur Identitätsüberprüfung und -feststellung auf die Polizeibehörde nach Krefeld gebracht wurde – es gab anscheinend zwei Haftbefehle –, wo keine Zuordnung stattgefunden hat, was logisch wäre, wenn diese vor dem 09.07. auch gar nicht erkennbar gewesen wäre. Das zur Klarstellung, dass das der Verdacht war.

Sie haben ausgeführt, dass Hamburg am 09.07. die Veränderung des Datensatzes vorgenommen habe und dass das in Nordrhein-Westfalen technisch gar nicht möglich sei. Ich möchte die Fragestellung des Kollegen Wolf an dieser Stelle verstärken. Am 09.07. hat also das LKA Hamburg den Aliasnamen Amed A. der Führungspersonalie Amedy G. zugeordnet, und damit war er im System auffindbar. Warum sollte Hamburg das tun?

Daher lautet meine Frage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es keine Kausalität zwischen der Verhaftung am 06.07. in Geldern und der Veränderung des Datensatzes am 09.07. durch das LKA Hamburg gibt? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es keine Verbindung gibt?

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Engstfeld. – Herr Minister, Sie haben das Wort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Hamburg hat begründet, dass sie mit der Beantragung des Haftbefehls den Eintrag verändert haben. Das ist die sachliche Antwort.

Des Weiteren gibt es einige Tatbestände, die ich nicht beantworten konnte und auch nicht beantworten kann, weil sie – vielleicht muss ich das ergänzen – erstens Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen sind und zweitens – das ist eine Zusatzinformation – in Bezug auf die Technik noch offene Fragen untersucht werden. Das, was ich sagen konnte, habe ich gesagt.

Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen werden gemeinsam mit der Polizei sowie mit technischen Unternehmen, also Spezialisten, die dafür eingesetzt werden, noch weitere Fragen geklärt. Ich habe das gesagt, was ich sagen kann. Damit ist noch nicht alles geklärt, aber ich denke, der Vorwurf der Manipulation durch nordrhein-westfälische Beamte ist aus der Welt. Das meinte ich mit Fairness.

Ob „Monitor“ das so berichtet hat oder nicht, dazu mögen wir unterschiedliche Empfindungen haben. Ich möchte in dem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass die nordrhein-westfälischen Medien nach dem Tag der Berichterstattung allerdings überall den Eindruck erweckt haben, als seien unsere Polizisten diejenigen gewesen, die manipuliert hätten. Das wollte ich nur richtigstellen.

Das Versagen und die Fehler der Polizisten in Kleve habe ich benannt – dabei bleibt es auch –, aber es geht nicht, dass wir ihnen etwas an die Backe kleben, was sie nicht zu verantworten haben. Das ist der Punkt. Mehr will ich gar nicht.

(Beifall von der CDU)

Damit ist noch lange nicht alles aufgeklärt – da bin ich sicher –, sonst wäre der Staatsanwalt längst fertig mit seiner Arbeit. Er ist aber noch nicht fertig. Ich habe nur versucht, die eine Frage zur Datenmanipulation, die Sie geklärt haben wollten, zu klären – soweit wir es heute können – und habe Ihnen die Informationen weitergegeben.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Frau Kopp-Herr von der SPD-Fraktion hat eine Frage. Bitte schön.

Regina Kopp-Herr*) (SPD): Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie haben erwähnt, dass der Kreuztreffervergleich in Nordrhein-Westfalen einmalig in der Bundesrepublik ist. Deswegen habe ich dazu noch eine Frage. Wenn es bei diesem Kreuztreffervergleich tatsächlich zu einer Auffälligkeit kommt – um nicht noch einmal das Wort „Treffer“ zu wiederholen –, wie geht es dann im Verfahren weiter? Wie wird dann untersucht, um Verwechselungen tatsächlich auszuschließen?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Erstens kann ich nicht bestätigen, dass das einmalig in Deutschland ist. Ich bitte darum, zu überprüfen, ob das wirklich stimmt.

Zweitens ist es aus gutem Grunde eingeführt worden, insofern würde ich es nicht infrage stellen wollen. Ich bin der Meinung, wir brauchen solche Daten.

Drittens liegt der Fehler bei den Menschen, die davor sitzen. Wenn diese die zwei, drei oder vier Daten sehen und sie einfach identisch setzen, als wäre das ein Alias, dann ist das ein sogenannter Fehler, aber kein Maschinenfehler, sondern ein menschlicher.

Normalerweise müssen sich Polizisten diese Dinge genau angucken und nachvollziehen und dürfen nicht einen – ich sage es einmal salopp – voreiligen Schluss ziehen. Das durften sie nicht machen. Das war der Fehler, das ist klar.

Ich möchte es ganz behutsam ausdrücken: Wahrscheinlich ist das sogar die Erklärung, warum die Polizisten diesen Weg dann beschritten haben. An der Stelle haben sie den Fehler gemacht. Aber das bleibt abzuwarten, bis es endgültig ist. Noch einmal: Ich war nicht dabei. Sie müssen selber erklären, wie sie darauf gekommen sind, diesen Weg zu gehen.

Insofern ist der entscheidende Punkt: Wenn Polizisten gründlich, richtig und Stück für Stück arbeiten, hätte dieser Fehler mit dem Kreuztreffervergleich nicht passieren können bzw. dürfen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Wolf stellt seine zweite und letzte Frage.

Sven Wolf*) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie gesagt, der Verdacht sei nicht gerechtfertigt. Vor zwei Tagen fand eine Sitzung des Rechtsausschusses statt, und dort hat Ihr Kollege Herr Biesenbach noch von einem ungeheuerlichen Verdacht gesprochen.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Wenn es ihn gäbe!)

– Wenn es ihn gäbe, ja.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Ja, das kann er ja nicht wissen!)

Jetzt möchte ich gerne der Landesregierung die Frage stellen: Wenn es um einen so ungeheuerlichen Vorwurf geht – der Vorwurf lautet, es könnte sein –, warum findet dann keine bessere kommunikative Abstimmung in der Landesregierung statt? Warum lassen Sie Ihren Kollegen Herrn Biesenbach am Montag von einem ungeheuerlichen Vorwurf sprechen?

Die Meinung haben wir geteilt, und auch in der Bestürztheit waren wir selten so einig im Rechtsausschuss. Wir haben gesagt: Wenn sich ein solcher Verdacht bestätigen würde, dann wäre das – ich glaube, dieses Wort haben wir beide benutzt, Herr Biesenbach – ungeheuerlich.

Vor zwei Tagen, also am gleichen Tag, sagten Sie, Ihnen sei die Information bekannt geworden, dass es keine Manipulation gegeben habe, dieser Verdacht sei nicht mehr gerechtfertigt. Also, wie kam es zu dieser Kommunikation bzw. Nichtkommunikation zwischen Ihnen als Innenminister und Herrn Biesenbach als Justizminister?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ganz herzlichen Dank für diese Frage. Ich muss präzise sein. Den Bericht vom LKA haben wir am 05.04. abends bekommen. Das war, glaube ich, ein Freitag. Dann hat unser Haus das ausgewertet. Ehe wir damit rausgehen – das jetzt unter uns, nach allem, was wir da erleben; es läuft auch ein Untersuchungsausschuss –, wird das drei- oder viermal chemisch gereinigt. Das ist doch klar.

Am Montag war die Sitzung des Rechtsausschusses. Ich habe den Kollegen Biesenbach zu dem Zeitpunkt nicht darüber informiert, weil mir erstens nicht klar war, dass das als Frage im Rechtsauschuss anlag, und weil wir zweitens in den Prüfungen waren. Drittens. Dass der Kollege Biesenbach das als ungeheuerlichen Tatbestand bezeichnen würde, wenn er denn stimmen würde, ist doch total in Ordnung.

Vielleicht erinnern Sie sich an meine Worte. Als mich die nordrhein-westfälischen Journalisten gefragt haben, habe ich stets gesagt: Ich weiß nichts darüber, und aufgrund staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen kann ich nichts dazu sagen. Aber wenn es stimmen würde, wäre es ungeheuerlich. – Da sind wir der gleichen Meinung, und da gibt es keinen Unterschied in der Bewertung.

Es ist einfach Pech oder Zufall, dass wir so knapp aneinander vorbeigeschrammt sind. Wenn wir beide die Information am gleichen Tag gehabt hätten, hätte der Kollege Biesenbach auch Bescheid gewusst. Das ist glasklar.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie die Frage gestellt haben; denn dann kann ich es heute aufklären. Anders ging es ja nicht.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Engstfeld stellt seine dritte und letzte Frage. Bitte.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich stelle erst einmal fest, dass wir uns all das noch genauer im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss werden anschauen müssen. Schließlich können wir jetzt nicht aus den Akten zitieren. Dann könnte man einiges kommentieren.

Ich glaube, wir sind uns einig, dass niemand die Polizei vorverurteilen oder ihr irgendetwas an die Backe kleben will, was nicht da ist. Vielmehr geht es darum, einen Verdacht aus der Welt zu schaffen.

Ich habe eine andere Wahrnehmung als Sie und möchte noch einmal klar sagen: Ich finde, auch durch Ihre Äußerung ist dieser Verdacht nicht endgültig aus der Welt geschafft worden. Den Erkenntnisstand, dass durch das LKA Hamburg ein Datensatz am 09.07. verändert wurde, haben wir letztendlich seit November in den Akten. Das sind keine Breaking News.

Eines der vielen Fragezeichen in diesem Fall – das haben Sie selber schon am Rande erwähnt – ist, wie dieser Datensatz verändert wurde, nämlich, sehr ungewöhnlich, durch eine Überschreibung, was man sonst nie machen würde. Man würde entweder einen Aliasnamen zusätzlich in die Datei aufnehmen oder einen neuen Datensatz anlegen. Das, was das LKA Hamburg gemacht hat, ist nicht die übliche Vorgehensweise, wie ein Datensatz verändert wird, nämlich durch Herausnahme eines Aliasnamens und Überschreiben des Aliasnamens Amed A. Das ist sehr ungewöhnlich. Deshalb mache ich ein großes Fragezeichen dahinter.

Aber ich bleibe dabei, und deswegen noch einmal meine abschließende Frage: Bisher haben Sie keine Erklärung für die Verhaftung von Amed A. in Geldern. Die einzige für Sie plausible Erklärung ist ein Kreuztreffervergleich. Für diesen haben Sie aber keinen Beleg, sondern Sie ziehen diesen nur als Möglichkeit in Betracht und halten ihn von Ihrer Einschätzung her für plausibel. Aber ansonsten haben Sie noch keine Erklärung dafür?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Da kann ich mich nur wiederholen; das habe ich schon vor geraumer Zeit hier vorgetragen: Der Grund für die Verhaftung war, dass zwei Polizisten die Daten nicht ordentlich abgeglichen haben – Punkt. Warum, wieso und auf welche Weise, ist mir relativ egal. Unter uns: Sie haben es nicht gemacht. Ganz banal zum letzten Mal festgestellt: Wenn sie sich nur die zwei Fotos angeschaut hätten, wäre nichts passiert. – Also, der Tatbestand ist glasklar.

Zweitens. Sie haben davon gesprochen, dass das nicht widerlegt sei. Ich bemühe mich ja immer. Wir müssten uns trotz aller politischen Streitigkeiten doch wenigstens darauf verständigen können, dass die Daten am 09.07. in Hamburg verändert worden sind. Das steht doch fest. Das haben sie sogar geschrieben. Nur sie konnten es technisch. Damit ist zumindest klar, dass Nordrhein-Westfalen sie nicht verändert hat.

Dann gibt es immer wieder neue Vermutungen, wie es schon auf der ganzen Strecke Vermutungen gab. Ich finde Ihren Hinweis auf den Untersuchungsausschuss ganz interessant, und Sie haben auch recht, dass das geprüft werden muss. Ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, deswegen sage ich vorsichtig: Ich habe mich immer gefragt, wie diese Sachen in die Öffentlichkeit gekommen sind.

Sie haben zu Recht darauf hingewiesen – ich habe es auch selbst vorgetragen –, dass wir seit November im Kontakt mit dem LKA stehen, das LKA mit Hamburg usw., um das zu überprüfen. Es kann sogar sein, dass dieser Briefwechsel in einer der Untersuchungsausschussakten enthalten ist. Ich halte das nicht für ausgeschlossen, kann es jetzt aber nicht beweisen; denn ich habe die Akten nicht. Insofern können Sie an geeigneter Stelle, falls Sie es nicht schon getan haben, nachschauen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke, Herr Minister. – Frau Kapteinat stellt ihre zweite und letzte Frage. Bitte schön.

Lisa-Kristin Kapteinat*) (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, wie beurteilen Sie die in der „WAZ“ vom 09.04.2019 verbreitete Theorie, dass bei gleichzeitiger Nutzung von ViVA und INPOL Flüchtigkeitsfehler entstehen können, die zur Inhaftierung Unschuldiger führen?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Der Fall ist doch klar. Durch Fehler in der Bedienung von Technik und durch Fehlentscheidungen von Polizisten kann es zur Inhaftierung von Flüchtlingen kommen, die da nicht hingehören. Das haben wir leider erlebt. Da ist auch nichts mehr zu fragen. Das ist klar.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Hübner von der SPD-Fraktion hat sich mit einer Frage zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Hübner.

Michael Hübner (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident, für die Worterteilung. – Herr Minister, Sie haben jetzt mehrfach auf die Zusammenhänge zwischen Nordrhein-Westfalen und Hamburg hingewiesen. Für mich wird dadurch eines klar: dass es dann offensichtlich auch notwendig ist, zukünftig die Absprachen zwischen den unterschiedlichen Polizeibehörden in den Ländern zu verbessern. Das, was Sie jetzt aufgeklärt haben, kann ja nicht die abschließende Lösung sein, weil wir in Zukunft auch wieder davon ausgehen müssen, dass es zu solchen Situationen kommt, die Sie hier bis heute nicht erklären können.

Welche Vorschläge hat denn die Landesregierung, Herr Minister, um die Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden der Länder in Zukunft so zu gestalten, dass solche Pannen, wie sie heute geschildert wurden, nicht mehr vorkommen?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Herr Abgeordneter, ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Beurteilung der Sache abschließend richtig ist; denn nach meinem heutigen Informationsstand war das Problem nicht, dass die beiden falsch kommuniziert haben, sondern dass auf jeder Stelle irgendjemand falsch gehandelt hat. Also, ich weiß es nicht.

Das kann man nicht abschließend behandeln, weil die Staatsanwaltschaft und andere ermitteln. Heutiger Stand ist: Der Fehler war ein Fehler von zwei Beamten, aber keine Manipulation – darauf lege ich Wert –, sondern es waren ganz konkrete Fehler. – Übrigens, unter uns: Wie wir darüber reden, ist schlimm genug. Ich meine, das reicht eigentlich auch schon. Also, mir reicht das. Aber da Sie ja zu Recht alles genau wissen wollen, versuche ich, das zu unterscheiden.

Die Überschreibung in Hamburg hat am 09. so stattgefunden, wie sie hier beschrieben worden ist, auf der Grundlage dessen, was an Informationen vorlag. Am Freitagabend ging die Information nach Hamburg: Wir haben den Herrn Soundso jetzt ins Gefängnis überführt. – Die haben natürlich bei der Überführung den Namen benutzt, der auch in den Unterlagen aus Hamburg zurückgekommen war. Also, es ist für die gar keine Überraschung gewesen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Körfges hat eine Frage. Bitte schön, Herr Körfges.

Hans-Willi Körfges (SPD): Herr Minister, wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, ist es eigentlich nicht richtig, dass aufgrund eines sogenannten Kreuztreffervergleichs die Inhaftierung stattfindet. Insoweit muss dann quasi ein doppelter Fehler vorgelegen haben, wenn man Ihrer Schlussfolgerung folgt, nach dem Motto: Wenn es ein Kreuztreffervergleich gewesen ist, der zu dem Irrtum geführt hat, hätte eigentlich nicht inhaftiert werden dürfen. Dann ist auch noch dazugekommen, dass man sich offensichtlich nicht richtig über die Person informiert hat. Ist das so richtig?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Das kann sein.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Hübner, zweite und letzte Frage. Bitte schön, Herr Hübner.

Michael Hübner (SPD): Vielen Dank für die Worterteilung. – Ich knüpfe jetzt ein bisschen an die vorhin gestellte Frage an. Sie haben in der Antwort noch mal betont, dass es auf jeder Stelle zu Fehlern gekommen ist. Daraus leite ich ab, dass Sie immer noch nicht ausschließen können, dass es in Nordrhein-Westfalen zu Fehlern gekommen ist. Können Sie das klar bestätigen?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ja, natürlich. Aber ich vermute, Sie waren in der Sitzung, in der wir das im Landtag vor fast einem Jahr besprochen haben, auch da.

(Michael Hübner [SPD]: Nein!)

Da habe ich doch schon gesagt, es ist ein Fehler passiert. Ich habe ein Disziplinarverfahren eingeleitet und den Staatsanwalt gebeten, sich um die Frage zu kümmern. Also: unstrittig, aber keine Neuigkeit.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Fragen liegen mir nicht vor. Damit ist die Mündliche Anfrage 39 beantwortet.

Ich rufe die

Mündliche Anfrage 40

des Abgeordneten Mehrdad Mostofizadeh von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf.

Das Thema heißt: „Welche Begründung liegt der geplanten Abschaffung der Stichwahl in NRW zugrunde?“

Ich darf vorsorglich darauf hinweisen, dass die Landesregierung in eigener Zuständigkeit entscheidet, welches Mitglied der Landesregierung eine Mündliche Anfrage im Plenum beantwortet. Die Landesregierung hat angekündigt, dass Herr Minister Reul antworten wird.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Mein Gott!)

Sie haben das Wort, Herr Minister. So schnell kann es gehen.

(Herbert Reul, Minister des Innern: So schnell kann ich gar nicht das Papier auspacken! Diese blöden Folien! Entschuldigung!)

– Machen Sie in Ruhe.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ich mache schon. Ich dachte auch, wir hätten das durch die Debatte heute Morgen schon erledigt.

Die Abschaffung der Stichwahl in der laufenden Novellierung des Kommunalwahlgesetzes geht bekanntlich auf einen Antrag von CDU und FDP vom 21. November letzten Jahres zurück. Dort ist die entsprechende Änderung des § 46c Kommunalwahlgesetz unter Nr. 2 vorgesehen.

Im Anschluss an die Sachverständigenanhörung im federführenden Ausschuss am 15. Februar 2019 und die Auswertung am 15. März 2019 wurde die schriftliche Begründung zur Abschaffung der Stichwahl in einem weiteren Antrag der Fraktionen vom 2. April 2019 umfänglich ergänzt. Auf die dortigen Ausführungen wird folglich verwiesen. Sie waren Gegenstand ausführlicher Beratungen, auch im mitberatenden Hauptausschuss am 4. April 2019 und im Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen am 5. April 2019.

Die Landesregierung ist unter Berücksichtigung der Beratungen im Landtag weiterhin der Meinung, dass die Stichwahl, die für die Wahl von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern sowie von Landrätinnen und Landräten verfassungskonform abgeschafft werden kann.

Im Übrigen teile ich die Auffassung des Herrn Abgeordneten zu angeblich von den regierungstragenden Fraktionen oder der Landesregierung nicht erteilten Aufträgen bzw. zu einer fehlenden Begründung nicht.

Zu der Frage „Wird die demokratische Legitimation des Hauptverwaltungsbeamten im Verhältnis zur Ratsmehrheit auch dann noch für ausreichend gehalten, wenn bei stark diversifiziertem Wahlverhalten … ein Bewerber eventuell mit … einem Viertel der abgegebenen Stimmen zum Hauptverwaltungsbeamten gewählt wird und dabei Zufallsergebnisse aus dem gesamten politischen Spektrum auch in NRW möglich erscheinen?“, äußere ich mich wie folgt:

Weder ist die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber künftiger Bürgermeister- und Landratswahlen in den über 400 Gemeinden und Landkreisen bekannt, noch ist das künftige Wählerverhalten hinreichend sicher prognostizierbar. Der Wähler ist unberechenbar. So steht keinesfalls fest, dass es bei einer reinen Personalwahl häufiger zu einem stark diversifizierten Wahlverhalten kommt. Dem könnten wenige oder aber sehr zugkräftige Kandidaten entgegenstehen.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach § 46d Kommunalwahlgesetz bei der Wahl von Hauptverwaltungsbeamten gemeinsame Wahlvorschläge mehrerer Parteien oder Wählergruppen möglich sind, die relativ viele Stimmen auf sich ziehen können. Die Daten früherer Wahlen ohne Stichwahl lassen grundsätzlich nicht erwarten, dass ein Viertel der gültigen Stimmen ausreichen wird, um in das Amt des Bürgermeisters oder Landrats gewählt zu werden.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Reul. – Der Antragsteller hat eine erste Frage. Herr Mostofizadeh, bitte, Sie haben das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident, vielen Dank. – Herr Minister Reul, Sie haben recht: Ein Viertel hat mit Blick auf die bisherigen Wahlen nicht ausgereicht. 26,97 % war bis jetzt das niedrigste Ergebnis – wirklich ganz weit von dem Viertel entfernt.

Aber ich möchte in diesem Zusammenhang eine andere Frage stellen. Sie haben laut Plenarprotokoll vom 16.11.2018 ausgeführt, dass eine Auswertung der kommunalen Direktwahlen von 2014 und 2015 zeigen würde, dass die Beteiligung bei einer Stichwahl in der Regel geringer sei als bei der Ausgangswahl. Dann stellen Sie die Frage, warum man nicht darüber nachdenken kann. Das haben Sie praktisch heute in Ihrem Redebeitrag anlässlich der Beratung dieses Punktes wiederholt.

Dem möchte ich zunächst folgenden Sachverhalt entgegenstellen, Herr Präsident.

Im Jahr 2015 war es so, dass in 156 von 373 kreisangehörigen Städten und Gemeinden Wahlen zum Bürgermeister bzw. zur Bürgermeisterin stattfanden. Dabei kam es in 43 Fällen zur Stichwahl. Bei 30 von 43 Stichwahlen war es so, dass der Kandidat, der im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte, auch gewonnen hat. Das ist wenig spektakulär.

Allerdings war es so, dass die 86 Kandidatinnen und Kandidaten, die in die zweite Runde gegangen sind, 466.000 Stimmen insgesamt bekommen haben; das waren 80.000 Stimmen mehr als im ersten Durchgang. Dann war es auch noch so, dass diejenigen, die die Bürgermeisterwahl gewonnen haben, alle miteinander mehr Stimmen hatten als im ersten Wahlgang. In 13 von 43 Fällen war es so, Herr Minister, dass der unterlegene Kandidat des ersten Wahlgangs im zweiten Wahlgang mit einer höheren Stimmzahl gewonnen hat als im ersten Wahlgang.

Wenn ich daraus ein Fazit ziehe, dann das, dass in ausnahmslos allen Fällen der siegreiche Kandidat mehr Stimmen als im ersten Wahlgang hatte und dass es in 30 % der Fälle so war, dass der falsche Kandidat verhindert werden konnte. Die Stichwahl wirkt also so, dass gegenüber dem ersten Wahlgang eine Umorientierung der Wählerinnen und Wähler stattgefunden hat und dass insofern die Stichwahl geradezu das probate Mittel zur Erreichung des richtigen Kandidaten bzw. der richtigen Kandidatin ist.

Wie können Sie sich diese Diskrepanz der Fakten zu Ihrer Stellungnahme sowohl in der Aktuellen Stunde damals als auch heute erklären? Wie können Sie begründen, dass deswegen die Abschaffung der Stichwahl geboten sei?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Zunächst ist es mein Problem, dass ich in der letzten Zeit immer öfter, wenn ich etwas gesagt habe, beim zweiten Mal dasselbe sage. Wenn ich von einer Sache überzeugt bin, dann mache ich das so.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Fakten wären gut!)

Manchmal streitet man sich ja. Wir haben ein Thema, vielleicht kann ich das vor die Klammer ziehen, was politisch total umstritten ist, und wobei die Fronten völlig verhärtet sind. Die Landesregierung hatte keinen Vorschlag dazu unterbreitet, das ist richtig beschrieben.

Zwei Fraktionen des Parlaments haben hier einen Antrag vorgestellt. Wir haben die Aussage gemacht, dass dies verfassungskonform sei. Wir haben auch mit den Daten, die mir zur Verfügung stehen, eine Unterstützung gegeben und gesagt, dass es dafür eine Begründung gibt. Ich füge hinzu, dass man, wie so oft in der Politik, auch anderes begründen könnte. Es gibt ganz selten eine einzige Wahrheit. Übrigens, wenn das einer behauptet, wird es – so ist meine Erfahrung – meistens sogar gefährlich.

Das ist politisch so oder so zu entscheiden und ist hier im Parlament mehrfach unterschiedlich entschieden worden. Das ist keine neue Geschichte. Ich habe nur vorgetragen, was nach unserer Meinung aus fachlicher Sicht dazu zu sagen ist. Ende und aus. Mehr kann ich jetzt nicht dazu sagen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Remmel hat eine Frage. Bitte schön, Herr Remmel.

Johannes Remmel (GRÜNE): Schönen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister, ich würde gerne in die Vergangenheit zurückgehen und Sie fragen, ob Ihnen im Zusammenhang mit der Erarbeitung des Gesetzentwurfs im Sommer 2018 durch die Koalitionsfraktionen und im üblichen Austausch zwischen Ministerium und dem Koalitionsarbeitskreis Gegebenheiten oder Vermerke aus Ihrem Haus vorgelegt worden sind, die zu einer verfassungsrechtlich negativen Einschätzung oder einer fachlich negativen Einschätzung gekommen sind.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Mir sind keine bekannt.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Dahm von der SPD-Fraktion hat sich zu Wort gemeldet. Bitte schön.

Christian Dahm (SPD): Vielen Dank. – Herr Minister, sind Sie mit mir der Auffassung, dass der vorgelegte Gesetzentwurf der Beobachtungs- und Begründungspflicht nach dem Leitsatz 4 des Verfassungsgerichtshofs Münster aus dem Jahre 2009 nicht standhält?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Nein, ich habe ja gesagt, dass das nach unserer Auffassung verfassungskonform ist. Unabhängig davon: Wenn Parlamentsfraktionen das Verfassungsgericht anrufen, hat das Verfassungsgericht zu entscheiden, und dem beugen wir uns alle.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Hübner hat sich zu Wort gemeldet. Bitte schön.

Michael Hübner (SPD): Herr Präsident, vielen Dank für die Worterteilung. – Herr Minister, wir sprachen vorhin in der Debatte auch darüber, dass es in vielen anderen Bundesländern offenkundig keine Überlegungen gibt, die Bürgermeister- und Landratswahlen nicht mit Stichwahlen durchzuführen. Die Erfahrungen in den meisten Bundesländern – zumindest ist mir das so gespiegelt worden – sind die gleichen, die mit der Abschaffung der Doppelspitze in Nordrhein-Westfalen vor mittlerweile einigen Jahrzehnten einhergingen, nämlich dass man eine besondere Rolle für die Bürgermeister bzw. Landräte schaffen wollte.

Würden Sie den anderen Bundesländern jetzt absprechen, dass es genug Erfahrungswerte gegeben hat, obwohl gerade die Bundesländer im Süden mit der süddeutschen Kommunalverfassung jahrzehntelang damit Erfahrung haben und jahrzehntelang Stichwahlen durchgeführt haben, um die Legitimation der Bürgermeister gegenüber den Räten zu stärken? Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, das in diesen Bundesländern auf den Weg zu bringen. Dazu würde mich Ihre fachliche Einschätzung bzw. die Ihres Hauses interessieren, denn das muss doch in die Erwägung einbezogen werden.

Ich möchte das noch einmal zusammenfassen, damit Ihnen die Antwort ein bisschen leichter fällt. Nordrhein-Westfalen kam aus der norddeutschen Kommunalverfasstheit. Die süddeutsche Kommunalverfasstheit kennt seit Langem die Bürgermeister in ihrer starken Rolle. Das spiegelt sich auch teilweise in den langjährigen Wahlperioden nieder, für die sie gewählt werden. Beispielsweise werden sie in Baden-Württemberg für acht Jahre, im Saarland für zehn Jahre gewählt. Dort ist es völlig undenkbar, dass man die Stichwahl abschafft.

Ich persönlich finde, das ist fast so, als würde man demnächst den Ministerpräsidenten auch ohne Stichwahl – sprich ohne qualifizierte Mehrheit, also 50 plus 1 – wählen können. Auf diese Idee würde auch niemand kommen. Daher würde mich die Einschätzung Ihres Hauses interessieren.

(Zurufe von der FDP)

– Ich kann mich gleich noch einmal melden, kein Problem.

Herbert Reul, Minister des Innern: Erstens. Ich bin nicht exakt informiert, bekomme aber den Hinweis, dass die Stichwahlverfahren in anderen Bundesländern nicht so sind wie unsere; methodisch sind sie anders. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass nicht nur zwei Kandidaten, sondern mehrere Kandidaten im Rennen sind, um einen Hinweis zu geben.

Zweitens. Die Landesregierung hat nicht die Absicht, bei Sachverhalten, die hier im Parlament mit den politischen Mehrheiten entschieden werden, den Hinweis zu geben, ob andere Bundesländer etwas anderes machen. Wenn mich einer danach fragt, wie das in den anderen Bundesländern ist, kann er eine Tabelle bekommen; die kann man sich aber auch selbst besorgen. Es ist nicht meine Aufgabe, zu sagen: In anderen Bundesländern findet das so oder so statt.

Drittens bedanke ich mich – weil ich dann einen kleinen Ausflug machen darf – für den Hinweis auf die Entstehungsgeschichte dieser Kommunalverfassung Nordrhein-Westfalens. Da saß ich nämlich nicht hier, sondern auf der anderen Seite und war Generalsekretär einer größeren Volkspartei. Wir haben einen relativ starken Kampf führen müssen, um überhaupt so etwas wie Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten durchzuführen. Ich war derjenige, der das in Gang gesetzt hat. Wir haben mit einem Volksbegehen drohen müssen, um es durchzusetzen.

Insofern war es immer eine sehr umstrittene Sache, ob überhaupt und wie. Auch die Methoden und die Amtszeiten sind im Laufe dieser Zeit mehrfach verändert worden. Das war anfangs ein sehr mühsamer Prozess. Das hat wahrscheinlich viel damit zu tun.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Mostofizadeh hat eine zweite Frage. Bitte schön, Herr Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident, vielen Dank. – Vielen Dank, Herr Minister. Es macht mir großen Spaß, Ihnen zuzuhören, weil Sie deutlich machen: Man kann es so oder so machen; schauen wir mal.

Aber vielleicht kommen wir zu den Fakten zurück. Von 1975 bis heute betrachtet, hatten wir bei den Kommunalwahlen ganz unterschiedliche Wahlbeteiligungen, zum Beispiel 1975 – so aus dem Kopf – 84 % Wahlbeteiligung, 1994 über 80 %, ich glaube 81 % Wahlbeteiligung. Bei der Kommunalwahl damals hatte man noch keine Direktwahl der Oberbürgermeister.

Seitdem sind die Wahlbeteiligungen deutlich zurückgegangen. Das erklärt einen Sachverhalt unstreitig, nämlich dass eine verbundene Wahl in aller Regel zu höherer Wahlbeteiligung führt.

Haben Sie im Gesetzgebungsverfahren mal überlegt, die Kommunalwahl mit einer anderen Wahl zusammenzulegen oder zur Steigerung der Wahlbeteiligung andere Mechanismen auszuprobieren, und diese Überlegungen möglicherweise mit den Koalitionsfraktionen geteilt?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Wenn Sie meinen, Kommunalwahlen mit Bundestags-, Landtags- oder Europawahlen zu kombinieren, nein. Wenn Sie die Zusammenlegung von Kommunalwahlen mit den Hauptgemeindebeamtenwahlen meinen, dann ist diese Frage entschieden, also klar.

Das Wahlbeteiligungsproblem ist ein Problem. Mich ärgert das sehr, weil ich damals, als ich unterwegs war, die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten in der eigenen Partei und auch im Parlament durchzusetzen, immer fest davon ausgegangen bin, dass das die Wahlbeteiligungsquote erhöhen wird. Mich schmerzt persönlich am meisten, dass das nicht so geklappt hat.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Becker von Bündnis 90/Die Grünen hat eine Frage. Bitte schön, Herr Becker.

Horst Becker (GRÜNE): Schönen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, der Verfassungsgerichtshof hat 2009 bei der damaligen Überprüfung nach der Abschaffung der Stichwahl ausdrücklich in diesem schon öfter zitierten vierten Leitsatz gefordert, dass die Rahmenbedingungen regelmäßig einer Überprüfung zu unterziehen sind und die Aussage, dass es mit der Verfassung vereinbar ist, ausdrücklich nur gelten würde für die damaligen Umstände, die geprüft worden seien.

Nun hat der Gesetzgeber, also der Landtag Nordrhein-Westfalen, 2011 in einem weiteren Verfahren, als er die Stichwahl wieder eingeführt hat, ausdrücklich unter Bezugnahme auf vorherige Wahlen begründet, warum er das getan hat.

Vor dem Hintergrund, dass sich seitdem, also seit 2011, die Landschaft noch einmal erheblich verändert hat – und zwar nicht nur in Bezug auf die heute schon öfter erörterten Wahlbeteiligungsquoten bei Bürgermeisterwahlen an sich, sondern auch in Bezug auf eine weitere Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft –, frage ich Sie:

Wie können Sie vor dem Hintergrund des vierten Leitsatzes des Verfassungsgerichtshofs zu der Frage der sich verändernden Parteienlandschaft und einer größeren Ausdifferenzierung und damit auch zu niedrigen Wahlquoten für ein Bürgermeisteramt bei einem nur einfachen Wahlgang aus Ihrer Sicht vertreten, dass dazu überhaupt keine Überlegungen und Begründungen vorgenommen worden sind und es keinerlei hinreichende Darlegungen Ihrerseits gibt, wie das zu bewerten ist?

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank. – Herr Minister, bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Erstens. Wenn ich es richtig sehe, ist in dem Antrag der Koalitionsfraktionen, die das vorgelegt haben, eine Begründung vorhanden.

Zweitens. Sie haben dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass es im Urteil zur Stichwahl heißt, diese könne man abschaffen. Dann kommt dieser berühmte Leitsatz, der dazu geführt hat, dass man es danach – fünf Jahre später – geändert hat. Sie haben dankenswerterweise auch darauf hingewiesen, dass sich die Zeiten seitdem wieder geändert haben, was logischerweise bedeutet: Dann kann man es auch wieder ändern.

Also, die Logik Ihrer Argumentation bedeutet: Es gibt auch heute eine Legitimation, zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Ob das Verfassungsgericht das am Ende teilt oder nicht, werden wir sehen. Aber ich empfinde es nach meinem Kenntnisstand durchaus als logisch.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Löttgen von der CDU-Fraktion hat eine Frage. Bitte schön, Herr Löttgen.

Bodo Löttgen (CDU): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Innenminister, hätte die SPD damals die Stichwahl nicht wieder eingeführt, hätten wir ja heute keine Fragestunde dazu.

(Christian Dahm [SPD] mit Blick auf die FDP: Das geht gegen euch!)

Bei der Wahl am 30. August 2009 ohne Stichwahl erreichten etwa 75 % der Kandidatinnen und Kandidaten in dem einzigen Wahlgang über 50 %, etwa 18 % zwischen 40 % und 50 % und lediglich etwa 7,5 % weniger als 40 % der Stimmen.

Würden Sie aus heutiger Sicht sagen, dass die demokratische Legitimation dieser Wahlen nicht ausreichend war und deshalb die Wiedereinführung der Stichwahl zwingend geboten war?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Herr Abgeordneter, ich habe in meinem Redebeitrag heute auch darauf hingewiesen. Es ist eine wirklich interessante Zahl, weil sie zeigt, dass im ersten Wahlgang eine ausreichende Legitimation da war und es insofern keiner zusätzlichen demokratischen Legitimation durch eine Stichwahl bedarf.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Frau Paul von Bündnis 90/Die Grünen hat eine Frage. Bitte, Frau Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, ich würde gern noch einmal an der Fragestellung anknüpfen, die Herr Mostofizadeh gerade aufgeworfen hat. Wir haben vorhin schon in der Aktuellen Stunde darüber debattiert, dass die Wahlbeteiligung oder mangelnde Wahlbeteiligung nicht gerade monokausal zu erklären ist. Es gibt aber sehr wohl Hinweise darauf, dass die Zusammenlegung von Wahlen unter Umständen einen positiven Effekt auf die Wahlbeteiligung hat.

Sie haben gerade auf die Frage von Herrn Mostofizadeh, ob solche Möglichkeiten zur Erhöhung der Wahlbeteiligung geprüft worden sind, relativ lapidar geantwortet, die Frage, ob man beispielsweise die Stichwahlen für die Hauptverwaltungsbeamten mit den Ratswahlen zusammenlegen könnte, sei ja entschieden.

Mich würde interessieren, in welcher Art und Weise das geprüft worden ist und was die dem zugrunde liegenden Gründe waren. Die Antwort, das sei entschieden, finde ich an dieser Stelle etwas sehr knapp. Denn wenn Sie schon einen solch weitreichenden Eingriff im Hinblick auf die Legitimation machen, stellt sich die Frage, ob die Legitimation nicht durch ein solches, aus meiner Sicht milderes Mittel erhöht werden könnte.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Paul. – Ich will darauf hinweisen: Die Zeit für die Fragestunde ist abgelaufen. Damit schließen wir die Liste. Die vier Fragesteller, die hier noch stehen, werden noch das Wort bekommen. Sie, Herr Minister, werden darauf, so hoffe ich jedenfalls, auch noch antworten. Ich wollte es nur ankündigen, damit wir hier nicht zeitlich aus dem Ruder laufen.

Danke, Frau Paul, für die Frage. – Herr Minister, Ihre Antwort.

Herbert Reul, Minister des Innern: Es gibt viele denkbare Vorstellungen, wie man die Wahlbeteiligung erhöhen könnte. Ich habe eben gesagt, ich war selbst einmal Fan der Überlegung, durch die Direktwahl könnte man die Wahlbeteiligung erhöhen. Ich gebe heute zu, das war es wohl nicht allein.

Zweitens. Natürlich kann man Wahlen zusammenlegen. Die Entscheidung ist getroffen worden, dass man die Gemeinderatswahlen, die Kommunalwahlen mit den Landrats- und Bürgermeisterwahlen zusammenlegt. Das ist ja schon Praxis.

(Josefine Paul [GRÜNE] spricht mit Abgeordneten ihrer Fraktion.)

– Sie hatten, glaube ich, etwas gefragt. Na gut. – Das kann man theoretisch alles machen, das ist völlig klar. Ob es klug ist, ist eine Abwägung, die Sie hier zu treffen haben – dafür ist das Parlament da; denn Sie sind die gewählten Volksvertreter.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Remmel stellt seine zweite und letzte Frage. Bitte schön, Herr Remmel.

Johannes Remmel (GRÜNE): Schönen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Minister, es ist eben zu Recht auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts und den entsprechenden Leitsatz hingewiesen worden. Sie haben eben erklärt, dass Ihnen bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs durch die Koalitionsfraktionen bezogen auf den Leitsatz keine verfassungsrechtlichen Bedenken vorgelegt worden sind.

Ich würde jetzt weitergehend fragen: Hat es denn, nachdem diese verfassungsrechtlichen Bedenken in der parlamentarischen Anhörung in großem Umfang vorgetragen worden sind, wenigstens danach Vermerke aus Ihrem Haus gegeben, die Ihnen zur Kenntnis gebracht worden sind, dass es offensichtlich ein Versäumnis der Landesregierung gibt, die Bewertungen, die das Verfassungsgericht aufgegeben hat, vorzunehmen?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte schön.

Herbert Reul, Minister des Innern: Hier kam gerade ein Missverständnis auf. Es ging Ihnen um Vermerke an die Fraktionen? Oder an mich?

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte, Herr Remmel.

Johannes Remmel (GRÜNE): Meine erste Frage und meine zweite Frage betreffen Ihre Person als Minister. Sind Ihnen Vermerke vorgelegt worden, die zu dem damaligen Zeitpunkt verfassungsrechtliche Bedenken oder Einschätzungen deutlich gemacht haben? Nach der Anhörung wird es ja auch irgendeine Berichterstattung gegeben haben. Oder ist Ihr Haus nicht mehr zuständig?

Herbert Reul, Minister des Innern: Ich habe es verstanden, danke schön. – Es gab immer wieder mal einen Vermerk in dem ganzen Prozess – ich kann nicht sagen, wie viele –, aber insgesamt relativ wenige, wenn ich mich recht erinnere.

Es gab auch einen Vermerk nach der Sachverständigenanhörung. Dieser hat über die Ergebnisse der Sachverständigenanhörung berichtet. Das ist aber normal. Sie kennen es wahrscheinlich auch noch, dass man, wenn eine Sachverständigenanhörung stattgefunden hat, an der man selbst nicht teilgenommen hat, von den Vertretern des Ministeriums, die bei der Sachverständigenanhörung anwesend waren, einen Bericht darüber bekommt, was die Sachverständigen vorgetragen haben.

Dann wird im Haus das Ergebnis bewertet. Das ist aber wieder ein anderer Sachverhalt. Ich habe Ihnen ja vorgetragen, dass unser Haus zu der Bewertung gekommen ist: Es gibt nach unserer Auffassung keine verfassungsmäßigen Bedenken – nicht mehr und nicht weniger.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Hübner stellt seine zweite und letzte Frage. Bitte, Herr Hübner.

Michael Hübner (SPD): Danke schön für die Worterteilung. – Herr Minister, ich habe der Frage des Herrn Vorsitzenden der CDU-Fraktion entnommen, dass allein über eine Legitimation gesprochen wird, wenn Sie Prozentzahlen über die Wahlbeteiligung aneinanderreihen. In der Anhörung ist deutlich gemacht worden, dass das nicht richtig ist.

Ich gehe davon aus, dass Ihre Mitarbeiter an der Anhörung im Kommunalausschuss teilgenommen haben. Dort ist die Legitimation für die Bürgermeister und Landräte in erster Linie über die absolute Zahl der Stimmen hergeleitet worden.

(Bodo Löttgen [CDU]: Das hätte ich jetzt auch gesagt!)

Im zweiten Wahlgang ist regelmäßig – jetzt zuletzt auch in Gronau – die absolute Zahl der Stimmen gestiegen. Darüber wurde die Legitimation gesteigert. Sie haben wohl recht, wenn Sie eine Legitimation in Prozentzahlen in Bezug auf die Wahlbeteiligung ausdrücken.

Ist zu keinem Zeitpunkt in Ihrem Haus geprüft worden, ob die Legitimation für den siegreichen Kandidaten durch die absolute Zahl der Stimmen nicht sinnvoller ist als eine Legitimation durch die Relation?

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Nein, das ist zu keinem Zeitpunkt geprüft worden. Es gab auch keine Notwendigkeit.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Mostofizadeh stellt seine dritte und letzte Frage.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident, vielen Dank. – Das Ulkige ist, dass der Minister auch Fragen beantwortet, die als Stützfragen gedacht waren, aber zumindest aus meiner Sicht durchaus ein Einfallstor für Missverständnisse bieten können.

Der Kollege hatte gefragt, was im Jahr 2009 gewesen ist, hat aber unterschlagen, dass es sich dabei um eine verbundene Wahl gehandelt hat. Herr Kollege Löttgen, insofern ist die Antwort, die Minister Reul gegeben hat, genauso irreleitend wie Ihre Fragestellung. – Aber ich möchte eine Frage an den Minister stellen.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

– Geht‘s noch? Ich möchte eine Frage an den Minister stellen, möglicherweise mit Genehmigung auch von Herrn Hovenjürgen.

Sie haben heute in Ihrer Rede zur Frage des Kommunalwahlgesetzes ausgeführt, dass Sie der Auffassung seien – zumindest musste ich Sie so verstehen –, dass die Wahl eines Abgeordneten zum Landtag oder zum Bundestag oder auch zu einem Gemeinderat von der Wahlsystematik her genauso zu gewichten sei wie die Wahl eines Hauptverwaltungsbeamten oder einer Hauptverwaltungsbeamtin.

Wie erklären Sie sich, dass alle juristischen Sachverständigen in der Anhörung – Ihnen ist ja mitgeteilt worden, was dort gesagt worden ist – eine andere Auffassung vertreten und deswegen die Koalitionsfraktionen – obwohl bis dahin Herr Höne das als einzige Begründung für sich reklamiert hatte – diesen Tatbestand der Begründung weggelassen haben? Sind Sie der Meinung, dass das auch weiterhin eine wesentliche Begründung sein sollte?

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, bitte.

Herbert Reul, Minister des Innern: Ich wollte in meiner Rede nur anhand von Beispielen erklären, dass es andere Wahlen gibt, bei denen das ohne Stichwahlen geht – mehr nicht. Das ist keine juristische Argumentation gewesen – damit das klar ist; das habe ich auch nicht beansprucht –, sondern das war für mich nur ein Beispiel, mehr nicht.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Sie haben Geschichten erzählt! – Gegenruf von Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist unverschämt! – Weitere Zurufe von der CDU und den GRÜNEN)

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, dass das ein sehr strittiger Punkt ist, ist jedem klar. Dass man sich auch immer den Fakten, die einem wichtig sind, anschließt, ist auch klar.

Unser Haus ist gefragt worden, ob das verfassungswidrig oder erlaubt sei. Die Frage haben wir beantwortet, nicht mehr und nicht weniger. Wenn Sie der Meinung sind, dass das nicht verfassungsmäßig ist, wird das von Ihnen bestimmt geklärt. Dafür gibt es dann Institutionen, die es abschließend klären.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Becker hat eine Frage. Bitte schön, Herr Becker.

Horst Becker (GRÜNE): Schönen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, lassen Sie mich einen Satz vorneweg sagen: Sie sagen immer, das wird vor Gericht geklärt. Aber es ist Aufgabe der Landesregierung, Begründungen zu liefern und insbesondere vor dem Hintergrund des vierten Leitsatzes zu prüfen. Sie entziehen sich mit dieser Argumentation doch nachhaltig. Das will ich hier festhalten.

Ich will an einem bestimmten Punkt ansetzen. Die Wahlen 2009, also die ohne Stichwahlen, haben gezeigt, dass es in der Regel zu Wahlbündnissen aller Parteien, die jeweils einen Bürgermeisterkandidaten gegenüber der stärksten Partei durchbringen wollten, gekommen ist. Damit wurde der Bürgerschaft die Möglichkeit entzogen, über den ersten Wahlgang vor einer Stichwahl eine Vorauswahl zu treffen.

Die Koalitionsfraktionen haben jetzt in ihrer kurzfristigen sogenannten Begründung, die nachgeschoben worden ist, diese Wahlbündnisse sogar als einen besonderen demokratischen Akt dargestellt. Teilt die Landesregierung diese Auffassung, oder ist sie einer anderen Auffassung?

(Zurufe von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Minister.

Herbert Reul, Minister des Innern: Die Landesregierung hat geprüft; das war die Ausgangsfrage. Diese wurde in dieser Fragestunde beantwortet. Die Frage, ob das, was da vorliegt, nach unserer Auffassung verfassungsmäßig oder nicht verfassungsgemäß ist, haben wir klar beantwortet.

Das andere ist zu großen Teilen eine politische Bewertung, die unterschiedlich vorgenommen werden kann; das ist doch klar. Sie haben eine andere Meinung und werden versuchen, das zu klären. Dann warten wir doch mal geduldig ab.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Gibt es weitere Fragen zu dieser Mündlichen Anfrage 40? – Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich bei Herrn Minister Reul für die Beantwortung der Fragen und bei den Fragestellern für die Fragen.

Ich rufe die

Mündliche Anfrage 41

des Abgeordneten Rainer Bischoff von der Fraktion der SPD auf und frage Sie, Herr Bischoff, ob die Mündliche Anfrage beim nächsten Mal aufgerufen werden soll oder ob Sie bis dahin eine schriftliche Beantwortung haben wollen.

(Rainer Bischoff [SPD]: Schriftlich.)

Vizepräsident Oliver Keymis: Das haben wir zur Kenntnis genommen. Von Herrn Abgeordneten Bischoff wird eine schriftliche Beantwortung gewünscht.

Damit sind wir am Ende der Fragestunde.

Ich rufe auf:

7   Nordrhein-Westfalen als Energie‑ und Industrieland Nummer 1 stärken, Endverbraucherpreise stabilisieren – Mit der Energieversorgungsstrategie für saubere, zuverlässige und bezahlbare Energie sorgen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5636

Für die CDU-Fraktion ist als Redner Herr Kollege Rehbaum angemeldet.

(Zuruf: Kommt noch!)

– Gut, dann erzähle ich bis dahin noch etwas zur Fragestunde, wenn es gewünscht wird.

(Dietmar Brockes [FDP]: Oder ich fange an!)

– Herr Brockes?

(Der Abgeordnete Henning Rehbaum [CDU] betritt den Plenarsaal.)

– Herr Rehbaum betritt soeben den Saal. Weiß er auch, dass er sofort sprechen muss?

(Henning Rehbaum [CDU]: Ja!)

Er hat schon etwas in der Hand, was dafür spricht. Dann kommen Sie bitte zum Pult. Bitte schön, Herr Rehbaum, Sie haben das Wort.

Henning Rehbaum (CDU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bis 2022 soll etwa ein Drittel der Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Das bedeutet ungefähr 45 % weniger CO2 im Energiesektor gegenüber 1990.

Bis 2030 sollen ein weiteres Drittel und das letzte Drittel bis 2038 – nach Möglichkeit schon 2035 – abgeschaltet werden. Das ist das nahezu einstimmige Ergebnis der WSB-Kommission. Zur Erinnerung: Die Grünen haben noch 2016 für eine Braunkohleverstromung bis 2045 gesorgt.

Die Umsetzung der Ergebnisse ist eine besondere Herausforderung für die Bundespolitik und eine riesige Herausforderung für die Volkswirtschaft. Ministerpräsident Laschet, Minister Pinkwart und Staatssekretär Dammermann waren unbequeme Verhandlungspartner in der WSB-Kommission und haben für Nordrhein-Westfalen sehr viel erreicht.

Die Checkpoints, die Stresstests: 40 Milliarden Euro für die Braunkohlereviere und on top für das Ruhrgebiet Kompensationsregelungen für Steinkohlekraftwerke. Ich finde, das ist ein gutes Signal für die betroffenen Standorte in ganz NRW.

Mit der Umsetzung des WSB-Ergebnisses enden die Herausforderungen für die Landespolitik allerdings nicht. Alle reden über die Energiewende; jetzt wird es ernst: Bis 2038 sollen alle Kohlekraftwerke abgeschaltet werden.

Die Frage ist nicht, ob wir CO2 einsparen müssen – die haben wir längst mit Ja beantwortet –, sondern die große Frage ist, wie wir CO2 einsparen.

Wie garantieren wir Versorgungssicherheit für 200.000 energieintensive Arbeitsplätze in Stahl, Glas, Papier, Aluminium, Chemie auch an windstillen Wintertagen? Dem Klima ist ja nicht geholfen, wenn energieintensive Industrien nach Polen, Brasilien oder China verlagert und dort mit billigem Kohlestrom betrieben werden.

Wie sichern wir Bezahlbarkeit für die gesamte Wirtschaft, den elektrifizierten ÖPNV, für Elektromobilität und für Licht, Waschmaschine, Backofen oder den Laptop von Otto Normalverbraucher? Bezahlbarer Strom, liebe Kollegen von den Grünen, ist auch eine soziale Frage.

Wir wollen, dass sehr viel mehr bezahlbare Wohnungen gebaut werden; aber auch die Mietnebenkosten haben mittlerweile die Schmerzgrenze erreicht. Um Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und den in Nordrhein-Westfalen längst begonnenen Ausbau der Erneuerbaren unter einen Hut zu bekommen, hat die Landesregierung eine Energieversorgungsstrategie angekündigt.

Wir als regierungstragende Fraktionen möchten mit diesem parlamentarischen Antrag noch einmal mit auf den Weg geben, was wir für die Energieversorgungsstrategie des Landes für wichtig halten.

Hier eine Auswahl der Punkte, die wir für wichtig halten: der Fotovoltaik-Ausbau, die Geothermie, Kraft-Wärme-Kopplung, Repowering von Windkraftanlagen, Realisierung genehmigter Anlagen und Neustandorte mit höheren Schutzstandards für Anwohner, Umrüstung und Neubau von Gaskraftwerken, Flexibilisierung von Angebot und Nachfrage auf Bundesebene und der Durchbruch bei den Großspeichern. Wir haben hier ein schönes Modell, das wir derzeit probieren und realisieren: die Flüssigsalzspeicher im Rheinischen Revier.

Wir wollen die Sektorenkopplung voranbringen, insbesondere Power-to-X. Wasserstoff ist hier das Zauberwort. Wir wollen den schnelleren Netzausbau. Die Forderung geht hier ganz besonders an die Kollegen in den anderen Bundesländern.

Wir wollen weiter auf dezentrale Kleinspeicher, Quartierskonzepte und Mieterstrommodelle setzen – alles technische Möglichkeiten der Energiewende, die eine Grundvoraussetzung für die Schaffung von Versorgungssicherheit darstellen.

Die Anträge der NRW-Koalition seit 2017 zeigen: Wir meinen es ernst mit dem Klimaschutz. Wir meinen es ernst mit der Energiewende.

Ein zweiter wichtiger Baustein, eine Bedingung, ist die Bezahlbarkeit von Strom.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Es ist an der Zeit, Maßnahmen zur Entlastung der ständig steigenden Strompreise zu fordern. Insbesondere der Mittelstand und die Haushalte haben die höchsten Strompreise im europäischen Vergleich zu bestehen.

Es ist an der Zeit, endlich die Stromsteuer zu senken. Hier kann schnell ein großer Entlastungseffekt für Bürger und Wirtschaft erzielt werden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die Belastungsausnahmen für die 200.000 Arbeitsplätze der energieintensiven Industrie sind essenziell für Nordrhein-Westfalen, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen; sie müssen erhalten bleiben. Hier ist das Urteil des EuGH vom 28. März ein gutes Signal.

Wir wollen prüfen lassen, ob EEG-Neuanlagen aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren sind. Wir wollen die Doppelbelastung auf Speicher mit EEG und Netzentgelten auf den Prüfstand stellen lassen.

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Fazit – ich bin sofort fertig –: Wir haben Sorge vor einer Deindustrialisierung Deutschlands und Nordrhein-Westfalens durch die Verlagerung von Arbeitsplätzen und den CO2-Ausstoß ins Ausland.

Wir haben auch Sorge, bei der Energiewende zum Zaungast zu werden und in der Folge abhängig von polnischem Kohlestrom oder belgischem und französischem Atomstrom.

Wir wollen konsequenten, marktbasierten Ausbau der erneuerbaren Energien aus einer Position der wirtschaftlichen Stärke mit Fotovoltaik, Geothermie, Kraft-Wärme-Kopplung, Windkraft, Power-to-X und Wasserstoff, Speichern und Netzen mit möglichst hoher Akzeptanz und großtechnische Lösungen für die CO2-Reduzierung in vor Ort entwickelten, eingesetzten und weltweit vermarkteten Anlagen für Wohlstand und Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Rehbaum. – Nun spricht für die mitantragstellende Fraktion der FDP Herr Kollege Brockes.

Dietmar Brockes*) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Energiepolitik erleben wir immer wieder eine gewisse Paradoxie. In kaum einem Politikfeld trifft der Satz, dass alles mit allem zusammenhängt, so stark zu wie im Bereich der Energieversorgung. Nirgendwo sonst geht es im Grunde um technische, um physikalische, also eigentlich streng rationale Fragen.

Die öffentliche Debatte ist aber regelmäßig von einer hohen Emotionalität gekennzeichnet, in der einzelne Aspekte betrachtet und ohne Gesamtkontext präsentiert werden.

Da wird ein 200-ha-Forst zum Symbol, an dem sich der gesamte Klimaschutz festmacht. Über Ausstiegsdaten aus Technologien und Antriebsarten wird gesprochen, als ob ein „Wünsch-dir-was!“ völlig ausreichend wäre.

Ich freue mich deshalb sehr, dass wir seitens der Koalitionsfraktionen einen Antrag vorlegen, mit dem wir diese Einzelbetrachtungen überwinden und uns auf Technik, Rationalität und konkrete Handlungschancen konzentrieren.

Notwendig ist ein umfassender strategischer Ansatz. Wir wollen heute einige Punkte für die angekündigte Energieversorgungsstrategie auf den Weg bringen. Die Ausgangslage ist im Wesentlichen klar, aber ich will noch einmal die grundlegenden Dinge nennen:

Der Pseudokonflikt um das „Ob“ kann als beendet angesehen werden. Bis auf einige wenige sind wir uns alle einig: Die Klimaziele von Paris gelten. Wir sind auf dem Weg in eine klimaneutrale Gesellschaft.

(Beifall von der FDP)

Es muss also um das „Wie“ gehen. Hier lohnt sich die Debatte. Fakt ist, dass uns die Empfehlungen der WSB-Kommission vor große Herausforderungen stellen und dass wir deshalb ganz deutlich die Wahrung des Zieldreiecks aus Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit ausbalancieren müssen. Für uns ist es keine Option, die Position unseres Bundeslandes als Energie‑ und Industriestandort Nummer eins zu gefährden.

Den Punkt der Bezahlbarkeit möchte ich noch einmal besonders aufgreifen: Wir haben in Deutschland die höchsten Strompreise in Europa. Die Endverbraucher tragen über Abgaben und Steuern eine enorme Last – und das ist natürlich auch eine soziale Frage.

Deshalb bin ich auch, ehrlich gesagt, erstaunt, dass dies in der Debatte bei Grünen, aber auch bei der SPD kaum eine Rolle spielt. Für uns aber spielt das eine große Rolle, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher wie auch der Mittelstand hier dringend entlastet werden müssen.

Wir haben im Antrag die drei Bereiche des Zieldreiecks in den Blick genommen: Versorgungssicherheit, Klimaschutz und Bezahlbarkeit. In allen Bereichen muss sich auch Nordrhein-Westfalen strategisch aufstellen.

Klar ist aber: Die entscheidenden Rahmenbedingungen werden auf Bundesebene gesetzt. Da kann ich nur an die Kollegen der SPD appellieren, unseren Antrag zu unterstützen, damit wir aus Nordrhein-Westfalen ein starkes Signal an den Bund senden können.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Entscheidend für die weitere Erzeugung gesicherter Leistung ist ein Rahmen, der Investitionen ermöglicht, zu netzdienlichem Verhalten Anreiz gibt, endlich Speicher als Säule der Energiewende behandelt und fördert sowie natürlich das große Thema „Netzausbau“. Da stehen wir wirklich dramatisch schlecht da.

Dabei muss uns allen klar sein: ohne Leistungsausbau kein Kohleausstieg, kein Umstieg auf Erneuerbare und kein Vorankommen bei der Sektorenkopplung. Da muss wirklich Tempo rein. Wie gesagt: Wir müssen hier die Bundesregierung nachdrücklich zum Handeln auffordern.

Beim Ausbau der Erneuerbaren haben wir als Koalitionsfraktionen bereits einiges auf den Weg gebracht, mit dem wir die dezentralen Lösungen vorantreiben. Eben ist schon angesprochen worden, dass wir als Koalitionsfraktionen die Themen „KWK“ und „Geothermie“ eingebracht haben. Ich begrüße es, dass unsere Initiative auch die Unterstützung von SPD und Grünen fand. Leider war dies bei unserem Antrag zu Fotovoltaik, der meines Erachtens genauso wichtig ist, nicht der Fall.

Wir sind aber auf dem Weg, in Nordrhein-Westfalen die gesamte Breite der Erneuerbaren zu nutzen. Für uns ist insbesondere wichtig, dass diese genauso auf Akzeptanz stoßen müssen wie alle anderen Bereiche.

Zum Schluss der dritte Bereich des Zieldreiecks; er betrifft die Strompreise und die finanziellen Lasten. Wie bereits dargestellt, ist für uns klar, dass es zu Entlastungen kommen muss. Deshalb wollen wir die Stromsteuer auf den europäischen Mindestsatz senken. Für die energieintensive Industrie muss es weiterhin eine Ausgleichsregelung geben.

Wir müssen das Fördersystem aber auch als Ganzes betrachten: Statt um weitere Subventionen muss es um die Integration der erneuerbaren Energien in den Markt gehen.

Wenn eine Förderung von Neuanlagen nötig ist, kann das vielleicht übergangsweise durch den Bundeshaushalt geschehen. Das Ziel muss aber sein, dass EEG in seiner jetzigen Form abzuschaffen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Erlauben Sie mir daher, zum Schluss einen wichtigen liberalen Aspekt anzusprechen: Wenn wir den Einstieg in ein vernünftiges Modell der CO2-Bepreisung schaffen wollen, könnten wir unsere Ziele mit den richtigen Mitteln erreichen, und zwar fairer, effizienter und am Ende auch erfolgreicher als mit dem heutigen Modell. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Brockes. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Herr Kollege Sundermann.

Frank Sundermann (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Anfang kann man die Frage stellen: Warum stellen die Koalitionsfraktionen jetzt diesen Antrag mit der Forderung, dass vor der Sommerpause die Energieversorgungsstrategie vorzustellen ist – wohlwissend, dass, soweit ich mich erinnere, der Minister bzw. der Staatssekretär in der letzten Ausschusssitzung erklärt hat, dass Ende April die Energieversorgungsstrategie vorgestellt wird? Vielleicht können Sie dazu gleich noch etwas sagen, Herr Minister.

Die Erklärung, die ich mir überlegt habe, ist jedenfalls: Sie wollten dieses Mal auf Nummer sicher gehen. Ich habe mich an einen Antrag erinnert, den Sie am 18. Januar letzten Jahres ins Parlament eingebracht haben. In dem Antrag haben Sie die Landesregierung aufgefordert, industriepolitische Leitlinien vorzulegen. Das hat bis heute nicht geklappt.

Deswegen sind Sie wahrscheinlich dieses Mal auf Nummer sicher gegangen und haben etwas beantragt, das im Prinzip schon so gut wie fertig ist. Das ist ja auch in Ordnung.

(Vereinzelt Beifall von der SPD – Dietmar Brockes [FDP]: Im Gegensatz zur SPD-Regierungszeit haben wir eine eigene Meinung! – Gegenruf von Michael Hübner [SPD]: Diese eigene Meinung ist aber sehr überschaubar!)

– Ich sage mal so: Ich gönne und wünsche Ihnen, dass das so ist. Aus Ihrem Wortbeitrag eben ist das aber nicht hervorgegangen, Herr Brockes.

(Beifall von Michael Hübner [SPD])

Ich will jetzt aber trotzdem kurz auf den Antrag eingehen; wir werden sicherlich die Gelegenheit haben, diesen auch im Ausschuss noch intensiv zu beraten.

Ich hoffe, dass die Koalitionsfraktionen mit diesem Antrag ein bisschen weniger lieblos als mit dem Antrag, den sie zur Solarenergie gestellt haben, umgehen. Zu diesem Antrag hat es keine Anhörung und kein Expertengespräch gegeben. Eine lauwarme Diskussion – mehr war Ihnen das nicht wert.

Jetzt schauen wir mal, wie Sie mit diesem Antrag umgehen. Aus meiner Sicht würde sich eine Anhörung empfehlen, weil wir als Parlament bei der Entstehung der Energieversorgungsstrategie bisher eher auf der Besuchertribüne saßen. Wenn sie denn dann vorliegt, können wir uns sicherlich auch im Parlament intensiver damit beschäftigen.

Lassen Sie mich auf ein paar Punkte eingehen, die Sie in Ihrem Antrag erwähnen.

Der erste ist, dass Sie ein Ziel definieren: Nordrhein-Westfalen soll Industrie‑ und vor allem auch Energieland Nummer eins bleiben. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht nur den Verbrauch – denn das impliziert ja im Prinzip der Wunsch nach dem Industrieland Nummer eins –, sondern auch die Produktion meinen. Auch in diesem Bereich wollen wir versuchen, die Nummer eins zu bleiben.

Nur kurz; morgen sprechen wir ja intensiver darüber: Wenn Sie die Windkraft in diesem Land abwürgen, ist das in Ihrer Argumentation – der Minister lächelt; ich wusste es – natürlich nicht logisch. Aber wie gesagt: Wir haben morgen noch die Möglichkeit, weiter darüber zu sprechen.

Die Herleitung des Antrags – das hat auch Herr Brockes gesagt – orientiert sich am energiepolitischen Dreieck; das ist konsequent und natürlich richtig. Auch konsequent und richtig ist es sicherlich, dieses Dreieck wieder gleichschenklig zu gestalten.

(Dietmar Brockes [FDP]: Ich höre Zustimmung!)

Vieles davon, was benannt wird, ist richtig: der schnellere Netzausbau – Sie haben das angesprochen – und die Stromsteuer auf das Minimum zu senken. Dazu können Sie sich auch die Pressemitteilungen meines Kollegen Hübner anschauen. Er hat in den letzten Jahren dazu wohl acht Stück veröffentlicht. Daran können Sie sehen: Sie haben da unsere Unterstützung. Auch die weitere Unterstützung und Förderung von KWK ist sicherlich richtig.

Ich möchte hier allerdings auch auf ein Problem – aus unserer Sicht eine Schwäche des Antrags – aufmerksam machen. Alles, was Sie im Forderungsteil erwähnen, richtet sich an die Bundesebene. Sie sind mit allen Ihren Forderungen auf der Bundesebene unterwegs.

Es kann natürlich sein, dass Sie sagen: Die Energieversorgungsstrategie ist so großartig, dass wir von der Landesregierung im Prinzip nichts zu fordern brauchen. Wir hätten uns gewünscht, mit Ihnen gemeinsam zu diskutieren, welche Forderungen wir als Parlament haben. Schließlich denken wir eigenständig; Herr Brockes hat das eben auch ausgeführt.

(Michael Hübner [SPD]: Erstmalig, erstmalig!)

Was muss aus unserer Sicht, aus Sicht des Parlaments, in so einer Versorgungsstrategie stehen? Was kann und was muss diese Versorgungsstrategie leisten? Dazu herrscht in Ihrem Antrag bisher leider Fehlanzeige.

(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

Wir reichen Ihnen auf jeden Fall die Hand: Wir werden im Prozess rund um diesen Antrag und die Versorgungsstrategie kritisch mitarbeiten, um die gerade beschriebenen Schwächen, die dieser Antrag aus unserer Sicht hat, auszugleichen. In diesem Sinne stimmen wir natürlich auch der Überweisung an den Ausschuss zu. – Vielen Dank

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Sundermann. Nun spricht für die Grünenfraktion Frau Kollegin Brems.

Wibke Brems (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss Ihnen sagen: Der Antrag ist eine seltsame Mischung aus längst überfälligen Erkenntnissen, Ablenkungsmanövern, Mythen, Halbwahrheiten – eben haben wir leider auch ein paar Unwahrheiten gehört – und einigen Peinlichkeiten.

Ich komme zu den Einzelheiten. Bezüglich der längst überfälligen Erkenntnisse möchte ich anerkennen, dass es Punkte gibt, bei denen wir gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Bei der im Antrag erwähnten Kritik an der Doppelbesteuerung von Speichern haben Sie uns ganz klar an Ihrer Seite.

Es gibt immer wieder Punkte, bei denen wir hier im Landtag an vielen Stellen Einigkeit erzielen, wenn es um Bundespolitik geht, aber auf Bundesebene ändert sich nichts. Dabei gibt es hier zwei Fraktionen, deren Parteien die Bundesregierung stellen. Da frage ich mich, warum Sie diese Meinung nicht nach Berlin weitertragen. Wir erleben Ihr Auftreten hier so, dass viel angekündigt wird, aber hinterher in Berlin nichts passiert.

Die Netzentgelte und Umlagen müssen wir reformieren; da haben Sie uns auch an Ihrer Seite. Ich glaube aber auch, dass wir schnell wieder auseinander sind, wenn es darum geht, wie man das konkret macht.

Ablenkungsmanöver sehen wir von Ihnen auch immer wieder. Schön und gut, natürlich haben Sie recht damit, dass der Klimaschutz nur gelingen kann, wenn wir uns nicht nur auf den Strom, sondern auch auf Verkehr und Wärme konzentrieren.

Dazu muss ich Ihnen aber ganz klar sagen, dass ich erwarte, dass bei der viel angekündigten Energiestrategie mehr geliefert wird – mehr als einfach nur Potenzialstudien, Transparenzinitiativen oder Verweise auf die Bundespolitik. Sie müssen ganz konkret aufzeigen, wie Sie diese Dinge erreichen wollen. Daran werden wir Sie messen.

Ein weiterer Punkt ist das Thema „Netzausbau“, von dem wir hier immer wieder gehört haben. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Es ist klar, dass wir Zeit haben, die erneuerbaren Energie und die Netze gleichzeitig auszubauen.

Kommen wir zu den Mythen und Halbwahrheiten. Wir lesen, dass Sie weiterhin für den Ausbau von Windkraft sind. Wir empfinden es so, dass Sie die Windenergie vor Ort abwürgen. Sie sagen – ich zitiere –, das müsse der jeweiligen Situation vor Ort geschuldet sein.

Aber was Sie machen und was Sie eigentlich wollen, ist eine feste Abstandsregelung von 1.500 m, die die Freiheit der Kommune einschränkt. Dies ermöglicht eben nicht, die Situation vor Ort zu berücksichtigen, sondern schränkt sie ein. Dass ist das genaue Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Christian Loose [AfD])

Dann bringen Sie hier Schreckgespenster vor von den Stromimporten, von der Abschaffung des EEG, sagen aber überhaupt nicht, was denn die Alternative sein soll. Einfach nur das EEG abzuschaffen, kann nicht die Lösung sein. Stattdessen muss man wissen, wie man erneuerbare Energien in Zukunft finanziert oder eben auch refinanziert. Dazu kommt von Ihnen nichts.

(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

– Ach, der liebe gute Markt von Herrn Brockes, genau.

Dann müssen wir den Markt eben entsprechend verändern; auch das haben wir schon öfter besprochen. Der Markt ist nicht gottgegeben, er ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist für konventionelle Kraftwerke, für Großkraftwerke und eben nicht für erneuerbare Energien gemacht worden.

Sie haben in Ihrem Antrag selber geschrieben, dass sich Flexibilitäten und Stromspeicher nicht lohnen. Dann muss man eben die Marktbedingungen ändern, um so einen ordentlichen Markt dafür und für erneuerbare Energien zu schaffen. Der Markt hat gezeigt, dass Fotovoltaik und Windenergie mittlerweile viel günstiger sind als Kohle und Co.

(Dietmar Brockes [FDP]: Dann brauchen wir ja keine Subventionen mehr!)

Zum Schluss will ich noch zu den Peinlichkeiten kommen, die leider auch im Antrag stehen: Ich fände es an Ihrer Stelle peinlich, die Landesregierung aufzufordern, etwas zu tun, von dem sie seit Monaten sagt, dass sie es schon längst macht.

(Beifall von Michael Hübner [SPD])

Minister Pinkwart sagt für die Landesregierung die ganze Zeit, dass er eine Energiestrategie liefern will, und Sie fordern ihn auf, genau das zu tun. Mir wäre es peinlich, so etwas zu fordern.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zurufe von Michael Hübner [SPD] und Dietmar Brockes [FDP])

Ich denke, wir diskutieren über einzelne Aspekte noch mal ausführlicher im Ausschuss oder gerne auch in Anhörungen; es geht ja um viele Punkte.

Ich sage Ihnen ganz klar, dass die Landesregierung bei der Energiestrategie liefern muss. Die Energiestrategie muss konkrete Zielwerte für erneuerbare Energien und ganz konkrete Handlungsanweisungen enthalten; dann können wir auch weiter reden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und Michael Hübner [SPD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Brems. Jetzt spricht für die AfD-Fraktion Herr Loose.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An sich ist das ein sehr, sehr lustiger Antrag. Daran scheinen drei Leute geschrieben zu haben: Der Erste hat etwas zu den Realitäten im Energiemarkt aufgeschrieben, der Zweite durfte sich dann mit den sozialistischen Träumereien zur sogenannten Energiewende beschäftigen, und der Dritte hat das Ganze dann zusammengewürfelt.

Damit das wieder halbwegs passt, mussten Fakten geglättet und die sozialistischen Träumereien etwas gängiger beschrieben werden: aus „Subventionen“ werden dann „Förderungen“.

(Michael Hübner [SPD]: Da habt ihr einmal eine eigene Meinung, und schon seid ihr Sozialisten!)

Für diesen Antrag haben Sie echt die Goldene Himbeere des Parlaments verdient.

Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch.

Ich zitiere:

„Der Netzausbau droht zur Achillesferse der Energiewende zu werden.“

Das ist schon recht nah an den Fakten. Richtig ist jedoch, dass dies bereits der Fall ist. Massive Eingriffe sind schon jetzt nötig. 78 Mal wurde die Aluminiumindustrie im letzten Jahr abgeschaltet. Im Jahr 2017 entstanden Eingriffskosten beim Übertragungsnetz von 1,4 Milliarden Euro. Höchstwert! All das zahlen die Verbraucher über ihre Netzentgelte.

Seit 2005 wissen wir, dass etwa 7.700 km Netzausbau nötig sind. Was ist bisher gebaut worden? Nicht einmal 1.000 km.

Realität Nummer eins ist also: Der Netzausbau ist gescheitert.

Was folgt dann aus Ihrem Träumerantrag? Sie fordern eine echte Synchronisation von Netzausbau und Ausbau der sogenannten Erneuerbaren. Das lässt sich sogar ganz einfach realisieren, Herr Brockes. Sie müssten nur den kompletten Ausbau von Zufallsstrom ab sofort stoppen und endlich anfangen, das Netz auszubauen, bis es so weit ist. Aber stattdessen ignorieren Sie lieber die Probleme. Das ist das System Merkel und Laschet: Was wir nicht sehen, kann auch nicht da sein. – Man schaut lieber weg.

Ich zitiere wieder aus Ihrem Antrag:

„Prognosen der Branche sowie der Bundesnetzagentur gehen davon aus, dass die gesicherte Leistung … bis 2023 unter die Jahreshöchstlast fällt, sodass der Stromimportbedarf zunimmt.“

Realität Nummer zwei: Versorgungssicherheit ist gescheitert.

Was folgt jetzt aus Ihrem Antrag? Sie wollen die Kohlekraftwerke abschalten und verschärfen das Problem damit weiter. Aber kein Problem! Alle anderen bekommen ja Gelder. RWE bekommt Geld. Die Region bekommt Geld. Das heißt: Mit hohen Subventionen schalten Sie die Kohle ab.

Was machen Sie weiter? Mit Subventionen wird jetzt die Wärmeversorgung in Gebäuden auf Stromheizungen umgestellt, und Sie wollen Subventionen für Elektroautos. All das wird die benötigte Strommenge erhöhen. Die Wärmepumpen werden, da sie hauptsächlich im Winter betrieben werden, dann auch die Jahreshöchstlast, also den höchsten Bedarf innerhalb eines Jahres, erhöhen. Das heißt: Mit diesen Maßnahmen, die Sie dann auch noch subventionieren, verschärfen Sie das Problem weiter.

Und was sind Ihre Lösungsansätze? Subventionen für Gaskraftwerke, Geothermie, Speicher usw. Das heißt: Die Probleme der Planwirtschaft, die Sie hier nutzen, sollen also mit Planwirtschaft bekämpft werden.

Realität Nummer drei: Abhängigkeit von anderen Ländern.

Sie schreiben selber, dass „der Stromimportbedarf zunimmt“, und das ist richtig. Das bedeutet, dass Deutschland nicht mehr autark ist, sondern wir am Tropf von Ländern wie Polen oder Tschechien hängen, die dann mit schlechteren Kohlekraftwerken unseren Strom ersetzen, der aus relativ sauberen und sicheren Kraftwerken kommt. Damit gefährden Sie alle die Sicherheit Deutschlands und auch die Umwelt.

Ein weiterer Punkt aus Ihrem Antrag lautet – ich zitiere –:

„Durch ein perspektivisch steigendes Börsen-Strompreisniveau werden immer mehr Anlagen ohne Förderung auskommen, …“

Gemeint sind damit die EEG-Anlagen. Sie sagen also selber, dass der Börsenpreis steigen wird. Hauptgrund ist die Abschaltung von billigen Kraftwerken wie Kohlekraftwerken und Kernkraftwerken, verschärft von Ihrem Minister Herrn Pinkwart und Ihrem Ministerpräsidenten Herrn Laschet, die das ja schon bei den Jamaika-Verhandlungen mit abgesegnet hatten. Das heißt: Sie verteuern konsequent den Markt und sagen dann, jetzt würden die EEG-Anlagen relativ billiger. Das ist eine absolute Selbstlüge.

Kommen wir zum Fazit: Die DDR hat Westprodukte verboten und dann den Bürgern den Trabi gegeben. Sie verbieten hier die Kohlekraftwerke und die Kernkraftwerke und kommen dann mit teuren Gaskraftwerken und unzuverlässigem Zufallsstrom. Sie, Herr Laschet und Herr Pinkwart, wandeln zusammen mit Ihrer Kanzlerin auf den Spuren von Erich Honecker. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Für die Landesregierung erteile ich nun Herrn Minister Professor Pinkwart das Wort.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich seitens der Landesregierung sehr herzlich für den vorliegenden Antrag bedanken, weil er uns zum einen ermuntert, an der Energiestrategie zügig weiterzuarbeiten und alle Stakeholder in Nordrhein-Westfalen auch dort mit einzubinden.

Zudem gibt er die richtigen Leitplanken vor, an denen wir uns orientieren können. Das halte ich für sehr wichtig, damit eine Energiestrategie vorgelegt werden kann, die hier im Hohen Haus auf möglichst breite Zustimmung stößt.

Wir stehen jetzt in Kenntnis des Berichts der Kommission für Wachstum, Struktur und Beschäftigung, der seit Ende Januar dieses Jahres vorliegt, auch unter dem klaren Rahmen, den sich Deutschland geben will. Wir haben in den Monaten des letzten Jahres schon vorgearbeitet.

Aber eine Strategie braucht klare Leitplanken. Sie werden einerseits durch den hier vorliegenden Antrag und andererseits durch den Bericht der Kommission für Wachstum, Struktur und Beschäftigung markiert. Beides ist außerordentlich wichtig, weil wir auf dieser Grundlage das Ganze in den nächsten Wochen und Monaten weiter konkretisieren und Ihnen bis zur Sommerpause dann auch zur Diskussion vorlegen können.

Es ist eine große Herausforderung – das ist überhaupt keine Frage –, das angesprochene Zieldreieck zum Ausgleich zu bringen. Dies wird natürlich dadurch besonders erschwert, dass wir zunächst aus der klimaneutralen Kernenergie aussteigen und dann auch aus der Kohleverstromung schneller herausgehen müssen, um unsere übergeordneten Klimaziele zu erfüllen. Das macht es nicht leichter.

Aber – das wollen wir auch herausarbeiten – es gibt Brückentechnologien. Es existieren Ersatztechnologien, auf die wir auch zurückgreifen müssen. Außerdem gibt es die Chance, auch sehr langfristig ein System neu auszurichten.

Wir werden sicherlich gerade in Nordrhein-Westfalen mit Blick auf die Versorgung der Industrie – aber auch der Haushalte – mit Wärme in vielen Bereichen auf Gas als Übergangstechnologie setzen müssen. Das ist unter anderem notwendig, um die Kraft-Wärme-Kopplung organisieren zu können.

Wir werden aber auch die Erneuerbaren weiter ausbauen. Natürlich werden wir – dazu sind die Netze dringend erforderlich – darauf angewiesen sein, dass wir erneuerbaren Strom, der günstig an der Küste umgewandelt wird, schnell und sicher nach Nordrhein-Westfalen bekommen können. Hieran arbeiten alle Bundesländer und auch der Bund sehr intensiv, seit einiger Zeit auch wirklich controlled und zielgerichtet.

Gerade als Land Nordrhein-Westfalen müssen wir darauf Wert legen, dass die Leitungen auch gelegt werden. Denn wir brauchen diesen Mix, und zwar zu besten marktwirtschaftlichen Bedingungen. Das heißt: Wir wollen den günstigen Strom, der an der Küste erzeugt wird, nicht gegen Geld nach Frankreich verschenkt sehen, sondern wir wollen ihn hier in unseren Unternehmen nutzen.

Gleichzeitig müssen unsere Wirtschaft und die privaten Haushalte ihren Strombedarf noch besser an die neuen Bedingungen anpassen. Sprich: Sie müssen sich so flexibel organisieren, dass sie den Strom dann verbrauchen, wenn er besonders günstig am Markt verfügbar ist. Dafür gibt es auch Technologien.

In der Wirtschaft besteht auch die Bereitschaft, sich umzustellen. Wir wollen diesen Prozess, wo immer möglich, begleiten, um die Chancen, die darin bestehen, hinreichend zu nutzen. Wir hatten heute Morgen in der Debatte beispielsweise gesehen, dass das Thema „Digitalisierung“ uns hierbei helfen kann.

Es ist also ein breiter Mix gefordert. Wir brauchen ein aufeinander abgestimmtes System. Außerdem muss es ein System bleiben, in dem Wettbewerb vorherrscht, um die Preise möglichst niedrig zu halten. Dazu brauchen wir die Öffnung in Europa. Wir brauchen auch einen Wettbewerb der erneuerbaren Energien – nicht nur national, sondern auch im europäischen Kontext. Wir benötigen ferner den Ausgleich von Energieangebot und ‑nachfrage, soweit möglich, in einem europäischen Kontext.

Bezogen auf die Äußerung, wir müssten die Autarkie wahren, möchte ich nur den freundlichen Hinweis geben, dass Nordrhein-Westfalen schon heute ein Energieimportland ist. Wir sind zwar ein Stromexportland, weil wir mehr Energie in Strom umwandeln, als wir selbst benötigen. Wir benötigen relativ mehr als andere Bundesländer, weil wir gottlob eine sehr leistungsstarke Industrie mit sehr gut bezahlten Arbeitsplätzen haben. Insofern ist das die Bilanz. Aber wir müssen auch Energie importieren. Zum Beispiel importieren wir für die Hälfte unserer Kohlekraftwerke die Kohle aus dem Ausland, nachdem wir sie nicht mehr selbst fördern.

Das wird sich in Zukunft eher günstiger gestalten, wenn es gelingt, die erneuerbaren Energien über starke Leitungsnetze aus dem Norden nicht nur für den Stromsektor zusätzlich zu nutzen, sondern auch Sektoren für Wärme zu koppeln und sie für Mobilität zu nutzen. Denn im Moment importieren wir für Wärme und Mobilität Gas und Öl in großem Stil.

Ich will nicht sagen, dass sich das auf absehbare Zeit grundlegend ändern wird. Aber mittel- und langfristig muss dies das Ziel sein – aus klimapolitischen Gesichtspunkten, aber sicherlich auch vor dem Hintergrund, dass wir damit eine Möglichkeit hätten, die Preisentwicklung günstig zu beeinflussen.

Insofern freue ich mich sehr auf die weiteren Beratungen und hoffe, dass wir hier ein gutes, gemeinsames und möglichst auch vom Hohen Haus breit getragenes Konzept finden können. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/5636 an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung – federführend – sowie den Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer möchte dieser Überweisungsempfehlung folgen? – Das sind SPD, Grüne, CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist das einstimmig so angenommen.

Ich rufe auf:

8   Mögliche Verjährung der Cum-Ex-Geschäfte abwenden – Mehr Personal zur Verfügung stellen

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5626

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellende Fraktion der SPD dem Abgeordneten Herrn Zimkeit das Wort.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mal wieder Journalisten zu verdanken, dass das Thema „Bekämpfung von Steuerbetrug“ auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Die Kolleginnen und Kollegen von „Westpol“ haben das Thema aufgegriffen. Es zeigte sich, dass es mal wieder nötig war, das Thema vonseiten der Medien aufzunehmen, weil die Landesregierung augenscheinlich nicht über die aktuelle Situation im Bilde war.

Die Landesregierung hat sich sogar noch nicht einmal bereit erklärt, den Kolleginnen und Kollegen von „Westpol“ persönlich mündlich Rede und Antwort zu stehen. Herr Kollege Lienenkämper, so kamerascheu kenne ich Sie sonst gar nicht. Insofern hat uns das schon überrascht.

Genauso überrascht waren wir darüber, dass nicht die Bereitschaft bestanden hat, unsere schriftlich eingereichten Fragen für den HFA seitens des Finanzministeriums zu beantworten. Herr Kollege Reul hat das zumindest für das Innenministerium getan. Umso bedauerlicher und unverständlicher ist, dass das Finanzministerium es nicht getan hat.

Insbesondere zwei Fragen hätten wir gern beantwortet gehabt. Dazu besteht ja gleich noch Gelegenheit. Wir hatten gefragt, ob Sie eine Garantie geben können, dass es nicht zu Verjährungen von Cum-Ex-Fällen kommt. Darauf sind Sie uns eine Antwort genauso schuldig geblieben wie auf die Frage, wann Sie sich zuletzt mit dem Thema beschäftigt hatten, seit, ich glaube, im Januar 2018 die Zentralisierung der Ermittlungen beschlossen worden ist.

Stattdessen gab es im HFA Ablenkungsmanöver Ihrerseits. Sie haben über die neuen Stellen für die Taskforce zur Bekämpfung der Geldwäsche berichtet. Dann musste erst richtiggestellt werden, dass diese Taskforce mit Cum-Ex nichts zu tun hat und dass Fakt ist, dass zumindest im Finanzministerium keine neuen Stellen geschaffen worden sind, obwohl bekannt ist, dass sich die Anzahl der Fälle von 5 auf rund 50 erhöht hat.

Da stellt sich wieder die Frage: Ist die Landesregierung im Bilde? Was heißt denn „rund 50 Fälle“? Ich glaube, im Justizausschuss wurde von 56 gesprochen, im Bericht des Innenministeriums von 51. Das Finanzministerium spricht von „rund 50“. Das zeigt deutlich, wie wenig die Landesregierung bei diesem wichtigen Thema im Bilde ist. So geht das nicht!

Es geht auch nicht, bei dieser komplizierten Materie keine zusätzlichen Stellen zur Verfügung zu stellen. So bekämpft man Organisierte Kriminalität nicht; und es handelt sich hier um Organisierte Kriminalität. So geht man nicht mit den kompetenten und engagierten Kolleginnen und Kollegen um, die sich im Stich gelassen fühlen, wenn sie mit dieser komplizierten Materie alleingelassen werden. So schafft man auch bei den ehrlichen Steuerzahlern kein Vertrauen dahin gehend, dass sie nachher nicht die Dummen sind.

Sie, Herr Finanzminister, haben im HFA gesagt, dass Sie nun beobachten, was passiert. Es ist für diese Landesregierung ja schon ein Fortschritt, die Problematik jetzt zumindest einmal zu beobachten.

Aber es ist jetzt nicht die Zeit, zu beobachten. Es ist Zeit, zu handeln. Es ist Zeit, die Kolleginnen und Kollegen, die dort tätig sind, jetzt ernsthaft zu unterstützen – insbesondere, wenn man weiß, dass es lange dauert, bis man sich die Kompetenzen angeeignet hat, die notwendig sind, um in dieser schwierigen Materie entsprechend tätig werden zu können.

Ich weiß; der Antrag wird gleich abgelehnt werden. Nichtsdestotrotz appelliere ich noch einmal an die Landesregierung, dieses Thema endlich ernst zu nehmen und mehr Personal zur Verfügung zu stellen, damit die ganze Problematik schnellstmöglich aufgeklärt werden kann und die Kolleginnen und Kollegen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, um diese Form der Organisierten Kriminalität zu bekämpfen. Das sind wir allen Beteiligten schuldig. Das ist notwendig, um diese perfide Art des Steuerbetruges endlich effektiv zu bekämpfen.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die CDU hat nun der Abgeordnete Moritz das Wort.

Arne Moritz (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Suggestion von Herrn Kollegen Zimkeit, NRW würde bei der Aufklärung der Cum-Ex-Fälle trödeln und schlampen, kommen wir doch jetzt wieder zurück zu den Fakten.

(Beifall von der CDU)

Die Schäden in Höhe von 32 Milliarden Euro, die in Deutschland durch Cum-Ex entstanden sind, entziehen sich sowohl in finanzwirtschaftlicher als auch in moralischer Hinsicht jedem Vergleich. Netzwerke aus gierigen Bankern, Superreichen und Beratern haben hier eine unfassbare Skrupellosigkeit gezeigt. Das ist für jeden ehrlichen Steuerzahler ein Schlag ins Gesicht.

Deshalb sind wir uns auch darüber im Klaren, dass wir jedem Bürger eine rechtssichere, lückenlose und grundlegende rechtliche Aufarbeitung sowie eine konsequent effiziente Strafverfolgung schuldig sind.

Dafür übernehmen wir die Verantwortung. Die Maßnahmen aus der Zusammenarbeit der Ministerien der Finanzen, des Innern und der Justiz lassen daran keinen Zweifel.

(Beifall von der CDU – Stefan Zimkeit [SPD]: Deswegen die unterschiedlichen Zahlen!)

Die Zentralisierung der Cum-Ex-Verarbeitung und die personelle Aufstockung machen den kriminellen Steuerbetrügern, den Shortsellern und Brokern klar: Jeder Schritt, den die Cum-Ex-Netzwerke gegangen sind, wird untersucht. Jeder Schritt, der über die Gesetze hinausgeht, wird entsprechend bestraft werden.

Das steht nicht erst seit gestern fest. Liebe Sozialdemokraten, das steht auch nicht erst fest, seit „Westpol“ Ende März 2019 darüber berichtet hat und Norbert Walter-Borjans endlich mal wieder eine Bühne bekommen hat. Dass der Druck hier noch einmal erhöht wird, steht seit Beginn der Legislaturperiode fest.

(Michael Hübner [SPD]: Ja, klar!)

Im Haushalts- und Finanzausschuss am vergangenen Donnerstag war dann zu hören, die NRW-Koalition würde erst durch den Druck der Medien aktiv werden.

(Beifall von der SPD – Michael Hübner [SPD]: Genau!)

Dem ist aber nicht so. Es ist nicht die NRW-Koalition, die aktiv wird,

(Michael Hübner [SPD]: Jetzt haben Sie es richtig gesagt!)

sondern es sind die 2017 abgewählten Parteien von SPD und Grünen. Denn kaum spricht Herrn Walter-Borjans in der Presse noch einmal davon, wie viel er doch gegen Steuerbetrug getan habe und wie umfassend Cum-Ex sei, klingeln bei der SPD die Alarmglöckchen, und wird fix ein Antrag zusammengeschustert.

Kommen wir einmal zu den wesentlichen Fakten des Antrags. Es geht erstens um die Gefahr einer möglichen Verjährung und zweitens um die personelle Ausstattung der Steuerfahndung.

Wie beim Lernen von Vokabeln für den Englischunterricht setze ich jetzt noch einmal auf den Erkenntnisgewinn durch stumpfes Wiederholen. Am Donnerstag im Ausschuss wurde die Frage, wie viele Fahnder im Einsatz sind, drei- oder viermal gestellt. Auch der jetzige Antrag fordert erneut zehn zusätzliche Stellen.

Und was haben wir im Anschluss gehört? Die Antwort des Oberfinanzpräsidenten Werner Brommund lautete – ich darf zitieren –: Die personelle Aufstellung zur Aufarbeitung von Cum-Ex ist ausreichend. Wenn mehr Personal benötigt wird, wird es gefordert. – Da hat auch der Finanzminister nicht widersprochen. Insofern ist das Thema in dieser Form jetzt hoffentlich erledigt.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Sie glauben auch den Gebrüdern Grimm!)

Bezüglich der eventuellen Verjährungen ist im Ausschuss auch alles gesagt worden. Die zuständigen Behörden haben alle Register und die notwendigen Konsequenzen zur Vermeidung etwaiger ertragssteuerrechtlicher und strafrechtlicher Verjährungen gezogen.

Ich hätte, ehrlich gesagt, erwartet, dass Sie Ihren Antrag noch zurückziehen. Denn das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, stimmt einfach nicht. Vielleicht spricht auch die Anwesenheit in Ihrer Fraktion dafür, dass Ihre Kollegen das etwas anders sehen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Bei allem Respekt glaube ich, dass Sie selber wissen, dass dies ein Schuss in die Luft war. Es geht auch gar nicht um die inhaltliche Debatte.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Das merkt man Ihnen an!)

Es geht darum, die Angst zu schüren, dass das Thema „Cum-Ex“ womöglich nicht angemessen behandelt und aufgeklärt wird.

Lassen Sie mich deshalb zum Schluss noch einmal vier Punkte zusammenfassend nennen.

Erstens wird der von Helmut Linssen und Herrn Walter-Borjans begonnene Einsatz gegen die Cum-Ex-Praktiken vom amtierenden Minister der Finanzen fortgeführt und intensiviert.

(Lachen von der SPD – Stefan Zimkeit [SPD]: Linssen wusste doch gar nicht, was Cum-Ex ist!)

Zweitens erfordert die Aufklärung und Aufarbeitung außerordentliches Engagement und die Zusammenarbeit der zuständigen Ministerien. Die NRW-Koalition leistet hier Folge.

Drittens hat die Landesregierung in Kooperation mit den zuständigen Behörden die notwendigen und erforderlichen Maßnahmen zur Vermeidung der Verjährung umgesetzt.

Viertens reagiert die Landesregierung mit der personellen Aufstockung bei den juristischen Aufklärungen in angemessener Weise auf die Fallzahlen und die Komplexität.

Ich denke, damit ist alles gesagt. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP hat nun der Abgeordnete Herr Witzel das Wort.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei den hier diskutierten Cum-Ex-Geschäften handelt es sich zweifellos um eine besonders verwerfliche Vorgehensweise. Denn es besteht der begründete Verdacht, dass der Allgemeinheit ein beträchtlicher Milliardenschaden entstanden ist, da sich Straftäter absichtlich zu Unrecht Steuererstattungen einverleibt haben, ohne als Grundlage dafür überhaupt Steuern gezahlt zu haben.

Durch fingierte schnelle Leerverkäufe von Aktien um den Dividendenstichtag herum sind nicht nur zu geringe Steuern gezahlt worden, sondern auch vorhandene Steuergelder der Allgemeinheit entzogen worden, wofür es keine Rechtfertigung gibt.

Bislang wurden rund 50 Fallkomplexe aufgedeckt. Insbesondere sind ausländische Kapitalgesellschaften betroffen, die eine Steuerauszahlung beim Bundeszentralamt für Steuern, BZSt, mit Sitz in Bonn eingefordert haben.

Die Aufklärung und Bekämpfung von Steuerkriminalität hat für die NRW-Koalition Priorität, und zwar aus zwei Gründen, nämlich aus rechtsstaatlichen Erwägungen ebenso wie selbstverständlich aus fiskalischen Motiven. Daher ist es unser erklärtes Ziel, zu Unrecht entzogene öffentliche Gelder beizutreiben.

FDP und CDU haben in dieser Hinsicht ein großes Problembewusstsein. Seit dem Politikwechsel sind bekanntlich verschiedene Maßnahmen ergriffen worden, um die Chancen zur Durchsetzung öffentlicher Ansprüche bei Cum-Ex zu verbessern.

Es gibt eine verbesserte Kooperation und einen Informationsaustausch intensiver Art von Justiz-, Innen- und Finanzbehörden. Es gibt eine Zentralisierung für eine schwerpunktmäßige Bearbeitung der Fälle mit Kompetenzbündelung und eine Aufgabenwahrnehmung beim LKA sowie durch die Steuerfahndung in Wuppertal. Es handelt sich um hochkomplexe Fallgestaltungen, die aufzuklären sind. Deshalb sind uns diese Kompetenzzentren wichtig. Es gibt eine spezialisierte Fallbearbeitung durch eigene Ermittlungskommissionen, nämlich „STOP“ in der Finanzverwaltung und „TAX“ beim LKA.

Ferner hat eine Personalaufstockung stattgefunden. Aktuell arbeiten 22 versierte Steuerfahnder ausschließlich für die Cum-Ex-Ermittlungen. Sie sind, anders als früher, nicht mehr für irgendwelche anderen Aufgaben abgestellt, sondern können sich vollständig auf diese Arbeiten konzentrieren. Sie erhalten ferner Zuarbeiten durch Groß- und Konzernbetriebsprüfungsstellen. Die Steuerfahnder-Stellen sind im Haushalt 2018 von Schwarz-Gelb aufgestockt worden. Auch die Justiz hat ihre Personalausstattung verbessert.

Es sind außerdem Maßnahmen zur Vermeidung von Verjährung ergriffen worden, um hier nicht die Zehnjahresfrist greifen zu lassen, und zwar sowohl für die finanziellen Ansprüche als auch für die strafrechtliche Verfolgung. Es findet ein intensiver, ständiger Informationsaustausch mit dem Bundesfinanzministerium und anderen Bundesländern statt.

Der von der Opposition behauptete Personalmangel oder die Inkaufnahme von Verjährung werden von den Fachverwaltungen energisch bestritten. Deshalb ist das aktuelle Ergebnis all dieser Bemühungen, dass bei der Staatsanwaltschaft Köln über 50 Ermittlungsverfahren liegen, und weitere bei der Staatsanwaltschaft Düsseldorf.

Wir als FDP-Landtagsfraktion begrüßen es ausdrücklich, dass jetzt Gerichtsprozesse beginnen, beispielweise beim Landgericht Bonn, um die strafrechtliche Verantwortung von Beschuldigten zu klären.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Wo denn noch, wenn das ein Beispiel ist? Wo denn noch?)

– Herr Kollege Zimkeit, weitere werden folgen.

Sie, Herr Zimkeit, haben gesagt – ich habe Ihre Presseinformation dabei, aus der ich zitieren möchte –:

„Das Desinteresse der Landesregierung bei den Ermittlungen zu Cum-Ex-Geschäften grenzt an politische Beihilfe zum Steuerbetrug.“

(Michael Hübner [SPD]: Ja, da hat er recht!)

Das ist eine ausgesprochene Dreistigkeit. Ich weiß nicht, welche zusätzlichen Erkenntnisse Sie haben. Dann hätten Sie es eben anders darstellen sollen. Sie scheinen wohl ein schlechtes Gewissen zu haben. Denn die Fälle des BZSt gehören in den Zuständigkeitsbereich des SPD-Bundesfinanzministers.

(Beifall von der FDP – Stefan Zimkeit [SPD]: In der Frage haben wir bestimmt kein schlechtes Gewissen! Das sollten Sie haben, Herr Kollege!)

Eines, Herr Kollege Zimkeit, will ich Ihnen abschließend sagen: Wenn es in der letzten Legislaturperiode eine Fraktion gegeben hat, die dieses Thema gegenüber dem früheren Finanzminister Norbert Walter-Borjans regelmäßig angesprochen hat, dann war das die FDP-Landtagsfraktion.

(Lachen von der SPD – Michael Hübner [SPD]: Jetzt bin ich aber gespannt! Herr Witzel, oder was?)

Ich kann Ihnen die ganzen Landtagsdrucksachen benennen.

(Michael Hübner [SPD]: Dann bringen Sie sie mal mit!)

Ihr früherer Finanzminister hatte als Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB und bei der Portigon AG die Verantwortung. Damals hat er uns erzählt, da gebe es nichts. Er ist dem nicht nachgegangen. Es waren die Steuerfahnder, die die Erkenntnisse auf den Tisch gelegt haben,

(Stefan Zimkeit [SPD]: Das ist eine Lüge, Herr Witzel!)

die den früheren Finanzminister in seinen Annahmen widerlegt haben. Deshalb sollten Sie hier ganz kleine Brötchen backen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP und der CDU – Jochen Ott [SPD]: Sie leben in einer Scheinwelt, Herr Witzel!)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Grünen spricht nun die Abgeordnete Düker.

Monika Düker*) (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte wieder zum Thema zurückkommen, Herr Witzel. Worum geht es? Es geht bei Cum-Ex um den größten Steuerraub nicht nur in der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern auch in der europäischen Geschichte. EU-weit hat es einen solchen Steuerraub – man schätzt ihn auf über 50 Milliarden Euro – bislang nicht gegeben.

Was verbirgt sich dahinter? Hinter Cum-Ex verbergen sich Leerverkäufe von Aktien, die zum Dividendenstichtag mehrfach hin und her geschoben werden, um sich die Kapitalertragsteuer mehrfach erstatten zu lassen, obwohl sie nur einmal entrichtet wurde. Das ist mitnichten eine Steuerhinterziehung, wie ich kürzlich in einem Tweet des Ministerpräsidenten las – Herr Lienenkämper, Sie müssen das Herrn Laschet noch einmal erklären –, sondern das ist Steuerraub. Hier wurden öffentliche Kassen ausgeplündert. Für mich ist das eine Form der Organisierten Kriminalität – mit hoher krimineller Energie von Bankern, Steuerberatern und Investoren.

Das alles konnte nur funktionieren, weil sich, wie in organisierten kriminellen Strukturen üblich, alle beteiligten Parteien höchst klandestin eng abgestimmt und eine gesetzliche Lücke missbraucht haben, sodass der Betrug schwer nachweisbar war.

Das alles – das gehört zur Geschichte ebenfalls dazu – konnte nur funktionieren, weil sich die Politik über Jahre weggeguckt hat. Denn bereits 2002 lagen dem Bundesfinanzministerium Hinweise vom Bankenverband vor, die auf die Cum-Ex-Praxis hingewiesen haben – nicht etwa, um die Täter hinter Schloss und Riegel zu bringen, sondern um das Haftungsrisiko für Banken auszuschließen. Es waren gleich zwei Finanzminister in großen Koalitionen, die über Jahre weggesehen haben.

Finanzminister Peer Steinbrück

(Ralf Witzel [FDP]: Aha!)

– so viel gehört zur Ehrlichkeit dazu; es war auch ein SPD-Finanzminister, der weggeschaut hat – und Finanzminister Wolfgang Schäuble haben nachweislich über viele Jahre – das hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss in Berlin ergeben – von diesen Dingen gewusst. Erst 2012 änderte die Bundesregierung die Rechtsgrundlage – 2016 dann für die Cum-Cum-Geschäfte –, damit das nicht mehr möglich war. – So viel zur Geschichte.

Um diese ganze Sache jetzt aufzuarbeiten und die Ermittlungen zu einem Erfolg zu führen, braucht es versierte Profis und hohen Sachverstand, sowohl bei der Staatsanwaltschaft und beim Landeskriminalamt als auch bei den Steuerfahnderinnen und Steuerfahndern.

NRW spielt, wie dargestellt, eine große Rolle, weil hier durch das Bundeszentralamt für Steuern in Bonn die Verfahren gebündelt sind. Ich weiß, dass die Staatsanwaltschaft in Köln mit Hochdruck arbeitet und jetzt auch die Anklageschrift fertiggestellt ist. Ich hoffe, dass es auch zu einer Anklage kommen wird.

Jetzt stellt sich aber die Frage: Was macht der Finanzminister mit seiner Steuerfahndung, die für den Erfolg dieser Ermittlungen von wesentlicher Bedeutung ist? Er zentralisiert die Ermittlungen in der Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Wuppertal.

Nun kann man sagen: Wir haben nicht mehr Personal, man muss halt zusammenkratzen, was geht. – Aber, Herr Lienenkämper, Sie haben die Steuerfahndung für Cum-Ex im Jahr 2018 zentralisiert. Im Jahr 2018 waren auch Sie es, der zwei der renommiertesten Steuerfahndern bei uns in NRW und sogar bundesweit so viele Steine in den Weg gelegt hat, dass sie die Finanzverwaltung in Wuppertal verlassen haben. So wurde die Steuerfahndung aufgrund Ihres Verhaltens massiv geschwächt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Im selben Jahr, 2018 – man höre und staune –, gab es immerhin – wenig genug – zehn Stellen mehr für die Steuerfahndung. Die Anzahl der Stellen wurde von 651 auf 661 erhöht. Man könnte glauben, dass der Finanzminister auf die Idee gekommen sei, diese Ressourcen in die zentralen Ermittlungen zu geben. – Weit gefehlt! Die zehn Stellen gingen in eine öffentlichkeitswirksame Taskforce, die vom Finanzminister, Justizminister und Innenminister vorgestellt wurde.

Ich will gar nichts dagegen sagen, dass dort unter Umständen auch Bedarf besteht. Aber fragen wir doch mal nach, was die Taskforce macht, die diese zehn Steuerfahnder bekommen hat. Ich zitiere aus der Vorlage 17/1586:

„Aktuell beschäftigt sich die Taskforce beispielsweise bereits mit Projekten zur Clankriminalität sowie zum organisierten Sozialleistungsmissbrauch.“

All das sind zwar wichtige Dinge, um die man sich kümmern kann, aber wenn von den 58 neuen Stellen für diese Taskforce 22 aus der Finanzverwaltung kommen und Sie die 10 neuen Stellen für die Steuerfahndung auch dort verorten, dann frage ich mich, Herr Finanzminister, wie Sie die Prioritäten hier in diesem Land setzen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Horst Becker [GRÜNE]: So ist es!)

Vielleicht hätte man für die Bekämpfung des organisierten Sozialleistungsmissbrauchs auch ein paar Stellen bündeln und zentralisieren können. Allerdings hätte man die neuen Stellen dort ansiedeln müssen, wo sie dringender gebraucht werden, zumal Thomas Eigenthaler, Bundesvorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, vorrechnet, dass die Steuerfahndungen bundesweit zu 25 % unterbesetzt sind und es in der Finanzverwaltung insgesamt 6.000 unbesetzte Stellen gibt; allein bei uns in NRW sind es 1.000. Das heißt, die Decke ist ohnehin schon zu kurz.

Dann muss man sich, Herr Finanzminister, die Frage stellen: Wo stecke ich die Kräfte hin, und wo priorisiere ich? Besser wäre es, wenn man für alles unheimlich viel Personal und Ressourcen hätte. An dieser Stelle aber haben Sie die Prioritäten nachweislich falsch gesetzt.

Den Fahnderinnen und Fahndern, den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim LKA möchte ich meinen ausdrücklichen Dank aussprechen für ihre engagierte Arbeit, die sie trotz Ihrer fehlenden Unterstützung leisten. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Für die AfD spricht nun Herr Abgeordneter Strotebeck.

Herbert Strotebeck (AfD): Herr Vorsitzender! Meine Damen, meine Herren! Wahrscheinlich handelt es sich um den größten Steuerbetrug in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Schaden liegt bei über 50 Milliarden Euro. Sie haben es zwar schon gehört, aber jetzt hören Sie es von mir auch noch mal.

Es geht um die Steuererstattungen aus einem trickreichen Hin- und Herschieben von Aktien um den Dividendenstichtag herum, um sich die gezahlte Steuer teilweise mehrmals erstatten zu lassen. Kurzum: Es handelt sich um den Cum-Ex-Aktienhandel.

Dass dem Fiskus durch diese Cum-Ex-Dealer hohe Steuerzahlungen entgingen bzw. gar nicht entrichtete Steuern gezahlt wurden, war den Behörden bereits seit den 90er-Jahren bekannt. 2002 forderte die Deutsche Bank selbst noch den Bankenverband auf, die Bundesregierung vor diesen Geschäften zu warnen.

Erst fünf Jahre später, im Frühjahr 2007, wurde die Gesetzeslücke dann endlich geschlossen. Allerdings unterlief der Regierung ein Fehler, und die Geschäfte konnten, sofern der Aktienhandel über das Ausland abgewickelt wurde, weiterlaufen. Also, der Steuerbetrug ging munter weiter.

Makaber ist, dass sich ausgerechnet die Deutsche Bank dieser Gesetzeslücke offenbar sehr schnell bewusst war und sie schamlos zu nutzen wusste. Das Groteske dabei ist, dass der Mann, der diese Gesetzeslücke entdeckte, heute noch im Dienste der Deutschen Bank ist und mehr als der gesamte Vorstand der Commerzbank verdient. Wer darüber etwas lesen will, sollte in den aktuellen „SPIEGEL“ blicken. Das nennt man wohl „Wolf im Schafspelz“. Genutzt hat es der Bank bekanntlich nichts. Erst im Jahr 2012 wurde die Gesetzeslücke dann endlich geschlossen, und mit den Steuertricks war es vorbei.

Nordrhein-Westfalen nahm bei den Betrügereien der Aktieninvestoren eine Schlüsselrolle ein. In Bonn sitzt das Bundeszentralamt für Steuern, das diese Steuern erstattete. Hinzu kommt, dass die federführende Staatsanwaltschaft ihren Sitz in Köln hat. Zurzeit – wir haben es gehört – sind 50 Ermittlungen gegen ca. 200 Beteiligte anhängig. Die berechtigten Fragen, die sich jetzt stellen, sind die nach der ausreichenden Anzahl an qualifizierten Ermittlern und die nach der Verjährung.

In der letzten Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses am 04.04.2019 haben uns das Ministerium und der Finanzminister mehrfach erklärt, dass eine ausreichende Anzahl von qualifizierten Ermittlern – 661 Steuerfahnder insgesamt – tätig sei. Davon würden 22 gezielt und ausnahmslos für die Cum-Ex-Ermittlungen eingesetzt. Diese Anzahl an Mitarbeitern sei zurzeit ausreichend, und falls sich abzeichnen sollte, dass weiterer Bedarf entstehe, solle sofort gehandelt werden. Man hat das Problem also voll im Fokus.

Die Forderung nach den fehlenden 30 bis 40 spezialisierten Steuerfahndern von Herrn Sebastian Fiedler, immerhin Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, ist also unbegründet – hoffentlich. Anklagen wurden bislang noch nicht erhoben, sodass die Frage nach der Verjährung mindestens so brisant ist wie die nach der ausreichenden Mitarbeiterzahl.

Herr Minister Lienenkämper sprach in der letzten Woche von den Fällen aus 2008 bis 2012. Das heißt, die Fälle von vor 2008 bleiben unverfolgt, und das Geld des Steuerzahlers ist uneinbringlich verloren, da das erste fehlerhafte Gesetz bekanntlich erst 2007 in Kraft trat.

Zugesagt wurde uns, dass alle 50 bekannten Fälle in der Bearbeitung sind, in keinem Fall eine Verjährung droht und somit zehn weitere Jahre Zeit bleiben, um Anklage zu erheben, was hoffentlich auch in allen Fällen geschehen wird.

Die Frage, warum Nordrhein-Westfalen bislang nicht den erfolgreichen Weg der bayerischen Finanzbehörden übernommen hat und Haftungsbescheide an die beteiligten Banken mit Bezug auf § 44 Abs. 5 Einkommensteuergesetz für die Haftung von nicht gezahlten Abgaben verschickt hat, blieb auch nach einer Rückfrage unbeantwortet. Nicht nur die Deutsche Bank ist doch ein klarer Fall. Vielleicht bekommen wir heute sogar noch eine Antwort.

Dem Antrag zuzustimmen, würde nach der Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses am 04.04. dieses Jahres und den Aussagen des Ministers und des Ministeriums bedeuten, den Minister und sein Ministerium der Lüge zu bezichtigen. Das tun wir selbstverständlich nicht. Aus diesem Grunde werden wir dem Antrag nicht zustimmen. Wir werden uns aber im HFA ständig über den aktuellen Stand informieren lassen. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Lienenkämper das Wort.

Lutz Lienenkämper, Minister der Finanzen: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich sehr über die Gelegenheit, zu diesem wichtigen Thema eine Debatte aus dem Haushalts- und Finanzausschuss im Plenum noch einmal wiederholen zu können, ist doch das Prinzip der Wiederholung ein pädagogisch erfolgreiches Konzept für den Hinzugewinn von Erkenntnissen.

Erste Erkenntnis, die ich wiederhole: Der erste Prozess zu einem Cum-Ex-Fallkomplex steht am Landgericht Bonn bevor. Die Staatsanwaltschaft Köln hat dem Gericht am 3. April 2019 die erste Anklage gegen zwei Beschuldigte zugestellt. Diese gute Nachricht verdanken wir dem hochengagierten und hochspezialisierten Einsatz der Fachkräfte der Finanzverwaltung, des Landeskriminalamtes und der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zu dieser Anklage beigetragen haben.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Dieses Verfahren wird Gelegenheit geben, die individuelle strafrechtliche Verantwortung der Angeklagten und die dahinterliegenden Komplexe näher zu beleuchten. Das ist gut und notwendig.

Sie wissen, dass Ermittlungen in Cum-Ex-Fällen ganz besonders kompliziert und zeitintensiv sind. Sie erfordern tiefgreifende Fachkenntnisse; denn hinter einem Verfahren verbergen sich in der Regel viele Fälle mit jeweils höchst unterschiedlichen Akteuren und vielfältigen Beteiligten. Genau um diese Aufgabe effektiver zu bewältigen und die Qualität der Arbeit noch weiter zu steigern, haben sich das Ministerium der Finanzen und das Ministerium der Justiz im Frühjahr 2018 darauf verständigt, die Cum-Ex-Bearbeitung zu zentralisieren.

Die Landesregierung hat, wie ich im Ausschuss bereits vorgetragen habe, zudem 22 weitere Stellen für den Bereich Steuerstrafsachen und Steuerfahndung in der sogenannten Taskforce geschaffen. Auch diese beinhalten insgesamt zehn zusätzliche Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder. Das ist eine gute Botschaft. Das war die zweite Aufstockung der Stellen im Bereich der Steuerfahnderinnen und Steuerfahnder seit 2007. Ich bin ganz sicher, das ist eine richtige Entscheidung.

(Unruhe)

Bei den Cum-Ex-Bearbeitungen liegen im Moment nicht 50 Fälle, sondern rund 50 Fallkomplexe vor.

(Unruhe – Glocke)

Diese betreffen zum größten Teil ausländische Kapitalgesellschaften, die jeweils ihre Erstattungsansprüche geltend gemacht haben, und zwar gegenüber dem Bundeszentralamt für Steuern.

Bei all diesen Fallkomplexen handelt es sich um umfangreiche Komplexe. In den allermeisten Fällen sind strafrechtliche Ermittlungsverfahren bereits eingeleitet. In den Fällen, in denen bisher kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, sind zum Teil noch Ermittlungen des BZSt abzuwarten.

In der Regel betreffen die Tatzeiträume die Jahre 2008 bis 2012, aber nicht ausschließlich. Es gibt jeweils eine Vielzahl von identifizierten und auch noch nicht identifizierten Tätern. Die Verfahren richten sich deshalb gegen verschiedene Akteure auf den unterschiedlichen Handlungsebenen, unter anderem gegen Shortseller, gegen Broker, aber auch gegen die ganze Kette im Rahmen eines komplexen Cum-Ex-Deals.

Zusammenfassung: In allen drei Ressorts wurden und werden geeignete Maßnahmen getroffen, auch um einer strafrechtlichen und steuerrechtlichen Verjährung entgegenzutreten.

Wir beschäftigen derzeit 22 Mitarbeiter der Steuerfahndung in Nordrhein-Westfalen ausschließlich mit den Cum-Ex-Fällen. Daneben trägt auch eine Vielzahl anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzverwaltung zur Aufdeckung und zur Aufarbeitung von Cum-Ex-Fällen bei, beispielsweise in den Groß- und Konzernbetriebsprüfungsstellen.

Selbstverständlich gilt: Die Landesregierung behält die Entwicklungen bei der Aufarbeitung der Cum-Ex-Geschäfte genau im Blick. Sofern sich die aktuelle Situation verändern sollte, werden wir hierauf flexibel reagieren.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Ich hoffe, die Methode der Wiederholung hat Erfolg gezeitigt. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Für die SPD hat noch einmal der Abgeordnete Zimkeit das Wort.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Herr Minister, ich habe den Eindruck, mit Ihren ständigen Wiederholungen versuchen Sie eher, sich selbst zu überzeugen als andere. Deswegen habe ich mich aber nicht gemeldet. Ich habe mich nach dem Beitrag von Herrn Witzel gemeldet.

Herr Witzel, ich weiß nicht, wie es um Ihr Gewissen bestellt ist. Ich weiß aber, dass Sie hier zweimal die Unwahrheit gesagt haben. Sie haben einmal gesagt, das eine eingeleitete Verfahren sei ein Beispiel für mehrere. Nein, es gibt nur ein Verfahren. Das ist ja das Problem, und das ist der Skandal, dass es nur ein Verfahren gibt.

Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Sie haben hier in den Raum gestellt, ausgerechnet Norbert Walter-Borjans hätte nicht genug zu Cum-Ex getan.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Hat er auch nicht!)

Das ist lächerlich.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Hat er auch nicht!)

Dass Sie allerdings behaupten, er habe gesagt, bei der WestLB gäbe es das nicht, das ist eine Lüge. Versuchen Sie hier nicht, denjenigen zu diskreditieren, der wie kein anderer für Steuergerechtigkeit in Nordrhein-Westfalen gekämpft hat.

(Beifall von der SPD)

Nehmen Sie sich ein Beispiel daran.

(Beifall von der SPD – Josef Hovenjürgen [CDU]: Nichts hat er gemacht!)

Präsident André Kuper: Herr Kollege Zimkeit, die wenigen Sekunden haben ausgereicht, um eine Kurzintervention anzufragen. – Für die FDP hat Herr Witzel das Wort.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Zimkeit, ich meine das ganz ernst. Wenn Sie die Debatten aus der letzten Legislaturperiode und die Wortbeiträge von zahlreichen Abgeordneten der FDP – des Kollegen Kai Abruszat, des Kollegen Dirk Wedel oder auch meiner Wenigkeit – nachvollziehen, werden Sie feststellen, dass wir immer wieder vom Finanzminister eingefordert haben, dass er sich dort, wo er selber Eigentümerverantwortung trägt, bei der WestLB und später bei der Portigon AG, ernsthaft damit zu beschäftigen hat.

Norbert Walter-Borjans hat uns mitgeteilt, dass er in den Gremien nachgefragt und die Mitteilung bekommen habe, es gebe keine bekannten Anhaltspunkte, dass da etwas gewesen sei. Wir haben darauf entgegnet, dass uns das nicht reiche, dass mehr nachgeschaut werden müsse. Daraufhin hat er den Wirtschaftsprüfer gefragt. Der konnte auch nichts finden.

Dann ist es später seine eigene Steuerfahndung gewesen, die ihm gesagt hat: Ja, für die Verdachtsmomente – was man in Marktkreisen gehört hat, was die FDP-Landtagsfraktion immer wieder vorgetragen hat – scheint es Anhaltspunkte zu geben, dass das auch bei der WestLB in öffentlicher Verantwortung stattfindet. – Das ist so. Dann sind die Belege gefunden worden. In den Bilanzen sind Rückstellungen für die Strafforderungen, die dort kommen, gebildet worden.

Dann können Sie uns ja wohl zugestehen, dass wir für uns in Anspruch nehmen, die Sachverhalte mit großer Ernsthaftigkeit aufzuklären, und unsere Einschätzung aufrechterhalten, dass der frühere Finanzminister nicht nur über andere hätte reden können, sondern dort, wo er selber in der Verantwortung stand, auch konsequenter etwas hätte tun können.

(Beifall von der FDP)

Stefan Zimkeit*) (SPD): Sehr geehrter Herr Witzel, Sie haben sich immerhin gerade selbst widersprochen. In Ihrem ersten Redebeitrag haben Sie hier erklärt, Finanzminister Norbert Walter-Borjans hätte in Sachen WestLB nichts getan. Gerade haben Sie einen Teil dessen aufgezählt, was Sie erfahren haben. Damit haben Sie schon einmal zugegeben, dass Ihr erster Beitrag hier nicht der Wahrheit entsprochen hat. – Erster Punkt.

(Beifall von der SPD)

Zweiter Punkt: Genau, es waren die Steuerfahnder aus Nordrhein-Westfalen. Herr Witzel, wenn Sie es wirklich ernst meinen, dann hören Sie doch auch zu. Die Steuerfahnder hatten zumindest noch die Kapazitäten, um sich darum zu kümmern. Norbert Walter-Borjans hat immer sehr deutlich erklärt, dass er es richtig fände, es unterstütze und den Steuerfahndern bei ihrer Arbeit die Rückendeckung gebe, die sie brauchen, auch ein landeseigenes Unternehmen zu untersuchen.

Uns ist es egal, ob es die WestLB ist oder welche Bank auch immer. Das ist nicht hinzunehmen. Cum-Ex muss bekämpft werden. Sie haben sich immer nur mit Cum-Ex bei einer öffentlichen Bank beschäftigt, bei einer privaten war es Ihnen augenscheinlich egal. Ihre Politik zeigt eindeutig, dass es Ihnen eben nicht darum ging, wirklich etwas gegen diesen Steuerbetrug zu unternehmen, sondern dass es Ihnen nur darum ging, eine öffentliche Bank anzugreifen und private Banken, die das Gleiche getan haben, in Ruhe zu lassen.

(Ralf Witzel [FDP]: Blödsinn!)

Das ist Ihre Politik, und diese Politik werden wir nicht mitmachen.

(Beifall von der SPD – Zurufe von der FDP)

Deswegen bleibe ich bei meinem Vorwurf: Das, was Sie tun, Herr Witzel, ist politische Beihilfe zur Steuerhinterziehung.

(Beifall von der SPD – Ralf Witzel [FDP]: Unverschämtheit! – Weitere Zurufe von der FDP)

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe damit die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung.

Die antragstellende Fraktion der SPD hat direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/5626. Wer möchte diesem Antrag zustimmen? – Das sind SPD und Grüne. Wer ist dagegen? – Das sind CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Gibt es Enthaltungen? – Damit ist dieser Antrag Drucksache 17/5626, wie gerade festgestellt, abgelehnt.

Ich rufe auf:

9   Seenotrettung als humanitäre Verpflichtung – solidarischen Kommunen die Aufnahme von Geflüchteten ermöglichen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5615

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellende Fraktion der Grünen Frau Aymaz das Wort.

(Unruhe – Glocke)

Berivan Aymaz (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Sie alle können sich sicherlich noch an das Bild des kleinen Jungen mit dem roten T-Shirt und der blauen Hose erinnern, das vor über drei Jahren um die Welt ging – das Bild des zweijährigen Aylan Kurdi, dessen Leichnam im Mittelmeer an die türkische Küste nahe des Touristenortes Bodrum gespült wurde.

Die Familie floh vor dem Bürgerkrieg in Syrien und hoffte auf Schutz in Europa. Dafür blieb ihnen nur die gefährliche Route auf einem Schlepperboot über das Mittelmeer, die für Aylan, seinen fünfjährigen Bruder Galip und seine Mutter Rehan tödlich endete. Nur der Vater überlebte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Einzelschicksal. Laut UNHCR ertranken allein im Jahr 2018 mindestens 2.275 Menschen während ihrer Flucht. Das sind durchschnittlich sechs Menschen pro Tag, und die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein.

Das Versagen der Europäischen Union, der es bislang nicht gelungen ist, sich auf eine menschenrechtsorientierte Flüchtlingspolitik zu verständigen, ist verantwortlich für diese humanitäre Katastrophe, die sich tagtäglich vor den Toren Europas ereignet. Stattdessen kooperiert die EU mit Libyen, einem instabilen Land, in dem Krieg, Mord, Folter und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind. Das ist eine moralische Bankrotterklärung, die nicht nur Menschenleben kostet, sondern auch das Vertrauen der Menschen in den Rechtsraum und die Handlungsfähigkeit der EU nachhaltig beschädigt. Das wollen wir nicht hinnehmen.

(Beifall von der SPD)

Diese Abschottungs- und Abschreckungspolitik muss beendet werden. Dafür sind in den letzten Monaten 10.000 Menschen auch in NRW auf die Straße gegangen, getragen von einem breiten Bündnis aus Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und – ich betone, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen Dingen von der CDU – großartig getragen von den Kirchen.

Im Sommer letzten Jahres schlossen sich die Oberbürgermeisterin von Köln und die Oberbürgermeister der Städte Bonn und Düsseldorf zusammen und forderten von Bundeskanzlerin Merkel, die Seenotrettung im Mittelmeer zu ermöglichen und die Aufnahme von geretteten Geflüchteten durch die Kommunen zu sichern, bis eine europäische Lösung gefunden sei.

Inzwischen haben sich über 20 weitere Städte und Gemeinden aus NRW ebenso mit Ratsbeschlüssen und Resolutionen für die Aufnahme von Geretteten aus der Seenotrettung ausgesprochen. Mit ihrer Haltung verkörpern diese Kommunen die europäischen Grundwerte. Unsere Kommunen in NRW machen damit deutlich, dass ihr Verständnis von Europa ein gänzlich anderes ist als das der Salvinis und Orbans, und das ist auch gut so!

(Beifall von den GRÜNEN)

Es ist jetzt Ihre Aufgabe, Herr Minister Stamp, diesen solidarischen Kommunen auch zur Seite zu stehen. Werden Sie endlich aktiv! Schalten Sie sich auf Bundesebene ein! Schaffen Sie die Möglichkeit für unsere Kommunen, aus Seenot gerettete Geflüchtete aufzunehmen, und ergreifen Sie die Initiative für ein humanitäres Landesaufnahmeprogramm!

(Beifall von den GRÜNEN)

Wie drängend diese Frage ist, erleben wir ganz aktuell. Das einzig noch verbliebene zivile Seenotrettungsschiff, übrigens benannt nach dem ertrunkenen Aylan Kurdi, muss seit einer Woche mit 64 geretteten Menschen an Bord auf offener See ausharren, weil die verantwortlichen Länder ihnen keinen sicheren Hafen gewähren. Die Lage auf der „Aylan Kurdi“ spitzt sich in diesem Moment wegen schlechter Wetterverhältnisse dramatisch zu. Die Nahrungsmittel- und Wasservorräte werden knapp.

Erst im März habe ich die Crew der „Aylan Kurdi“ von der deutschen Hilfsorganisation Sea-Eye in Palma getroffen. Es hat mich zutiefst beeindruckt, was diese Menschen auf den Rettungsschiffen ehrenamtlich leisten. Sie springen da ein, wo die EU ihrer Pflicht nicht nachkommt. Ich finde, dafür gebührt ihnen unser aller Respekt.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Dass diese zivilen Helferinnen und Helfer dafür jetzt auch noch kriminalisiert werden, ist schlichtweg erbärmlich. Denn die Pflicht zur Seenotrettung ist Völkerrecht und somit auch europäisches Recht, und das Recht auf Leben ist nicht verhandelbar. Stimmen Sie unserem Antrag zu.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die CDU spricht nur der Abgeordnete Franken.

Björn Franken (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die wir regelmäßig aus der Mittelmeerregion in den Medien sehen, schockieren uns sicher fast alle hier im Saal. Der weitere Gedanke daran, dass es Menschen gibt, die aus der Not von Mitmenschen großen Profit schlagen und bewusst Menschenleben gefährden, schockiert mindestens genauso.

Am Antrag der Grünen und an der Haltung der CDU erkennt man sehr deutlich eine unterschiedliche Herangehensweise an die Problematik. Die Grünen picken sich einen einzelnen Punkt aus einem komplexen Zusammenhang heraus, um moralische Überlegenheit darzustellen. Was Sie dabei inhaltlich nicht erkennen, liebe Fraktion der Grünen, ist, dass Sie damit an Symptomen herumdoktern, statt das Übel an der Wurzel zu packen.

Solange es Schleuser gibt, die sich gewissenslos bereichern, mit Lügen locken, den Tod von Tausenden von Menschen billigend in Kauf nehmen, so lange wird das Problem rund um die Seenotrettung auch morgen noch bestehen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Mit Ihrem Antrag drehen Sie nur weiter an der Spirale. Sie treten in einen Kampf, den Sie nicht gewinnen können. Erst wenn wir den Verbrechern langfristig das Handwerk legen, würdigere Lebensumstände in den Flüchtlingscamps und in den Heimatländern schaffen, werden wir diesen Knoten durchschlagen können. Nur dadurch können wir künftige Generationen vor dem Seetod bewahren.

(Beifall von der CDU)

Der CDU greift der Antrag der Grünen zu kurz. Zum Beispiel fordern Sie von der Bundesregierung, auf die Probleme rund um die Seenotrettung hinzuweisen. Dieser Aufruf ist völlig überflüssig; denn die Bundesregierung bekräftigt regelmäßig – und auch die NRW-CDU hat immer wieder deutlich gemacht –, dass wir die Herausforderungen nur mit vereinten Kräften auf europäischer Ebene meistern können. Gerade unsere Bundeskanzlerin an der Spitze steht wie sonst niemand für die gemeinsame europäische Lösung.

Sie fordern weiterhin, die Kommunen aktiv dabei zu unterstützen, aus Seenot gerettete Menschen aufzunehmen. Auch diesen Punkt lösen wir anders. Die NRW-Koalition unterstützt die Kommunen nicht nur bei Flüchtlingen, die in Seenot geraten sind, sondern wir unterstützen die Kommunen bei allen legalen Flüchtlingen, egal aus welcher Not sie kommen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Dabei bekennen wir uns natürlich zu den sich aus dem Völkerrecht ableitenden humanitären Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen. Wir schauen im Wesentlichen auf das, was wir in Nordrhein-Westfalen tatsächlich dazu beitragen können, zum Beispiel mit dem Asylstufenplan, der unsere Kommunen entlastet und Struktur und Ordnung schafft, der Fortführung und Absicherung von „KOMM-AN Nordrhein-Westfalen“, der Reform des Abschiebehaftvollzugsgesetzes und der Ausschöpfung der gesetzlichen Möglichkeiten nach § 47 Asylgesetz.

Wir haben nicht vergessen, welches herausragende Engagement die kommunalen Verwaltungen und die vielen Ehrenamtler vor Ort während der Flüchtlingskrise und auch bis heute geleistet haben. Deshalb erhalten die Kommunen die volle Integrationspauschale des Bundes weitergeleitet als Ausgleich für die Kosten bei der Integration der Flüchtlinge. Das ist ein deutlicher Kurswechsel. Denn unter Rot-Grün hat es das so nie gegeben.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Flüchtlingspolitik geht aber weit über die Landesgrenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus. Nur gemeinsam können wir das Thema angehen und Lösungen finden. Das geht aber nur, wenn wir mit einer vereinten Stimme in ganz Europa sprechen.

Bei Fragen zur Bekämpfung von Fluchtursachen, zum Einsatz von Entwicklungszusammenarbeit und zur Bekämpfung von Schmugglern und Schleusern ist eine breite gemeinsame Basis nötig. Der globale Migrationspakt legt hierfür einen Grundstein. Eine gestärkte europäische Grenzschutzagentur Frontex ist ein weiterer wichtiger Baustein.

Sie sehen, die Fragen der Flüchtlingspolitik kann man nicht isoliert in einem Teilbereich betrachten. Die NRW-Koalition verfolgt eine ganzheitliche Strategie. Wir lösen die Herausforderungen gemeinsam mit unseren Partnern auf kommunaler Ebene. Darauf drängen wir im Bund seit Langem. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Franken. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Yetim.

Ibrahim Yetim (SPD): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zwei, drei Sätze zu Herrn Franken sagen. Ich habe ihn jetzt so verstanden, dass wir so lange nichts tun, bis wir alles geklärt haben, und so lange lassen wir die Menschen im Mittelmeer ersaufen. Ich finde, Herr Franken, das ist eine Herangehensweise an dieses Problem, die dem absolut nicht gerecht wird.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich kann auch nicht nachvollziehen, Herr Franken, was der Asylstufenplan oder was „KOMM-AN NRW“ mit der Thematik zu tun hat, dass auch heute noch Menschen im Mittelmeer elendig ersaufen müssen, dass sie ertrinken und wir machen nichts. Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Deswegen habe ich Ihre Ausführungen eben nicht verstehen können.

Sie wissen genauso gut wie wir alle, dass auf der Welt 68 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Neun von zehn Flüchtlingen befinden sich in Entwicklungsländern, in der Türkei, in Uganda, in Pakistan und wo sie alle leben, aber nicht bei uns. Sie kommen auch gar nicht zu uns. Nur ein ganz geringer Teil davon versucht, nach Europa zu kommen, sucht Schutz in Europa.

Wenn man sich dann überlegt, dass von diesen wenigen Menschen, die versuchen, nach Europa zu kommen, allein im letzten Jahr offiziell 2.300 Menschen ertrunken sind – ich möchte gar nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer ist –, wird das Problem sehr klar. Ich finde, für eine Gesellschaft wie die unsere gibt es eine humanitäre Verpflichtung, zu helfen.

Ja, wir können nicht alles Elend dieser Welt lösen. Das schaffen wir nicht. Aber ich glaube, wir können einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die gemeinsame Idee von Europa, nämlich die Idee der Aufklärung, die Idee des Humanismus, zum Tragen kommt. Wenn wir dann ein Zeichen setzen, würden wir viele Menschen ermutigen, ebenfalls zu helfen.

Die Appelle von allen möglichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, von den Kirchen usw., die an uns appellieren, die auch an uns als Politiker appellieren, hier aktiv zu werden, sollten insbesondere auch bei der CDU angekommen sein. Ich vermisse das.

In vielen Bundesländern, aber auch in Nordrhein-Westfalen, gibt es diese Initiative in den Städten. Frau Aymaz hat gerade ein paar genannt: Bielefeld, Krefeld, Kempen, Solingen, Moers, Viersen – all diese Städte machen dabei mit. Sie werden sich natürlich auch etwas dabei gedacht haben.

Wenn man sich anschaut, wie die Räte in diesen Städten zusammengesetzt sind, dann sind es Mitglieder von SPD, CDU, FDP, von den Grünen, von den Piraten, von den Linken, die alle durch die Bank sagen: Ja, lasst uns hier ein Signal senden, lasst uns hier ein Zeichen setzen, lasst uns Druck auf die nächsten Ebenen machen, damit dort etwas passiert und dieses Problem endlich angegangen wird.

Ich kann nicht verstehen, warum Sie diesem Antrag, der uns nicht zu sehr bindet, der aber das Signal sendet, dass wir das Problem erkannt haben und helfen wollen, nicht zustimmen wollen. Das erschließt sich mir nicht. Ich bin ein wenig irritiert darüber, um nicht zu sagen erschüttert, dass Sie dieses Signal „Wir wollen helfen, und wir unterstützen euch dabei, liebe Kommunen“ nicht senden wollen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Yetim. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Lenzen.

Stefan Lenzen (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das internationale Seerecht ist in der Frage der Seenotrettung unmissverständlich. Die Rettung hilfsbedürftiger Menschen auf See ist eine Verpflichtung aller Schiffe und deren Besatzungen.

Allerdings hat die Rettung von Geflüchteten aus dem Mittelmeer natürlich auch zu Diskussionen geführt. Menschen, die versuchen, aus Afrika nach Europa zu gelangen, dürfen jedoch gegenüber anderen Schiffbrüchigen nicht Menschen zweiter Klasse sein.

(Beifall von der FDP)

Das Zurücklassen von Ertrinkenden sowie die Weigerung von einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – wir kennen die Beispiele aus Italien und Malta –, Rettungsschiffe in ihre Häfen einlaufen zu lassen bzw. die auf den Schiffen befindlichen Menschen an Land gehen zu lassen, widerspricht den Grundsätzen des Seerechts. Für uns als Freie Demokraten stehen das Individuum und der Schutz der Menschenrechte im Mittelpunkt.

Leben zu retten ist eine humanitäre Verantwortung. Aber neben der Rettung ist auch die Bekämpfung von Ursachen der Seenot eine Verpflichtung. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind auch die kriminellen Schleusernetzwerke. Es ist richtig, dass wir dagegen entschiedener vorgehen müssen. Wir dürfen Menschen nicht den Schmugglern überlassen, die aus der Not der Betroffenen Profit schlagen und sie in überfüllte, nicht hochseetüchtige Boote setzen. Wir müssen zwischen der kalkulierten Ausnutzung zivilen Engagements durch die Schleuser und der humanitären Seenotrettung klar differenzieren.

In diesem Sinne bedeutet die Überlassung der Seenotrettung an private oder gemeinnützige Organisationen keine Lösung, sondern eine Flucht der europäischen Staatengemeinschaft vor der Verantwortung. Deshalb brauchen wir endlich auch einen gemeinsamen europäischen Ansatz.

Wir müssen die europäischen Grenzen schützen, besser noch: Wir müssen sie als eine einzige europäische Grenze verstehen. Deshalb müssen wir – das haben wir in einem anderen Wortbeitrag auch schon gehört – Frontex zu einem EU-Grenzschutzsystem mit echten Hoheitsrechten und einer Einsatzstärke von mindestens 10.000 Personen ausbauen. Trotz und alledem war die Einstellung der Sophia-Operation der völlig falsche Weg. Eine Beobachtung aus der Luft wirkt geradezu zynisch.

Wir brauchen eben entsprechende europäische Lösungen, gerade bei dem Thema „Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten“. Leider – das wissen wir – gab es bis jetzt dazu keine Einigung, wie man dauerhaft EU-weit zu einer Lösung mit einem Verteilerschlüssel kommen kann.

Bis zu der Neuordnung, auf die wir leider noch warten müssen, können wir im Rahmen der Dublin-III-Verordnung den Art. 17 nutzen. Ich glaube, den meisten ist bekannt, was er bedeutet. So könnte ein EU-Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens von einem anderen Mitgliedstaat an sich ziehen. Dies wurde in diesem Jahr auch schon praktiziert.

Einen Kritikpunkt – das hat bereits Kollege Franken erwähnt – sehen wir in dem im Antrag der Grünen geforderten Landesaufnahmeprogramm. Das soll für die dauerhafte Aufnahme in NRW unabhängig von rechtlich relevanten Schutzgründen garantiert werden. Aus Sicht der Freien Demokraten kann das dazu führen, dass noch mehr Menschen dazu bewegt werden, den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer zu gehen.

Deswegen ist der ganzheitliche Ansatz wichtig. Wir müssen an die Fluchtursachen heran. Die müssen wir bekämpfen. Was heißt das? – Wir müssen in den Herkunfts- und Transitländern die Situation verbessern. Das hat eine entscheidende Bedeutung. Solange diese Menschen keine Chance auf Bildung, sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen Erfolg haben, wird es für einen Großteil der Bevölkerung immer wieder Anreize geben, ihre Heimat zu verlassen und ihr Glück auf den zum Untergang geweihten Schlauchbooten zu suchen.

Machen wir uns nichts vor: Wir brauchen ein in sich konsistentes echtes Einwanderungsgesetz, das legale und sichere Wege nach Europa und Deutschland für qualifizierte Migranten aufzeigt. Gleichzeitig steht – das gilt für die politisch und anderweitig Verfolgten wie auch für die Kriegsflüchtlinge – unser Asylsystem dem offen gegenüber.

Deswegen ist wichtig: Wir müssen das Schleuserwesen bekämpfen. Wir müssen Perspektiven in den Herkunftsländern schaffen. Wir brauchen eine menschenwürdige Unterbringung und Versorgung in den Transitländern. Wir brauchen das Einwanderungsgesetz. Und wir brauchen die Schaffung legaler und sicherer Wege sowie ein europäisches Asylsystem.

Das wären die besten Voraussetzungen, in Zukunft die Einsätze der Seenotretter seltener, wenn nicht sogar komplett überflüssig zu machen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lenzen. – Für die AfD-Fraktion spricht Frau Kollegin Walger-Demolsky.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seenotrettung ist im internationalen Seerecht eine Pflicht. „Safety of life at sea“ heißt die UN-Konvention zur Schiffssicherheit, die aktuelle SOLAS-Konvention, die fünfte, genannt SOLAS 74 nach dem Jahr ihrer letzten Novelle.

In dieser Konvention ist selbstverständlich auch geregelt, welche Sicherheitsausstattungen Boote haben müssen, die in See stechen. Man kann sagen: Keines dieser Boote, die Flüchtlinge und Migrationswillige besteigen, hat auch nur annähernd diese erforderliche Ausrüstung. Aber nicht nur diese Ausstattung fehlt. Es fehlt in der Regel ebenfalls an einem eigenen Antriebsmotor, es fehlt an Treibstoff, es fehlt an Proviant. Für eine längere Überfahrt oder gar eine Mittelmeerüberfahrt sind diese Boote nicht gedacht und nicht geeignet.

Das heißt, eine aus diesen Parametern folgende Seenotsituation ist wissentlich herbeigeführt. Schließlich ist eine längere Fahrt auch gar nicht geplant. Man wartet in der Regel gutes Wetter ab und wird dann, so ist der Plan, in kürzester Zeit von Hilfsschiffen, die zum Beispiel vor der Küste Libyens warten, aufgenommen. Mit Radarreflektoren ist so ein Boot in der Regel schnell gefunden, also quasi schon beim Ablegen, aber eben nur in der Regel.

Seenotrettung an dieser Stelle würde bedeuten: Ein solches Schlauchboot wird in Schlepp genommen und dorthin zurückgebracht, wo es gestartet ist. Aber mitnichten! Die NGOs berufen sich auf das sogenannte Refoulement-Verbot, einen völkerrechtlichen Grundsatz, der die Rückführung von Personen in Staaten untersagt, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Kann dieses Refoulement-Verbot aber Anwendung finden auf Staaten, in denen sogenannte Flüchtlinge schon viele Monate, zum Teil Jahre, freiwillig verbracht haben, um sich eines Tages von dort auf den Weg nach Europa zu machen?

Selbst wenn wir im Falle Libyens dem dennoch aktuell zustimmen, so wäre die Verbringung in den nächsten sicheren Hafen das Gebot der Seenotrettung. Das wäre zum Beispiel Tunesien, aber sicherlich nicht die Überfahrt nach Europa.

Somit betreiben die NGOs wie zum Beispiel die deutsche Hilfsorganisation Sea-Eye das Geschäft der kriminellen Schleuser, sagt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Oder wenn Ihnen der Grüne Boris Palmer lieber ist, Frau Aymaz, dann zitiere ich ihn: „Die Seenotretter sind Teil des Kalküls der Schlepper.“ – Es gäbe sie nicht, wenn die seeuntüchtigen Schlauchboote nicht in See stechen würden und nicht von diesen Booten aufgenommen würden.

Dass Frau Aymaz sich selbst auf die „Alan Kurdi“ begeben hat, um dort für diesen Antrag den medialen Rahmen zu schaffen, macht das Handeln der NGOs keinesfalls besser. Die einzig richtige Reaktion ist die des italienischen Innenministers Matteo Salvini, der solche Schiffe nicht mehr in italienisches Hoheitsgewässer einlaufen lässt.

Einer Lösung auf EU-Ebene, auf Bundesebene, auf Landesebene sowie für Kommunen bedarf es gar nicht, wenn die Grundsätze der Seenotrettung eingehalten und die zu rettenden Boote zurück ans afrikanische Festland gebracht würden und vor Ort geholfen würde. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Walger-Demolsky. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Walger-Demolsky, die Vorstellung, die aus Seenot geretteten Menschen in Tunesien abzuliefern, ist völlig weltfremd und entspricht auch nicht dem Völkerrecht. Insofern …

(Zurufe von der AfD)

– Es ist schön, dass Sie den Zwischenruf „Tunesien ist ja auch ein Urlaubsland!“ bringen. Es gibt zig andere Länder, wo Sie vielleicht in Frieden Urlaub machen können, wo aber andere eine Verfolgung erfahren. Von daher ist das eines der dümmlichsten Argumente in der gesamten Flüchtlingsdebatte.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN – Zurufe von der AfD – Zuruf von Markus Wagner [AfD])

– Herr Wagner, Sie können gerne nach China fahren. Ihre Kollegen fahren auch schon mal nach Syrien und machen da die große Welle. Ich fand das zynisch und muss ganz ehrlich sagen: Das ist kein wirklich ernst zu nehmender Debattenbeitrag hier.

(Beifall von der FDP)

Ich würde jetzt gerne auf den Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen eingehen. Frau Aymaz, wenn Sie mir zuhören, wenn ich mich mit Ihrem Antrag auseinandersetze, dann freue ich mich. Ich glaube, dass der Antrag gut gemeint ist, dass er aber das Gegenteil bewirken würde, wenn man ihn denn in der Konsequenz durchziehen wollte.

Lassen Sie uns einmal gemeinsam überlegen, was die Konsequenz ist. Wir sehen die Situation der Verzweifelten, die sich aus der Subsahara aufgemacht haben – das ist übrigens der weitaus gefährlichere Weg als der übers Mittelmeer, nämlich der Weg durch die Sahara, dort gibt es erheblich mehr Tote.

Sie sind in einer verzweifelten Situation; sie wollen unbedingt nach Europa wollen. Wenn wir ihnen quasi signalisieren würden: „Begebt euch in die Todeslotterie des Mittelmeers, setzt euch ins Boot, dann werden wir dafür sorgen, dass ihr dort abgeholt werdet, und ihr kommt hier in ein Landesprogramm“, dann wäre das der falsche Weg, weil wir damit genau dieses russische Roulette bedienen würden. Das kann nicht ernsthaft Ziel von humanitärer Flüchtlingspolitik sein.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich glaube, hierin sind sich vier Fraktionen völlig einig: Das, was die Europäische Union angesichts dieser Situation bietet, ist indiskutabel. Ich muss persönlich ganz ehrlich sagen, dass ich kein Verständnis dafür habe, dass man, als es um die Banken- und Griechenlandrettung ging, jedes Wochenende tagen konnte, bis man eine Lösung hatte, dass man es aber hinnimmt, bis heute kein Verteilsystem in Europa hinbekommen zu haben.

Hier muss man auch mal Führung zeigen in Europa,

(Beifall von der CDU und der FDP)

wenn es darum geht, die Lasten fair zu verteilen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Entschuldigung, …

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Jetzt spreche ich erst einmal zu Ende. Danach kann man sich zu Kurzinterventionen melden; dann gehe ich auch gerne noch einmal darauf ein.

(Zuruf von Christian Loose [AfD])

– Erst darf der Kollege sich auskrakeelen, dann mache ich weiter.

Es muss darum gehen, dass wir eine vernünftige, gesteuerte Art und Weise hinbekommen, wie wir mit diesen Phänomenen umgehen. Dazu gehören sichere Häfen, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie tatsächlich an einem Hafen liegen, sondern dass es sichere Gebiete gibt, nämlich auch bereits im Subsahara-Bereich, als Anlaufstellen für genau diese Menschen.

Da kann man unter der Flagge des UNHCR internationale Standards garantieren; da kann man sich legal um eine Ankunft in Europa bewerben: auf dem europäischen Arbeitsmarkt oder aber als Vulnerable für einen humanitären Zugang nach Europa. Das muss unsere Zielsetzung sein, die wir in Europa im Sinne der europäischen Werte anstreben.

Es kann aber nicht unser Angebot sein, eine solche Lotterie zu bedienen, nach dem Motto: Setzt euch in die Boote – es wird schon Leute geben, die euch rausholen, und wir machen dann hier ein Landesaufnahmeprogramm.

Das geht an der Realität auch insofern vorbei, als wir das hier gar nicht ohne die Zustimmung des Bundes beschließen können. Ich halte es auch für abenteuerlich, zu glauben, dass man mit Herrn Seehofer an dieser Stelle zu einer Verständigung kommen kann. Was wir brauchen – ich habe es jetzt zweimal gesagt, sage es aber auch noch ein drittes Mal –, ist eine systematische Regelung für ganz Europa.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das muss es sein. Dafür setzen wir uns an verschiedenen Stellen ein. Ich habe die Bundesregierung immer wieder kritisiert, und ich werde weitermachen. Ich werde das am Wochenende wieder ansprechen, in den nächsten Tagen, morgen, übermorgen, auf der Integrationsministerkonferenz, dass wir insgesamt zusehen müssen, dass wir zu vernünftigen Lösungen kommen, und dass wir auch in unseren eigenen Parteien Druck machen, damit auf Bundesebene und dann vor allem auch auf der europäischen Ebene etwas passiert.

Der Ansatz hier greift erheblich zu kurz und würde in der Konsequenz – das ist jedenfalls meine Überzeugung – das Gegenteil von dem bewirken, was er eigentlich intendiert. Denn die gute Absicht, Frau Aymaz, will ich Ihnen überhaupt nicht absprechen. – Danke schön.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Sie haben sicherlich bemerkt, dass sich Frau Düker zu einer Kurzintervention gemeldet hat. Sie haben das Wort, Frau Düker.

Monika Düker*) (GRÜNE): Danke. – Herr Minister Stamp, Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie zu viel Rettung als Pull-Effekt – um es mal sehr verkürzt zu sagen – identifizieren. Das hieße im Umkehrschluss, dass die Nicht-Rettung der Geflüchteten im Mittelmeer einen Abschreckungseffekt hätte. Nun kann man, wenn man sich die Zahlen anschaut, belegen, dass bei der zurückgefahrenen Rettungsaktion der EU die Flüchtlingszahlen nicht zurückgegangen sind, dafür aber die Zahl der Toten im Mittelmeer gestiegen ist.

Meine erste Frage an Sie wäre: Wie belegen Sie eigentlich diesen Abschreckungseffekt? Und zweitens: Wie können Sie diese These menschenrechtlich verantworten, wenn doch in der Genfer Flüchtlingskonvention – das ist eine internationale Konvention – klar verankert ist, dass jedem, der in Not ist, der in Europa ankommt, ein Zugang zu einem fairen Verfahren ermöglicht wird? Es geht nicht um ein Aufnahmeprogramm. Es geht darum, jedem ein faires Verfahren zu ermöglichen. Das steht in den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention.

Wie wollen Sie diese These der potenziellen Abschreckung unter menschenrechtlichen Aspekten und auch unter empirischen Aspekten aufrechterhalten? Ich habe die Erfahrung, dass die repressiven Maßnahmen, die wir auch im Aufenthaltsrecht in den letzten Jahrzehnten hatten, diesen Effekt jedenfalls nicht als Folge hatten. Wie belegen Sie das?

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank. – Herr Minister. Sie haben das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Kollegin Düker, herzlichen Dank für die Kurzintervention. Das gibt mir die Gelegenheit, die Sache noch einmal klarzustellen.

Der Umkehrschluss, den Sie vorgenommen haben, entspricht genau nicht meiner Intention. Es geht nicht um Abschreckung. Vielmehr habe ich eben davon gesprochen, dass wir sichere Häfen – die es noch nicht gibt – brauchen. Die Seenotrettung ist eine Pflicht.

Ich habe, so dachte ich, ausdrücklich und klar genug gesagt, dass ich an dieser Stelle von einem Versagen der Europäischen Union spreche, dass die Verteilung nicht geregelt ist und dass man für andere Themen wöchentlich Konferenzen gemacht hat, zu diesem Bereich aber nicht. Das ist, so denke ich, von den anderen Teilen des Hauses auch so verstanden worden. Es ist aber, wie gesagt, gut, dass ich es noch einmal präzisieren kann.

Wir brauchen unter dem Dach des UNHCR sichere Orte, an die diese Menschen zurückgebracht werden können. Bis dahin muss Seenotrettung stattfinden. Das ist aber die Aufgabe der EU. Das können wir als Land Nordrhein-Westfalen nicht isoliert machen – schon gar nicht ohne die Zustimmung des Bundes. Das ist hier nun einmal gesetzlich so geregelt.

Gleichzeitig kann ich sagen: Ich habe hohen Respekt vor denjenigen, die ihr eigenes Leben riskieren, um das Leben anderer Menschen zu retten. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Mit dieser Erwiderung auf die Kurzintervention sind wir am Ende der Debatte zu Tagesordnungspunkt 9.

Wir kommen zur Abstimmung. Wie Sie wissen, hat die antragstellende Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen direkte Abstimmung beantragt. Damit stimmen wir jetzt über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/5615 ab. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das sind Bündnis 90/Die Grünen und die SPD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP, die AfD-Fraktion und die beiden fraktionslosen Abgeordneten Langguth und Neppe. Gibt es Stimmenthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag Drucksache 17/5615 mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis abgelehnt worden.

Ich rufe auf:

10 NRW steht zu seiner vielfältigen schulischen Infrastruktur. Der Weg der Einheitsschule ist genauso falsch wie der des Einheitslehrers.

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5630

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die antragstellende Fraktion Herr Kollege Strotebeck das Wort.

Herbert Strotebeck (AfD): Frau Vorsitzende! Meine Damen, meine Herren! „Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft“ – dieses Zitat von Bertolt Brecht könnte auch unseren Antrag einleiten.

Die Vielfalt des Lehrerberufs muss auch in Zukunft durch eine Vielfalt in der Besoldung wertgeschätzt werden. Der seit 2009 zu enge Korridor der Lehrerausbildung muss hingegen wieder erweitert werden. Für diese beiden Kernforderungen treten wir mit diesem Antrag ein. Ich möchte Ihnen als finanzpolitischer Sprecher und aus finanzpolitischer Sicht kurz darlegen, warum die AfD sich für den Erhalt und den Ausbau der Vielfalt im NRW-Schulsystem stark macht.

Dank der vielfältigen Besoldungsgruppen haben wir derzeit die Möglichkeit, Lehrer in Nordrhein-Westfalen gemäß ihrem ausgeübten Amt, welches sich auch aus Handlungskompetenz und Verantwortung ergibt, gerecht zu besolden.

Würden wir nun, wie manche Parteien und Verbände fordern, alle Lehrkräfte in die gleiche Besoldungsgruppe heben, dann wäre die Besoldung nach Kompetenz und Verantwortung aufgehoben. Wir hätten dann eine Besoldung nach der Ideologie, alle Menschen seien gleich und alle sollten das gleiche Geld erhalten. Glücklicherweise ist aber jeder Mensch verschieden – so, wie auch jede Schulform unterschiedlich ist.

Die Abschaffung der Lehrerbesoldungsvielfalt hätte durch die strukturellen Mehrausgaben für zukünftige Haushalte in Nordrhein-Westfalen möglicherweise verheerende Folgen. Etwa 600 Millionen Euro jährlich – also ungefähr 1 % der NRW-Steuereinah-men – würde es kosten, wenn wir die Besoldungsgerechtigkeit in Nordrhein-Westfalen aufhöben. Diese strukturellen Kosten würden von Jahr zu Jahr wachsen. Von der Gleichmacherei wären in Nordrhein-Westfalen über 50.000 Planstellen betroffen.

Ja, die finanzielle Lage in Nordrhein-Westfalen ist aktuell im grünen Bereich. Aber wir müssen heute an morgen denken. Auch bei guter Kassenlage sollte man einen kühlen Kopf bewahren – auch dafür steht unser Antrag.

Mit der Forderung nach dem Erhalt der Vielfalt der Lehrerbesoldung sind wir von der AfD in guter Gesellschaft. So warnt der Bund der Steuerzahler NRW ebenfalls vor der Belastung künftiger NRW-Haushalte, wenn alle Lehrkräfte die gleiche Besoldung erhielten. Eine vielfältige Lehrerbesoldung ist also nicht nur gerecht, sondern aufgrund der Schuldenbremse ab dem kommenden Jahr auch der einzig richtige Weg, von dem wir in Zukunft nicht abweichen sollten.

Es muss nicht die Besoldung, sondern es müssen die Lehrerausbildung und die Bedingungen an den Schulen in Nordrhein-Westfalen angepasst werden. Unser Appell und Motto lautet: vielfältige Ausbildung für einen vielfältigen Beruf. – Danke.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Strotebeck. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Sträßer.

Martin Sträßer (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Strotebeck, mich überrascht schon sehr, dass Sie in den Mittelpunkt der Debatte zu diesem Antrag das Thema „Lehrerbesoldung“ stellen.

Ich bin eigentlich davon ausgegangen – obwohl es wirklich schwer war, den Antrag überhaupt ordentlich einzuordnen –, dass es Ihnen eher um die Qualität der Lehrkräfteausbildung geht. So ist es aber offensichtlich nicht der Fall bei dem Antrag, dessen Titel und Forderungen überhaupt nicht übereinstimmen. Insofern macht es das einem am Ende wirklich schwer, inhaltlich Stellung dazu zu nehmen.

Ein qualifiziertes Hochschulsystem lebt von einer kontinuierlichen Entwicklung. Der aktuelle Antrag der AfD-Fraktion wirft zum wiederholten Mal die Forderung auf, vom erfolgreichen Bachelor-Master-System insbesondere in Bezug auf die Lehrkräfteausbildung Abstand zu nehmen und somit den Bologna-Prozess rückgängig zu machen.

Im Rahmen einer Anhörung im Wissenschaftsausschuss wurde zu diesem Thema schon von allen Experten unisono betont,

(Helmut Seifen [AfD]: Das waren doch keine Experten!)

dass sich Bologna diesbezüglich bewährt hat und ein Zurückdrehen bar jeden Bezugs zur Realität wäre. Diese Aufforderung ist deshalb mittlerweile auch ein alter Hut.

Dass bei der Umstellung nicht von Beginn an alles fehlerfrei funktioniert, ist doch immer wieder zugestanden worden; das liegt meines Erachtens auch in der Natur der Sache. Es kommt aber dann darauf an, Handlungsbedarfe zu erkennen und Prozesse nach vorne anzupassen.

Die Antragsteller ziehen definitiv die falschen Schlüsse, indem sie lediglich rückwärtsgewandt argumentieren und nicht mit dem Blick nach vorn die Herausforderungen der Zukunft für die Ausbildung bzw. das Studium unserer Lehrkräfte formulieren.

Wir haben Gelegenheit, dazu im Ausschuss ausführlicher Stellung zu nehmen, deshalb nur drei Stichworte.

Zur Kompetenzorientierung: Der Antrag lässt vermuten, dass die AfD das Prinzip der Kompetenzorientierung nicht korrekt verwendet oder gar nicht verstanden hat.

(Helmut Seifen [AfD]: Doch! – Rainer Schmeltzer [SPD]: Letzteres!)

Die im Antrag beschriebene Reduzierung der Bedeutung von Kompetenzen verkennt nämlich das Offensichtliche: Kompetenzorientierung geht einer reinen Wissensvermittlung voran.

Zur Fachlichkeit: Hier sehen wir als NRW-Koalition durchaus Handlungsbedarf und haben uns deshalb auch im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt – Zitat– „durch die Stärkung der Fachlichkeit an den Schulen die Lehrpraxis wissenschaftlicher zu machen“ – Zitatende.

Für die Bereiche der Sekundarstufe I und der Primarstufe gilt aber auch, dass schon im Rahmen der verlängerten Studiendauer der Anteil des fachwissenschaftlichen Bereichs deutlich erhöht wurde. Insofern ist der Antrag teilweise überflüssig bzw. greift zu kurz.

Abschließend noch etwas zum Bologna-Prozess: Eine Abkehr vom Bologna-Prozess ist völlig irrational. Die Prozesse sollten vielmehr angepasst und verbessert werden. Hier zeigt sich in Bezug auf das LABG – wie bereits erwähnt – ein deutlicher Qualitätsanstieg der Lehrkräfteausbildung im Bereich Sekundarstufe I und Primarstufe, den man hier einfach mal anerkennen muss.

Im Bereich der Sekundarstufe II sind Prozesse durchaus noch verbesserungswürdig. Hier werden wir zu gegebener Zeit Maßnahmen besprechen bzw. können das sicherlich auch bei der weiteren Beratung des Antrags diskutieren.

Kurzum: Der Antrag ist inhaltlich zu dünn, um das wichtige Thema „Lehrkräfteausbildung“ wirklich ordentlich zu behandeln, aber die Überweisung in die Ausschüsse bietet uns die Chance, dem Thema besser gerecht zu werden. Deshalb – und nur deshalb – stimmen wir der Überweisung zu. – Danke schön.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Sträßer. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Bell.

Dietmar Bell (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich will mich auf zwei Aspekte in diesem Antrag beschränken: zunächst auf die Behandlung des Bologna-Prozesses. Wir hatten im Wissenschaftsausschuss am 18.04.2018 eine ausführliche Anhörung, die übrigens von Ihnen beantragt worden ist.

(Helmut Seifen [AfD]: Das stimmt!)

Diese Anhörung war für Sie schlichtweg verheerend.

(Helmut Seifen [AfD]: Der Herr Müller!)

– Nein, es war nicht nur Herr Müller.

Jetzt wiederholen Sie diese Thesen in diesem Antrag, Herr Seifen. Man könnte das als Altersstarrsinn bezeichnen.

(Heiterkeit von Helmut Seifen [AfD])

Ich nenne das „mangelndes Interesse an Fakten“.

(Beifall von der SPD und Sigrid Beer [GRÜNE])

Die Verbreitung von Vorurteilen ist Ihnen offensichtlich wichtiger, als die Realität an den Hochschulen des Landes wahrzunehmen.

Mich hat allerdings nachhaltig verärgert – und wobei ich mich wirklich frage, wie Sie dazu kommen –, dass Sie offensichtlich versuchen, den Vorsitzenden der Landesrektorenkonferenz per Zitat zum Zeugen Ihrer kruden Thesen in diesem Antrag zu machen. Ich zitiere aus dem Antrag:

„Da aber Bildungsreformen mit tiefgreifenden Gesellschaftstransformationen einhergehen, bedarf es bei der Umsetzung dieser eigentlich eines breit angelegten wissenschaftlichen Diskurses mit weitreichenden Partizipationsmöglichkeiten. So warnte Jahre nach den eingeleiteten Bildungsreformen der Rektor der Bergischen Universität Wuppertal eindringlich vor einer Vereinnahmung der Universitäten durch die Politik und vor der Missachtung der ˏepistemischen[n] Eigengesetzlichkeit von Wissenschaftˋ.“

(Helmut Seifen [AfD]: Zitat!)

– Sie kennen das Zitat offensichtlich nicht, weil Sie sich auf einen namentlich gekennzeichneten Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ berufen, der dieses Zitat von Herrn Professor Koch ebenfalls schon in einer recht missbräuchlichen Art und Weise benutzt.

Fünf Minuten Recherche, Herr Seifen, hätten genügt, um Ihnen klarzumachen, dass das Zitat aus einem Artikel in „Forschung und Lehre“ vom Dezember 2015 stammt.

Dieser Artikel setzt sich in großer Breite und Ausgewogenheit mit dem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftspolitisch notwendigem Dialog und Freiräumen für die Hochschulen auseinander. Die Stichworte, die dafür prägend sind, sind „transformative Wissenschaft“ und „Third Mission“. Es hat weder etwas mit Inklusion noch etwas mit dem Bologna-Prozess zu tun.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Sigrid Beer [GRÜNE]: Ja, so ist das!)

Sie versuchen hier, den Sprecher der Landesrektorenkonferenz für Ihre Thesen einzuspannen. Ich hatte das große Vergnügen, Herrn Professor Koch gestern Ihren Antrag zuzusenden. Ich darf Ihnen ausrichten, dass er wenig amüsiert ist und diese Klarstellung ausdrücklich wünscht.

Ich sage Ihnen als Vorsitzendem des Wissenschaftsausschusses ganz deutlich: Mit diesem Verhalten beschädigen Sie das Verhältnis zwischen Landesrektorenkonferenz und Landtag Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das auch gegenüber Lambert Koch klarstellen. So schlampig und mangelhaft, wie Sie hier Ihrer Arbeit nachgehen, funktioniert Wissenschaftspolitik in diesem Land – Gott sei Dank – noch nicht, und dafür werden wir weiter Sorge tragen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bell. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Körner.

Moritz Körner (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich mache es kurz, da ich glaube, dass die Vorredner schon viel Richtiges gesagt haben.

Ich bin jemand, der einen Bachelor‑ und einen Masterstudiengang durchlaufen, also völlig verschult studiert hat. Im Hinblick auf Ihren Antrag, Herr Seifen, ist es ein Wunder, dass ich überhaupt Urteilskraft und Verantwortung entwickeln konnte. Aber ich glaube, manche hier in diesem Haus …

(Zurufe von Sven Wolf [SPD] und Jochen Ott [SPD] – Heiterkeit)

– Ich weiß nicht, ob Sie mir das zusprechen, aber es liegt bestimmt nicht am Bologna-Studium.

Insofern ist das schon wieder spannend, vor allem weil wir diese Debatte über Bologna schon geführt haben. Der Kollege Bell hat es eben ja ausgeführt: Die Anhörung dazu war wirklich beeindruckend, Herr Seifen.

Sie schreiben in Ihrem Antrag wieder, dass die Ziele bei Bologna nicht erreicht worden sind, zum Beispiel die Mobilität der Studierenden zu erhöhen. Das ist faktisch falsch. Wir haben genau die Mobilitätsquoten erreicht, die wir wollen.

Die Zahl der Studienabbrüche ist leider nicht so gesunken, wie wir uns das vorgestellt haben. Allerdings muss man auch einfach sagen, dass wir mittlerweile sehr viel mehr Studierende eines Jahrgangs haben. Eine heterogenere Studierendenschaft hat sicherlich auch Auswirkungen auf die Zahl der Studienabbrüche.

Ich möchte auch an diese Anhörung, die wir im Wissenschaftsausschuss zum Thema „Bologna“ schon hatten, anknüpfen. Der Kollege Bell hat ja gerade auch deutlich gemacht, dass Sie vielleicht nicht ganz so sauber zitiert haben. Ein Sachverständiger bei der Anhörung sagte damals zu Ihrem Antrag zu Bologna, die Qualität und die Wissenschaftlichkeit Ihres Antrags sprächen nicht besonders für Ihr Staatsexamen. Dem muss ich mich heute leider wieder anschließen, Herr Seifen.

(Beifall von der FDP)

Wir werden den Antrag aber natürlich auch überweisen. Dann werden wir wahrscheinlich wieder in Anhörungen hören, dass das leider wenig Substanz hat, was Sie hier vorschlagen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Körner. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Beer.

Sigrid Beer (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Was kann man über diesen Antrag sagen? – Das Erste ist, dass die Anhäufung von Fußnoten kein Ausweis von Wissenschaftlichkeit

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP)

und einer fachlichen Tiefe ist. Das hat ein bisschen was von den Verschwörungstheorien, wie ich sie zu den Chemtrails kenne: Das sind zwei Kondensstreifen in der Luft, und dazu werden Verschwörungstheorien entwickelt. Daran erinnert mich der erste Teil des Antrags zu Bologna und zu den Hochschulen.

Der arme Herr Weinert hat es wirklich nicht verdient, in dieser Art und Weise von Ihnen in den Antrag eingebaut zu werden, genauso wie es auch Rektoren nicht verdient haben, in dieser Art und Weise verfälschend von Ihnen eingebaut zu werden.

Lieber Herr Kollege Sträßer, eines ist ja klar: Dieser ganze Zinnober drumherum hat doch nur einen Zweck, und der steht hinten in Punkt III: nämlich die Ablehnung von A13 für alle und die Feststellung, dass ein Grundschullehramt und ein Sek-I-Lehramt nicht als gleichwertig betrachtet werden. Das ist der gymnasiale Dünkel, den wir auch von Herrn Seifen hier schon ein paar Mal gehört haben, wonach das keine gleichwertige Tätigkeit sei.

Ganz deutlich ist: Angestrebt wird eine verkürzte Ausbildungszeit, damit man schneller ausbilden kann und geringer besolden muss. Das ist die ganze Weisheit und die ganze Absicht, die dahintersteckt. Das hat Herr Strotebeck am Anfang schon sehr deutlich gemacht. Daher wird es entsprechende Kommentierungen im Ausschuss geben. Aber es ist schon peinlich.

Ich will unterstreichen, was Kollege Bell gesagt hat: Sie sind Vorsitzender des Wissenschaftsausschusses, Herr Seifen. Ich schäme mich für uns, dass der Wissenschaftsausschuss so repräsentiert wird.

(Christian Loose [AfD]: Wir schämen uns auch häufig für Sie!)

Das finde ich wirklich ungeheuerlich. Können Sie diese Funktion eigentlich noch guten Gewissens weiter ausführen?

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Beer. – Für die Landesregierung hat jetzt Frau Ministerin Gebauer das Wort.

Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch bei mir hinterlässt der AfD-Antrag eine gewisse Ratlosigkeit. Ich kann nicht nachvollziehen, warum man zu einem solchen Thema hier Block II beantragt und dann von Herrn Strotebeck einen so kurzen Beitrag hört.

Sie machen sich in Ihrem Antragstitel Sorgen um die Schulinfrastruktur: „NRW steht zu seiner vielfältigen schulischen Infrastruktur.“ Ich weiß nicht, was die Infrastruktur mit dieser ganzen Debatte zu tun hat.

Sie kommen bei der Aufforderung an die Landesregierung auf den Prüfprozess, inwiefern in der Lehrerausbildung von einer weiteren Zementierung des Bologna-Prozesses Abstand genommen werden kann, sprechen aber hier nur zu Besoldungsfragen.

Ich muss sagen: Ich kann mich uneingeschränkt meinen Vorrednerinnen und Vorrednern anschließen. Ich bin gespannt auf das, was uns dann im Ausschuss erwartet, aber ich glaube nicht, dass dieser Antrag in irgendeiner Form zielführend ist. Deswegen werde ich auch nicht weiter dazu sprechen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Für die AfD-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Seifen das Wort.

Helmut Seifen (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kann ich etwas zur Aufklärung beitragen, Herr Bell, und Ihre Empörung etwas lindern.

Die Redner von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben eigentlich immer nur zwei Argumente, wenn es um die Lehrerbesoldung geht und um den Ausbildungsprozess im Lehramt: Die gleiche Länge von Studium und Referendariat von Lehrkräften aller Schulformen und Schulstufen verlange gerechterweise auch ein gleiches Einstiegsgehalt dieser Lehrkräfte, und außerdem ließen dann wohl die finanziellen Anreize junge Abiturienten in die Lehramtsstudiengänge strömen, sodass damit der Lehrermangel beseitigt werde. – Das sind die beiden Argumente, die immer gebracht werden.

Beide Argumente zur Erhöhung des Einstiegsgehalts von Grund‑ und Lehrern der Sekundarstufe I stehen allerdings auf tönernen Füßen; denn für beide gibt es keine sachgerechte Grundlage.

Dass bei den Tätigkeiten in den verschiedenen Schulformen und Schulstufen deutlich zu differenzieren ist, ist ein Allgemeinplatz. Nicht die Studien‑ und Ausbildungsdauer, sondern die unterschiedlichen schulischen Handlungsfelder, die Komplexität des Lehrstoffes und die Schwierigkeit, ihn zu durchdringen und durchdringen zu lassen, die Belastungen im Zusammenhang mit Prüfungen, Klassenarbeiten und Klausuren sowie die erzieherischen Anforderungen in den weiterführenden Schulen prägen den Beruf des Lehrers und verlangen in unterschiedlicher Weise intellektuellen Aufwand und Zeitverbrauch

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Intellektuellen Aufwand haben Sie aber nicht eingesetzt!)

und deshalb auch ein unterschiedliches Einstiegsgehalt. Das hat mit Gleichwertigkeit nichts zu tun. Die Arbeit aller Erzieher und Lehrer ist gleich viel wert, aber eben unterschiedlich angesetzt.

Es wird auch keine Abiturientenströme in die Lehramtsstudiengänge für Grundschullehrer sowie Lehrer der Sekundarstufe I wegen der Gehaltsanpassung geben. Da hilft auch die lächerlich infantile Werbekampagne der Ministerin nichts.

Nein, Sie stehen nun allesamt erstaunt und ratlos vor dem Scherbenhaufen, den Sie mit Ihrer Schulpolitik in den letzten zwei Jahrzehnten angerichtet haben.

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

– Ja, ich weiß, Sie feixen ja noch darüber.

Sie haben keine Lösung. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrer ehemaligen Kollegin Frau Löhrmann. Die hat das offensichtlich erkannt, wie man heute in der „Süddeutschen“ lesen kann. Sie bereut mittlerweile ihre Politik und bittet tatsächlich um Verzeihung. Sie sagt: Es tut mir leid, wir haben da völlig versagt.

Aber Sie wollen nicht erkennen, dass Sie in der Vergangenheit einen Irrweg beschritten haben, der zu einem großen Teil zu diesen Verwerfungen geführt hat, die wir jetzt alle miteinander beklagen.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Frau Löhrmann hätte die A13 schon bezahlen müssen!)

Wie mein Kollege schon sagte: Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft. Lesen Sie es in der „Süddeutschen“ nach; denn Sie wollen nicht wahrhaben, dass Ihre sogenannte Reform nichts anderes gewesen ist als die Deformation eines funktionierenden und bewährten Schulsystems.

Sie wollen nicht wahrhaben, dass der Bologna-Prozess völlig sach‑ und traditionsfremd angestoßen worden ist – aus vermeintlichem Anpassungsdruck an europäische Standards.

Welch Treppenwitz der Geschichte: Sie reden von Professionalisierung der Lehrerausbildung durch das neue Lehrerausbildungsgesetz von 2009. Was ist das Ergebnis? – Die Hürden für angehende Grundschullehrer werden so hoch gelegt, dass wir viel zu wenig Lehramtsstudenten in diesem Bereich haben.

Es werden zu wenig Studienplätze angeboten, sodass es tatsächlich an verschiedensten Universitäten einen Numerus clausus für dieses Studienfach gibt. Das heißt, eine Reihe von potenziellen Lehrkräften wird von vornherein ausgeschlossen, und zwar nur, weil sie vielleicht ein nicht so gutes Abiturzeugnis haben.

Die Verpflichtung, Deutsch und Mathematik als Fächer zu belegen, lässt darüber hinaus viele derjenigen scheitern, denen Mathematik einfach nicht so liegt. Zum Beispiel sind bei einer Prüfung im Jahr 2016 in Berlin 40 % der angehenden Grundschulpädagogen durch eine Klausur im Pflichtbereich Mathematik gefallen, und es wären 80 % gewesen, hätte die Dozentin nicht im Nachgang eine Aufgabe gestrichen.

Studenten beklagen, dass die mathematischen Anforderungen für angehende Grundschullehrer gerade im Hinblick auf Arbeitsaufwand und Schweregrad deutlich zu hoch seien.

Das Ergebnis ist eine wundersame Form der Professionalisierung: Die Absolventen sind hochprofessionalisiert, aber es sind so wenige, dass die Ministerin jede Menge Seiteneinsteiger einstellen muss, die zum größten Teil überhaupt kein Pädagogikstudium absolviert haben. – Ist das ein Zeichen von Professionalisierung?

Die Absolventen sind hochprofessionalisiert, aber die Leistungen der Grundschüler gehen immer mehr zurück. Die Absolventen sind hochprofessionalisiert, sollen aber neben ihrer Arbeit als Grundschullehrer noch die Tätigkeit des Förderschullehrers ausüben.

Betrachtet man diese Situation mit dem Auge der Vernunft, so erkennt man leicht, dass das neue Lehrerausbildungsgesetz ein Teil der jetzt zu beklagenden Misere ist. Da ist mit einer Besoldungserhöhung nichts gewonnen. Steuern Sie endlich um. Reformieren Sie das Lehrerausbildungsgesetz! Beseitigen Sie die unsinnigen Belastungen, denen die Lehrkräfte ausgesetzt sind, und sorgen Sie so für die Attraktivität des Lehrerberufs, damit wir den Lehrermangel beheben können. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Seifen. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. – Das bleibt auch so. Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 10.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/5630 an den Ausschuss für Schule und Bildung – federführend – sowie den Haushalts‑ und Finanzausschuss zur Mitberatung. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen.

Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? – Sich enthalten? – Beides war nicht der Fall. Damit haben wir so überwiesen.

Ich rufe auf:

11 Nordrhein-Westfalen stellt die Weichen für die Mobilität der Zukunft

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/4447

Beschlussempfehlung und Bericht
des Verkehrsausschusses
Drucksache 17/5662

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die antragstellende Fraktion der CDU Herr Kollege Voussem das Wort.

Klaus Voussem (CDU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fahren, Fliegen oder Laufen – wie bewegen wir uns in 20, 30 oder 40 Jahren? Werden alle Autos autonom und elektrisch sein? Gibt es Drohnentaxis, und fahren wir bald auf Elektrotretrollern?

Das sind nur einige wenige der Fragen, auf die wir bei der Beschäftigung mit der Mobilität der Zukunft eine Antwort erhalten wollen. Schon heute ist für uns klar, dass Mobilität eine entscheidende Voraussetzung für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand in Nordrhein-Westfalen ist.

Damit die Wirtschaft unseres Landes im internationalen Standortwettbewerb bestehen kann, braucht sie eine moderne und leistungsfähige Infrastruktur. Zudem ist Mobilität eine wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Politik und Verwaltung haben die Aufgabe, individuelle Mobilität für alle zuverlässig und unkompliziert zu gewährleisten und die erforderlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.

Daher haben wir als NRW-Koalition den Erhalt, die Modernisierung und den bedarfsgerechten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu einem Schwerpunkt unserer Politik gemacht. Mit unserem Antrag zeigen wir auf, welche Weichen jetzt gestellt werden müssen, um in Nordrhein-Westfalen künftig nicht nur die klassische Verkehrsinfrastruktur – sprich: Straße und Schiene –, sondern vor allem auch verstärkt neue Formen der Mobilität in den Blick zu nehmen.

Der erklärte Wille der Landesregierung und der sie hier im Landtag tragenden Fraktionen von CDU und FDP ist es, Nordrhein-Westfalen in den nächsten Jahren zu einer Modellregion für Mobilität 4.0 weiterzuentwickeln.

Mit der Einrichtung der Abteilung IV „Grundsatzangelegenheiten der Mobilität, Digitalisierung und Vernetzung“ im Verkehrsministerium hat die Landesregierung die administrativen Voraussetzungen geschaffen, um sich diesem wichtigen Themenfeld in der Zukunft verstärkt zu widmen und konkrete Projekte voranzutreiben. – Hierfür danke ich der Landesregierung, namentlich unserem Verkehrsminister Hendrik Wüst.

(Zurufe von der SPD)

Meine Damen und Herren, unsere Verkehrspolitik steht unter den Prämissen der Ideologiefreiheit, der Nutzerorientierung und der Technologiefreiheit. Das bedeutet für uns als NRW-Koalition ganz konkret:

Erstens. Die Menschen in unserem Land sollen frei von staatlicher Bevormundung selber entscheiden, welches Verkehrsmittel für sie geeignet erscheint.

Zweitens. Eine einseitige Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Verkehrsträger wird es mit uns nicht geben.

Drittens. Wir werden mit ganz unterschiedlichen Mobilitätskonzepten arbeiten. Alle sind vernetzt.

Wir wollen die unterschiedlichen Verkehrsträger nicht gegeneinander ausspielen, sondern ihre jeweiligen Stärken in einer inter‑ und multimodalen Mobilität kombinieren.

Wir wollen künftig konsequent auf den Einsatz intelligenter Systeme setzen, mit dem Ziel, die Verkehrsträger verstärkt zu vernetzen. Dabei sind digitale Technologien von besonderer Bedeutung. Sie ermöglichen neue Mobilitätskonzepte mit intelligenten und vernetzten Angeboten und werden die Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger am Ende komfortabler, effizienter, sicherer und auch umweltfreundlicher machen.

Die entscheidenden Voraussetzungen für eine erfolgreiche Digitalisierung und Vernetzung im Bereich des Verkehrs sind funktions‑ und leistungsfähige Infrastrukturen und Datennetze von hoher Qualität. Nordrhein-Westfalen wird daher in den nächsten Jahren verstärkt am Mobilfunk‑, Gigabit‑ und 5G-Ausbau mit überall nutzbaren mobilen Informations‑ und Kommunikationstechnologien arbeiten, denn ohne den Aufbau eines leistungsfähigen 5G-Datennetzes sind Projekte wie das autonome Fahren in der Realität nicht umsetzbar.

Automatisiertes und autonomes Fahren wird die Mobilität der Zukunft grundlegend verändern. Das Erproben und Umsetzen autonomer Fahrsysteme ist für uns als NRW-Koalition daher ein wichtiger Aspekt, auf den wir einen ganz besonderen Fokus legen werden.

Auf eine Auflistung der zahlreichen Maßnahmen und Projekte im Bereich der Förderung neuer Mobilitätsformen, die die Landesregierung bereits auf den Weg gebracht hat, verzichte ich an dieser Stelle; die umfangreiche Liste können Sie unserem Antrag entnehmen.

Wegen der weiter wachsenden Verkehrsaufkommen und der steigenden Mobilitätsbedürfnisse der Menschen muss die Politik Rahmenbedingungen für eine neue Mobilität der Zukunft setzen. Daher arbeiten die Landesregierung und die Fraktionen der NRW-Koalition seit Regierungsübernahme vor zwei Jahren intensiv daran.

Mit dem heute vorliegenden Antrag machen wir deutlich, welche weiteren Weichen für eine Mobilität der Zukunft in Nordrhein-Westfalen zu stellen sind. Wir wollen einen Wettstreit guter Ideen. Es ist höchste Zeit, damit jetzt anzufangen, um Daten und Wertschöpfung nicht anderen zu überlassen.

Last but not least: Keine gute Idee, kein gutes Projekt darf am Geld scheitern. Daher ist auch die Verfügbarmachung von EFRE-Mitteln Teil unseres Antrags.

Ich bitte daher um Zustimmung zur Beschlussempfehlung des Verkehrsausschusses und um Annahme unseres Antrags. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Voussem. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Löcker.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD] – Zuruf von Klaus Voussem [CDU])

Carsten Löcker (SPD): Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren! Herr Kollege Voussem, NRW stellt die Weichen für die Mobilität der Zukunft. Zukunftsversprechen sind in der Politik beliebt. Mobilität ist nicht nur ein Stück Freiheit, sondern auch ein Grundbedürfnis, das die meisten Menschen auch einlösen wollen. Das bedeutet oftmals, viele Stunden im Land unterwegs sein zu müssen.

Wir haben Ihren Antrag wohlwollend zur Kenntnis genommen und ihn bereits im Verkehrsausschuss diskutiert. Ihr Zukunftsversprechen in allen Ehren, aber wir wollen uns heute einmal mit der Gegenwart beschäftigen; das ist ja legitim.

Wenn man einmal schaut, was die Landesregierung bisher auf den Weg gebracht hat, so stellt man fest: Das ist insbesondere ein Investitionshochlauf beim Straßenbau. Damit haben Sie bereits eine Priorität gesetzt. Wir meinen aber, dass das nicht reicht. Sie müssen eine Vorstellung entwickeln, wie die Mobilitätswende in Zukunft konkret ermöglicht werden kann.

Nach zwei Jahren Regierungszeit muss da mehr kommen. Sie haben in Ihrem Antrag viele Absichten vorgetragen; das ist auch in Ordnung. Es war aber vor allem wortreich und klangstark, was Sie hier eingebracht haben; inhaltlich war da wenig zu hören.

Am 28. März dieses Jahres hat sich der Deutsche Städtetag zur Situation in NRW geäußert. Daraus möchte ich zwei Absätze zitieren, damit deutlich wird, welche Vorstellungen entwickelt werden sollen und was betroffene Städte hierzu zusammengetragen haben. Zitat:

Der Vorstand stellt fest, dass sich das Engagement des Landes für eine Verkehrswende im Wesentlichen auf das Durchreichen der Bundesmittel für Regionalisierung und Gemeindeverkehrsfinanzierung beschränkt. – Das ist doch ein interessanter Satz und zugleich ein Hinweis darauf, wie Sie die Verkehrswende zurzeit vor allem finanziell abbilden, nämlich mit dem Durchreichen von Mitteln des Bundes.

Es gilt zu klären, welche finanziellen Mittel vom Land Nordrhein-Westfalen aufgebracht werden sollen, um eine entsprechende Transformation der Verkehrssysteme, insbesondere was nachhaltige Mobilität angeht, zu beschleunigen. Wir reden heute nicht darüber, was wir irgendwann in der Zukunft machen wollen, sondern wie die Verkehrswende jetzt ganz konkret gelingen kann.

Mit Blick auf die Einlassungen der Leopoldina von gestern wird deutlich, wie falsch die Debatten über die Zukunft der Mobilität derzeit laufen. Hinweise auf entsprechende Messstellen und Probleme mit Fahrverboten sind nach dem Motto eingeordnet worden: Das alles sind Scheindebatten, die uns nicht wirklich voranbringen. Solche Scheindebatten sollten wir möglichst kurzfristig beenden. – Wir sind dazu bereit, aber wir erwarten natürlich auch, dass hier Inhalte eingebracht werden, sodass wir uns tatsächlich mit der Mobilitätswende in NRW beschäftigen können.

Wir laden Sie herzlich zum Mitmachen ein. Bisher haben wir noch keine Einladung von Ihnen erhalten; vielmehr haben Sie uns immer nur vorgetragen, was Sie in Zukunft alles machen wollen. Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Der richtige Weg ist der von der Leopoldina beschriebene – wir brauchen eine Verkehrswende. Diese müssen wir groß denken. Die Zeit ist knapp. Viele müssen bereit sein, sich zu verändern.

(Zuruf von der CDU: Das machen wir doch auch!)

Eines steht fest: Die Denkrichtung kann man nur ändern, wenn man genau hinschaut, wohin der Weg in die Zukunft führt.

(Zuruf von Bodo Middeldorf [FDP])

Diesen Weg haben Sie heute nicht skizziert. Die SPD bleibt natürlich am Ball. Ihr Antrag bietet zu wenig, um ihm heute zuzustimmen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Löcker. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Middeldorf.

Bodo Middeldorf (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den nächsten zehn Jahren – ich glaube, da sind wir uns alle einig – wird sich unsere gesamte Mobilität von Grund auf verändern.

Neue Technologien, neue Antriebssysteme, neue Geschäftsmodelle werden entwickelt. Sie werden – davon sind wir als Freie Demokraten überzeugt – unsere gesamte Mobilität sicherer, komfortabler, effizienter und umweltfreundlicher machen.

Wir wollen, dass in Nordrhein-Westfalen auch die Bürgerinnen und Bürger von dieser Entwicklung profitieren. Deshalb stellen wir als NRW-Koalition jetzt die politischen Weichen hierfür. Wir haben den Anspruch, NRW in den nächsten Jahren zu einem Kompetenzzentrum und zum Vorreiter in Sachen Erforschung, Erprobung und Anwendung von Systemen der neuen Mobilität zu machen.

Der Einsatz neuer Technologien im Verkehrsbereich nutzt uns allen. Mit ihnen werden wir Lösungen für die aktuellen Herausforderungen sowohl in unseren Innenstädten als auch im ländlichen Raum schaffen können. Im ÖPNV werden sie für mehr Umsteigeranreize sorgen. Ein einheitliches und einfaches elektronisches Ticketsystem, On-Demand- und Pooling-Angebote sowie eine bessere Vernetzung verschiedener Verkehrsträger sorgen für mehr Attraktivität des ÖPNV.

Verkehrsmittel für die letzte Meile schließen die Lücken in einer flächendeckenden Versorgung. Automatisierte Systeme, gekoppelt mit neuen Sharing-Modellen, werden Kosten sparen und auch zu einer Reduzierung des Individualverkehrs führen. Lokal emissionsfreie Antriebssysteme werden für saubere Luft in unseren Städten sorgen.

Das, meine Damen und Herren, sind die Ansätze, mit denen wir die Mobilitätswende erreichen, und zwar ganz ohne Zwangsmaßnahmen, ohne Mobilitätseinschränkungen und vor allen Dingen ohne Fahrverbote, lieber Herr Löcker.

(Beifall von der FDP – Carsten Löcker [SPD]: Was wollen Sie denn selber tun? Sagen Sie mal was!)

Wir wollen die Menschen von den Vorzügen dieser Angebote überzeugen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Anreize setzen und Rahmenbedingungen schaffen, damit solche Angebote in NRW auch zum Einsatz kommen und ihre Entwicklung systematisch vorangetrieben wird.

Im vergangenen Jahr habe ich an dieser Stelle angekündigt, dass wir auch die finanziellen Voraussetzungen hierfür schaffen wollen. Mit unserem heutigen Antrag setzen wir das um.

(Carsten Löcker [SPD]: Ja, was denn?)

Neben den Eigenmitteln, die wir bereits im vergangenen Jahr im Haushalt verankert haben, stellen wir jetzt noch einmal 10 Millionen Euro aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung zur Verfügung. Damit sind wir schon heute in der Lage, interessante Projekte im Land gezielt zu unterstützen. An dieser Stelle rufen wir Kommunen, Verbünde, Wissenschaftler, Unternehmer und Initiativen ausdrücklich dazu auf, unserer Landesregierung interessante Projektvorschläge einzureichen.

Wir wollen aber auch, dass sich die Landesregierung gegenüber dem Bund für eine schnelle Modernisierung des Personenbeförderungsgesetzes und für die Umsetzung der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung einsetzt. Auch das gehört zu den Rahmenbedingungen. Wir unterstützen die Initiative von Bundesverkehrsminister Scheuer ausdrücklich; denn sie schafft endlich den nötigen Rechtsrahmen, um viele neue Mobilitätsangebote überhaupt erst möglich zu machen.

(Beifall von der FDP)

Abschließend noch einige Worte zur Beratung unseres Antrags in den Ausschüssen: Insbesondere die SPD, sehr geehrter Herr Löcker, hat sich diesem neuen Politikansatz bis zuletzt verweigert. Sie haben das auch gerade noch einmal bestätigt. Diese Haltung ist durchaus konsequent; denn Sie knüpfen damit nahtlos an Ihr gesamtes politisches Versäumnis in dieser Frage in den letzten Jahren an.

Heute rufe ich Ihnen letztmalig zu: Wenn Sie ernsthaftes Interesse an einer Zukunftsgestaltung in Sachen Verkehr haben, also an einer echten Mobilitätswende, wie Sie sie immer propagieren, dann sollten Sie unserem Antrag zustimmen. Heute steigen wir als NRW-Koalition in eine mutige, neue Verkehrspolitik in unserem Land ein. Ich lade Sie alle herzlich ein, diesen Weg mitzugehen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Middeldorf. – Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Kollege Klocke das Wort. Bitte sehr.

Arndt Klocke (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Middeldorf, ich hoffe, dass die Landesregierung nicht erst heute in eine moderne Mobilität einsteigt. Sie sind immerhin schon zwei Jahre an der Regierung. Auch mit Blick auf die Halbzeit ist zu erwarten, dass man in diesen zwei Jahren möglicherweise schon etwas geschafft hat.

Der Antrag ist mit dem Titel „Nordrhein-Westfalen stellt die Weichen für die Mobilität der Zukunft“ überschrieben. Er enthält durchaus manches Richtige. Wir haben das bereits in den Ausschüssen diskutiert. Als Grüne haben wir uns auch dazu verhalten und werden den Antrag daher gleich nicht ablehnen. Aber wir vermissen auch einiges.

Ich finde, dass der Antrag sehr technisch angelegt bzw. technikgläubig ist. In Bezug auf die Verkehrsvermeidung wird nur wenig gesagt. Das Fahrrad zum Beispiel kommt darin gar nicht vor. Wenn im Titel des Antrags von der Mobilität der Zukunft die Rede ist, wäre jedenfalls meine Erwartung als Politiker, dass der Antrag die ganze Breite dessen abbildet. Der Antrag ist jedoch sehr stark auf die Digitalisierung ausgerichtet.

Für die Digitalisierung ist eine neue Fachabteilung eingerichtet worden. Selbstkritisch möchte ich zu unserer eigenen Regierungszeit sagen: Wir haben in diesen Jahren vieles vorangebracht, was der aktuelle Verkehrsminister weiterführen kann und wofür er jetzt Geld ausgeben kann. Seinerzeit ist das bei der Verkehrsministerkonferenz in Berlin mühsam erkämpft worden; Stichworte: Kieler Schlüssel, ÖPNV, zusätzliche Gelder etc.

Aber im Bereich Digitalisierung – das möchte ich selbstkritisch anmerken – hätte die vorherige Landesregierung – hätte vielleicht auch ich als Abgeordneter, der schon damals verkehrspolitischer Sprecher war – durchaus mehr tun können. Wir haben nicht so viel getan, wie damals nötig gewesen wäre. Das muss ich rückblickend so sagen.

Jetzt gibt es eine neue Fachabteilung. Darüber haben wir kürzlich im Ausschuss gesprochen. Ich muss ehrlich sagen, dass ich die Präsentation im Ausschuss noch sehr grundsätzlich und wenig konkret fand. Mir ist im Nachhinein zum Beispiel unklar, wie die Verkehrsverbünde unterstützt werden. Welche Fördermaßnahmen sind schon jetzt konkret auf dem Weg, damit VRR, VRS etc. Umstellungen vornehmen können? Was ist mit E-Ticketing usw.? Ein sehr engagierter Mitarbeiter hat das beim letzten Mal im Ausschuss vorgestellt. Dennoch fand ich es eine sehr grundsätzliche Erklärung für uns, was Digitalisierung im Verkehrsbereich überhaupt bedeutet.

Wir hatten als Grüne den Vorschlag gemacht, in einer Art Unterausschuss oder eigenem Gremium, wie es die damalige Opposition aus CDU und FDP beim Klimaschutzgesetz gemacht hat, regelmäßig zusammenzukommen, damit uns das Ministerium informiert oder wir mit dem Haus im Austausch darüber sind, welche konkreten Schritte unternommen werden. Das ist jedoch bei der Regierungskoalition nicht gewünscht. Das möchten Sie nicht. Darüber haben wir heute in der Obleuterunde gesprochen. So etwas wird es nicht geben. Na gut. Dann lassen wir das und werden es regelmäßig als Berichtspunkt beantragen.

Uns interessiert auf jeden Fall, was in diesem Bereich vorangeht, weil es ein Zukunftsbereich ist, in dem sicherlich viel getan werden muss. Die Einrichtung der Fachabteilung halten wir für gut. Das finden wir auch an dem Antrag richtig. Deshalb werden wir es auch weiterhin unterstützen.

Nun komme ich zu dem letzten Punkt, den Sie angesprochen haben, lieber Herr Kollege Middeldorf. Das ist zwar in Ihrem Antrag nicht konkret formuliert. Ich habe bei Ihrer Rede aber schon verstanden, was Sie mit den neuen Mobilitätsangeboten und dem Personenbeförderungsgesetz meinten.

Heute standen 2.000 Taxifahrer vor dem Landtag und haben demonstriert. Sie haben in Ihrer Oppositionszeit wirklich keine Demonstration ausgelassen, um sich hier vorne hinzustellen und Reden zu halten. Sie haben alles für sich vereinnahmt, was gegen die damalige Landesregierung ging.

Ich hätte mir schon gewünscht, dass ein Kollege von CDU und FDP die Traute gehabt hätte, den Taxifahrern heute vor dem Landtag zu sagen: Wir verabschieden heute einen Antrag und unterstützen Herrn Scheuer beim Personenbeförderungsgesetz, sodass Marktteilnehmer wie Uber einen Zugang erhalten und die Taxiinnung entsprechende Konkurrenz bekommt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dann hätten Sie wirklich Traute gehabt. Das wäre angemessen gewesen, als die demonstrierenden Taxifahrer draußen gestanden haben. Ich habe mit ihnen geredet. Ich habe auch eine Rede gehalten, obwohl das wirklich keine klassisch-grüne Klientel ist. Wenn Sie für sich beanspruchen, Herr Kollege Voussem, eine Volkspartei zu sein, dann hätte es Ihnen heute gut zu Gesicht gestanden, sich bei dieser Demonstration mal blicken zu lassen. Stattdessen waren Sie hier im Haus.

(Zuruf von Klaus Voussem [CDU])

Keiner von Ihnen ist zu den Demonstranten gegangen. Auch der Verkehrsminister hat das nicht gemacht.

Nun verabschieden wir um 20:05 Uhr einen Antrag, mit dem man Herrn Scheuer einen Persilschein gibt, damit er für Uber und andere den Markt öffnet. Besonders volksnah und besonders bürgernah ist das nicht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Deswegen werden wir diesen Antrag nicht mittragen. Wir werden uns enthalten. Wir enthalten uns, weil einige Punkte zwar richtig sind, bei anderen Punkten aber nachgearbeitet werden muss. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Klocke. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD Herr Abgeordneter Vogel das Wort.

Nic Peter Vogel*) (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was uns hier vorliegt, ist ein wunderschöner Wohlfühlantrag für die späte Stunde. Darin stehen sehr viele Selbstverständlichkeiten und viele Absichtserklärungen. Eben wurde schon gesagt, dass er ziemlich global formuliert und auch äußerst unkonkret ist. Die Seite 4 liest sich fast wie ein Rechenschaftsbericht des Verkehrsministeriums.

Ich gehe den Antrag einmal im Schnelldurchlauf durch; diese Zeit gebe ich mir gerade noch.

Im Antrag ist von Mobilitätskonzepten mit vernetzten Angeboten die Rede, die zu mehr Komfort und Teilhabe führen. Selbstverständlich! Das sind schöne Schlagworte. Sharing-Systeme sollen ausgebaut werden. Bei diesem Thema wird es in nächster Zeit interessant werden. Das einfache Buchen und Bezahlen ist auch eine gute Sache. Das wird Akzeptanz schaffen.

Home- bzw. Mobile-Office-Möglichkeiten sollen gefördert werden. Damit greifen wir einen Key Point auf; denn dadurch werden wir in nächster Zeit wohl einiges an Dichte aus dem Verkehr herausnehmen können. Homeoffice kann funktionieren; ich spreche da aus eigener Erfahrung.

Weiter heißt es: „Das Land setzt sich dafür ein, die Infrastruktur zu sanieren, zu modernisieren und auszubauen.“ Dazu sage ich einfach nur: Nach zwei Jahren sollten Sie mal Gas geben.

Des Weiteren ist die Rede davon, die alternativen Antriebsformen zu fördern. Da hätte ich mir gewünscht, dass Gas oder Wasserstoff ein bisschen mehr ins Spiel kommen würde; dazu komme ich gleich noch.

Die Verkehrslenkung soll digital verbessert werden. Da sind wir dabei. Da sehen wir auf jeden Fall Möglichkeiten.

Die Fuß- und Radwege sollen ausgebaut werden. Das wurde kurz beleuchtet, Herr Klocke. Auch das ist eine gute Sache. Wenn ich nur 3 km bis zur Arbeit habe, dann steige ich natürlich aufs Rad, statt ewig einen Parkplatz zu suchen.

Das E-Ticket ist eine tolle Idee; das wurde eben schon angesprochen.

Was das autonome Fahren angeht, muss ich ganz ehrlich sagen, dass ich am Anfang sehr skeptisch gewesen bin. Aber wenn ich manche Verkehrsteilnehmer sehe, beispielsweise Mittelspurschleicher, Rettungsgassenblockierer oder Leute, die im dichten Verkehr mit dem Handy Nachrichten verschicken, denke ich schon, dass autonomes Fahren vielleicht doch etwas ist, worüber wir diskutieren sollten.

Worüber wir uns anfangs noch gefreut hatten, waren die Ideologiefreiheit und die Aussage, dass man technologieoffen sei. Aber kurz darauf lasen wir den entscheidenden Satz – denn bisher hätten wir absolut zustimmen können –: „Nordrhein-Westfalen soll zu einem führenden Land im Bereich der Elektromobilität werden.“ Hier sage ich das, was ich eigentlich immer sage – beim Pokern würde man „All-In“ sagen –: Ich kann alles gewinnen; ich kann alles verlieren.

Wenn beispielsweise Herr Diess, der VW-Konzernchef, eine 180-Grad-Wende ankündigt, was die Belegschaft, die Konkurrenz und die Gewerkschaften völlig überrascht, dann hat dieser Mann auf jeden Fall eine Agenda. Er hat nämlich die Möglichkeit, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Erstens kann er den angestaubten Ruf seines Konzerns aufbessern, indem er sich in den Talkshows wie ein Ober-Öko geriert. Zweitens hat er die Möglichkeit, demnächst Zehntausende von Arbeitsplätzen abzubauen – natürlich nur zum Wohle des Planeten. Drittens wittert VW das Konjunkturprogramm schlechthin. Man will Neuwagen verkaufen, und wenn nach den Dieselfahrzeugen auch die übrigen Verbrenner dran sind, wird es bald nur noch E-Mobilität geben. So ist es politisch wohl gewünscht. Auf diese Art und Weise kann man ganz schön Geld verdienen.

Dass man mithilfe der Chinesen Marktführer werden will, beinhaltet ein ganz großes Risiko – Stichwort: All-In. Denn die Chinesen sitzen auf den Rohstoffen und wir nicht – ob es die Kobalt-Ausbeute im Kongo ist, wo sich die Chinesen seit Jahrzehnten alles gesichert haben, ob es das Lithium in Chile ist oder ob es die Seltenen Erden sind, hinsichtlich derer China eine Monopolstellung hat. Noch ist Herr Zhong Shan, der chinesische Handelsminister, freundlich, lächelt und redet von Win-win-Situationen. Aber irgendwann wird Deutschland vielleicht nicht mehr als Partner auf Augenhöhe akzeptiert.

Dann heißt es: Ni hao ma? – Denn dann sitzen wir am kürzeren Ende, weil wir unsere Infrastruktur einseitig auf eine einzige Technologie ausgerichtet haben. Und einen VW-Konzern kann man schnell mal herunterwirtschaften, auch was die Arbeitnehmer angeht. Ob das auch bei einem hochtechnologisierten, hochmobilen Land möglich ist, ist die Frage.

Meine Damen und Herren, normalerweise würde uns dieser Punkt reichen, um den Antrag in Gänze abzulehnen. Allerdings sehen wir eine kleine Lernkurve. In einem Nebensatz wird nämlich zugestanden, dass die Elektromobilität wenigstens lokal emissionsfrei sei. Ja, das ist schon der erste Schritt.

Wahrscheinlich werden Sie im Sommer auch einsehen, dass die Entsorgung dieser Batterien eine ökologische Katastrophe ist, und wenn wir Weihnachten zusammensitzen, denken Sie vielleicht auch mal an die Leute, die dafür verantwortlich sind, dass wir diese Rohstoffe bekommen. Ich erwähne die Kinderarbeit im Kongo, die Verseuchung des Grundwassers bei der Lithiumgewinnung oder die Horden von Wanderarbeitern, die die Volksrepublik mit Seltenen Erden versorgen, aber kaum Rechte haben.

Weil diese kleine Lernkurve da ist, werden wir uns zu einer Enthaltung durchringen. Wir glauben an das Gute im Menschen. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Vogel. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Wüst.

Hendrik Wüst, Minister für Verkehr: Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank an die Fraktionen von CDU und FDP für diesen Antrag. Wir haben die Chance, die Mobilität in diesem Land mit Vernetzung und digitalen Technologien besser zu machen – zuverlässiger, sicherer, moderner und effizienter, mit Lösungen sowohl für die Ballungsräume als auch für die vielen ländlichen und suburbanen Regionen in Nordrhein-Westfalen.

Wenn man diese Chance hat und die Mobilität im Land so ist, wie sie heute immer noch ist, gehört zu dieser Chance aber auch die Pflicht, sie zu ergreifen. Deswegen haben wir uns zum Ziel gesetzt, Nordrhein-Westfalen zur Modellregion für Mobilität 4.0 zu entwickeln. Wir wollen, dass die Mobilität der Zukunft in Nordrhein-Westfalen nicht nur erforscht und entwickelt wird, sondern auch getestet und am besten auch hier produziert und möglichst schnell überall eingesetzt wird.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Dafür haben wir hier in Nordrhein-Westfalen optimale Bedingungen – kluge Köpfe, spannende Projekte und innovative Ideen.

Wir fördern jetzt erstmals solche Dinge auch mit Haushaltsmitteln. 2018 waren es 12,5 Millionen Euro; 2019 sind es mit EFRE-Mitteln zusammen 26,5 Millionen Euro. Wir holen damit auch die Versäumnisse der Vergangenheit auf. Es ist schon bemerkenswert, wenn dann gesagt wird: Ja, die paar Millionen Euro! – Wir haben bei null angefangen, Herr Löcker.

Ich habe die Vorbereitung meines Vorgängers für eine Digitalisierungsoffensive des ÖPNV übernommen. Da war von Offenheit zur Vernetzung mit Bikesharing- und Carsharing-Anbietern gar nicht die Rede. Es wurde immer noch in der alten Box gedacht: ÖPNV, und danach müssen wir mal sehen, wie die Leute hinkommen. – Da war nichts mit Vernetzung. So weit waren die Gedanken noch nicht gediehen. Wir fangen an vielen Stellen ganz von vorne an.

(Carsten Löcker [SPD]: Sie können einmal den Bericht der Enquetekommission durchlesen! Da steht alles drin! Zwei Jahre! Abenteuerlich!)

Wir wollen die Vernetzung unterschiedlicher Verkehrsträger möglich machen. Dazu gehören Carsharing und, Arndt Klocke, auch Bikesharing. Ich kann auch Fahrradsharing sagen, damit das Wort „Fahrrad“ fällt. All das muss man über verschiedene Verkehrsträger hinweg vernetzen. Dazu haben wir die Chance. Daraus erwächst die Pflicht, das zu tun. Deswegen tun wir das auch.

Autonomes Fahren ist der Silberstreif am Horizont. Da kann man sagen: Ihr fiedelt Zukunftsmusik. – Wir wollen, dass es möglich wird, automatisiert und am Ende auch autonom zu fahren, weil das ein riesiger Enabler für besseren ÖPNV gerade in den suburbanen und ländlichen Regionen ist. Daran arbeiten wir. Daran arbeiten wir so intensiv wie nie zuvor hier in Nordrhein-Westfalen.

Ich habe gelernt, Arndt Klocke, dass die Grünen jetzt gegen Uber sind. Das finde ich sehr bedauerlich, weil wir die Chancen der Digitalisierung meines Erachtens auch an den Stellen für bessere Mobilität nutzen müssen, an denen es Konflikte gibt, und man sehr genau schauen muss, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet.

(Zuruf von Arndt Klocke [GRÜNE])

Verfolgen Sie einmal, was Andreas Scheuer heute dazu gesagt hat. Er ist zuständig. Wir bringen uns da gerne ein. Aber daran, im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu sagen: „Das machen wir alles nicht mit“,

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Das hat keiner gesagt, mein Lieber! Das hat keiner gesagt!)

haben sich schon ganz andere verhoben und sind am Ende gescheitert.

(Zurufe)

Man muss schon zusehen, dass man die Chancen für bessere Mobilität überall nutzt. Daran ist bis zum Regierungswechsel viel zu wenig gearbeitet worden. Wir holen das mit finanziellem Engagement und mit personellem Engagement nach. Zur neuen Fachabteilung ist schon etwas gesagt worden.

Ich bin dankbar dafür, dass CDU und FDP das Thema jetzt auch in die parlamentarische Debatte hier im Hohen Haus getrieben haben. Wir unterstützen das ausdrücklich. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Wüst. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Verkehrsausschuss empfiehlt in Drucksache 17/5662, den Antrag Drucksache 17/4447 unverändert anzunehmen. Wir stimmen also über den Antrag selbst und nicht über die Beschlussempfehlung ab. Wer stimmt dem Antrag zu? – CDU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Die SPD stimmt dagegen. Wer enthält sich? – Es enthalten sich die Grünen, die AfD und die beiden fraktionslosen Abgeordneten Herr Neppe und Herr Langguth. Damit ist die Entscheidung klar: Der Antrag Drucksache 17/4447 ist mit der Mehrheit des Hohen Hauses angenommen.

(Unruhe)

– Order! Order!

(Vereinzelt Heiterkeit und Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

– Geht doch! Gar nicht schlecht, der englische Kollege. Das werden wir jetzt öfter so machen. Das muss ich mit dem Präsidium mal bereden. Angela Freimuth, du musst die Stimme ein bisschen senken und sagen: Order! – Dann kommt hier Ruhe rein.

(Zurufe)

– Das ist doch ein schöner Abend, wo die gerade in Brüssel …

Jetzt kommen wir zu:

12 Verbraucherschutz für Geflüchtete stärken und weiter ausbauen

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5622

Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.

Damit kommen wir unmittelbar zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/5622 an den Integrationsausschuss – federführend – sowie an den Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss erfolgen. Wer ist gegen diese Überweisung? – Niemand. Gibt es jemanden, der dafür ist? Jetzt aber! – Alle. Enthaltungen? – Nein. So überwiesen.

Ich rufe auf:

13 Änderung der Geschäftsordnung des Landtags Nordrhein-Westfalen zur Ersetzung der Fragestunde durch eine Regierungsbefragung

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5633

Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich darauf verständigt, hier keine Aussprache durchzuführen.

Wir kommen also zur Abstimmung. Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, den Antrag Drucksache 17/5633 an den Hauptausschuss zu überweisen. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll nach Vorlage der Beschlussempfehlung des Ausschusses erfolgen. Wer stimmt diesem Verfahren zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Nein. Enthaltungen? – Nein. Damit ist die Überweisung einstimmig erfolgt.

Ich rufe auf:

14 Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3005
Drucksache 17/5580

Beschlussempfehlung und Bericht
des Hauptausschusses
Drucksache 17/5665

zweite Lesung

Änderungsantrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5713

Ich eröffne die Aussprache. Für die CDU-Fraktion hat Herr Dr. Geerlings jetzt das Wort.

Dr. Jörg Geerlings (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits im Juli 2018 hatten wir einfachgesetzlich die Individualverfassungsbeschwerde eingeführt und damit ein Stück weit Rechtsgeschichte geschrieben.

Bis dahin konnte niemand den Verfassungsgerichtshof des Landes mit der Behauptung anrufen, durch die öffentliche Gewalt des Landes – das heißt: durch ein Handeln oder Unterlassen einer Behörde des Landes, durch eine gerichtliche Entscheidung oder unmittelbar oder mittelbar durch ein Gesetz – in einem in seiner Landesverfassung enthaltenen Grundrechte verletzt zu sein.

Ein wirkungsvoller Individualrechtsschutz vor Grundrechtsbeeinträchtigung durch die öffentliche Gewalt des Landes war bis dahin in Nordrhein-Westfalen nicht gegeben. Das haben wir mit der Einführung der Individualverfassungsbeschwerde geändert. Denn wir haben viele Grundrechte durch Art. 4 Abs. 1 unserer Landesverfassung inkorporiert, aber auch einen Grundrechtskatalog in unserer Landesverfassung, der Rechte enthält, die über die Grundrechte des Grundgesetzes hinausgehen. Bisher hatten wir kein prozessuales Spiegelbild für diese Grundrechte. Das haben wir nun deutlich geändert, wie es auch in vielen anderen Bundesländern der Fall ist.

Wir haben damit die grundrechtliche Substanz der Landesverfassung aktiviert. Wir steigern ihre praktische Relevanz und rücken sie stärker in das Bewusstsein der Bevölkerung. Sie ist deshalb auch ein Instrument zur Teilhabe der Bürger am Staat. Das klare Bild der spannenden Anhörung hat ergeben: Wir machen einen wichtigen Schritt für die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen.

Der Verfassungsgerichtshof, der bisher eher ein Staatsgerichtshof war, weil er sich mit Verfahren vorrangig von Verfassungsorganen beschäftigt hat, wird nunmehr zu einem Bürgergericht, das den einzelnen Bürgern, also den Menschen in unserem Land, zur Wahrung ihrer Rechte verhilft. Damit wird, wie ich eben sagte, ein Stück weit Rechtsgeschichte geschrieben.

Wir standen dem Anliegen, dies in die Verfassung zu übernehmen, immer offen gegenüber. Es gab sicherlich viele Diskussionen dazu. Aber grundsätzlich bestand hier im Hause immer Einigkeit. Dass es etwas länger gedauert hat, finde ich grundsätzlich richtig. Wir haben jetzt einen schlanken Verfassungstext gefunden. Das ist auch das Richtige für eine Verfassung.

Dass wir es erst einfachgesetzlich eingeführt haben und anschließend in die Verfassung aufnehmen, hat auch ein großes Vorbild. Auf Bundesebene war das nämlich ebenfalls so. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz wurde zunächst gestaltet, und dann wurden die Verfassungsbeschwerde und die Kommunalverfassungsbeschwerde in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und Nr. 4b unseres Grundgesetzes eingeführt.

Neben der Individualverfassungsbeschwerde wird nunmehr auch den Gemeinden dieses Recht direkt in der Verfassung garantiert. Gemeinden und Gemeindeverbände können künftig mit der Behauptung Klage erheben, dass Landesrecht die Vorschriften dieser Verfassung des Landes über das Recht auf kommunale Selbstverwaltung verletzt. Auch das wird jetzt in die Verfassung aufgenommen.

Wir stärken den Rechtsschutz in unserem Land für die Bürgerinnen und Bürger. Ich freue mich über die große Einigkeit hier im Haus. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und Angela Freimuth [FDP])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Geerlings. – Jetzt spricht für die SPD-Fraktion Herr Kollege Professor Dr. Bovermann.

Prof. Dr. Rainer Bovermann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern.“ Diese gern zitierten Worte von Max Weber aus dem Jahr 1919 treffen auch auf die Verankerung der Individualverfassungsbeschwerde und der Kommunalverfassungsbeschwerde in der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zu.

Fast 70 Jahre hat es von den Verfassungsberatungen 1950 bis heute gedauert. Damals bestand Einigkeit über alle Fraktionsgrenzen hinweg, keine allgemeine Verfassungsbeschwerde vorzusehen, da es auch keinen eigenen Grundrechtsteil in der Landesverfassung gab und der Grundrechtsschutz dem Bundesrecht zugeordnet wurde.

In den nachfolgenden Jahren ist immer wieder anlässlich der Novellierung des Verfassungsgerichtsgesetzes über die Einführung der Individualverfassungsbeschwerde diskutiert worden – zuletzt in der Verfassungskommission der 16. Wahlperiode. Einige hier im Plenarsaal haben an der damaligen Diskussion teilgenommen. Doch hier kam weder für die Individual- noch für die Kommunalverfassungsbeschwerde eine notwendige Mehrheit zustande, wobei die Gründe eher in anderen Rechtsbereichen lagen.

Mit der Verabschiedung einer einfachgesetzlichen Regelung für die Individualverfassungsbeschwerde im vergangenen Jahr wurde ein Zwischenschritt erreicht. Heute, zu später Stunde, können wir, wie es einer der führenden Staatsrechtler der Weimarer Republik, Richard Thoma, ausdrückte, den „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaates“ setzen.

Die Verankerung der Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde in der Verfassung ist dabei mehr als ein symbolischer Akt. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, hat es in seiner Stellungnahme zur Anhörung treffend ausgedrückt. Ich zitiere noch einmal:

„Der Verfassungsgerichtshof des Landes ist ein Verfassungsorgan, seine Zuständigkeiten sollten sich daher im Grundsätzlichen bereits aus der Verfassung ergeben. Das gilt insbesondere für das Verfahren der Individualverfassungsbeschwerde, weil damit die Stellung und Funktion des Verfassungsgerichtshofes von einem reinen ‚Staatsgerichtshof‘ zu einem ‚Bürgergericht‘ verändert wird.“

Auch die kommunale Selbstverwaltung genießt Verfassungsrang, während deren Schutz bisher nur einfachgesetzlich geregelt war. Die materiell-institutionelle Rechtsgarantie und der prozessuale Schutz fielen also auseinander. Die kommunalen Spitzenverbände haben es daher in ihrer Stellungnahme ausdrücklich begrüßt, wenn durch die Verankerung der Kommunalverfassungsbeschwerde in der Verfassung diese, wie sie es nannten, „normhierarchische Schieflage“ nun ausgeglichen wird.

Aufgrund der Verankerung in der Verfassung genießen beide Beschwerdemöglichkeiten eine höhere Absicherung gegenüber sich möglicherweise verändernden politischen Mehrheiten. Schließlich kann ihre Aufnahme in Art. 75 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen einen Beitrag dazu leisten, das Verfassungsbewusstsein in der Bevölkerung zu stärken und die Eigenstaatlichkeit unseres Landes zu betonen.

Zum Schluss möchte ich mich bei den Kollegen von CDU und FDP herzlich dafür bedanken, dass sie dem Gesetzentwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beigetreten sind. Last not least ist das auch ein Zeichen für die Zusammenarbeit der demokratischen Fraktionen in diesem Haus. Ich meine, das ist auch schon ein Wert an sich. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Professor Dr. Bovermann. – Jetzt spricht für die FDP-Fraktion Frau Kollegin Freimuth.

Angela Freimuth (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu der Genese und zum Regelungsgehalt der Verfassungsänderung, die wir heute gemeinsam vornehmen werden, haben die Kollegen gerade schon sehr viel Zutreffendes ausgeführt. Deswegen will ich aus meiner Sicht nur zwei, drei ergänzende Anmerkungen dazu machen.

Wir haben in der Tat mit großer Leidenschaft und lange diskutiert, zuletzt intensiv in der Verfassungskommission der 16. Legislaturperiode. Ich glaube, manchmal heißt es zu Recht: Gut Ding will Weile haben.

Nachdem im vergangenen Jahr zunächst die einfachgesetzliche Regelung auf den Weg gebracht wurde, die zum 01.01.2019 schon erweitere Rechtsschutzmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes eröffnet, sind wir jetzt nach der Anhörung der Sachverständigen, die wir zu diesem Gesetzgebungsverfahren bereits durchgeführt haben, der erneut angeregten Verankerung in der Verfassung gefolgt.

Einem früheren Kollegen unseres Hauses, meinem ehemaligen Fraktionskollegen Dirk Wedel, war es ein besonderes Anliegen, einen erweiterten Rechtschutz für die Bürgerinnen und Bürger zu eröffnen und diesen in der Verfassung zu verankern. Auch wenn er es nicht mehr als Kollege des nordrhein-westfälischen Landtags zur Kenntnis nehmen kann, wird er sich hoffentlich in anderer Funktion sehr darüber freuen.

Zur Genese ist gerade schon angeführt worden, dass es eine verfassungsändernde Initiative der Fraktionen von SPD und Grünen gegeben hat, die wir zunächst – das war immer ein unstreitiger Punkt; darauf hat Kollege Geerlings gerade schon hingewiesen – auch in der Verfassung verankern wollten. Aber der Gesetzentwurf sah ursprünglich noch die Verankerung von Verfahrensfragen in der Verfassung vor. Unser Kritikpunkt war immer, dass diese tatsächlich einfachgesetzlich geregelt gehören und nicht in die Verfassung aufgenommen werden sollen.

Mit dem Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Grünen zu ihrem eigenen Gesetzentwurf wurde deutlich, dass diese auch in der Anhörung geäußerte Kritik, die nicht nur von uns allein vorgebracht wurde, überzeugt hat. Daher bringen wir jetzt folgerichtig gemeinsam sowohl die Änderung als auch den Gesetzentwurf auf den Weg.

Ich freue mich, dass wir heute – hoffentlich mit der Zweidrittelmehrheit der Mitglieder dieses Hohen Hauses – für die Bürgerinnen und Bürger eine erweitere Rechtsschutzmöglichkeit in der Verfassung verankern und damit unseren Verfassungsgerichtshof zu einem Bürgergerichtshof weiterentwickeln. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU – Vereinzelt Beifall bei SPD und Grünen)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Freimuth. – Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Engstfeld.

Stefan Engstfeld (GRÜNE): Dear Speaker of the House, Mister Keymis! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum nicht gleich so? Ja, gut Ding will Weile haben, haben wir gehört. Dicke Bretter sind gebohrt. Die Debatte lief sehr lange, jahrzehntelang. Und erst heute, Herr Kollege Geerlings, schreiben wir wirklich Rechtsgeschichte, indem wir die Individualverfassungsbeschwerde und auch die Kommunalverfassungsbeschwerde in der Verfassung verankern. Das Pendant im Grundgesetz gibt es schon ein bisschen länger, seit 1969.

Ich möchte noch auf Herrn Kollegen Geerlings eingehen, der gesagt hat: Es ist ja nicht so schlimm, dass zunächst eine einfachgesetzliche Regelung ins Plenum eingebracht und verabschiedet wurde und erst heute die Verfassungsänderung kommt; das war damals beim Grundgesetz genauso. – Ja, das ist im Prinzip richtig. Ich möchte aber zu Protokoll geben, dass die Motivationslage damals eine völlig andere war und das deswegen so nicht vergleichbar ist.

1969 war der Anstoß zur Verankerung der Verfassungsbeschwerde im Grundgesetz, dass die Einführung des Widerstandsrechts in Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz als Gegengewicht zu den Änderungen im Rahmen der Notstandsverfassung gedacht war. Verletzungen desselben sollten auch die Verfassungsbeschwerde eröffnen.

Anlässlich dieser Ergänzung sollte der bisher nur einfachgesetzliche Rechtsbehelf in der Verfassung selbst verankert werden. Das heißt, die Ausgangslage war natürlich eine völlig andere als heute.

Wir kamen aus der Verfassungskommission. Der ehemalige Vorsitzende, Herr Professor Dr. Bovermann, hat es schon ausgeführt: Da waren wir uns im Prinzip in der Sache einig. Es ist damals daran gescheitert, dass die große Verständigung im politischen Korb zum Thema „Herabsetzung des Wahlalters auf 16“ und zur Schuldenbremse nicht zustande gekommen ist. Sonst hätten wir die Verankerung in der Verfassung schon damals gehabt.

Wir hätten sie schon in dem einfachgesetzlichen Verfahren haben können, als wir das seinerzeit verabschiedet haben. Für die einfachgesetzliche Regelung lag auch der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor, es direkt in der Verfassung zu verankern. Es hat nicht sollen sein. Leichte parteipolitische Geländegewinne sind, glaube ich, nicht von der Hand zu weisen. Aber Schwamm drüber!

Es ist eine gute Sache. Endlich schaffen wir es heute, mit einer Zweidrittelmehrheit die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, aber auch der Kommunen, der kommunalen Familie zu stärken. Das ist aller Mühen wert gewesen. Ich freue mich darauf. Wir werden zustimmen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Engstfeld. – Für die AfD-Fraktion spricht nun Herr Röckemann.

Thomas Röckemann (AfD): Heute war wirklich ein schöner Tag, und auch der späte Abend verspricht gut zu werden. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

(Stefan Kämmerling [SPD]: Ich bin nicht Ihr Kollege!)

Endlich hat sich der Parteiblock aus CDU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen dazu herabgelassen, eine vernünftige Idee der AfD mitzutragen, noch nicht direkt, aber immerhin mittelbar.

(Beifall von der AfD)

Es geht langsam los. Liebe Kollegen, trauen Sie sich beim nächsten Mal einfach ein wenig mehr zu und stimmen Sie einem guten Antrag von uns gleich von Anfang an zu – ja, auch wenn er von der AfD kommt.

(Zurufe von der SPD)

So haben wir dann viel mehr Zeit für wichtige Themen wie Genitalverstümmelung, Grenzkontrollen, Abschiebungen oder einen Untersuchungsausschuss.

Meine Damen und Herren Kollegen, nach nunmehr 70 Jahren wird in Nordrhein-Westfalen die Individualverfassungsbeschwerde in der Landesverfassung verankert. Sie wird ein prozessuales Kronjuwel der bürgerlichen Rechte in unserer Landesverfassung sein. Das Grundgesetz kennt die Individualverfassungsbeschwerde schon länger. Eine derartige Verankerung in unserer Landesverfassung ist also notwendig und geboten, und das nicht nur als rein symbolischer Akt, sondern weil sonst schon eine einfache Mehrheit im Parlament ausreichend wäre, um die Individualverfassungsbeschwerde abzuändern oder gar gänzlich aufzuheben.

Schon in der letzten Legislaturperiode – wir haben davon gehört – stand die Einführung der Individualverfassungsbeschwerde auf der Tagesordnung der Verfassungskommission des Landes NRW. Damals haben sich Rot und Bündnis 90/Die Grünen noch dagegen ausgesprochen. Die seinerzeitige Koalition widmete sich lieber vermeintlich staatstragenden Themen wie der Änderung der Eidesformel für uns Abgeordnete: weg vom deutschen Volk hin zu einem politisch korrekten Textchen. So haben Sie diese wichtige Änderung der Landesverfassung nicht auf den Weg gebracht.

Nun gut, wir von der AfD sind eben gründlich und brachten bei den neuerlichen Beratungen über die Einführung der Individualverfassungsbeschwerde als einfaches Gesetz den Vorschlag ein, diese in der Landesverfassung zu verankern. Wir haben Ihnen auch erklärt, warum. Eine Individualverfassungsbeschwerde gehört bereits vom Wortlaut her und auch systematisch in der Verfassung verankert.

Nun fiel wohl auch bei der letzten Kartellpartei der Groschen. Im Ergebnis haben Sie dann alle unsere Idee aufgegriffen. Nun gut, Sie haben sie in eigene Anträge verpackt. Trotzdem ist die Verankerung der Individualverfassungsbeschwerde in der Verfassung auf unsere Initiative zurückzuführen. So sieht das aus, meine Damen und Herren Kollegen.

Und weil wir nicht borniert sind, werden wir von der AfD dieses Mal zustimmen, mit Ihnen zusammen, um die Individualverfassungsbeschwerde endlich in der Landesverfassung zu verankern. – Vielen Dank dafür. Glück auf und gute Nacht!

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Röckemann. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Biesenbach.

(Helmut Seifen [AfD]: So viel Einigkeit im Parlament!)

Peter Biesenbach, Minister der Justiz: Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bei Herrn Röckemann musste ich doch ein wenig schmunzeln. Es war der Beweis dafür, dass sich für den Erfolg sehr viele Väter melden, ohne darüber nachzudenken, inwieweit das tatsächlich berechtigt ist.

Schmunzeln, lieber Herr Engstfeld, musste ich aber auch bei Ihnen. Denn dicke Bretter gebohrt – ich weiß es nicht. Aber Sie haben zumindest damit recht, die Frage zu stellen: Warum erst jetzt? Es hat in der Tat fast 70 Jahre gedauert, bis die Diskussion, ob wir eine Individualverfassungsbeschwerde in die Verfassung hineinpacken oder nicht, zum Abschluss gekommen ist. Aber heute ist es so weit, dass wir das dann auch bewerkstelligen.

Seit dem 1. Januar 2019 kann jeder den Verfassungsgerichtshof mit der Behauptung anrufen, durch die öffentliche Gewalt des Landes in einem seiner in der Landesverfassung enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Diese Individualverfassungsbeschwerde wird das System der Rechtsschutzgewährung in Nordrhein-Westfalen ergänzen und auch bereichern. Ich bin neugierig, wie sich der Prozess der Entwicklung des Verfahrensrechts und auch des materiellen Verfassungsrechts weiter gestalten wird und ob damit manche juristische Debatte einen Beitrag fordert oder nicht. Das werden wir alle gemeinsam erleben.

Aber auch der Verfassungsgerichtshof wird eine neue, veränderte Rolle einnehmen. Denn mit der Einführung der Individualverfassungsbeschwerde entwickelt er seine Stellung und Funktion von einem Staatsgerichtshof hin auch zu einem Bürgergericht. Es ist hoch zu achten und Beleg des funktionierenden Rechtsstaats, wenn die öffentliche Gewalt weitere Bedingungen für ihre eigene Kontrolle schafft.

Über die Verankerung hatten wir bereits im letzten Jahr diskutiert. Für die Landesregierung begrüße ich in einem einhelligen Chor ausdrücklich, dass nunmehr ein großer Konsens darüber besteht, die auf einfachgesetzlicher Grundlage bereits getroffene verfassungspolitische Grundsatzentscheidung jenseits der tagespolitischen Mehrheiten anzusiedeln.

Allein – damit wiederhole ich aber nur das, was meine Vorredner auch gesagt haben – die Verankerung in der Verfassung wird der Bedeutung der Verfahrensart gerecht. Die Verankerung in der Verfassung entspricht zugleich den Empfehlungen der angehörten Sachverständigen und der Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, die diese Äußerungen mehrfach wiederholt haben.

Ich freue mich aber auch – meine Vorredner haben es teilweise schon bestätigt –, dass wir den Beschlussempfehlungen der Ausschüsse zu der in dem Entwurf ursprünglich vorgesehenen Passage zum Verfahren gefolgt sind und diese gestrichen haben. Weitere Ausführungen sind bei dieser breiten Mehrheit eigentlich nicht mehr nötig.

Es ist sehr schön, dass der angepasste Gesetzentwurf nach intensiver Debatte von den vier größten Fraktionen getragen wird. Ich höre heute, dass er sogar von allen Fraktionen getragen wird. Ich werbe daher nur noch um Unterstützung für den Gesetzentwurf und denke, er wird einstimmig angenommen werden. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Biesenbach. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit kommen wir zum Schluss der Aussprache und gehen in die Abstimmung.

Wir stimmen erstens ab über den Änderungsantrag der Fraktion der AfD Drucksache 17/5713. Wer stimmt dem Änderungsantrag der AfD-Fraktion zu? – Die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – CDU, SPD, Grüne, FDP, und die beiden fraktionslosen Abgeordneten stimmen dagegen. Gibt es Enthaltungen? – Enthaltungen gibt es nicht. Damit ist der Änderungsantrag Drucksache 17/5713 abgelehnt.

Zweitens stimmen wir ab über die Beschlussempfehlung Drucksache 17/5665. Der Hauptausschuss empfiehlt in Drucksache 17/5665, den Gesetzentwurf Drucksachen 17/3005 und 17/5580 in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses anzunehmen. Wir kommen somit zur Abstimmung in der zweiten Lesung über die Beschlussempfehlung und nicht über den Gesetzentwurf. Ich weise darauf hin, dass es sich noch nicht um die Schlussabstimmung handelt.

Zudem weise ich darauf hin, dass für die Annahme des Gesetzentwurfs in zweiter Lesung gemäß § 43 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, aber auch ausreichend ist. Das Quorum der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags gemäß Art. 69 Abs. 2 unserer Landesverfassung ist erst für eine Annahme des Gesetzentwurfs in dritter Lesung erforderlich.

Wer also stimmt nun der Beschlussempfehlung zu? – CDU, SPD, Grüne, FDP, AfD und die beiden fraktionslosen Abgeordneten. Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf Drucksachen 17/3005 und 17/5580 in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses in zweiter Lesung einstimmig angenommen.

Die Fraktionen haben vereinbart, die dritte Lesung unmittelbar im Anschluss durchzuführen. Gibt es dazu Widerspruch? – Den sehe ich nicht. Dann verfahren wir so.

Ich rufe wiederum auf

Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU,       
der Fraktion der SPD,       
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN        
Drucksache 17/3005         
Drucksache 17/5580

Beschlussempfehlung und Bericht       
des Hauptausschusses    
Drucksache 17/5665

dritte Lesung

Eine Aussprache in der dritten Lesung ist nicht vorgesehen.

Wir kommen damit unmittelbar zur Abstimmung. Wir stimmen ab über den Gesetzentwurf Drucksachen 17/3005 und 17/5580 in der Fassung nach der zweiten Lesung. Da das Beratungsverfahren hiermit abgeschlossen wird, handelt es sich um eine Schlussabstimmung nach § 78 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung. Ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass nach Art. 69 Abs. 2 unserer Landesverfassung für eine Verfassungsänderung die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags, das heißt von mindestens 133 Abgeordneten, erforderlich ist.

(Zurufe: Haben wir!)

– Haben Sie durchgezählt? – Ihr seid echt gut.

Um 20:47 Uhr kommen wir zu einem historischen Beschluss. Ich lasse abstimmen über die Beschlussempfehlung Drucksache 17/5665, nicht über den Gesetzentwurf Drucksachen 17/3005 und 17/5580 selbst. Wer stimmt dem zu? – CDU, SPD, FDP, Grüne, AfD und die beiden fraktionslosen Abgeordneten Herr Neppe und Herr Langguth. Gibt es dazu Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen im Hohen Haus? – Das ist beides nicht der Fall. Ich stelle ausdrücklich gemäß § 46 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung fest, dass mindestens zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags zugestimmt haben. Damit ist die Beschlussempfehlung 17/5665 angenommen und der Gesetzentwurf Drucksachen 17/3005 und 17/5580 in der Fassung der Beschlüsse des Ausschusses in dritter Lesung einstimmig verabschiedet.

(Allgemeiner Beifall)

Ich rufe auf:

15 Gesetz zur Änderung des Wohn- und Teilhabegesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/3777

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/5667

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Wohn- und Teilhabegesetz-Durchführungsverordnung

Vorlage 17/1196
Drucksache 17/3852 – Neudruck

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/5668

Entschließungsantrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5709

Jetzt ist die Aussprache eröffnet. – Frau Kollegin Oellers tritt ans Redepult und hat das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Britta Oellers (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der fortgeschrittenen Uhrzeit und bei dem uns vorliegenden Änderungsantrag zur Novellierung des WTG sowie der Beschlussvorlagen zur entsprechenden Durchführungsverordnung von SPD und Grünen könnte man sich fragen: Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät?

Nicht nur bezogen auf die Uhrzeit, sondern vor allem beim Lesen der Änderungen bekommt man den Eindruck, SPD und Grüne möchten die Zeit kräftig zurückdrehen. Denn wer braucht schon eine Verbesserung des WTG auf Grundlage der Erfahrungsberichte von Kreisen, kreisfreien Städten, Verbänden und Organisationen, wenn man doch einfach einen Änderungsantrag einbringen kann, der vor allem Passagen aus dem bisherigen Gesetzestext enthält?

Lassen Sie mich dazu eines klarstellen: Die NRW-Koalition stärkt mit dem Wegfall der Bevorteilung kleinerer Wohn- und Betreuungsangebote die Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn SPD und Grüne es anders sehen: Alle Angebotsformen erhalten künftig die gleiche Gewichtung. Denn jeder Mensch soll im Alter selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo er künftig leben möchte.

Im Übrigen sei mir eine kurze Anmerkung zum Thema „Zeit“ erlaubt. Wer den Änderungsantrag und die Beschlussvorlagen ganze 15 Stunden vor der Sitzung und Abstimmung des Fachausschusses einbringt und den Entschließungsantrag für das heutige Plenum noch gestern Abend, der hat sich anscheinend erst sehr spät mit der Gesetzesvorlage beschäftigt.

Noch ein Wort zum Entschließungsantrag der Grünen: Er ist lediglich eine Wiederholung der bereits bekannten Argumente, die schon in der Debatte im Ausschuss ausgetauscht worden sind. Es ergeben sich in meinen Augen keine neuen Erkenntnisse.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Doch kommen wir zur Drucksache. Es handelt sich um eine Gesetzesänderung, die wesentliche Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Pflege und Betreuung in den Pflegeeinrichtungen in NRW bedeutet. Wir bauen in deutlichem Umfang Bürokratie ab.

Die NRW-Koalition hält ihr Versprechen und bringt damit die Entfesselungsoffensive in den Pflegealltag. Wir übertragen den Trägern der Einrichtungen mehr Eigenverantwortung für ihre Häuser, indem die Überprüfung der Qualifikation der Einrichtungsleitungen eingestellt wird. Denn wir brauchen nicht mehr Kontrolle als unbedingt notwendig. Ich bin mir sicher, schon in ihrem eigenen Interesse werden die Träger dafür sorgen, dass die Leitungsfunktionen mit qualifiziertem Personal besetzt werden; denn wir haben in NRW sehr gut ausgebildete Fachkräfte im Bereich der Altenpflege.

Gleichzeitig stärken wir außerdem die Position der Pflegedienstleitungen und der verantwortlichen Fachkräfte gegenüber den Trägern. Auch hier möchten SPD und Grüne gerne die Zeit zurückdrehen und die Anforderungen wieder mit nicht näher definierten Studienabschlüssen verknüpfen, die in besonderer Weise für Leitungsfunktionen qualifizieren.

Es erscheint wenig zielführend, die Qualifikation in dieser Form gesetzlich einzugrenzen, zumal ich aus eigener Erfahrung weiß, dass einige Häuser schon von sich aus dazu übergehen, die Pflegedienstleitungen auf akademischem Wege weiterzubilden. Schon allein um die Attraktivität des Berufes zu steigern, ist dies sinnvoll.

Die Gesetzesnovelle sieht außerdem vor, die Rahmenbedingungen zur Schaffung von Kurzzeitpflegeplätzen zu verbessern und die bisher restriktiven Aufnahmemöglichkeiten zurückzunehmen. Dies ist ein deutlicher Anreiz zur Schaffung weiterer Plätze. Der Beschlussvorschlag der Grünen sieht hingegen wieder eine Beschränkung der Ausnahmen lediglich auf größere Bestandseinrichtungen vor und ist damit nicht überzeugend.

Mit dem neuen WTG gibt es endlich Klarheit über den Status der Intensivwohngemeinschaften, etwa für im Wachkoma liegende Menschen. Sie werden nun als Pflegeheime eingestuft und unterliegen somit der Kontrolle der WTG-Behörde, sprich: der Heim-aufsicht.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Es kann allerdings nicht Aufgabe der WTG-Behörde sein, die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu evaluieren. Dies ist keine ordnungsrechtliche Aufgabe, auch wenn SPD und Grüne dies gerne hätten.

Und, ja, wir schaffen auch verbindliche Regelungen in Bezug auf die Einrichtung von Raucherzimmern, damit jeder selbstbestimmt entscheiden kann, ob er rauchen möchte oder nicht, und die entsprechenden Gewohnheiten beim Einzug oder Umzug in eine Einrichtung nicht geändert werden müssen.

Kommen wir abschließend noch zu dem Aspekt, der als einziger Punkt des Änderungsantrages von SPD und Grünen einen vermeintlich neuen Inhalt in die Diskussion bringt: die Transparenz bei den Heimkosten. Doch auch hier kommen Sie leider etwas zu spät, denn die Transparenz bei den Heimkosten wird bereits durch das Gesetz zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- und Betreuungsleistungen, sprich: das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz, geregelt.

Ich empfehle die Lektüre der §§ 6, 8 und 9. Eine ordnungsrechtliche Regelung im WTG ist daher nicht notwendig, zumal solche Transparenzvorschriften dann auch wieder von den WTG-Behörden geprüft werden müssen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es bleibt dabei: Die Novellierung des Wohn- und Teilhabegesetzes lässt den Aufsichtsbehörden, Trägern und Pflegekräften mehr Spielraum dort, wo es möglich ist, und schafft gleichzeitig Klarheit, wo es in den Augen der NRW-Koalition notwendig ist. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Oellers. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Frau Kollegin Altenkamp.

Britta Altenkamp (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Johannes Rau pflegte über solche Veranstaltungen, wie wir sie heute haben, immer zu sagen: Das ist die höchste Stufe der Geheimhaltung, die man erreichen kann, eine Rede nach 17 Uhr im Plenum. – Ich bin den Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar, dass sie noch bei uns sind. Auch wenn wir bei dem Tagesordnungspunkt unterschiedlicher Auffassung sind, ist es schade, dass wir zu einer solchen Uhrzeit über ein Thema wie die Pflege sprechen, das die Menschen sehr bewegt.

Ich will ein paar Punkte – Frau Oellers hat wieder die ganze Bandbreite der eindringlichen und eindrücklichen Kritik der CDU-Fraktion deutlich gemacht – aufgreifen.

Ein Punkt war, dass mit dieser Gesetzesänderung Ordnung geschaffen würde, indem jetzt wieder das Gleichgewicht und die Wahlfreiheit zwischen stationär und ambulant hergestellt würde. Das ist eine große Mär, weil das SGB XI „ambulant vor stationär“ vorschreibt. Das große Problem besteht darin, dass die Infrastruktur weder im ambulanten noch im stationären Bereich so ausreichend ist, dass wirklich Wahlfreiheit besteht.

Dann will ich zu Ihrer Verfahrenskritik kommen. Es ist das gute Recht der Kolleginnen und Kollegen der Grünen, in ihrer Fraktionssitzung gestern darüber zu sprechen, ob sie das, was sie schon als Änderungsantrag mit uns gemeinsam im Ausschuss eingebracht haben, heute noch einmal im Plenum vorlegen wollen. Dass das erst gestern Abend passiert ist, liegt einfach in der Natur der Zeitläufe. Ich werde Sie daran erinnern, wenn es in Ihrer Fraktion auch mal wieder so weit ist, dass Sie, wenn Sie dienstags in einer Fraktionssitzung etwas beschlossen haben, das Plenum am Mittwoch damit beglücken wollen.

In Wahrheit steckt hinter dieser Kritik, dass Sie sich inhaltlich nicht mit den Dingen auseinandersetzen wollen, sondern Sie behaupten einfach nur platt, dass wir versuchen würden, die Dinge wieder zurückzudrehen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Diese Plattheit ist – wie soll ich sagen? – intellektuell wirklich unterkomplex. Aber sei es drum!

Noch mal zu der Frage, die ein wesentlicher Grund dafür war, warum dieses Gesetz auf den Weg gebracht worden ist, was Ihnen zwar in der Anhörung deutlich widerlegt worden ist, aber das stört Sie ja nicht: Sie ziehen nach wie vor den Punkt durch und erzählen nicht nur die Mär, dass ambulant vor stationär jetzt endlich wieder geradegerückt würde, sondern Sie erzählen auch die Mär, dass WTG-Behörden und MDK dasselbe prüfen würden. Auch das ist natürlich großer Unsinn.

Hinzu kommt, dass in begründeten Einzelfällen die WTG-Behörden auch die Pflegequalität prüfen, nämlich immer dann, wenn zum Beispiel Angehörige sagen: Wir haben Sorge, wir haben ein Problem. – Dann werden die WTG-Behörden tätig. Ich weiß nicht, warum man das in dem Gesetz so ausdrücklich betonen muss.

Abgesehen davon blicken die WTG-Behörden auch auf die Einhaltung der Fachkraftquote. Die Fachkraftquote sagt doch – wenn ich alles immer richtig verstanden habe, auch den Minister – eine Menge über die Pflegequalität aus. Was soll dann also diese Reihenfolge und Rangfolge, die Sie hier bei der Frage herzustellen versuchen, wer eigentlich was prüft? Von Doppelprüfung kann nach unserer Ansicht überhaupt keine Rede sein. Wichtig ist, dass im Ergebnis die Bewohnerinnen und Bewohner sowie ihre Angehörigen das beste Angebot erhalten, und das verlässlich. Das kann doch auch nicht gegen Ihr Interesse sein.

Ein anderer Punkt – Frau Oellers hat es gesagt – ist das Thema „Transparenz der Kosten“. Sie sind der Meinung, das sei ausreichend in anderen Gesetzen geregelt. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Unsere Erfahrungen, unsere Erkenntnisse insbesondere hinsichtlich der Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch ihrer Angehörigen zeigen, dass ihnen eben nicht ausreicht, was sie von einigen Trägern an Transparenz und Kostendarstellung erhalten. Da hätte man im WTG durchaus noch nachlegen können.

Diese Kostentransparenz und die Regelung hatten zwei Effekte: zum einen, dass man Waffengleichheit zwischen den Trägern herstellt, und zum anderen, dass man mehr Klarheit für die Bewohnerinnen und Bewohner und ihre Angehörigen schafft; denn – so ist das nun mal – stationäre Pflege ist in Nordrhein-Westfalen nicht gerade billig. Vor diesem Hintergrund haben die Beteiligten durchaus einen Anspruch darauf, dass Kostentransparenz geschaffen wird.

(Vereinzelt Beifall von der SPD – Beifall von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Sie entwickeln – das ist unsere Kernkritik – das WTG nicht weiter, sondern verschlimmbessern einige Stellen so, dass ich glaube, dass wir das in ein paar Wochen oder Monaten wieder anfassen müssen. Die Wahlfreiheit, die Sie sich wünschen, werden Sie eher einschränken, als sie zu verbessern. Und die Marktentwicklung – das muss man sagen –, die derzeit insbesondere im Bereich der privaten Trägerschaft nun einmal hergibt, dass die familiengeführten Unternehmen weniger werden, können Sie mit Ihrem Gesetz auch nicht aufhalten.

Abschließend muss ich Ihnen sagen, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass wir das WTG wieder anfassen werden. Das hängt damit zusammen, dass Sie das jetzt unbedingt durchziehen wollten, anstatt nach dem OVG-Urteil, das wir letzte Woche erhalten haben, einige Zeit ins Land gehen zu lassen, um zu schauen, welche Auswirkungen das tatsächlich hat.

Mindestens eines ist nämlich sicher: Die Regelungen zur Verbesserung der Kurzzeitpflege, die Sie getroffen haben, werden platzen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Altenkamp. – Nun spricht für die FDP-Fraktion Frau Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Altenkamp, wir haben am 12. Oktober letzten Jahres das Wohn- und Teilhabegesetz hier debattiert und diskutiert. Wenn Sie uns heute vorwerfen, dass wir uns weigern, uns mit Änderungs- und Entschließungsanträgen, die gestern Abend eingetrudelt sind, auseinanderzusetzen, dann ist das eine Unverschämtheit.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU – Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

Ich habe auch den Eindruck, Sie ignorieren alles, was wir verbessern und entbürokratisieren wollen, nämlich dass die Pflege sich weiterentwickelt und dass dabei die Unterstützung der Politik gefragt ist.

Ein Aspekt hinsichtlich der Entbürokratisierung sind die bereits angesprochenen Einrichtungsleitungen. Warum soll irgendjemand kontrollieren, welche Qualifikation diese haben? Es muss doch das ureigene Interesse der Einrichtungen sein, sich auszusuchen, wen sie haben möchten. Die haben doch völlig unterschiedliche Bedarfe. Die eine möchte einen Betriebswirt haben, die andere jemanden, der Pflegemanagement studiert hat. Wir überlassen es einfach den Einrichtungen und den Trägern. Die wissen am besten, welche Qualifikation sie von einer Leitung erwarten.

Wir haben schon wieder gehört: Qualität in der Pflege. Dafür ist die Pflegedienstleitung zuständig. Diese wird künftig weisungsunabhängig arbeiten. Das ist gut so; denn sie kennt sich mit der Pflege aus und weiß, was die Menschen in den Einrichtungen brauchen. Sie soll sich darum kümmern und sonst um gar nichts. Und das soll diese doch bitte auch selber entscheiden. Für uns sind Freiheit und die wirtschaftliche Leitung einer Einrichtung sowie die fachliche Qualität der Pflege zwei Seiten der Medaille.

Bisher war das Wohn- und Teilhabegesetz durchaus von derartigen ideologischen Ansätzen von Rot-Grün geprägt. Wir haben schon gehört: Sie wollten immer nur die ambulanten Einrichtungen stärken. Die ambulanten Pflege-WGs durften alles, die stationären wurden kritisch gesehen. Kurz: Ambulant ist gut, stationär ist böse, und noch böser als stationär waren nur die privaten stationären Einrichtungen. Wir möchten einfach eine Wahlfreiheit haben.

Sie haben damit auch Plätze abgebaut. Sie haben die stationären Einrichtungen verdrängt. Mittlerweile wird dadurch der Mangel an angebotenen Pflegeplätzen immer größer.

Was Sie bei Ihrer Lobhudelei auf „ambulant“ ganz gerne vergessen, ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der immer mehr Menschen im Alter einsam und alleine sind. Dieses Problem hat man in einer stationären Einrichtung definitiv nicht. Das wollen Sie aber nicht sehen. Wir müssen diese Hürden jetzt abbauen, damit wieder investiert wird, und wir müssen die durch Rot-Grün entstandenen Benachteiligungen für die stationären Einrichtungen abbauen und beenden.

Wir kommen zur Neuregelung hinsichtlich der starren Obergrenze von 80 Plätzen. Natürlich brauchen wir die, weil wir viel zu wenige Plätze haben. Wir möchten, dass diese zusätzlichen Plätze für die Kurzzeitpflege, die wir so dringend brauchen, verwendet werden. Wir werden aber letztendlich keine zusätzlichen Kapazitäten schaffen, wenn wir das nur auf die bestehenden Einrichtungen begrenzen. Wir brauchen Neubauten und mehr Flexibilität. Das erreichen wir mit einer Obergrenze von bis zu 120 Plätzen; einschließlich der ausgewiesenen Plätze für die Kurzzeitpflege.

Sie wollen außerdem, dass die Behörden die Zufriedenheit der Mitarbeiter kontrollieren. Werte Kolleginnen und Kollegen, der Pflegemangel ist sicher auch jedem, der nicht im Thema ist, hinlänglich bekannt. Es kann doch nur das Eigeninteresse eines jeden Einrichtungsträgers und eines jeden Anbieters sein, selbst dafür zu sorgen und sich selbst zu informieren, ob die Mitarbeiter zufrieden sind, gerne arbeiten und welche Verbesserungswünsche sie hätten. Das ist definitiv nicht Aufgabe einer Behörde. Das können die alleine.

Auch die Raucherräume wurden schon angesprochen. Ja, im Nichtraucherschutzgesetz ist eine Kann-Regelung enthalten. Ich möchte jetzt aber auch nicht, dass die Krankenschwester, die Pflegerin, die schon genug zu tun hat, den alten Menschen, der sein Leben lang geraucht hat, im Rollstühlchen bei Wind und Regen nach draußen fährt. Zum einen hat die Pflegekraft anderes zu tun und zum anderen riskieren wir dadurch, dass sowohl die Pflegerin als auch der Bewohner eine Lungenentzündung bekommen.

Kurz noch zum Thema „Digitalisierung“: Sie haben angesprochen und auch geschrieben, dass ein WLAN-Anschluss in den Einrichtungen sinnvoll sei, damit die Menschen vielleicht auch mal ins Internet gehen könnten.

Da sieht man, was die FDP-Landtagsfraktion und Sie unterscheidet. Für uns sind Digitalisierung und WLAN mehr, als dass der ältere Bewohner mal ins Internet kann. Für uns ist wichtig, dass das ein Teil des selbstbestimmten Lebens ist und dass wir in die Zukunft denken. Der Bewohner kann nämlich mit seinem Tablet in Zukunft vielleicht auch fragen, wer vor der Tür steht, wer in sein Zimmer möchte, kann vom Bett aus über das Tablet das Licht an- und ausschalten und Geräte bedienen. Das bedeutet für meine FDP-Landtagsfraktion Digitalisierung! Daher bin ich sehr froh, dass wir den Digitalminister stellen.

(Beifall von der FDP)

Letztendlich ist es ein gutes Gesetz. Es ist gut für die Pflegebedürftigen, es unterstützt die Einrichtungen, es baut kolossal Bürokratie ab und es hilft auch den Angehörigen der Menschen in unserem Land weiter. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Schneider. – Jetzt spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Schneider, ich glaube, Sie versprechen sich mehr von dem Gesetz, als Sie überhaupt regeln dürfen. Wenn Sie wirklich glauben, dass Sie mit dem WTG die bundesrechtliche Bestimmung „ambulant vor stationär“ bzw. das Sozialgesetzbuch aushebeln können, dann sind Sie auf dem Holzweg.

(Beifall von der SPD)

Aber es macht deutlich, mit welcher Vehemenz die FDP-Fraktion diese falsche Weichenstellung hier in Nordrhein-Westfalen einfordern will. Ich kann Ihnen nur folgende Zahlen auf den Tisch legen: Wir haben im Moment 640.000 Menschen, die pflegebedürftig sind, und wenn die Prognosen zutreffen, sind es 2050 rund 50 % mehr. Wo sollen die Pflegerinnen und Pfleger herkommen, die in den Altenheimen arbeiten und diese Pflegebedürftigen betreuen?

(Beifall von der SPD)

Das ist doch eine völlig irrsinnige Ausrichtung, die Sie hier auf den Tisch legen. Wir haben jetzt schon zu wenig Pflegerinnen und Pfleger, um die Menschen in den Pflegeheimen so behandeln und pflegen zu können, wie es eigentlich der Fall sein sollte.

Und es kommt noch ein ganz wichtiger Punkt hinzu: Die meisten Menschen wollen in ihrer häuslichen Umgebung wohnen bleiben. Deswegen müssen wir das Setting ambulant ausgestalten, anstatt in weitere Pflegeheime zu investieren.

Ich verstehe überhaupt nicht, wie man da einen Dissens haben kann. Da müssen andere Interessen – Konzerninteressen oder so etwas – eine Rolle spielen. Das ist gegen die Interessen der allermeisten Menschen hier in Nordrhein-Westfalen. Es ist ganz klar völlig falsch, was Sie hier regeln wollen.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

Ich möchte die anderen Punkte, die im WTG geregelt werden, kurz ansprechen. Um diese Uhrzeit mache ich mir keine großen Hoffnungen, dass noch allzu viel durchsickert. Aber dieser Punkt ist schon sehr wichtig: Sie machen sich lustig über das Thema „Raucherzimmer“. An Ihrem Beispiel wird deutlich, dass Sie es nicht verstanden haben. Es geht darum, dass die Pflegerinnen und Pfleger möglicherweise für längere Zeit in diese Raucherzimmer hinein müssen, weil der Pflegebedürftige nicht ohne Aufsicht dort bleiben kann.

(Regina Kopp-Herr [SPD]: Ja, genau!)

Das widerspricht dem Nichtraucherschutz. Es ist auch ein Widerspruch zum Nichtraucherschutzgesetz, Herr Minister Laumann.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Quatsch!)

Überlassen Sie doch den Pflegeheimen – im Sinne der Entfesselung – die Verantwortung, wie sie dafür sorgen, dass alte Menschen rauchen können, etwa auf der Terrasse oder dem Balkon, ohne andere zu belästigen. Machen Sie doch nicht so einen Popanz daraus. Die Raucherzimmer werden zu Mehrkosten und zu mehr Bürokratie führen und zum Gegenteil dessen, was Sie vorgeben, regeln zu wollen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Bezüglich der anderen Punkte will ich mich im Wesentlichen dem anschließen, was Kollegin Altenkamp vorgetragen hat. Es ist falsch, wie Sie die Regelung zur Pflegedienstleitung ausgestalten wollen. Es ist eine falsche Konstruktion. Das ist in der Sachverständigenanhörung sehr nachvollziehbar dargelegt worden. Sie wollen aber nicht darauf hören. Wir haben den Änderungsantrag eingebracht, und Sie lehnen das einfach ab.

Zur Transparenz bei den Heimkosten: Der Minister ist von unserer Fraktion gefragt worden, wie die Heimkosten in Nordrhein-Westfalen aussehen. Ich glaube, der Abteilungsleiter Herrmann hat sich mit der Vorlage, die der Minister gezeichnet hat, sehr viel Mühe gegeben. Aber der Minister hat gesagt, dass er nacharbeiten wolle, da ihm nicht klar sei, warum man in Nordrhein-Westfalen so viel teurer sei als anderswo. Da frage ich mich schon, wie die Kollegin Schneider auf die Idee kommt, alles sei transparent.

Ich jedenfalls will dafür kämpfen, dass der wesentliche Grund dafür, dass die Heime in Nordrhein-Westfalen möglicherweise teurer sind, in den dort Beschäftigten gut bezahlten Arbeitskräfte liegt, und dass das auch sehr klar gesagt wird.

(Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Das ist aber nicht alles!)

Außerdem müssen wir sehr genau wissen, warum möglicherweise der eine oder andere Kosten abrechnet, die nicht unbedingt auf die Zahlungspflichtigen abgewälzt werden können. Eines ist klar: Wir müssen jetzt – und auch keine Bundesregierung wird daran vorbeikommen können – die Frage der Gerechtigkeit von Pflege für die Zukunft regeln.

Die Frage der derzeitigen Pflegeheimkosten und der Kosten, die im Alter entstehen, muss entweder solidarisch und fair auf Bundesebene geklärt werden, oder es wird zu einer großen Ungerechtigkeit zwischen den Pflegebedürftigen kommen. Die einen können sich für 3.000 Euro, 4.000 Euro oder 5.000 Euro selbst aus der Patsche helfen, und die anderen sind Taschengeldempfänger oder müssen in ihren häuslichen Umgebungen ohne vernünftige Pflege weiterleben. Das können wir nicht wollen. Deswegen brauchen wir Transparenz und eine zukunftsfähige Finanzierung.

Herr Minister, zum Teil haben wir dem, was Sie hinsichtlich des WTG gemacht haben, zugestimmt. Aber am Ende des Tages, mit dieser FDP an Ihrer Seite, kann ich Ihnen nur sagen: Viel Vergnügen dabei, das durchzusetzen, was Sie vorgeben, durchsetzen zu wollen – eine gute Pflege in den Quartieren und vor Ort. Das wird nämlich nicht gelingen.

Mir wird auch klar, warum das eine oder andere Förderprogramm mittlerweile draufgeht. Das, was in Nordrhein-Westfalen eigentlich Konsens war – eine hohe Qualität, eine konsequent durchgesetzte Einzelzimmerquote, kleine Heime mit maximal 80 Plätzen –, kann angesichts dessen, was Frau Schneider gesagt hat, möglicherweise kein Grundkonsens mehr sein. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Mostofizadeh. – Nun spricht für die AfD-Fraktion Herr Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Parlamentarische Primetime. Wie so oft in zweiter Lesung kommen selten große Game Changer zum Tragen. Das ist auch in diesem Fall so. Von daher fasse ich mich relativ kurz.

Was haben wir auf der Habenseite zum WTG? Es sind einige – das muss man zugestehen – grobe Schnitzer der vorherigen Regierung beseitigt worden. Das ist gut. Das haben auch viele Sachverständige in der Anhörung genauso anerkennend gesagt. Das muss man zugestehen.

Was haben wir auf der Gerne-hätten-Seite? Einige grobe Schnitzer, die den Praxistest nicht bestehen, sind in diesem Gesetz verblieben. Deswegen können wir an dieser Stelle auch nicht zustimmen. Weil es aber, wie eben gesagt, einige gute Punkte gibt, werden wir uns enthalten.

Ein Gegenbeispiel ist die Fachkräftequote. Hat man den Zustand, dass es keine Pflegekräfte mehr gibt, nimmt man eben diejenigen, die noch da sind. Und es ist definitiv besser, zwei oder drei Pflegehelfer als niemanden zu haben. Der Pflegehelfer wird besser pflegen als keine Pflegekraft.

Wenn ich ein Pflegeheim mit einer vernünftigen Fachkräftequote habe und beispielsweise den Bedarf für einen Ergotherapeuten erkenne – der bei den älteren Herrschaften einige Übungen, etwa zum Erhalt der Alltagsfähigkeit, durchführt –, könnte ich damit meine Fachkräftequote unter Umständen gefährden. Dann werde ich diesen Ergotherapeuten nicht einstellen können, obwohl ältere Herrschaften davon sehr wohl profitieren könnten.

Diesbezüglich hätten wir uns gewünscht, dass man den Hinweisen der Sachverständigen gefolgt wäre. Es gibt, wie gesagt, gute Ansätze und einige Mängel. Wir werden uns enthalten. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Laumann.

Karl-Josef Laumann*), Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst einmal bin ich froh, dass wir heute zur Verabschiedung dieses Gesetzes kommen. Aus meiner Sicht geht es um folgende Punkte:

Erst einmal wollen wir mit diesem Gesetz sicherstellen, dass jeder Mensch in Nordrhein-Westfalen selbst entscheiden kann, wo er im Alter auch bei hinzukommender Pflegebedürftigkeit leben will. Deswegen ist es richtig, dass wir die Benachteiligung der stationären Pflege mit diesem Gesetz heute beenden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die Wahrheit ist auch, dass wir zunehmend dafür kritisiert werden, dass wir wieder Wartelisten bei Pflegeheimen haben. Sie haben mit der Politik, die Sie in den letzten Jahren gemacht haben, diese Wartelisten zu verantworten, um das mal ganz klar zu sagen.

(Beifall von der CDU und der FDP und Markus Wagner [AfD])

Zweitens. Wir versuchen mit diesem Gesetz auch, Bürokratie zu beseitigen. Die Einrichtungen dürfen nach meiner Meinung nicht durch Doppelprüfungen belastet werden. Die Wahrheit ist doch, dass die Heimaufsichten für die Prüfung der Strukturqualität und die Medizinischen Dienste für die Überprüfung der Pflegequalität zuständig sind. Beide haben den Auftrag, einmal im Jahr jede stationäre Pflegeeinrichtung zu begutachten, und zusätzlich gibt es anlassbezogene Begutachtungen.

Da ich dem Medizinischen Dienst, weil er in der Bundeskompetenz ist, nicht sagen kann, was er zu tun und zu lassen hat, haben wir hier die klare Entscheidung getroffen – was Landesrecht ist –, zu sagen: Heimaufsicht, kümmere dich in allererster Linie um die Strukturqualität. – Wenn Sie mal Pflegeheime besucht hätten, wüssten Sie auch, dass die Doppelprüfungen den Leuten mächtig auf den Geist gehen, wenn zwei Behörden kommen, das Gleiche prüfen und sich die gleichen Dokumente anschauen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Drittens haben wir dafür gesorgt, dass in Nordrhein-Westfalen nicht länger Menschen, die unter Umständen 20 Jahre lang ein Heim gut geleitet haben, auch noch alle möglichen fachlichen Qualifikationen, die sie in ihrem Leben erworben haben, nachweisen müssen.

Wir haben Erleichterungen für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen aufgenommen.

Jetzt will ich mal ein Wort zu den Raucherzimmern sagen. Erst einmal gibt es die Verpflichtung, ein Raucherzimmer einzurichten, nur in Pflegeeinrichtungen, die es den Menschen verbieten, in ihrem eigenen Zimmer zu rauchen. Jetzt stellen Sie sich mal vor: Es kommt ein Mensch in ein Pflegeheim, der 90 Jahre alt ist und sein ganzes Leben lang geraucht hat. Wollen Sie diesem Menschen allen Ernstes sagen, dass er, weil er seinen Wohnort von zu Hause in ein Pflegeheim verlegen muss, nur noch in einer zugigen Ecke vor der Tür rauchen darf? – Mit mir wird es das nicht geben.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD)

Im Übrigen: Wenn jemand 90 Jahre alt wird, hat er auch nicht ganz viel verkehrt gemacht. – Deswegen ist unsere Regelung zu den Raucherräumen einfach, praktisch und richtig. Ich finde, es hat auch mit der Würde und der Achtung vor der Selbstbestimmung von Menschen in dem Alter zu tun, dass wir es respektieren, so wie es ist.

Es ist doch unstreitig, dass wir in Nordrhein-Westfalen mehr Kurzzeitpflegeplätze brauchen. Deswegen ist es doch völlig in Ordnung, dass wir  Heime mit 80 Plätzen haben wollen. Aber wenn es möglich ist, auf dem Grundstück mehr Plätze zu bauen, dann haben wir dafür eine Höchstgrenze von 120 Plätzen eingezogen. Dann kann die örtliche Baugenehmigung in diesem Korridor von 80 bis 120 davon abweichen. Dann muss die Hälfte der Plätze, die über 80 gebaut werden, als solitäre Kurzzeitpflegeplätze zur Verfügung gestellt werden.

Wenn hier in diesem Haus jemand wäre, der mal versucht hat, plötzlich einen Kurzzeitpflegeplatz zu finden, dann wüsste er, wie wichtig die Maßnahme ist, um diese wichtige Frage gerade für pflegende Angehörige in unserem Land einer Lösung zuzuführen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Deswegen ist das auch eine sehr praktische Angelegenheit.

Wir haben noch ein Weiteres gemacht. Um die Qualität in der Pflege weiter zu steigern, haben wir die Position der Pflegedienstleitung, der PDL, in diesen Heimen erheblich gestärkt. Wir haben jetzt genau das in das Heimrecht für Pflegeheime geschrieben, was seit Jahr und Tag im nordrhein-westfälischen Krankenhausgesetz über die Pflegeleitungen in den Krankenhäusern steht, dass sie nämlich nicht von der Geschäftsleitung in pflegefachlichen Fragen angewiesen werden können.

Das ist für die Pflegedirektorinnen und Pflegedirektoren in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern seit Jahr und Tag Gesetzeslage. Ich finde es auch richtig, dass in Nordrhein-Westfalen eine PDL nicht von einem Geschäftsführer in pflegefachlichen Fragen angewiesen werden kann.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich finde diesen Punkt auch deswegen wichtig, weil das deutlich macht, dass wir die Profession Pflege in diesem Land ernst nehmen. Wir wollen, dass die Profession Pflege in diesem Land die Profession vertritt und dass sie selbstbestimmt für ihre Ziele in den Einrichtungen einstehen kann. Deswegen ist das eher eine Stärkung der Profession der Pflege als viele andere Maßnahmen, die ergriffen worden sind. Ich bin der Meinung, dass das Gesetz auch an diesem Punkt richtigliegt.

Dass die Opposition mit diesem Gesetz hadert, verstehe ich, weil wir die eine oder andere Gesetzgebung, die wir für falsch gehalten haben, in diesem Gesetz korrigieren. Dafür erfahren wir sehr viel Zustimmung von der Fachwelt.

Ich will es noch einmal deutlich sagen: Natürlich sind wir auch an der Transparenz der Pflegekosten interessiert, genauso wie die Fraktion der Grünen. Nur, wenn die Transparenz bereits in anderen Gesetzen klar geregelt ist, dann muss man sie nicht als Doppelregelung zusätzlich in ein Heimgesetz aufnehmen.

Ich freue mich jetzt darauf, dass dieses Gesetz endlich verabschiedet wird. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. Dann wollen wir mal sehen, ob es so kommt.

Wir kommen nämlich zur Abstimmung, und zwar erstens über den Gesetzentwurf der Landesregierung Drucksache 17/3777. Der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales empfiehlt in der Drucksache 17/5667, den Gesetzentwurf Drucksache 17/3777 unverändert anzunehmen. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf mit der Drucksachennummer 17/3777 selbst, nicht über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt dem Gesetzentwurf selbst zu? – CDU und FDP sowie die beiden fraktionslosen Abgeordneten Herr Neppe und Herr Langguth stimmen zu. Wer stimmt dagegen? –

(Zurufe: Och!)

SPD und Grüne stimmen dagegen. Wer enthält sich? – Wie angekündigt enthält sich die AfD-Fraktion. Damit ist der Gesetzentwurf Drucksache 17/3777 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen und in zweiter Lesung verabschiedet.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir stimmen zweitens über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/5709 ab. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP und AfD sowie die fraktionslosen Abgeordneten Neppe und Langguth stimmen dagegen. Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der SPD-Fraktion ist dieser Entschließungsantrag Drucksache 17/5709 mit breiter Mehrheit abgelehnt.

Wir kommen drittens zur Herstellung des Einvernehmens zu der Verordnung Vorlage 17/1196. Der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales empfiehlt in Drucksache 17/5668, das Einvernehmen zum Entwurf der Verordnung herzustellen. Wir kommen daher zur Abstimmung über den Verordnungsentwurf selbst, nicht über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt dem Verordnungsentwurf Vorlage 17/1196 zu? – CDU und FDP sowie die beiden fraktionslosen Abgeordneten Neppe und Langguth stimmen zu. Wer stimmt gegen diesen Verordnungsentwurf? – SPD und Grüne stimmen dagegen. Wer enthält sich? – AfD-Fraktion enthält sich. Damit ist das Einvernehmen zur Verordnung Vorlage 17/1196 mit Mehrheit hergestellt.

Wir genießen die Ruhe. – Ich rufe auf:

16 Gesetz zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/4781

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Arbeit, Gesundheit und Soziales
Drucksache 17/5669

zweite Lesung

Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, ihre Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.

Damit kommen wir unmittelbar zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales empfiehlt in Drucksache 17/5669, den Gesetzentwurf Drucksache 17/4781 unverändert anzunehmen. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Gesetzentwurf selbst. Wer stimmt dem zu? – CDU, SPD, FDP und AfD sowie die beiden fraktionslosen Abgeordneten Neppe und Langguth stimmen zu. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Gesetzentwurf Drucksache 17/4781 einstimmig angenommen und in zweiter Lesung verabschiedet.

Ich rufe auf:

17 Gesetz zur Änderung des Landeskrebsregistergesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/5587

erste Lesung

Herr Minister Laumann hat seine Einbringungsrede zu Protokoll gegeben.

Eine weitere Aussprache ist heute nicht vorgesehen.

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/5587 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Wer stimmt der Überweisung zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Beides ist nicht der Fall. Damit ist einstimmig so überwiesen.

Ich rufe auf:

18 Verschläft die Landesregierung die Instandhaltung des Kanalnetzes in NRW? Wann kommt endlich Akut-Hilfe für den maroden Wesel-Datteln-Kanal?

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5624

Hier ist heute keine Aussprache vorgesehen.

Wir kommen unmittelbar zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/5624 an den Verkehrsausschuss. Abschließende Beratung und Abstimmung sollen nach Vorlage der Beschlussempfehlung des Ausschusses erfolgen. Wer stimmt dem so zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Es sind keine zu sehen. Gibt es Enthaltungen? – Auch Enthaltungen gibt es nicht. Damit ist die Überweisung einstimmig beschlossen.

Wir kommen zu:

19 Erster Staatsvertrag zur Änderung des Vertrags über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Artikel 91c GG

Antrag           
auf Zustimmung des Landtags          
zum Staatsvertrag
gemäß Artikel 66 Satz 2
der Landesverfassung
Drucksache 17/5586

erste Lesung

Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt werden zu Protokoll gegeben.

Wir kommen somit unmittelbar zur Abstimmung. Die Fraktionen empfehlen die Überweisung des Antrags Drucksache 17/5586 an den Hauptausschuss – federführend – sowie den Ausschuss für Digitalisierung und Innovation. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen nach Vorlage der Beschlussempfehlung erfolgen. Wer ist dafür, dass so verfahren wird? – Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Beides ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung beschlossen.

Ich rufe auf:

20 Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung, ob die Alimentation der Kläger in den Jahren 2013 bis 2015 hinsichtlich der kinderbezogenen Gehaltsbestandteile bei Richterinnen und Richtern der Besoldungsgruppe R 2 mit drei bzw. vier Kindern mit Artikel 33 Absatz 5 GG vereinbar ist.

2 BvL 6/17
2 BvL 7/17
2 BvL 8/17

Beschlussempfehlung
des Rechtsausschusses
Drucksache 17/5670

Hier ist keine Debatte vorgesehen.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Landtag in Drucksache 17/5670, zu den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht keine Stellungnahme abzugeben. Wer stimmt dieser Empfehlung zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist diese Empfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

21 In den Ausschüssen erledigte Anträge

Übersicht 18
gem. § 82 Abs. 2 GO
Drucksache 17/5679

Die Übersicht 18 enthält zwölf Anträge, vier Entschließungsanträge sowie einen Änderungsantrag, die vom Plenum nach § 82 Abs. 2 der Geschäftsordnung an die Ausschüsse zur abschließenden Erledigung überwiesen wurden. Beratungsverläufe und Abstimmungsergebnisse sind aus der Übersicht ersichtlich.

Ich lasse über die Bestätigung der Übersicht 18 abstimmen. Wer stimmt ihr zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Beides ist nicht der Fall. Damit sind die in Drucksache 17/5679 enthaltenen Abstimmungsergebnisse der Ausschüsse einstimmig bestätigt.

Ich rufe auf:

22 Beschlüsse zu Petitionen

Übersicht 17/22

Gemäß § 97 Abs. 8 unserer Geschäftsordnung sind die Beschlüsse des Petitionsausschusses mindestens vierteljährlich dem Landtag zur Bestätigung vorzulegen. Ihnen liegen mit der Übersicht 22 die Beschlüsse vor.

Eine Aussprache ist hierzu nicht vorgesehen.

Wir stimmen also über die Bestätigung ab. Wer bestätigt? – Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Nein. Damit sind die Beschlüsse des Petitionsausschusses in der Übersicht 17/22 einstimmig bestätigt.

Damit sind wir um 21:29 Uhr am Ende unserer heutigen Sitzung.

Ich berufe das Plenum für morgen, Donnerstag, 11. April 2019, 10 Uhr, wieder ein.

Allen einen schönen Abend und eine angenehme Nacht!

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 21:29 Uhr

 

Anlage 1

Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalen zum Behördenskandal im Zusammenhang mit dem publik gewordenen langjährigen und vielfachen Kindesmissbrauch auf einem Campingplatz in Lügde („PUA Lügde“)

 


Lfd.
Nr.


Name des Abgeordneten


Fraktion

Abstimmung


ja


nein

Stimm-
ent-
haltung

1

 Frau Altenkamp

SPD

 

X

 

2

 Frau Aymaz

GRÜNE

 

X

 

3

 Herr Baran

SPD

 

X

 

4

 Herr Beckamp

AfD

X

 

 

5

 Herr Becker, Andreas

SPD

 

X

 

6

 Herr Becker, Horst

GRÜNE

 

X

 

7

 Frau Beer

GRÜNE

 

X

 

8

 Herr Bell

SPD

 

X

 

9

 Herr van den Berg

SPD

entschuldigt

10

 Herr Dr. Berger

CDU

 

X

 

11

 Herr Berghahn

SPD

 

X

 

12

 Herr Dr. Bergmann

CDU

 

X

 

13

 Herr Bialas

SPD

abwesend

14

 Herr Biesenbach

CDU

 

X

 

15

 Herr Bischoff

SPD

 

X

 

16

 Frau Blask

SPD

 

X

 

17

 Herr Dr. Blex

AfD

X

 

 

18

 Herr Blöming

CDU

 

X

 

19

 Herr Blondin

CDU

 

X

 

20

 Herr Börner

SPD

 

X

 

21

 Herr Börschel

SPD

 

X

 

22

 Herr Bolte-Richter

GRÜNE

 

X

 

23

 Herr Bombis

FDP

 

X

 

24

 Frau Bongers

SPD

 

X

 

25

 Herr Boss

CDU

 

X

 

26

 Herr Prof. Dr. Bovermann

SPD

 

X

 

27

 Herr Braun

CDU

 

X

 

28

 Frau Brems

GRÜNE

 

X

 

29

 Herr Brockes

FDP

 

X

 

30

 Herr Brockmeier

FDP

 

X

 

31

 Frau Dr. Büteführ

SPD

 

X

 

32

 Frau Butschkau

SPD

 

X

 

33

 Herr Dahm

SPD

 

X

 

34

 Herr Deppe

CDU

 

X

 

35

 Herr Déus

CDU

 

X

 

36

 Herr Deutsch

FDP

 

X

 

37

 Herr Diekhoff

FDP

 

X

 

38

 Herr Dudas

SPD

 

X

 

39

 Frau Düker

GRÜNE

 

X

 

40

 Frau Dworeck-Danielowski

AfD

X

 

 

41

 Herr Engstfeld

GRÜNE

 

X

 

42

 Frau Erwin

CDU

 

X

 

43

 Herr Fortmeier

SPD

 

X

 

44

 Herr Franken

CDU

 

X

 

45

 Frau Freimuth

FDP

 

X

 

46

 Herr Freynick

FDP

 

X

 

47

 Herr Frieling

CDU

 

X

 

48

 Frau Fuchs-Dreisbach

CDU

 

X

 

49

 Herr Ganzke

SPD

 

X

 

50

 Frau Gebauer, Katharina

CDU

 

X

 

51

 Frau Gebauer, Yvonne

FDP

 

X

 

52

 Frau Gebhard

SPD

 

X

 

53

 Herr Dr. Geerlings

CDU

 

X

 

54

 Herr Göddertz

SPD

 

X

 

55

 Frau Gödecke

SPD

 

X

 

56

 Herr Goeken

CDU

 

X

 

57

 Herr Golland

CDU

 

X

 

58

 Herr Hafke

FDP

 

X

 

59

 Herr Hagemeier

CDU

 

X

 

60

 Frau Hammelrath

SPD

abwesend

 

 

61

 Frau Hannen

FDP

 

X

 

62

 Herr Haupt

FDP

 

X

 

63

 Herr Herter

SPD

 

X

 

64

 Herr Höne

FDP

 

X

 

65

 Herr Hoppe-Biermeyer

CDU

 

X

 

66

 Herr Hovenjürgen

CDU

 

X

 

67

 Herr Hübner

SPD

 

X

 

68

 Herr Jäger

SPD

 

X

 

69

 Herr Jahl

SPD

 

X

 

70

 Herr Jörg

SPD

 

X

 

71

 Herr Kämmerling

SPD

 

X

 

72

 Herr Kaiser

CDU

 

X

 

73

 Herr Kamieth

CDU

 

X

 

74

 Frau Kampmann

SPD

abwesend

 

 

75

 Frau Kapteinat

SPD

 

X

 

76

 Herr Dr. Katzidis

CDU

X

 

 

77

 Herr Kehrl

CDU

 

X

 

78

 Herr Keith

AfD

entschuldigt

 

 

79

 Herr Kerkhoff

CDU

 

X

 

80

 Herr Keymis

GRÜNE

X

 

 

81

 Herr Klenner

CDU

 

X

 

82

 Herr Klocke

GRÜNE

 

X

 

83

 Herr Körfges

SPD

 

X

 

84

 Herr Körner

FDP

 

X

 

85

 Frau Kopp-Herr

SPD

 

X

 

86

 Frau Korte

CDU

 

X

 

87

 Herr Korth

CDU

 

X

 

88

 Herr Kossiski

SPD

 

X

 

89

 Frau Kraft

SPD

entschuldigt

 

 

90

 Herr Kramer

SPD

 

X

 

91

 Herr Krauß

CDU

 

X

 

92

 Herr Krückel

CDU

X

 

 

93

 Herr Kuper

CDU

 

X

 

94

 Herr Kutschaty

SPD

 

X

 

95

 Herr Langguth

fraktionslos

 

X

 

96

 Herr Laschet

CDU

 

X

 

97

 Herr Lehne

CDU

 

X

 

98

 Herr Lenzen

FDP

 

X

 

99

 Herr Lienenkämper

CDU

 

X

 

100

 Herr Löcker

SPD

 

X

 

101

 Herr Löttgen

CDU

 

x

 

102

 Herr Loose

AfD

X

 

 

103

 Frau Lück

SPD

 

X

 

104

 Frau Lüders

SPD

entschuldigt

 

 

105

 Herr Lürbke

FDP

 

X

 

106

 Frau Lux

SPD

abwesend

 

 

107

 Herr Dr. Maelzer

SPD

X

 

 

108

 Herr Mangen

FDP

 

X

 

109

 Herr Matheisen

FDP

X

 

 

110

 Herr Middeldorf

FDP

 

X

 

111

 Herr Moritz

CDU

 

X

 

112

 Herr Mostofizadeh

GRÜNE

 

X

 

113

 Herr Müller, Frank

SPD

 

X

 

114

 Herr Müller, Holger

CDU

entschuldigt

 

 

115

 Frau Müller-Rech

FDP

 

X

 

116

 Frau Müller-Witt

SPD

 

X

 

117

 Herr Dr. Nacke

CDU

X

 

 

118

 Herr Neppe

fraktionslos

 

 

X

119

 Herr Nettekoven

CDU

 

X

 

120

 Herr Neumann

SPD

 

X

 

121

 Herr Dr. Nolten

CDU

 

X

 

122

 Herr Nückel

FDP

 

X

 

123

 Frau Oellers

CDU

 

X

 

124

 Herr Dr. Optendrenk

CDU

 

X

 

125

 Herr Ott

SPD

 

X

 

126

 Herr Panske

CDU

 

X

 

127

 Frau Paul, Josefine

GRÜNE

 

X

 

128

 Herr Paul, Stephen

FDP

 

X

 

129

 Frau Dr. Peill

CDU

 

X

 

130

 Herr Petelkau

CDU

 

X

 

131

 Herr Dr. Pfeil

FDP

 

X

 

132

 Frau Philipp

SPD

 

X

 

133

 Frau Plonsker

CDU

 

X

 

134

 Herr Pretzell

fraktionslos

abwesend

 

 

135

 Herr Preuß

CDU

 

X

 

136

 Frau Quik

CDU

 

X

 

137

 Herr Rasche

FDP

 

X

 

138

 Herr Rehbaum

CDU

X

 

 

139

 Herr Remmel

GRÜNE

 

X

 

140

 Herr Reuter

FDP

 

X

 

141

 Herr Ritter

CDU

 

X

 

142

 Herr Rock

CDU

 

X

 

143

 Herr Röckemann

AfD

X

 

 

144

 Herr Römer

SPD

 

X

 

145

 Herr Prof. Dr. Rudolph

SPD

 

X

 

146

 Herr Rüße

GRÜNE

 

X

 

147

 Frau dos Santos Herrmann

SPD

 

X

 

148

 Frau Schäffer

GRÜNE

 

X

 

149

 Herr Schick

CDU

 

X

 

150

 Frau Schlottmann

CDU

 

X

 

151

 Herr Schmeltzer

SPD

 

X

 

152

 Herr Schmitz

CDU

 

X

 

153

 Herr Schneider, René

SPD

 

X

 

154

 Frau Schneider, Susanne

FDP

 

X

 

155

 Herr Schnelle

CDU

 

X

 

156

 Herr Scholz

CDU

 

X

 

157

 Herr Schrumpf

CDU

 

X

 

158

 Herr Schultheis

SPD

 

X

 

159

 Frau Schulze Föcking

CDU

 

X

 

160

 Herr Seifen

AfD

X

 

 

161

 Herr Sieveke

CDU

 

X

 

162

 Frau Spanier-Oppermann

SPD

 

X

 

163

 Herr Dr. Stamp

FDP

 

X

 

164

 Herr Stinka

SPD

 

X

 

165

 Frau Stock

SPD

 

X

 

166

 Frau Stotz

SPD

 

X

 

167

 Herr Sträßer

CDU

 

X

 

168

 Herr Strotebeck

AfD

X

 

 

169

 Frau Stullich

CDU

 

X

 

170

 Herr Sundermann

SPD

 

X

 

171

 Herr Terhaag

FDP

 

X

 

172

 Herr Tigges

CDU

 

X

 

173

 Herr Tritschler

AfD

X

 

 

174

 Frau Troles

CDU

 

X

 

175

 Herr Dr. Untrieser

CDU

 

X

 

176

 Herr Dr. Vincentz

AfD

X

 

 

177

 Herr Voge, Marco

CDU

 

X

 

178

 Herr Vogel, Nic Peter

AfD

X

 

 

179

 Herr Vogt, Alexander

SPD

 

X

 

180

 Frau Vogt, Petra

CDU

 

X

 

181

 Frau Voigt-Küppers

SPD

 

X

 

182

 Frau Voßeler-Deppe

CDU

 

X

 

183

 Herr Voussem

CDU

 

X

 

184

 Herr Wagner

AfD

X

 

 

185

 Frau Walger-Demolsky

AfD

X

 

 

186

 Frau Watermann-Krass

SPD

 

X

 

187

 Herr Watermeier

SPD

 

X

 

188

 Herr Weiß

SPD

 

X

 

189

 Frau Wendland

CDU

 

X

 

190

 Frau Weng

SPD

 

X

 

191

 Frau Wermer

CDU

 

X

 

192

 Herr Weske

SPD

 

X

 

193

 Frau Winkelmann

CDU

 

X

 

194

 Herr Witzel

FDP

 

X

 

195

 Herr Wolf

SPD

 

X

 

196

 Herr Wüst

CDU

 

X

 

197

 Herr Yetim

SPD

 

X

 

198

 Herr Yüksel

SPD

 

X

 

199

 Herr Zimkeit

SPD

 

X

 

 

Ergebnis

 

12

176

1

 

 

Anlage 2

Zu TOP 12 – „Verbraucherschutz für Geflüchtete stärken und weiter ausbauen – zu Protokoll gegebene Reden

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz:

Sich im Verbraucheralltag in Deutschland zurechtzufinden, stellt für geflüchtete Menschen eine große Herausforderung dar. Denn in vielen Herkunftsländern unterscheiden sich die Konsumgewohnheiten, aber auch die Markt- und Handelsgepflogenheiten von denen in Nordrhein-Westfalen deutlich:

–   Geflüchtete Menschen bringen die Erfahrung aus den Heimatländern mit, dass ein Vertrag beendet werden kann, wenn die Zahlung eingestellt wird. Dies führt oft zu Problemen bei Mobilfunk-Verträgen, da die Bedeutung der Unterschrift für den Vertragsabschluss, Laufzeiten sowie Kündigungsfristen nicht bekannt sind.

–   Eine finanzielle Bildung, die zur Nutzung von Finanzprodukten in Deutschland befähigt, kann nicht vorausgesetzt werden. So sind bargeldlose Zahlmethoden für viele neuzugewanderte Menschen absolut neu, was teilweise Inkassoforderungen nach sich zieht, wenn die Geldkarte für Zahlungen eingesetzt wird und diese nicht gedeckt ist.

–   So fallen zum Beispiel im Irak oder in Syrien für Energie nur sehr geringe Kosten an, was zu einem sorglosen Umgang mit Energie führt. Geflüchtete Menschen aus diesen Ländern werden von unseren hohen Energiekosten und damit hohen Nachzahlungen bei der Jahresabrechnung überrascht.

Um diesen Herausforderungen gewachsen zu sein und den Einstieg in unseren Alltag meistern zu können, benötigen die geflüchteten Menschen adäquate Information und Beratung. Dies stellt der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion zutreffend fest.

Erstens. Verbraucherschutz für Zugewanderte wird im Rahmen der geplanten NRW-Integrationsstrategie 2030 Berücksichtigung finden. Die Strategie wird dabei nicht nur die Zielgruppe der Geflüchteten und Neuzugewanderten in den Blick nehmen und somit den Bereich der Erstintegration adressieren (Zieldimension I), sondern auch die Weiterentwicklungsbedarfe der bestehenden Regelsysteme und Angebote sowie Mitwirkungsmöglichkeiten für Menschen mit längerer Einwanderungsgeschichte fokussieren.

Die Verbraucherzentrale NRW ist mit ihrem Beratungsstellennetz in 61 Kommunen zudem strukturell gut aufgestellt, um die Handlungsansätze der Integrationsstrategie auch künftig aufzunehmen.

Zweitens. Das Projekt „Get in! Integration von Geflüchteten in den Konsumalltag“ der Verbraucherzentrale NRW e. V. leistet einen wichtigen Beitrag zur Integration Neuzugewanderter in den Kommunen in Nordrhein-Westfalen.

In ca. 1.360 Veranstaltungen konnten rund 18.000 Menschen seit dem Projektstart in 2017 erreicht werden. In 2019 wurden in den ersten beiden Monaten bereits 154 Veranstaltungen mit rund 1.500 Geflüchteten durchgeführt. Knapp 500 weitere Termine sind in diesem Jahr bereits gebucht.

Dies und die durchweg positive Resonanz der 278 Kooperationspartner in Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Institutionen der Flüchtlingshilfe, Schulen und Berufskolleg zeigt, wie wichtig die Beratung vor Ort von Geflüchteten durch die Verbraucherzentrale NRW ist.

Unterstützt wird dieses Angebot durch mehrsprachige Informationen für Flüchtlingshelfende sowie Unterrichtsmaterialien und Musterbriefe, die auf der Webseite der Verbraucherzentrale kostenlos zum Download zur Verfügung stehen und so vor Ort in den Kommunen genutzt werden können.

Vorbehaltlich verfügbarer Haushaltsmittel strebe ich daher eine Fortführung des Projektes über 2019 hinaus an und bin bereits mit der Verbraucherzentrale NRW zur Klärung der Rahmenbedingungen im Gespräch.

Drittens. Die Integrationskursverordnung des Bundes sieht die Vermittlung von Alltagswissen als ein Ziel des Integrationskurses bereits vor. Die Vermittlung von Alltagswissen und Alltagskompetenzen als Lernziel findet sich daher in den Curricula sowohl des Orientierungs- als auch des Sprachkurses im Rahmen des Integrationskurses bereits wieder.

Auch in den durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geförderten Erstorientierungskursen („Erstorientierung und Deutsch lernen für Asylbewerber“) werden in einigen Landesaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge Asylsuchenden mit unklarer Bleibeperspektive Alltagskompetenzen vermittelt. Die Landesregierung beabsichtigt, das Kursangebot auf weitere Zentrale Unterbringungseinrichtungen auszuweiten.

Viertens. Die Landesregierung nutzt bereits die vorhandenen Strukturen der Kommunalen Integrationszentren, um unter anderem über das Programm „KOMM-AN Nordrhein-Westfalen“ Fortbildungsangebote für Ehrenamtliche zu ermöglichen, die auch Neuzugewanderte erreichen, die nicht in den Integrationskursen sind oder keinen Zugang zu diesen haben.

Das Projekt „Get in! Integration in den Konsumalltag“ der Verbraucherzentrale NRW e.V. bietet ergänzend Multiplikatorenschulungen für haupt- und ehrenamtliche Flüchtlingshelfende sowie Lehrkräfte im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ an.

Ich denke, damit sind wir auf dem richtigen Weg, um neu zugewanderte Menschen aktiv bei der Entwicklung von ihrer Verbraucherkompetenzen und Durchsetzung ihrer Verbraucherrechte zu unterstützen. Es bedarf daher nicht des im Antrag der SPD Fraktion geforderten Beschlusses durch den Landtag.

Heike Wermer (CDU):

Sprache, Bildung, Arbeit, Werte – das sind die vier Säulen einer gelingenden Integration in unsere Gesellschaft. Auf diese vier Säulen baut die NRW-Koalition für eine erfolgreiche Integrationspolitik auf, und diese wollen wir kontinuierlich erfolgreich weiterentwickeln. Dazu habe ich mich in der Vergangenheit schon ausgiebig geäußert.

Neben der Diskussion, welche Werte wir ausleben/ausleben wollen, gehört dazu auch ganz klar die Vermittlung unserer Rechtsordnung: nicht nur der Einblick, wie wir zusammenleben, sondern nach welchen Regeln wir zusammenleben – Regeln, ohne die ein Gemeinwesen nicht existieren kann.

Unter diesem Dach ist auch der Verbraucherschutz ein wichtiger Teil der Orientierung. Der Verbraucherschutz, vertreten unter anderem durch die Verbraucherschutzzentrale, ermöglicht die Aufklärung über den Verbraucheralltag, Konsum und damit verbunden auch die Warnung vor möglichen Fehlnutzungen, Gefahren und Betrugsmaschen – und zwar für jeden. Nicht jedem Menschen sind die möglichen Auswirkungen, Folgen und Gefahren im Verbraucherbereich klar.

Eine Zielgruppe sind dabei Flüchtlinge und Migranten, die eine Anleitung zur Orientierung benötigen. Diese Orientierung in Deutschland soll zunächst durch erfolgreichere Sprach- und Integrationskurse gewährleistet werden. Um die Erfolgsquote der Kurse zu forcieren, ist die Umstrukturierung dieser Kurse ein Anliegen der NRW-Koalition. Hieran arbeiten wir derzeit, wie alle Anwesenden wissen.

Damit alle Integrationsleistungen in Nordrhein-Westfalen verstärkt und optimiert werden können, wird derzeit die Integrationsstrategie 2030 erarbeitet. Diese zielt darauf ab, eine aktivierende und vor allem gelingende Integration zu gewährleisten. Sie setzt einen Anfang der Integrationsleistungen und ein Ziel voraus. Sie bündelt alle erfolgreichen Maßnahmen, Projekte und Förderprogramme und weist somit einen zielführenden Weg in unsere Gesellschaft.

Eine solche Integrationsstrategie beschäftigt sich mit allen Facetten des gesellschaftlichen Lebens und unseres Rechtssystems. Hier wird auch der Verbraucherschutz eine entsprechende Berücksichtigung bei der Arbeit des Integrationsbeirates finden.

Es liegt auf der Hand, dass Migranten und Flüchtlinge nicht ohne Weiteres wissen, wie man sich in Deutschland zurechtfindet. Bei wem schließe ich einen Stromvertrag? Was muss ich beim Abschluss eines Leasing- oder Handyvertrags beachten?

Migranten und Flüchtlinge können ein leichtes Opfer von Vertragsfallen oder Betrügereien werden. Das liegt zum einen an fehlenden Deutschkenntnissen und zum anderen an unübersichtlichen Angeboten und Vertragswerken.

Deshalb beschäftigt sich die Verbraucherzentrale in NRW mit Flüchtlingen und ihren Schutz als Verbraucher. Sie leistet hier hervorragende Arbeit. Durch Einführungs- und Informationsangebote schafft die Verbraucherzentrale Einblick in den Konsumalltag. Sie stellt Vorlagen bereit und bietet eine Assistenz über YouTube-Tutorials in deutscher oder englischer Sprache sowie auf Arabisch und Farsi.

Ein erfolgreiches Projekt in diesem Reigen ist unter anderem „Get in! Integration von geflüchteten Menschen in den Konsumalltag“ als Beratungsangebot der Verbraucherzentrale NRW. Das Projekt wird durch das Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz gefördert und richtet sich an Flüchtlinge und an Multiplikatoren – Ehrenamtliche, Hauptamtliche oder auch DaZ-Lehrkräfte.

Die NRW-Koalition unterstützt die Verbraucherzentralen mit ihren vielfältigen Angeboten. Zuletzt haben wir seit Übernahme der Regierungsverantwortung die Mittel für die Verbraucherzentralen weiter erhöht. Aufgestockt wurde bisher die Gesamtförderung der Verbraucherzentrale: In 2018 wurde die Verbraucherschutzförderung von 14,28 Millionen Euro auf 14,96 Millionen Euro erhöht und in 2019 von 14,96 Millionen Euro auf 15,48 Millionen Euro.

Diese Mittel dienen somit auch dem Verbraucherschutz für Flüchtlinge. Die Verbraucherzentrale ist ein verlässlicher Partner des Landes und unterstützt in den Kommunen die Integrationsbemühungen unter anderem in Sachen Verbraucherschutz. Dies soll auch in Zukunft gewährleistet werden.

Die Integrationsstrategie wird sich mit allen Facetten der Gesellschaft, der Gesetze und der gemeinschaftlichen Werteorientierung beschäftigen. Sie wird Maßnahmen aufzeigen, erfolgreiche Projekte fortsetzen und zuvor evaluieren. Kurzum: durch die Strategie soll ein Einfinden in unsere Gesellschaft ermöglicht, unser Rechtssystem – hierzu zählt auch der Verbraucherschutz – verdeutlicht und die gelingende Integration gewährleistet werden. Daher lehnen wir den vorliegenden Antrag der Fraktion der SPD ab und verweisen auf unsere Ansätze.

Ibrahim Yetim (SPD):

Geflüchtete, die nach Nordrhein-Westfalen kommen, stehen vor vielfältigen Herausforderungen. Für eine erfolgreiche Integration sind der Spracherwerb sowie der Zugang zum Arbeitsmarkt von großer Bedeutung. Darüber hinaus ist die Organisation des Alltags notwendig. Die Eröffnung eines Bankkontos, die Anmietung einer Wohnung, das Abschließen eines Handyvertrages oder einer Versicherungen erfordert Alltagswissen, welches sich oft von den bisherigen Alltagserfahrungen unterscheidet.

Ohne die Kenntnis eigener Rechte und üblicher Verfahrensweisen lauern für neuankommende Menschen viele Fallstricke. Dies führt oft zu unangemessenen Handyverträgen oder hohen Zahlungsverpflichtungen. Geflüchtete müssen daher in ihrer Rolle als Verbraucherinnen und Verbraucher gestärkt werden. Im Integrationsplan 2016 wurde dies als Zielsetzung verabschiedet.

Ausgehend davon bietet die Verbraucherzentrale NRW verschiedene Angebote für diese Zielgruppe an. Mit Informationsmaterialien und Unterrichtseinheiten für Geflüchtete im Rahmen des Projekts „Get in!“ wird die Integration in den Konsumalltag gefördert. Zudem werden Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ausgebildet.

Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund werden in Nordrhein-Westfalen beim Verbraucherschutz seit dem Teilhabe- und Integrationsgesetz sowie nach dem Integrationsplan berücksichtigt.

Aus Sicht der SPD-Landtagsfraktion muss die Landesregierung den Verbraucherschutz für diese Zielgruppe stärken und als verbindliches Ziel aufnehmen. Die Vermittlung von Alltagskompetenzen ist aus unserer Sicht für das Ankommen von großer Bedeutung.

Wir schlagen deshalb vor, dass dies als verbindliches Lernziel in den Sprach- und Integrationskurse aufgenommen wird. Nur so ist gewährleistet, dass jeder Geflüchtete die Möglichkeit hat, den Umgang mit Verträgen, Versicherungen, Strom- und Heizkosten frühzeitig zu erlernen.

Das Projekt der Verbraucherzentrale, welches Ende dieses Jahres ausläuft, sollte daher unbedingt weiter gefördert und ausgebaut werden. Um langfristig noch mehr Menschen zu erreichen, können die vorhandenen Strukturen der Kommunalen Integrationszentren genutzt werden, um Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auszubilden.

Damit die Integration in den Alltag gelingt, ist die Stärkung des Verbraucherschutzes von großer Bedeutung. Die hier ankommenden Menschen müssen frühzeitig Unterstützungs- und Beratungsangebote bekommen, die es ihnen ermöglichen eigene Entscheidungen im Konsumalltag zu treffen.

Stephan Haupt (FDP):

Für die Fraktion der Freien Demokraten ist es selbstverständlich, dass Integration notwendig für gesellschaftliche Teilhabe ist. Daher sind Kurse und Informationen, die speziell auf Geflüchtete zugeschnitten sind, für die Zeit des Ankommens und der Orientierung sinnvoll, da somit zielgenaue Förderungen möglich sind.

Gleichzeitig erachten wir es als nicht sachgerecht, dass die SPD prinzipiell zwischen Geflüchteten und dem „normalen“ Verbraucher unterscheiden will. Natürlich kommen diese Menschen zum Teil in eine ihnen völlig unbekannte Umgebung, in der wir ihnen auch gerne dabei helfen möchten, sich als aufklärte Verbraucher zurechtfinden zu können.

Echte Integration bedeutet für uns daher, dass Geflüchtete nicht vom normalen Verbraucher abgegrenzt werden und sich aufgeklärt am Geschäftsleben beteiligen können. Für die Freien Demokraten ist es daher selbstverständlich, dass die Förderung und Vermittlung von Alltagskenntnissen auch für Geflüchtete weiterhin angeboten werden sollte und jedem Verbraucher der Zugang zu Informationsangeboten möglich sein muss.

Dazu existieren bereits vielfältige Angebote wie seitens des Bundes, mit zum Beispiel dem Projekt „Verbraucherinformationen für Flüchtlinge“ wo per Video und in leichter Sprache Alltagsprobleme erläutert und erklärt werden. Ganz frisch ist die Aufklärungskampagne der AWO zur „Stärkung der Verbraucherschutzkompetenzen von Geflüchteten“.

Hinzu kommt die erfolgreiche Arbeit der Verbraucherschutzzentrale NRW. Meines Kenntnisstandes nach ist auch nicht geplant, diese umfänglichen Aktivitäten einzustellen. Der Antrag der SPD thematisiert daher etwas, wozu es überhaupt keinen Anlass gibt. Das erfolgreiche Projekt „Get In“ wird mit den beteiligten Akteuren evaluiert, um auch weiterhin ein bestmögliches Angebot anbieten zu können.

Die NRW-Koalition steht für eine Neujustierung hin zu einer verbindlichen Einwanderungs- und Integrationspolitik und berücksichtigt dabei natürlich auch den Verbraucherschutz in hohem Maße.

Wir stimmen der Überweisung zu.

Berivan Aymaz (GRÜNE):

Die Kompetenz, Alltagssituationen richtig einzuschätzen, sowie Pflichten und Rechte einordnen zu können, stellt einen zentralen Integrationsfaktor für Neuzugewanderte dar. Im Integrations- und Teilhabegesetz verschreibt sich die Landesregierung nach § 9 Abs. 4 dazu, die Verbraucherrechte von Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Rolle als Verbraucherinnen und Verbraucher im Marktgeschehen zu stärken. Um dieses Ziel effektiv umzusetzen, sind jedoch weitere Anstrengungen und ganzheitliche Konzepte nötig, um alle Zugewanderten zu erreichen.

Zwar ist in dem Rahmencurriculum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an mehreren Stellen aufgeführt, dass die Alltagsorientierung bzw. die Vermittlung von Alltagswissen eine Komponente der Sprachkurse darstellt. Allerdings liegt das vornehmliche Ziel der Kurse im Bestehen des Integrationstests und im Erreichen des Sprachniveaus, sodass wenig Zeit bleibt, sich dezidiert und umfassend mit lebensnahen Situationen zu befassen. Hier muss das BAMF dringend nachjustieren.

Unter der rot-grünen Landesregierung wurde zusätzlich zu den BAMF-Kursen bereits 2016 mit dem Projekt „Get in!“ der Verbraucherzentrale einen Anfang gemacht, um Geflüchteten Alltagswissen zu vermitteln, das sie etwa für die Wohnungssuche oder das Abschließen eines Handyvertrags brauchen.

In Zusammenarbeit mit verschiedenen kommunalen Einrichtungen gelingt der Kontakt zu der Zielgruppe, die sich bisher nur auf Geflüchtete beschränkt. Im Laufe der Jahre hat sich das Projekt erfolgreich weiterentwickelt und konnte seine Kooperationspartner von ursprünglich 80 im Jahr 2018 auf 278 ausbauen.

Die niedrigschwelligen Angebote erreichen über die Zusammenarbeit mit verschiedensten Multiplikatoren eine Vielzahl von Ratsuchenden, die jedoch nicht alle notwendigerweise Geflüchtete sind. Wichtig ist daher, Informations- und Beratungsangebote zu schaffen, die allen Zugewanderten offenstehen, egal welchen Aufenthaltsstatus sie haben oder aus welchem Land sie zu uns kommen.

Wir freuen uns auf die weiteren Beratungen zu diesem Antrag im Ausschuss und stimmen der Überweisung zu.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD):

Natürlich ist Verbraucherschutz auch für Flüchtlinge wichtig, und dies vor allem schon auf der anderen Seite des Mittelmeeres. Dort gelangen diese Menschen erstmals in Kontakt mit Neppern, Schleppern und Bauernfängern – mit Kriminellen, um genau zu sein –, die nachweislich und willentlich gegen Bezahlung das Leben der Flüchtlinge aufs Spiel setzen.

Ein Platz auf einem seeuntüchtigen Schlauchboot, ohne ausreichend Proviant und Treibstoff für eine komplette Überfahrt, kostet einige Tausend Dollar. Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein NGO-Schiff, das dann rein zufällig in der Nähe ist. War diese Hoffnung schon Teil des schlechten Deals? Und was, frage ich Sie, ist im Vergleich dazu ein ungünstiger Handyvertrag?

Kommen wir zur Situation in Deutschland.

Die Eröffnung eines Bankkontos, die Anmietung einer Wohnung, das Abschließen eines Handyvertrages oder einer Versicherung – ja, all das kann Probleme bereiten. Das gilt natürlich nicht nur für Flüchtlinge, das gilt auch für Menschen, die schon länger hier leben. Je geringer der Bildungsstand, umso größer ist die Gefahr, übers Ohr gehauen zu werden oder in Kostenfallen zu tappen.

Gemäß Teilhabe- und Integrationsgesetz sollen Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer Rolle als Verbraucherinnen und Verbraucher im Marktgeschehen gestärkt und die interkulturelle Öffnung der Verbraucherberatung und Verbraucherbildung vorangebracht werden. Mehrsprachige schriftliche Informationen sind daher sicher längst vorhanden, können also nicht das Problem sein.

Im Internet bietet auch die Verbraucherzentrale NRW bereits Informationen in mehreren Sprachen an: Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi. Die Frage, die ich mir hier stelle, lautet: Warum gibt es kein Angebot auf Chinesisch, Italienisch oder Polnisch?

Klappt das in diesen Fällen ohne Unterstützung? Wobei – das Teilhabe- und Integrationsgesetz richtet sich doch eigentlich an alle Menschen mit Migrationshintergrund, eventuell in Form von Eigeninitiative bzw. einer Hilfe innerhalb der Community. Reichen die Regelangebote für Jedermann hier aus?

Ich plädiere für einen Ausbau auf mehr Sprachen. Das kostet nicht viel und fördert zudem die Eigeninitiative. Und darum muss es gehen; denn in der freien Entscheidung und damit auch möglichst weitgehenden Selbstverantwortung liegt doch ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaftsordnung.

Sie beklagen in Ihrem Antrag, dass die Förderung des Projekts der Verbraucherzentrale „Get In!“ bis Ende 2019 befristet ist. Was leistet dieses Projekt? Unter anderem werden Workshops angeboten in denen es um das richtige Heizen oder auch um das Stromsparen geht. Wir reden hier doch offensichtlich von Kostenfallen, in die viele Bürger tappen. Vermieter, Sozialämter und Versorger kennen diese Probleme, insbesondere bei bildungsfernen Schichten, schon lange. Wo aber sind die Kursangebote für diese Gruppe?

Auf der Seite des „Get In!“ Projekts heißt es unter anderem „Viele geflüchtete Menschen werden in Deutschland zum ersten Mal mit Verträgen in schriftlicher Form konfrontiert. In vielen Herkunftsländern werden Verträge mündlich verhandelt und mit Handschlag besiegelt.“ Das mag in manchen Fällen tatsächlich so sein, wenn es mir auch als wenig glaubwürdig erscheint; denn Mobilfunkverträge werden inzwischen sicher überall auf der Welt schriftlich abgeschlossen. Aber auch beim Vertrag per Handschlag muss man sich über die Einzelheiten, die Konsequenzen und über die Modalitäten einigen und sich darüber auch im Klaren sein. Das alles bringt Unsicherheiten mit sich. Wir müssen uns in erster Linie für die Sprachdefizite interessieren.

Grundlagen des Verbraucherschutzes als ein Thema in die Integrationskurse einzubinden, ist sicher möglich; dem würde ich mich nicht entgegenstellen. Einen Anfang könnten schon kleine Angebote in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen machen, aber dafür braucht es diesen Antrag nicht. Dieser scheint eher auf den Erhalt und den Ausbau von besonderen Arbeitsplätzen im Sozialbereich abzuzielen.


 

Anlage 3

Zu TOP 16 – „Gesetz zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes Nordrhein-Westfalen – zu Protokoll gegebene Reden

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales:

Die Europäische Union hat 2016 eine Richtlinie (EU 2016/2102) über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen verabschiedet, die Ende 2016 in Kraft getreten ist. Ziel der Richtlinie ist es, in einer zunehmend digitalen Gesellschaft digitale Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung besser zugänglich zu machen.

Die Richtlinie setzt neue internationale technische Standards und schafft Instrumente zur Durchsetzung der Anforderungen an die Barrierefreiheit von Webseiten und sog. mobilen Anwendungen („Apps“) öffentlicher Stellen. Hintergrund ist, dass es in vielen Ländern zwar Vorgaben zur Barrierefreiheit gibt, diese aber in der Praxis nicht angewandt und umgesetzt werden.

Auch in Nordrhein-Westfalen sind im Behinderten-gleichstellungsgesetz (BGG) und der entsprechenden Verordnung – der BITV – Vorgaben zur Barrierefreiheit von Webseiten gemacht worden. Aufgrund der neuen Regelungen der EU-Richtlinie muss das Behindertengleichstellungsgesetz auf Bundes- und auf Landesebene angepasst werden.

Der Bund hat Anfang 2018 ein Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie vorgelegt, das sich allerdings auf die dessen Ebene beschränkt. Daher sind die Länder und somit auch wir hier in Nordrhein-Westfalen ebenfalls in der Pflicht, unser BGG NRW für die Landesebene und die Kommunen anzupassen.

Auch wenn unser BGG NRW bereits Regelungen zur barrierefreien Informationstechnik enthält, sind die Ihnen nun vorliegenden Anpassungen im Gesetz nötig. Bei unseren Vorschlägen zur Änderung des BGG NRW haben wir uns, dem Koalitionsvertrag entsprechend, eng an den Vorgaben der EU-Richtlinie orientiert und diese eins zu eins umgesetzt, ohne darüber hinausgehende Regelungen zu treffen.

Nach Inkrafttreten des Gesetzes wird kurzfristig noch die Verordnung zur Barrierefreien Informationstechnik (BITV) angepasst. Hier werden dann Detailregelungen zu den technischen Standards, zum Überwachungs- und Berichtsverfahren gegenüber dem Bund und der EU getroffen.

Mit der Änderung des Gesetzes und der Verordnung hat Nordrhein-Westfalen die Verpflichtungen aus der Richtlinie rechtlich umgesetzt, die dann ab September dieses Jahres von den Betreibern der Webseiten zu beachten sind.

Peter Preuß (CDU):

Ziel der in Rede stehenden EU-Richtlinie aus dem Jahr 2016 ist es, digitale Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung besser zugänglich zu machen und die Richtlinie in Landesrecht umzusetzen. Letzteres soll nun mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geschehen.

Die uneingeschränkte Nutzung der elektronischen Medien gehört heute zum Lebensalltag. Sie muss daher jedem Menschen möglich sein, genauso wie die Barrierefreiheit in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens selbstverständlich sein sollte. Besonders für Menschen mit Behinderung kann das Internet die Lebensbedingungen vereinfachen.

Der vorliegende Gesetzentwurf schafft daher die Rahmenbedingungen für Barrierefreiheit von Websites und Apps. Wir stimmen wir dem vorliegenden Gesetzentwurf selbstverständlich zu.

Josef Neumann (SPD):

Die EU hat im Jahr 2016 die Richtlinie (EU) 2016/2102 verabschiedet, die am 23. Dezember 2016 in Kraft getreten ist. Zweck der Richtlinie ist es, digitale Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung besser zugänglich zu machen.

Zu diesem Zweck müssen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die einen barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Applikationen öffentlicher Stellen regeln, angeglichen werden.

Durch die Richtlinie (EU) 2016/2102 werden neue internationale technische Standards sowie neue Instrumente zur Durchsetzung der Anforderungen in Bezug auf die Barrierefreiheit von Webseiten und sogenannten mobilen Anwendungen („Apps“) öffentlicher Stellen festgelegt.

Da der Entwurf des Bundes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/2102 ausschließlich Regelungen für öffentliche Stellen des Bundes festsetzt, stehen die Länder nun in der Pflicht, die Umsetzung im Land selbstständig zu regeln.

Konkret ist die Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen (BGG NRW) notwendig, um die neuen Instrumente und Reglementierungen gesetzlich zu verankern.

Konkret sieht der Gesetzentwurf folgende acht Änderungen vor:

Erstens. Anpassung des Anwendungsbereichs des bisherigen § 10 BGG NRW an den Anwendungsbereich der Richtlinie.

Zweitens. Aufnahme einer Ausnahmeregelung für den Fall einer unverhältnismäßigen Belastung für die öffentlichen Stellen.

Drittens. Aufnahme einer Ausnahmeregelung vom Anwendungsbereich für Websites und mobilen Anwendungen von öffentlichen Schulen und Ersatzschulen sowie Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege, mit Ausnahme der Inhalte, die sich auf wesentliche Online-Verwaltungsfunktionen beziehen.

Viertens. Regelung einer Erklärung zur Barrierefreiheit der Websites und mobilen Anwendungen, die ein elektronisches Kontaktformular und eine Verlinkung auf das Ombudsverfahren enthält.

Fünftens. Einrichtung einer Überwachungsstelle.

Sechstens. Einrichtung einer Ombudsstelle.

Siebtens. Regelung einer Berichterstattungspflicht an das Land und darüber hinaus an den Bund zur Vorbereitung des Berichts der Bundesrepublik Deutschland an die Kommission

Achtens. Erweiterung der Verordnungsermächtigung.

Die obig aufgeführten Änderungen sind dringend notwendig. Daher stimmt die SPD-Landtagsfraktion dem vorgelegten Gesetzentwurf zu.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE):

Wir befassen uns heute noch zu später Stunde mit einer Änderung am Behindertengleichstellungsgesetz, die notwendig geworden ist aufgrund der 2016 verabschiedeten Richtlinie (EU) 2016/2102, mit der digitale Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen besser zugänglich gemacht werden sollen. Zu diesem Zweck müssen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die einen barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Applikationen öffentlicher Stellen regeln, angeglichen werden.

Ziel ist es, durch die Schaffung transparenter, wirksamer und nichtdiskriminierender Bedingungen Markthindernisse im europäischen Binnenmarkt für Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) zu beseitigen.

Hierzu sind die weltweit anerkannten Empfehlungen der Richtlinien für barrierefreie Internetinhalte („Web Content Accessibility Guidelines — WCAG 2.1“) zur Grundlage zu nehmen. Diese legen fest, wie Websites und deren Inhalte gestaltet sein müssen, damit sie für Menschen mit Behinderung barrierefrei nutzbar sind.

Die Änderungen am bestehenden Behindertengleichstellungsgesetz sind daher im Grundsatz richtig und wichtig. Allerdings hat es bei der vorgesehen Umsetzung und den Regelungen auch Kritik seitens der betroffenen Verbände und Institutionen gegeben.

Im vorliegenden Gesetzentwurf der Landesregierung sind bereits einige noch in der Verbändeanhörung vorgebrachten Kritikpunkte aufgenommen worden, so zum Beispiel die Anpassung der technischen Vorgaben an den aktuellen Stand (WCAG 2.1) oder die Ausweitung des Anwendungsbereichs des Verbandsklagerechts auch auf die öffentlichen Stellen. Das begrüßen wir.

Dennoch gibt es Punkte, die weiterhin in der Kritik stehen, insbesondere seitens der Sozial-und Betroffenenverbände. Dort wird kritisiert, dass die Möglichkeit, auch private Anbieter zur barrierefreien Gestaltung von Websites und Apps heranzuziehen, nicht stärker durch die Landesregierung aufgegriffen wird.

Die bereits eingangs erwähnte EU-Richtlinie vom 26. Oktober 2016 sieht diese Möglichkeit vor. Mit Erlaubnis des Vorsitzenden zitiere ich aus der EU-Richtlinie:

„(34) Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, die Anwendung dieser Richtlinie auf andere Arten von Websites und mobilen Anwendungen auszuweiten, insbesondere auf nicht von dieser Richtlinie erfasste Intranet- oder Extranet-Websites und mobile Anwendungen, die für eine begrenzte Anzahl von Personen am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung konzipiert sind und von diesen genutzt werden, sowie im Einklang mit dem Unionsrecht Maßnahmen aufrechtzuerhalten oder einzuführen, die über die Mindestanforderungen für barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen hinausgehen. Die Mitgliedstaaten sollten ferner ermutigt werden, die Anwendung dieser Richtlinie auf private Stellen auszuweiten, die Einrichtungen und Dienstleistungen anbieten, die der Öffentlichkeit offenstehen bzw. bereitgestellt werden, unter anderem in den Bereichen Gesundheitswesen, Kinderbetreuung, soziale Integration und soziale Sicherheit sowie in den Sektoren Verkehr, Strom, Gas, Wärme, Wasser, elektronische Kommunikation und Postdienste, mit besonderem Schwerpunkt auf den in den Artikeln 8 bis 13 der Richtlinie 2014/25/EU genannten Dienstleistungen.“

Strittig bleibt auch die Ausnahmeregelung für Schulen, Kitas und Kindertagespflege. Hier haben Verbände eingefordert, durch eine entsprechende Formulierung im Gesetz sicherzustellen, dass diese Einrichtungen die bislang geltende Verpflichtung, ihre Onlineauftritte und -angebote barrierefrei zu gestalten, auch zukünftig einhalten müssen.

Darüber hinaus wird eingefordert, die Vorgaben, wann von einer Barrierefreiheit abgewichen werden kann, weil es einen unverhältnismäßigen Aufwand bewirkt, enger und präziser zu fassen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass diese Regelung zum alltäglichen Vorwand für die Nichteinhaltung der Barrierefreiheit genutzt wird. Hier gibt Art. 5 Abs. 2 der EU-Richtlinie deutliche Hinweise, die im BGG mit verankert werden sollten.

Schließlich geht es bei der Fristsetzung darum, innerhalb welcher Zeit die öffentlichen Stellen des Landes auf Mitteilung oder Anfragen in barrierefreier Form zu reagieren haben. Die Betroffenen halten hier zwei Wochen für angemessen, die Gesetzesbegründung hingegen sieht einen Zeitraum von zwei bis sechs Wochen vor.

Die Fraktion der Grünen wird sich deshalb bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes enthalten.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD):

Letztes Jahr beim gemeinsamen Besuch der Reha-Care war Teil des Programms ein Gespräch mit dem BSVN — Meerbusch Blinden-und Sehbehindertenverband NRW. Die Vertreterinnen haben sehr eindrücklich geschildert, wie viel Erleichterung ihnen ein barrierefreies Internet bzw. barrierefreie Apps verschaffen würden.

Ihrer Erfahrung und ihres Fachwissens nach wäre der Aufwand bei der Programmierung ein kleiner. Ich erinnere mich noch gut an ihren Appell an uns, die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales, diese Erleichterung voranzutreiben.

Nun wurden die Weichen dafür nicht hier in NRW gestellt — sondern, wie so häufig, in Brüssel. Mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen des Europaparlaments ist es wohl legitim, dazu ein paar grundsätzliche Worte zu verlieren.

Ich blicke mit Freude auf diese Wahl, weil den Bürgern der EU mittlerweile in zahlreichen Ländern durchaus zu unterscheidende Konzepte zur Weiterentwicklung der Europäischen Union zur Wahl stehen.

Sie werden sich vielleicht die Frage stellen: Was hat das mit der Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes zu tun? – Ich antworte darauf: Mehr als man denkt! Denn das Behindertengleichstellungsgesetz für Nordrhein-Westfalen ist nur sehr bedingt eine Leistung des politischen Düsseldorf und Nordrhein-Westfalens.

Es beruht im Kern auf einer Umsetzungsver­pflichtung, die durch die Richtlinie (EU) 2016/2102 Exekutive und Legislative in Nordrhein-Westfalen befiehlt, etwas in Landesgesetze zu gießen – ob die Mitgliedstaaten dies nun wollen oder nicht.

Diese Richtlinie ist zwar nicht so fragwürdig, wie eine zu einiger Berühmtheit gelangte Vorgängerin, die Mecklenburg-Vorpommern weiland zwang, ein Landesgesetz zu Seilbahnen und Ski-Liften zu verabschieden, obwohl man noch nie eine Skipiste im Bundesland an der Ostseeküste gesehen hat.

Völlig unabhängig davon jedoch, dass das Anliegen in diesem Falle ein Gutes ist, bleibt das Faktum: Auch wir Abgeordneten hier im Landtag degenerieren bei diesem Verfahren der Richtlinien-Umsetzung zu Befehlsempfängern einer oft bürgerfernen und abgehobenen Großbürokratie eines EU- Parlamentes.

Wir entscheiden heute nicht darüber, ob wir diese Änderung wollen, sondern lediglich über das Wie. Man komme mir nicht mit dem Hinweis, das wäre doch bei Bundesgesetzen das Gleiche, wo wir im Land Ausführungsgesetze beraten und verabschieden.

Das ist es eben nicht! — Bundesgesetze sind von einem Bundestag beschlossen, dessen Abgeordnete in gleicher Wahl in die Verantwortung berufen wurden – das EU-Parlament ist dies keineswegs.

Zurück zu dem vorliegenden Gesetzentwurf: Wir stimmen dem Anliegen zu. Wir stimmen zu, weil wir erwarten, dass es den behinderten Menschen ihren Alltag erleichtern kann und die Regelungen für sie von Vorteil sind.


 

Anlage 4

Zu TOP 17 – „Gesetz zur Änderung des Landeskrebsregistergesetzes – zu Protokoll gegebene Rede

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales:

Ich freue mich, dem Landtag heute den Regierungsentwurf für eine Änderung des Landeskrebsregistergesetzes vorlegen zu können. Ich freue mich vor allem, weil das Landeskrebsregister eine Erfolgsgeschichte ist, die sich extrem rasch weiterentwickelt.

Hintergrund

Der bundesgesetzlicher Auftrag über die Einrichtung klinischer Krebsregister (§ 65c SGB V) aus 2013 gilt unverändert. Die Umsetzung in Landesrecht erfolgte 2016 durch das Landeskrebsregistergesetz.

Die Aufgabe ist von enormer gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Bedeutung. Ziel ist die Verbesserung der onkologischen Versorgung und Qualitätssicherung bei der Onkologie sowie die sorgfältige Beobachtung epidemiologischer Entwicklungen.

Seitdem gelang ein extrem rascher Aufbau der neuen Krebsregisterstrukturen auf der Basis des bis dahin bestehenden Epidemiologischen Registers. Der intensive Aufbau des Registers lieferte viele Erfahrungen in Anwendung des Gesetzes. Wichtige Details zur Optimierung konnten erkannt werden.

Die Rahmenbedingungen des Datenschutzes haben sich durch neue Vorgaben der Datenschutzgrund-Verordnung geändert; sie machen eine Novellierung des Gesetzes erforderlich.

Die Kernelemente des Gesetzes werden nicht verändert, sie haben sich in dieser Form alle bewährt. Insbesondere werden die Datenschutz–Regelungen immer wieder für ihre hohe Standards gelobt. Aber: Auch Gutes kann noch besser werden.

Deshalb sind einige kleine Ergänzungen und Anpassungen erforderlich, z.B.

–   weitere Verbesserungen bei der Abbildung   der hochkomplexen Datenflüsse,

–   noch besserer Abgleich der sterbefallbezogenen Daten,

–   mehr Rechtsklarheit zu wissenschaftlichen Kooperationen, auch von internationalem Rang, und zum Datenaustausch mit anderen Registern und

–   zur Datenberichtigung durch Betroffene.

Ich komme zu einem Ausblick: Mit dem weiteren Ausbau des Registers wird der Datenbestand rapide zunehmen: Damit werden bald vielfältige Analysen durch das Register machbar.

Dadurch wird die klinische Versorgung transparenter, vergleichbarer, qualitätsgesicherter und passgenauer für die Patientinnen und Patienten. Auch werden zum Beispiel mehr wissenschaftliche Untersuchungen zur Verbesserung der Versorgung möglich.

Wir sind den krebserkrankten Menschen schuldig, dass wir alles unternehmen, damit sie bestmöglich behandelt werden und dass wir mit dafür sorgen, dass diese Krankheit möglichst viel von ihrem Schrecken verliert.

Dazu leisten unser Landeskrebsregister und alle, die an seiner Arbeit beteiligt sind, einen unverzichtbaren Beitrag. Unterstützen wir das Register in seiner Arbeit durch die vorgeschlagene Novellierung des Gesetzes.


 

Anlage 5

Zu TOP 19 – „Erster Staatsvertrag zur Änderung des Vertrags über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Artikel 91c GG – zu Protokoll gegebene Reden

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie:

Mit der nun vorgesehenen Änderung des IT-Staatsvertrags soll die Grundlage für die Gründung der „Föderalen IT-Kooperation (FITKO-AöR)“ in gemeinsamer Trägerschaft aller Länder und des Bundes gelegt werden. Der Änderungsstaatsvertrag soll die IT-Zusammenarbeit der öffentlichen Verwaltungen weiterentwickeln, indem zum 1. Januar 2020 eine von Bund und Ländern gemeinsam getragene rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts geschaffen wird, die den IT-Planungsrat bei der Koordinierung der ebenenübergreifenden Zusammenarbeit unterstützt.

In dieser gemeinsamen Anstalt sollen bestehende personelle und finanzielle Ressourcen gebündelt und zusätzliche Fachkompetenzen insbesondere für die Projektsteuerung aufgebaut werden. Die gemeinsame Anstalt soll die Bezeichnung FITKO (Föderale IT-Kooperation) tragen und in Frankfurt am Main angesiedelt sein.

Zudem verpflichten sich Bund und Länder, dem IT-Planungsrat für die Jahre 2020 bis 2022 ein Digitalisierungsbudget in Höhe von bis zu 180 Millionen Euro bereitzustellen. Diese Verpflichtung geht auf einen Beschluss der Konferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs von Bund und Ländern im Rahmen der Beratungen zur „Neuregelung des bundesrechtlichen Finanzausgleichsystems ab dem Jahr 2020“ zurück.

Mit dem Digitalisierungsbudget sollen Projekte und Produkte für die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen, die auf allen föderalen Ebenen zum Einsatz kommen, unterstützt werden. Dies fördert die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG), welches Bund, Länder und Kommunen verpflichtet, ihre Verwaltungsleistungen bis 2022 auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten. Der Bund trägt einen Anteil von 35 % an diesem Budget. Die Länder tragen 65 %, entsprechend ihrem jeweiligen Anteil nach dem Königsteiner Schlüssel.

Als schlankere, mit gemeinschaftlichen Ressourcen ausgestattete spezialisierte Unterstützungseinheit stärkt die FITKO die Handlungs- und die politisch-strategische Steuerungsfähigkeit des IT-Planungsrats aufgrund effektiver und zielgerichteter Steuerung und der Bündelung bestehender organisatorischer, personeller und finanzieller Ressourcen sowie von IT-Kooperationsprojekten.

Die Landesregierung hat dem ersten Staatsvertrag zur Änderung des IT-Staatsvertrags daher zugestimmt. Im Rahmen der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz am 21.03.2019 haben die Ländervertreter sowie die Bundeskanzlerin den Änderungsvertrag unterzeichnet. Im Vorfeld hatten wir den Landtag bereits gemäß der Vereinbarung zwischen Landtag und Landesregierung über die Unterrichtung des Landtags durch die Landesregierung hierüber unterrichtet.

Ich bitte daher nunmehr den Landtag, diesem Änderungsstaatsvertrag gemäß Art. 66 Satz 2 der Landesverfassung zuzustimmen.

Daniel Hagemeier (CDU):

Heute befassen wir uns mit dem ersten Staatsvertrag zur Änderung des Vertrags über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Ersatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Artikel 91c GG.

Die Landesregierung hat diesem sogenannten „IT-Staatsvertrag“ am 12. Februar 2019 zugestimmt; zuständig ist das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie.

Die Vertragspartner möchten mit Wirkung zum 1. Januar 2020 eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts errichten. Sie soll den Namen „FITKO“ – Föderale IT-Kooperation – tragen und ihren Sitz in Frankfurt am Main haben. Diese gemeinsame Anstalt hat die Aufgabe, den IT-Planungsrat organisatorisch, fachlich und bei der Wahrnehmung der Aufgaben zu unterstützen.

Träger der gemeinsamen Anstalt sind die Vertragspartner zu gleichen Teilen – also die 16 Bundesländer und der Bund –; die Anteile sind nicht übertragbar.

Die Finanzierung der gemeinsamen Anstalt und ihrer Aufgaben erfolgt nach dem Königsteiner Schlüssel, erweitert um einen festen Finanzierungsanteil des Bundes in Höhe von 25 %, soweit im Wirtschaftsplan für einzelne Projekte und Produkte keine abweichende Regelung getroffen wird.

Dieser Staatsvertrag tritt am ersten Tag des Monats in Kraft, der dem Monat folgt, in dem die letzte Ratifikationsurkunde bei der Staats- und Senatskanzlei des Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz hinterlegt wurde.

Im Namen der CDU-Landtagsfraktion möchte ich daher um Unterstützung des Antrags der Landesregierung bitten und gleichsam um Zustimmung für den IT-Staatsvertrag. Unsere Zustimmung sichere ich bereits jetzt in der laufenden Debatte zu.

Elisabeth Müller-Witt (SPD):

Mit der Änderung des IT-Staatsvertrages wird der Weg zur Gründung der Bund-Länder-Anstalt „Föderale IT-Kooperation” (FITKO) freigemacht. Die FITKO soll zum 1. Januar 2020 gegründet werden und benötigt vorher die Bestätigung aller 16 Bundesländer sowie des Bundes. FITKO soll „eine leistungsfähige gemeinsame Organisation zur Bewältigung der Herausforderungen bei der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes” für Bund und Länder sein.

Qua Grundgesetz sind Länder und Bund angehalten, gemeinsam in Fragen der Informationstechnologie zusammenzuarbeiten. Der Änderungsstaatsvertrag ist daher ein konsequenter und notwendiger Schritt.

E-Government und Cybersicherheit müssen in der digitalen Verwaltung kompetent zusammengedacht werden. Die Anstalt soll künftig den IT-Planungsrat Bund/Länder unterstützen und die dezentralen Geschäfts- und Koordinierungsstrukturen zu einer Einheit zusammenführen. Mit der FITKO soll also die unabweisbar notwendige Koordinierung und Zusammenarbeit in Fragen von E-Government und Sicherheit von Bund und Ländern vorangetrieben und aus einem Guss gestaltet werden.

Für diese Herausforderung bedarf es im Rahmen einer staatsvertraglichen Regelung einer klaren Festlegung der Aufgabe der FIKO, der Benennung ihrer Organe, aber auch der Aufsicht wie natürlich auch der Finanzierung der FITKO. Die Entstehung einer digitalen Verwaltung ist mit Kosten verbunden. Sowohl Bund als auch Länder sollen ein gemeinsames Digitalisierungsbudget in Höhe von insgesamt 180 Millionen Euro bis zum Ende des Jahres 2022 tragen. Auch NRW wird seinen Anteil daran tragen müssen.

Letztendlich geht es darum, dass unser Staat digital, modern und auf der Höhe der Zeit funktionsfähig gemacht wird. Möglichst viel Erleichterung für die Bürgerinnen und Bürger auf der einen Seite, größtmögliche Sicherheit auf der anderen Seite müssen dabei handlungsleitend sein.

Wir stimmen der Überweisung des Staatsvertrages in die Ausschussberatung zu.

Angela Freimuth (FDP):

Die Digitalisierung eröffnet großartige Chancen in allen Bereichen, stellt uns aber auch vor große Herausforderungen. Im Jahr 2009 schlossen die Länder einen Staatsvertrag zur Errichtung des IT-Planungsrates und zur engeren Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen in Bund und Ländern. Das war sinnvoll, damit nicht überall sozusagen das Rad neu erfunden werden musste.

Inzwischen hat sich gezeigt, dass hier eine Verstärkung sinnvoll ist. Deshalb wurde in dem nun vorgelegten Änderungsstaatsvertrag verabredet, zum 01.01.2020 eine rechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts mit Dienstherreneigenschaft etc. zu haben, die die Aufgabe hat, den IT-Planungsrat organisatorisch, fachlich und bei der Wahrnehmung der Aufgaben zu unterstützen.

Wir werden in den Beratungen des Hauptausschusses und des Ausschusses für Digitales und Innovation die Einzelheiten erörtern; deshalb stimmen wir auch der Überweisungsempfehlung des Ältestenrates zu.

Sven Werner Tritschler (AfD):

Wenn die Bürger unseres Landes sich heutzuta-ge mit kommerziellen Dienstleistungen versorgen wollen, dann steht ihnen im Internet ein nahezu unendliches Angebot offen. Sämtliche Einkäufe, Reisen, die Reinigung, das Taxi, die Eheberatung oder gar die Partnersuche – nichts gibt es, wofür nicht eine App existiert.

Wie traurig sieht dagegen unsere öffentliche Verwaltung aus. Wenn Sie sich – wie ich – zum Beispiel den elektronischen Personalausweis freischalten lassen, um auf Onlinedienste zuzugreifen, können Sie als Kölner auf gut eine Handvoll Dienste zugreifen.

Die Stadt selbst bietet immerhin einen Urkundenservice, wo man sich Geburts-, Sterbe-, Lebenspartnerschafts- und Sterbeurkunden besorgen kann. Hinzu kommen noch ein paar bundes- und landesweite Dienste.

In den meisten Fällen heißt digitale Verwaltung aber lediglich: Ich gehe auf die Website der Stadt, fülle ein PDF aus, drucke es und laufe dann — höchst analog — zur zuständigen Behörde.

2017 wurde das Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsdienstleistungen (OZG) beschlossen. Es verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, bis 2022 ihre Verwaltungsdienstleistungen online anzubieten. 575 Dienstleistungen sind dabei aufgezählt.

Was 2017 ambitioniert erschien, kann Stand heute als unmöglich gelten, denn die inzwischen gemachten Fortschritte sind – vorsichtig ausgedrückt — überschaubar.

Der Nationale Normenkontrollrat hat das extrem langsame Entwicklungstempo in diesem Bereich bereits im vergangenen Jahr festgestellt. Als besonderer Knackpunkt erweist sich dabei die Umsetzung des „Once-Only“-Prinzips, wonach der Bürger seine Daten nur einmal eingeben muss, um auf eine Vielzahl von Dienstleistungen unterschiedlichster Behörden zugreifen zu können.

Der vorliegende Staatsvertrag schafft jetzt eine neue Behörde, genauer gesagt eine Anstalt des öffentlichen Rechts. FITKO soll das heißen: „Föderale IT-Kooperation“.

Es sind Zweifel erlaubt, ob es diese 180 Millionen Euro schwere Einrichtung es schaffen wird, den gordischen Knoten zu zerschlagen und die IT-Entwicklung in Bund und Ländern voranzubringen. An Behörden, Planungs- und Stabsstellen fehlte es eigentlich auch bisher nicht.

Zudem sind Mischeinrichtungen zwischen Bund und Ländern unter staatstheoretischen Gesichtspunkten schwierig. Es besteht die Gefahr, dass auf diesem Wege wieder einmal die wenigen verbliebenen Kompetenzen der Länder bzw. der Kommunen ausgehöhlt werden. So etwas führt auch wieder zu einer Verantwortungsdiffussion, und davon haben wir eigentlich schon mehr als genug.

Gleichwohl ist es wichtig, bei diesem Thema nationale Standards zu setzen. Der Bürger interagiert mit allen möglichen Behörden, und es ist im Sinne des „Once-Only“-Prinzips, wenn er für Bundes-, Länder- und Kommunalbehörden identische Zugänge vorfindet.

Das entlässt aber die unteren Ebenen nicht aus ihrer Verantwortung: Die Verwaltung Nordrhein-Westfalens und die Verwaltungen unserer kommunalen Familie müssen dringend einen Zahn zulegen, um national wie international nicht den Anschluss zu verlieren.

Wir sehen im vorliegenden Staatsvertrag zumindest die Chance, Impulse für diesen Prozess zu liefern, und stehen dem Vorhaben daher nicht im Wege.“