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Landtag

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Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/52

17. Wahlperiode

22.02.2019

 

52. Sitzung

Düsseldorf, Freitag, 22. Februar 2019

Mitteilungen des Präsidenten. 3

1   Hände weg vom Arbeitszeitgesetz! – Die schwarz-gelbe Landesregierung darf das Arbeitszeitgesetz nicht aufweichen!

Aktuelle Stunde
auf Antrag der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5162. 3

Josef Neumann (SPD) 3

Marco Schmitz (CDU) 4

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 6

Stefan Lenzen (FDP) 7

Dr. Martin Vincentz (AfD) 9

Formlose Rüge  
des Abgeordneten Dr. Martin Vincentz. 10

Minister Karl-Josef Laumann. 10

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD) 12

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 13

2   Jeder Fall ist ein Fall zu viel – alle Kräfte mobilisieren für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5066 – Neudruck. 14

Petra Vogt (CDU) 14

Hartmut Ganzke (SPD) 15

Marcel Hafke (FDP) 17

Josefine Paul (GRÜNE) 18

Iris Dworeck-Danielowski (AfD) 20

Minister Herbert Reul 21

Raphael Tigges (CDU) 23

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 25

Helmut Seifen (AfD) 26

Ministerpräsident Armin Laschet 26

Ergebnis. 27

3   10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Die schwarzgelbe Landesregierung muss alle Kräfte bündeln, um ein inklusives NRW zu schaffen!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5061

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5222. 27

Josef Neumann (SPD) 27

Daniel Hagemeier (CDU) 28

Stefan Lenzen (FDP) 29

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 31

Helmut Seifen (AfD) 32

Minister Karl-Josef Laumann. 33

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 35

Minister Karl-Josef Laumann. 35

Ergebnis. 36

4   IT-Sicherheit in NRW stärken – Freiheit sichern

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5056. 36

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) 36

Dr. Christos Georg Katzidis (CDU) 37

Christina Kampmann (SPD) 39

Rainer Matheisen (FDP) 40

Sven Werner Tritschler (AfD) 42

Minister Herbert Reul 43

Dr. Christian Untrieser (CDU) 44

Marlies Stotz (SPD) 45

Ergebnis. 45

5   Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung – Verletzungen von Körper und Seele von Kindern, Mädchen und Frauen entschieden entgegentreten

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5067

In Verbindung mit:

Genitalverstümmelung – wirksame Hilfe für die Opfer

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5071. 46

Claudia Schlottmann (CDU) 46

Susanne Schneider (FDP) 47

Thomas Röckemann (AfD) 48

Anja Butschkau (SPD) 49

Josefine Paul (GRÜNE) 50

Ministerin Ursula Heinen-Esser 51

Ergebnis. 52

6   Debatte um Feinstaub und Luftreinheit versachlichen, Ideologie ausblenden, unabhängige und wissenschaftlich fundierte Untersuchungen schnellstmöglich auf den Weg bringen

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5073. 52

Nic Peter Vogel (AfD) 52

Jochen Ritter (CDU) 53

Carsten Löcker (SPD) 54

Bodo Middeldorf (FDP) 55

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 56

Ministerin Ursula Heinen-Esser 57

Oliver Krauß (CDU) 58

Dr. Martin Vincentz (AfD) 59

Ergebnis. 60

Entschuldigt waren:

Ministerin Yvonne Gebauer      
(10 bis 13 Uhr)

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart      
(ab ca. 13:30 Uhr)

Ministerin Ina Scharrenbach

Minister Dr. Joachim Stamp

Holger Müller (CDU)

Guido van den Berg (SPD)

Marc Herter (SPD)

Andreas Kossiski (SPD)

Hannelore Kraft (SPD)

Thomas Kutschaty (SPD)

Ina Spanier-Oppermann (SPD)

Jörn Freynick (FDP)

Marc Lürbke (FDP)

Sigrid Beer (GRÜNE)   
(ab 11 Uhr)

Monika Düker (GRÜNE)

Arndt Klocke (GRÜNE)

Johannes Remmel (GRÜNE)

Norwich Rüße (GRÜNE)

Roger Beckamp (AfD)

Frank Neppe (fraktionslos)       
(bis ca. 11:30 Uhr)

 

 

Beginn: 10:02 Uhr

Präsident André Kuper: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen, 52. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich 13 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Geburtstag feiert hier und heute unsere Kollegin Sigrid Beer von der Fraktion der Grünen. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute im Namen aller Kolleginnen und Kollegen!

(Allgemeiner Beifall)

Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich darauf hinweisen, dass der Landtag bereits am Mittwoch einstimmig beschlossen hat, die von der Fraktion der SPD beantragte Aktuelle Stunde, die ursprünglich für Mittwoch unter Tagesordnungspunkt 2 vorgesehen war, heute als Tagesordnungspunkt 1 aufzurufen.

Dementsprechend treten wir in die Tagesordnung ein. Ich rufe auf:

1   Hände weg vom Arbeitszeitgesetz! – Die schwarz-gelbe Landesregierung darf das Arbeitszeitgesetz nicht aufweichen!

Aktuelle Stunde
auf Antrag der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5162

Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 18. Februar gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der oben genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der SPD dem Abgeordneten Neumann das Wort.

Josef Neumann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/FDP-geführte Landesregierung hat am vergangenen Freitag den Antrag „Arbeitszeiten an die Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt anpassen“ des Landes Nordrhein-Westfalen in den Bundesrat eingebracht.

Worum geht es dabei? Mit der Entschließung soll die Bundesregierung aufgefordert werden, einen Gesetzentwurf zur Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes vorzulegen. Ich frage mich schon, warum CDU und FDP keine eigenen Vorschläge vorlegen. Haben Sie keine Ideen? Scheuen Sie den internen Konflikt? Haben Sie etwas zu verheimlichen, oder wollen Sie etwa die bösen Botschaften den Berlinern in die Schuhe schieben?

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Wir sind nicht die SPD! Sie verwechseln da was!)

Jedenfalls wird mit der Bundesratsinitiative gefordert, die vorhandenen Spielräume der EU-Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung besser zu nutzen. Indem den Tarifpartnern erlaubt wird, innerhalb dieses Rahmens eigene Regelungen zu treffen, sollen tarifvertragliche Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz möglich sein.

Laut dem Entwurf der Entschließung soll es zukünftig möglich sein, eine wöchentliche Höchstarbeitszeit anstelle der werktäglichen Höchstarbeitszeit vorzusehen. Ich wiederhole: Es soll möglich sein, eine wöchentliche Höchstarbeitszeit anstelle der werktäglichen Höchstarbeitszeit vorzusehen.

Zudem will die schwarz-gelbe Landesregierung erreichen, dass die vorgeschriebene Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen verkürzt werden kann.

Kolleginnen und Kollegen, wenn CDU und FDP Hand an das Arbeitszeitgesetz legen, dann schaltet die SPD-Fraktion sofort auf Alarmstufe Rot.

(Beifall von der SPD)

Genau deswegen haben wir heute diese Aktuelle Stunde beantragt. Der Vorschlag von CDU und FDP zielt auf eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes ab.

Begründet wird der Ansatz nicht nur mit den vermeintlichen Bedürfnissen der Arbeitsvertragsparteien, sondern auch mit den angeblichen Anforderungen der digitalisierten Arbeitswelt. Laut der Begründung geht es um den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit und damit um den Schutz der Arbeitsplätze, um mehr Selbstbestimmung, um bessere Work-Life-Balance, insbesondere bei mobiler Arbeit oder bei der Arbeit im Homeoffice. Der Schutz der Gesundheit und die Sicherheit der Beschäftigten sollen im Interesse der Arbeitsvertragsparteien in Einklang gebracht werden.

Kolleginnen und Kollegen, ich sage ganz klar, dass es überzeugende Argumente gegen die Behauptung von CDU und FDP gibt, das Arbeitszeitgesetz sei zu starr und zu unflexibel.

Argument 1: Der geltende gesetzliche Rahmen ist flexibel genug. Die heute bereits vorhandenen Gestaltungsspielräume sind völlig ausreichend, um weitgehende und nötige Flexibilität für beide Seiten des Arbeitsverhältnisses zu sichern.

Das belegen unter anderem die aktuellen Tarifabschlüsse der DGB-Gewerkschaften, die im Rahmen des geltenden Rechts vielfältige Bedürfnisse der Beschäftigten und der Arbeitgeber bei der Ausgestaltung der Arbeitszeit berücksichtigen. Für diese Aushandlungsprozesse bietet das geltende Arbeitszeitgesetz auch unter den Bedingungen der Digitalisierung einen adäquaten Rahmen.

Bei den Forderungen nach einer Öffnung des Arbeitszeitgesetzes geht es im Übrigen mitnichten nur um die sogenannte Digitalisierung. Vielmehr wird eine aus Gründen des Gesundheitsschutzes unzumutbare Lockerung des gesetzlichen Schutzrahmens für alle Branchen gefordert.

Gleichlautende Forderungen werden auch von der DEHOGA eingebracht. Die Frage der Arbeitszeit im Gastgewerbe ist allerdings keine Frage der Digitalisierung.

Argument 2: Die tariflichen Abweichungsmöglichkeiten sind ausreichend. Der schon heute grundsätzlich weit gesteckte gesetzliche Arbeitszeitrahmen wird durch die ebenfalls heute schon geltenden Abweichungsmöglichkeiten für die tarifvertragliche Ausgestaltung der Arbeitszeit noch zusätzlich erweitert. Über Tarifverträge können die täglichen Arbeitszeiten heute schon verlängert und die tägliche Ruhezeit verkürzt werden.

Argument 3: keine Tariföffnung zur Unterschreitung des Gesundheitsschutzes. Tarifverträge dürfen grundsätzlich kein Instrument zur Unterschreitung gesetzlicher Mindeststandards sein, bei der die Gefahr besteht, dass den jeweiligen Schutzfunktionen nicht mehr Rechnung getragen werden kann.

Der von der schwarz-gelben Regierung vorgeschlagene erweiterte Verhandlungsrahmen kommt vor allem der Arbeitgeberseite zugute. Die Gestaltungspflicht wird auf die Gewerkschaften bzw. Betriebsräte verlagert, ohne dass sie sich dabei auf gesetzliche Rahmenbedingungen als unterste Haltelinie stützen können. Während die Arbeitgeber dieses Mehr an Verhandlungsspielraum gerne nutzen, droht den Gewerkschaften durch ihre Beteiligung an der Unterschreitung der gesetzlichen Standards letztendlich eine Glaubwürdigkeits- und Ansehensfalle.

Argument 4: Die ununterbrochene Ruhezeit von elf Stunden ist für die Gesundheit der Beschäftigten von zentraler Bedeutung. Das bestätigen zahlreiche Studien, die durch den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags ausgewertet wurden. Laut arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen hat die Mindestruhezeit von elf Stunden einen sehr hohen Stellenwert für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten. Zudem sinkt die Produktivität nach der achten Arbeitsstunde am Tag nachweisbar, und die Arbeitsunfallquote nimmt signifikant zu.

Wer vor dem Hintergrund des jetzt schon vorhandenen erheblichen Flexibilisierungsspielraums die existierenden gesetzlichen Arbeitszeitregelungen für zu starr hält, einer wöchentlichen Arbeitszeit das Wort redet und gleichzeitig die Kürzung

(Unruhe – Glocke)

der ununterbrochenen Ruhezeiten fordert, setzt sich faktisch für die Aufhebung des gesetzlichen Schutzrahmens ein.

Kolleginnen und Kollegen, wohin das führen kann und wie der Ungeist zu diesem Thema aktuell durch Europa zieht, können wir in Ländern wie Ungarn und Österreich nachvollziehen. Schutzrechte im Arbeitszeitbereich werden unterhöhlt. Insbesondere in Ungarn kommt ein Sklavengesetz auf den Markt, durch das Arbeitnehmer aufgefordert und veranlasst werden, bis zu 450 Überstunden zu leisten.

Herr Minister, lassen Sie sich nicht zum Getriebenen machen, auch nicht zum Getriebenen Ihres Koalitionspartners. Lassen Sie uns das bewährte Arbeitszeitgesetz in Deutschland, in Nordrhein-Westfalen verteidigen. Hände weg von der Lockerung des Arbeitszeitgesetzes! Hände weg von Schutzrechten, die den Arbeitnehmern zustehen! – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die CDU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Schmitz das Wort.

Marco Schmitz*) (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Neumann, Sie bauen hier ein Bild auf von kapitalistischen Arbeitgebern und geknechteten Arbeitnehmern, von Sklavenarbeit. Ich habe Angst um die SPD, wenn sie so weiter in die Zukunft geht.

(Beifall von der CDU – Zurufe von der SPD)

Ich möchte einmal darauf eingehen, was mit der Bundesratsinitiative geplant ist.

Wir möchten die wöchentliche Arbeitszeit anstelle einer werktäglichen Höchstarbeitszeit als Rahmen. Das bedeutet für uns, 40 Stunden sind gesetzt. Wie diese aber auf die tägliche Arbeitszeit verteilt werden, soll vor Ort entschieden werden.

Das Gleiche gilt bei der Verkürzung der vorgegebenen Ruhezeiten. Wir reden nicht davon, dass wir im Schichtdienst Ruhezeiten verkürzen wollen. Aber wenn jemand die Möglichkeit hat, von zu Hause zu arbeiten, dann verweigern Sie ihm, dass er abends am Computer noch seine E‑Mails bearbeitet und am nächsten Morgen um 8 Uhr wieder im Büro ist. Das kann nicht gehen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Der dritte und wichtigste Punkt, den die Landesregierung bei der Bundesratsinitiative eingebracht hat: Wir sprechen von tarifgebundenen Partnerschaften. Wir stärken damit die Sozialpartnerschaft. Denn wir sagen ganz klar: Es soll für die Bereiche gelten, in denen Tarifverträge abgeschlossen werden, und nicht für andere.

Wir haben also die Gewerkschaften mit im Boot. Wir haben die Arbeitgeber mit im Boot. Das ist doch das, was wir wollen. Wir möchten eine starke Tarifpartnerschaft haben, damit diese beiden Sozialpartner miteinander vereinbaren können, wie das Arbeitszeitrecht umgesetzt wird.

(Beifall von der CDU)

Ich bin eben schon kurz auf die voranschreitende Digitalisierung eingegangen. Natürlich ist es so, dass sich die Arbeitswelt ändert. Wir haben keine Arbeitszeiten mehr mit einer Anwesenheit von nine to five, man steht am Band, baut Maschinen zusammen, lackiert Autos und Ähnliches, sondern wir haben eine ganz große Bandbreite.

Im Rahmen der Digitalisierung haben wir die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten. Wir haben das in der Enquetekommission relativ ausführlich diskutiert; ich gehe gleich noch einmal auf die öffentliche Anhörung der Enquetekommission zur Sozialpartnerschaft ein.

Deswegen verstehe ich nicht, dass Sie sich dagegen wehren. Nehmen Sie doch die Digitalisierung als ein Zukunftsprojekt, das wir gestalten müssen. Sie versuchen das zu verweigern, aber das wird nicht funktionieren. Die Politik hat doch die Möglichkeit, hier zu gestalten, und darauf müssen wir auch eingehen.

Der nächste Punkt ist die Work-Life-Balance, die Vereinbarung von Familie und Beruf. Eine pflegebedürftige Mutter zu Hause, ein Kind, das in den Kindergarten gebracht bzw. betreut werden muss, vielleicht Verantwortung im ehrenamtlichen Bereich, all dies erfordert Zeit, die ich gerne flexibel gestalten können würde. Ich brauche die Möglichkeit, mal abends zu arbeiten oder mich um Privates zu kümmern. Auch das ist ein Punkt, der in der Bundesratsinitiative vorgesehen ist.

(Beifall von der CDU)

Ich möchte einmal kurz aus unserem Koalitionsvertrag zitieren:

„Wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen und deshalb über eine Bundesratsinitiative das Arbeitszeitgesetz flexibilisieren. Die innerhalb der Vorgaben der europäischen Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung vorhandenen Spielräume wollen wir nutzen und die Tarifpartner innerhalb dieses Rahmens eigene Regelungen treffen lassen.“

Das ist genau das, was in der Bundesratsinitiative gefordert ist. Wir setzen also das um, was die Koalition fordert, und Sie tun jetzt so, als hätte Sie etwas vollkommen Unerwartetes getroffen.

Wir haben schon letztes Jahr im Januar eine Plenardebatte zur Flexibilisierung der Arbeitszeit geführt. Da haben wir die Argumente alle schon ausgetauscht. Ich gehe jetzt nicht noch einmal darauf ein, was wir damals gemacht haben, weil das schon erledigt ist.

Ich möchte aber noch einmal kurz auf die darauffolgende Anhörung eingehen. Da sagte Michael Hermund vom DGB, es gäbe ein Problem da, wo Arbeitnehmer keinen Tarifvertrag haben, bei Tarifverträgen aber nicht. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten:

„Ausnahmen gibt es, auch sehr gute Ausnahmen, und zwar überall da, wo wir über Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen kollektive Regeln schaffen konnten. Dort wurde aufbauend auf dem vorhandenen Gesetz Kollektivrecht geschaffen, um Sicherheit auch für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in dieser Branche, in diesem Betrieb zu bekommen.“

(Zuruf von der SPD: Ja, mit dem vorhandenen Gesetz!)

Deswegen machen wir doch in der Bundesratsinitiative ganz klar den Vorbehalt der Sozialpartnerschaft. Wir sagen: nur da, wo es tarifgebunden ist.

Hans Michael Weiss von unternehmer nrw sagt auch:

„Kein Mensch, definitiv auch nicht die Arbeitgeberverbände, will den Schutz der Arbeitnehmer, den das Gesetz bietet, aufheben …“

Beide Tarifpartner sagen das ganz klar.

(Zuruf von der SPD: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen! – Heiterkeit)

– Es war zumindest kein CDU-Mann, der das gesagt hat.

In der Anhörung der Enquetekommission sagte Johannes Pöttering, unternehmer nrw, zur Zukunft der Tarifpartnerschaften:

(Zuruf von der SPD: Da haben Sie den richtigen Kronzeugen für Arbeitnehmerschutz gefunden!)

„Wenn eine Welt differenziert wird, dann kommt es noch mehr darauf an, dass nicht der Gesetzgeber sozusagen alle über einen Kamm schert, sondern man dann schaut, was die einzelnen Branchen brauchen.“

Wir müssen doch gucken, dass wir beide Seiten beachten.

(Zurufe von der SPD)

In Ihrem Antrag schreiben Sie – das finde ich das Allerschärfste –, dass über das Vorhaben der Landesregierung bis dato nicht informiert wurde, weshalb Sie die Aktuelle Stunde beantragt haben.

In der Plenardebatte am 18. Januar, aus der ich eben schon berichtete, hat der Minister selber den Passus aus unserem Koalitionsvertrag, den ich eben zitiert habe, zitiert. Er hat deutlich gemacht, dass dazu eine Initiative gestartet werden soll.

Es gab die Arbeitsplanung des MAGS, die im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales verteilt worden ist, über die auch gesprochen worden ist. Auch darin steht, dass eine Bundesratsinitiative geplant ist.

Der letzte und entscheidende Punkt ist, dass der Ministerpräsident am 12. Januar das Haus schriftlich informiert hat, dass diese Bundesratsinitiative eingebracht wird. Ich bin daher sehr erstaunt, dass Sie nichts davon wussten. Vielleicht müssen Sie dafür sorgen, dass Ihre E-Mail-Postfächer auch entsprechend durchgesehen werden. – Danke sehr.

(Beifall von der CDU und der FDP – Sarah Philipp [SPD]: Sehr witzig!)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der Grünen hat nun Herr Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmitz, es ist schon beeindruckend, wie Sie die Probleme der Arbeitswelt verniedlichen und als Randthemen, als völlig hergeholt, als kapitalistische Merkwürdigkeiten der Sozialdemokraten darstellen.

Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung sagen: Was nutzt mir die Digitalisierung im Pflegealltag? Die Arbeit, Herr Kollege Schmitz, müssen immer noch die Menschen machen. Das ist ein harter Job. In der Art und Weise, wie Sie eben geredet haben, machen Sie sich ein Stück weit lustig darüber.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

In dem Antrag, der jetzt in den Bundesrat eingebracht wurde, Herr Kollege Arbeitsminister, postulieren Sie Dinge nebeneinanderher – ich habe mir die Bundesratsdrucksache extra herausgesucht –, die so widersprüchlich sind, dass sie einfach nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Da werden Sie Ihrem Anspruch, eine vernünftige und sachgerechte Arbeitsmarktpolitik zu machen, keineswegs gerecht. Das werde ich anhand eines Zitats belegen, Herr Minister Laumann.

Hier steht, dass „die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung … zum Erhalt und weiteren Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit“ notwendig sei und dies gleichzeitig mit dem „Schutz der Gesundheit in Einklang gebracht“ werde. Das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe.

Wenn wir die Schicht nach zwölf Stunden Arbeit nicht beenden können, weil schlichtweg nicht genug Fachkräfte da sind, was soll dann so ein Postulat? Sie müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsstrukturen so sind, dass die Arbeit gemacht werden kann, und dürfen nicht an den Arbeitszeitgesetzen rumfummeln.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vielleicht betrachten Sie das auch einmal aus der Sicht der Betroffenen, Herr Kollege Schmitz. Die FDP sagt, die Veränderungen der Arbeitszeiten im Gaststättengewerbe seien die Folge der Digitalisierung. Was das sachlogisch miteinander zu tun hat, kann ich nicht nachvollziehen.

Das Lieblingsbeispiel der FDP ist die Hochzeitsfeier, die statt zehn Stunden zehneinhalb Stunden dauert. Ich kann Ihnen nur sagen: Eine fähige Arbeitszeitplanung würde dafür sorgen, dass dann eben zwei Schichten da sind. Das kostet natürlich mehr Geld, aber die Frage ist doch, wer am Ende die Zeche zahlt, die Arbeitgeber oder die Beschäftigten mit einem kaputten Rücken sowie die gesetzlichen Krankenkassen, weil die Gesundheitskosten steigen. Das ist nicht fair, das müssen wir regeln. Dafür müssen wir einen Ausgleich hinbekommen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Zurufe von der CDU – Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Regen Sie sich doch nicht so auf!)

– Doch, Herr Arbeitsminister, ich rege mich auf und will Ihnen einen Schwank aus dem Leben erzählen.

Die Situation in der Altenpflege – Sie wissen das doch ganz gut – ist folgendermaßen: Wir haben in der ambulanten Altenpflege – das schreiben Sie selber auch immer – viel zu wenige Fachkräfte, um die Arbeit zu machen. Es läuft dann so: Man fährt abends die Schicht, manchmal bis 21 Uhr. Dann muss man noch die Dokumentation machen, und es ist 22 Uhr. Morgens um halb sechs sind die Leute wieder am Start, weil jemand ausgefallen ist.

Sie sagen: Das wollen wir nicht nur irgendwie hinnehmen, sondern das muss doch im Rahmen von Flexibilisierung möglich sein, weil die Leute dann möglicherweise auch mehr Geld verdienen. – Das ist nicht das Modell der Zukunft, sondern das ist schlecht für den Arbeitsmarkt. Das ist auch angesichts des Fachkräftemangels in diesem Bereich schlecht. Tun Sie nicht so, als ob man das mit Digitalisierung weghexen könnte, Herr Arbeitsminister.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Aber die Digitalisierung, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU, immer wieder ins Felde führen, würde sehr wohl auch für die Pflege ganz massive Möglichkeiten bieten. Ich kenne in Institutionen in Bielefeld und anderswo sehr wohl redundant ausgestaltete Dienstpläne, sodass Doppelungen möglich sind und die Arbeitszeitpläne so aussehen, dass man nicht jeden zweiten Tag zum Dienst gerufen wird, obwohl man frei hat.

Es ist mit den jetzigen Arbeitszeitgesetzen sehr wohl möglich, flexibel zu organisieren – für den Arbeitnehmer, die Arbeitnehmerin und den Arbeitgeber. Dann muss man aber bereit sein, die Bedürfnisse der Beschäftigten nicht nur im Allgemeinen zu akzeptieren, sondern sie zu erforschen, im Einzelnen zu dokumentieren und in den Arbeitsplan einzubeziehen. Das ist moderne und faire Arbeitsmarktpolitik und nicht das, was Sie machen, nämlich zulasten der Beschäftigten immer wieder an den Grenzen der Schutzzeiten herumzufummeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Damit das nicht so im Allgemeinen bleibt: Uns liegen Studien dazu vor – wir haben sehr gute Institute auf Bundesebene –, was passiert, wenn die Arbeitszeit überschritten wird. Schon nach sechs Stunden Arbeitszeit erhöht sich das Unfallrisiko um 20 %. Nach neun Stunden Arbeitszeit ist das Unfallrisiko fast doppelt so hoch wie bei durchschnittlichen Arbeitszeiten. Und danach ist es eigentlich überhaupt nicht mehr zu tolerieren, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel im Krankenhaus, aber auch in allen anderen Bereichen tätig werden.

Das sind doch Tatbestände, die wir ernst nehmen müssen. Wir müssen die Menschen und den Arbeitsmarkt so regulieren, dass das nicht möglich wird. Dann muss eben auch Geld auf den Tisch gelegt werden, um das auszuschließen. Das ist der normale Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Arbeitgeber, der Beschäftigten und der solidarischen Krankenkassen. Das müssen wir gemeinsam hinbekommen, ohne immer an den Randzeiten herumzuschrauben, Herr Minister.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Zur Flexibilität – das ist in dem Zusammenhang gar nicht angesprochen worden –: Kollege Becker ist für uns in der Enquetekommission zur Digitalisierung des Arbeitsmarktes. Ich verstehe die Art, wie die Debatten geführt werden, zum Teil gar nicht mehr.

Kollege Neumann hat vorhin schon darauf hingewiesen: Natürlich ist es dem Arbeitnehmer möglich, zu unterschiedlichen Zeiten Arbeiten auszuführen, zum Beispiel sein Kind abzuholen und dann vielleicht wieder am Arbeitsplatz neue Tätigkeiten aufzunehmen. Aber in der jetzigen Konstruktion bestimmt der Arbeitnehmer, ob das zusätzlich möglich ist, und nicht der Arbeitgeber. Das ist doch der wichtige Unterschied bei der ganzen Angelegenheit.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Eine letzte Bemerkung: Es würde sich lohnen, Herr Kollege Schmitz, da vielleicht gemeinsam voranzugehen. Ihre Aussage, die Gewerkschaften wären mit im Boot, war fast schon am Rande von Fake News. Zum DGB haben die Kolleginnen und Kollegen der SPD sogar ein Zitat angeführt. Es waren doch die führenden Gewerkschaften und auch der Deutsche Gewerkschaftsbund, die gesagt haben: Macht das nicht so! Hört im Bundesrat mit dieser Resolution auf! Ihr habt die Gewerkschaften nicht mit an Bord. – Sie haben hier eine infame Falschdarstellung vorgenommen. Deswegen war die Aktuelle Stunde offensichtlich notwendig.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP erteile ich dem Abgeordneten Lenzen das Wort.

Stefan Lenzen (FDP): Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dass die SPD von der Bundesratsinitiative von CDU und FDP, von der Landesregierung überrascht war, hat Kollege Schmitz schon dadurch erklärt, dass Sie vielleicht abends Ihre E-Mails nicht mehr lesen. Es mag so sein, dass bei Ihnen generell ein Denkverbot besteht und dass Sie sich jeglicher Modernisierung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts verwehren.

Bei Ihnen mag man das so stehen lassen. Aber wenn Sie selbst einvernehmliche Regelungen zwischen Tarifpartnern für unzulässig halten, muss ich sagen: Hut ab, wie wenig Sie den Gewerkschaften zutrauen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Hätte man den Koalitionsvertrag von CDU und FDP bzw. den Entschließungsantrag, der jetzt in den Bundesrat eingebracht wurde, einmal richtig gelesen, dann hätte man erkennen können, dass CDU und FDP die Tarifautonomie an dieser Stelle sogar stärken.

Es ist ausdrücklich festgeschrieben, dass wir hier Gestaltungsspielräume schaffen wollen, aber ganz klar unter dem Punkt des Tarifvorbehalts. Wir wollen es zum einen hinbekommen, für die Unternehmen einen Anreiz zu schaffen, aber zum andern auch mehr Arbeitszeitsouveränität für die Arbeitnehmer erreichen.

Ganz wichtig – deswegen Thema „Tarifvorbehalt“ – ist Folgendes: Wenn ich auf der einen Seite Arbeitgeberverbände und auf der anderen Seite Gewerkschaften habe, die nach den Kriterien des Bundesarbeitsgerichts tariffähig sind, dann sollten Sie ihnen zutrauen, dass sie auch stark genug sind, das im Sinne ihrer Beschäftigten im Auge zu behalten.

Die Beispiele des Kollegen Mostofizadeh gingen komplett an der Lebenswirklichkeit vorbei.

(Zuruf von der SPD)

Wenn man sich den Tarifvorbehalt ernsthaft und genau anschaut und sagt: „Es geht nur unter dem Tarifvorbehalt, anders ist die Flexibilisierung nicht zu erreichen“, dann wird das doch in den Branchen erreicht, in denen Arbeitgeber, vertreten durch ihre Verbände, und Gewerkschaften gemeinsam Regelungen finden. Im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Pflege werden sie wohl kaum mal eben so zu einer Einigung kommen.

Aber in Branchen wie der Digitalwirtschaft, in der man sagt: „Ich möchte viel mehr Homeoffice machen“, wäre es doch streng geboten, dies zu ermöglichen.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das geht doch jetzt schon! Das machen die längst! Was erzählen Sie denn da?)

Aber wir setzen jetzt auf Vereinbarungen der Sozialpartner und suchen in den jeweiligen Branchen und Regionen, wie ich es gerade skizziert habe, nach einem Ausgleich, um auf der einen Seite mehr Flexibilität und auf der anderen Seite mehr Arbeitszeitsouveränität für die Arbeitnehmer zu schaffen. Dass Sie diesen Weg nicht mitgehen möchten, das ist Ihnen überlassen. Aber bei dem Thema „selbstbestimmte Arbeitszeiten“, die man unter bestimmten Voraussetzungen auch erreichen kann, war die SPD schon mal weiter.

(Zuruf von Rainer Schmeltzer [SPD] – Michael Hübner [SPD]: Das Arbeitszeitgesetz gilt auch für digital arbeitende Menschen!)

Wir erinnern uns ganz kurz: Ende 2016 hatte sich Frau Nahles im Rahmen der Vorstellung des Weißbuchs Arbeiten 4.0 selbst für eine Öffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz auf der Basis tarifpartnerschaftlicher Verabredungen ausgesprochen. Da ging es doch auch um die Umsetzung einer Experimentierklausel. Das ist aber irgendwann auf der Strecke geblieben. Vielleicht gab es Widersprüche in der Koalition oder innerhalb der SPD. Sei es drum!

Wir wissen aber auch: Die SPD hat die Enquetekommission „Digitale Transformation der Arbeitswelt in Nordrhein-Westfalen“ auf den Weg gebracht. Doch schnell konnte man feststellen: Ihnen geht es hier nur um die Risiken. Sie brauchen noch eine Notwendigkeit für weitere gesetzliche Regulierungen. Wir sehen hingegen die Chancen.

Ich glaube, selbst Ihnen sollte bewusst sein, dass die Digitalisierung die Arbeitswelt – wie auch andere Lebensbereiche – grundlegend verändern wird.

(Michael Hübner [SPD]: Es gibt aber immer noch Arbeitszeit! Meine Güte! Digitalisierung ist auch Arbeitszeit!)

Deswegen ist wichtig: Wir brauchen hier mehr Möglichkeiten für die Menschen, selbstbestimmt zu arbeiten und sich Arbeitszeit und Arbeitsort, aber auch die Organisation selbst einzuteilen.

Die Beschäftigung zeigt sich auch nicht nur in der reinen Präsenzpflicht. Insofern brauchen wir freiere Formen der Arbeitsgestaltung. Dann können auch die Beschäftigten die Arbeit besser mit Familie, Weiterbildung und Freizeit vereinbaren.

(Michael Hübner [SPD]: Freizeit ist nicht vom Arbeitszeitgesetz abgedeckt!)

Das mögen Sie vielleicht nicht glauben. Ich habe mir von einer Kollegin allerdings sagen lassen, dass die reine Anwesenheit kein Leistungsmerkmal ist.

(Beifall von der FDP – Rainer Schmeltzer [SPD]: Das merkt man gerade!)

Wenn die reine Anwesenheit aber doch ein Leistungsmerkmal wäre, dann müsste man sagen: Diese Leistung haben Sie gestern Abend nicht mehr erbracht. Das konnte man deutlich sehen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Die letzte Rednerin war auch keine Leistung!)

Dieses Beispiel brachte auch der Kollege Schmitz. Ich weiß nicht, wer von Ihnen aus der Personalbranche kommt. Führen Sie doch einmal ein Bewerbungsgespräch. Eine der ersten Fragen ist dort: Welche Möglichkeiten habe ich hier, ein Teil meiner Arbeitszeit via Homeoffice zu bestreiten? Wie kann ich das Ganze mit der Kinderbetreuung flexibler gestalten?

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das wird die Kollegin sich auch gefragt haben! – Michael Hübner [SPD]: Teile der Arbeitszeit!)

Das Problem ist, dass zu wenige von Ihnen aus der Privatwirtschaft kommen. Sonst wüssten Sie das. Dann hätten Sie es vielleicht einmal registriert.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Es geht hier um praktikable Regelungen – ganz klar unter dem Tarifvorbehalt.

(Unruhe – Glocke)

Das aktuelle Arbeitszeitgesetz ist inzwischen schon 24 Jahre alt. Es stammt noch aus einer Zeit, in der das Internet kurz vor der Schwelle zu kommerziellen Anwendungen stand. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, zu fragen, wie man das denn jetzt sagen kann. Wir wollen doch nicht die Höchstarbeitszeit erhöhen. Wir bleiben bei den 48 Stunden gemessen an der europäischen Arbeitszeitrichtlinie.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Sie interessiert die Ruhezeit zur Erhaltung der Gesundheit? – Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales – Gegenruf von Rainer Schmeltzer [SPD]: Hast du eigentlich schon mit der Gewerkschaft gesprochen?)

Wir brauchen aber die Flexibilität weg von der täglich festgeschriebenen Höchstarbeitszeit.

Auch beim Thema der ununterbrochenen Ruhezeit sage ich ganz klar: Es geht nicht darum, an den Arbeitsschutz heranzugehen. Es geht auch um Folgendes – das Beispiel brachte der Kollege Schmitz –: Was ist denn jetzt? Ich gehe morgens zur Arbeit und mittags nach Hause, weil ich vielleicht die Kinder auch einmal sehen will. Anschließend arbeite ich abends von zu Hause aus. Streng genommen dürfte ich dann ja am nächsten Morgen nicht ins Büro gehen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Die Erde ist eine Scheibe!)

Sie lassen auch heute schon Millionen Arbeitnehmer in dieser Illegalität verharren. Spätestens hier sollte doch klar sein: Wir brauchen dringend ein Update beim Arbeitszeitgesetz.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich brauche jetzt nicht mehr – mit Erlaubnis des Präsidenten – aus dem Koalitionsvertrag zu zitieren; denn letztendlich spricht die Überraschung Ihrerseits, dass wir diese Initiative gestartet haben, für sich.

(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)

Kollege Neumann hat gesagt: Warum denn kein Gesetzentwurf, sondern nur ein Entschließungsantrag? Wo sind die eigenen Ideen? – Sie stehen doch ganz konkret im Entschließungsantrag drin.

Ich gehe auf zwei konkrete Regelungen ein, und zwar zum einen auf das Thema „wöchentliche Höchstarbeitszeit statt täglich festgeschriebener Arbeitszeit“ und zum anderen auf das Thema „Verkürzung der Ruhezeit“. Dort besteht erstens ein Tarifvorbehalt, und zweitens soll es nur mit gleichwertigen Ausgleichsruhezeiten zulässig sein.

Deswegen kurz zusammengefasst: Wir wollen mit diesen Vorschlägen die Chance der Digitalisierung besser nutzen, gleichzeitig aber auch den Beschäftigten mehr Freiheit bei der Gestaltung ihrer Arbeitszeit ermöglichen. Sie können gerne weiter in der Vergangenheit leben. Wir richten den Blick nach vorn. – Danke schön.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die AfD spricht nun der Abgeordnete Herr Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Meines Erachtens muss man sich diesem Thema in mehreren Schritten nähern.

Auf der einen Seite ist es immer wieder erschreckend, was für ein Bild bei der SPD vorherrscht, wenn es um die Betrachtung von Arbeitgebern geht. Da hat man stets den Eindruck, dass – so stellen Sie es in dieser Angstmacherei ja dar – das Großkapital die Arbeitnehmer frisst.

Sie sind in diesem Bereich sehr unauffällig. Aber Ihre europäischen Kollegen der Arbeiterparteien verquicken das dann auch gerne mal mit einem sekundären Antisemitismus. Zum Beispiel driftet Kollege Corbyn hin und wieder in ganz gefährliche Gewässer ab, wenn er über Großkapital spricht.

(Josef Neumann [SPD]: Warum sagen Sie das dann?)

Wie gesagt, möchte ich Ihnen das jetzt nicht anlasten. Das mache ich mir an dieser Stelle nicht zu eigen.

Es ist aber ein sehr gefährliches Fahrwasser, in das Sie sich begeben,

(Karl Schultheis [SPD]: Kennen Sie sich damit nicht besser aus?)

wenn Sie diese Zerrbilder entstehen lassen und wenn Sie in dieser Art und Weise auf einmal die Menschen aufhetzen und gegen die Arbeitgeber in Stellung bringen.

(Beifall von der AfD – Zurufe)

– Da oben geht schon wieder die Muppet Show los.

Das ist einer der Punkte. Sie müssen leider akzeptieren, dass es auch auf der linken Seite einen Antisemitismus gibt.

(Michael Hübner [SPD]: Was soll das denn jetzt? Was Sie hier machen, ist ja völlig überflüssig!)

Auch Sie sind in der Verantwortung, sich dagegen zu stemmen.

(Beifall von der AfD)

Schauen wir uns einmal an, wie das Arbeitsrecht heute aussieht. Tatsache ist doch: Im Jahr 2017 wurden 2,1 Milliarden Überstunden geleistet. 1 Milliarde davon wurden überbezahlt. Im Dunkelfeld steht noch eine ganze Reihe weiterer Überstunden an, die gar nicht so aufgefasst werden. Da funktionieren doch Arbeitsrecht, so wie Sie sich das vorstellen, und Arbeitsschutz, so wie Sie sich das immer noch aus Sicht der Menschen an den Hochöfen vorstellen, schon heute nicht mehr.

Was bringt den Menschen denn das verbriefte Recht auf diesen Arbeitsschutz, das Sie festschreiben wollen, wenn überhaupt keine Kontrolle stattfindet und gar keine Sanktion erfolgt? Was haben die Menschen davon, dass Sie jetzt wieder ein verbrieftes Recht dafür festschreiben wollen, wenn Sie das gar nicht durchsetzen können, weil dafür gar nicht die Möglichkeiten da sind?

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Guter Auftritt!)

Passen Sie doch endlich das Arbeitsrecht so an, wie es jetzt gefordert ist. Das wäre tatsächlich zeitgemäß.

(Beifall von der AfD)

Herr Mostofizadeh, Sie haben es gerade selber beschrieben. Die Zustände sind doch so. Die Menschen gehen dann bis spätabends arbeiten und müssen aufgrund des Fachkräftemangels morgens wieder zur Arbeit erscheinen. Das ist bei Ihnen in der Pflege so. Das ist bei uns Ärzten genauso. Bei 24-Stunden-Schichten ist es nun einmal so. Wer operiert dann nachts die Menschen? Das findet doch längst statt. Sie wollen festschreiben, dass das weiterhin im Dunkelfeld stattfindet.

Geben Sie doch wenigstens den jungen Leuten die entsprechenden Möglichkeiten. Geben Sie den Fachkräften die Möglichkeit, das von vornherein auch so auszuhandeln, wenn die entsprechenden Möglichkeiten im Rahmen des europäischen Arbeitsrechts bestehen.

Das ist doch keine – wie Sie das darstellen – Orbánisierung des deutschen Arbeitsrechts. Wir bleiben doch bei Wochenhöchstarbeitsstunden.

Aber geben Sie den jungen Leuten die Möglichkeiten, das wenigstens von vornherein auch zu auszuhandeln. Die Situationen sind doch längst schon so, dass diese Arbeitsschutzmaßnahmen gar nicht mehr eingehalten werden.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Geben Sie doch den Leuten die Möglichkeit, das von vornherein im Arbeitsvertrag so festzuhalten und es an die Realität anzupassen.

(Zurufe von Frank Müller [SPD] und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Die Bundesrepublik ist nicht mit den Möglichkeiten – so wie Sie das wieder darzustellen versuchen – des Amtsflurs gleichzusetzen. Gucken Sie sich die jungen Leute in den digitalisierten Unternehmen an. Sie arbeiten in Programmier-Runs teilweise 24 Stunden am Stück. Das geschieht aktuell alles im Dunkelfeld. Es ist derzeit so, dass da keiner genau hinschaut.

Geben Sie doch bitte aufgrund der europäischen Möglichkeiten den Leuten das Recht, das von vornherein arbeitsvertraglich so festzuhalten. Schieben Sie es nicht in die Illegalität ab. Geben Sie den Leuten die Möglichkeit, genau das von vornherein auszuverhandeln. Das trägt dann gerade der Situation von jungen Leuten Rechnung.

Ich bitte Sie: Glauben Sie doch einmal ein bisschen an den Markt. Pflegekräfte bekommen heute Kopfpauschalen schon allein dafür, dass sie die Probearbeitszeit überstehen. Vertrauen Sie doch einmal ein bisschen darauf, dass der Markt das dann regelt.

Wenn Sie eine Pflegekraft einstellen wollen und die Pflegekraft dann die Möglichkeit hat, das von vornherein auszuhandeln: Warum denn nicht? Dann gibt es eben die entsprechenden Möglichkeiten.

Mit dem, was Sie da machen, richten Sie den Blick in die Vergangenheit. Das, was Sie da machen, findet so überhaupt nicht mehr statt. Hallo! Wir sind im Jahre 2019 und nicht mehr im Jahr 1880. Es ist unfassbar, was Sie da machen.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Herr Dr. Vincentz, Sie haben sich im ersten Teil Ihrer Rede gegenüber den Kolleginnen und Kollegen der SPD unparlamentarisch geäußert. Ich muss Sie diesbezüglich ermahnen.

(Andreas Keith [AfD]: Das kann gar nicht sein!)

Meine Damen und Herren, nun darf ich für die Landesregierung Herrn Minister Laumann das Wort erteilen.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte ist vor allen Dingen von SPD und Grünen viel gesagt worden, was man mit unserem Antrag gar nicht verbinden kann.

Erstens ist nach diesem Antrag völlig klar, dass das deutsche Arbeitszeitgesetz, wie es heute besteht, Realität und Grundlage ist.

In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass das heutige Arbeitszeitgesetz in Deutschland 25 Jahre alt ist.

(Zuruf von der SPD: Kein schlechtes Alter! – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Es scheint sich ja bewährt zu haben!)

Ich kann mich deswegen gut daran erinnern, weil es das erste Gesetz war, bei dem ich damals als junger Abgeordneter Berichterstatter meiner Fraktion im Deutschen Bundestag war. Das ist ein Vierteljahrhundert her.

Wir haben damals ein Arbeitszeitgesetz bezogen auf die damalige Situation der Wirtschaft gemacht. Es war im Übrigen auch damals stark umstritten. Jetzt sind wir 25 Jahre weiter. Es wird doch wohl niemand allen Ernstes sagen können, dass die Arbeitswelt in Deutschland heute noch so ist wie vor 25 Jahren.

(Zuruf von der AfD: Die SPD macht das!)

Jetzt sage ich Ihnen auch ganz ruhig, dass dieses Arbeitszeitgesetz, das damals richtig war, für die allermeisten Branchen in Deutschland auch heute noch eine Grundlage ist, mit der sie gut zurechtkommen.

(Nadja Lüders [SPD]: Es geht nicht um die Branchen, sondern um die Arbeitnehmer!)

– Entschuldigung. Lassen Sie mich einmal ausreden.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das sagt ja der Richtige! Mir kommen die Tränen!)

Zweitens. Wir müssen ja wohl zugeben, dass wir heute teilweise ganz andere Arbeitsmethoden haben als damals. Die Arbeitswelt ist vielschichtiger geworden. Da gibt es die Menschen, die sehr froh darüber sind, dass sie ein oder zwei Tage in der Woche von zu Hause aus arbeiten können. Das ist im Übrigen im MAGS eine sehr beliebte Variante gerade bei denjenigen, die kleine Kinder oder pflegebedürftige Verwandte haben.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Aber warum müssen wir auf elf Stunden verkürzen? – Zuruf von der SPD)

– Moment. Hören Sie sich das doch einmal ruhig an.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Nein! – Gegenruf von Ralph Bombis [FDP]: Hören Sie doch mal zu!)

Wenn diese Leute abends, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht haben, noch einmal die Mails checken, ist das in Wahrheit schon eine Unterbrechung der Ruhezeit, und sie verstoßen gegen das Arbeitszeitgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

(Michael Hübner [SPD]: Richtig! Genau!)

Und jetzt frage ich Sie: Wie oft passiert das denn in Ihren Büros? Verschließen Sie doch nicht die Augen davor, wie die Lebenswirklichkeit mittlerweile ist.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD – Michael Hübner [SPD]: Jetzt ist die Frage, in welche Richtung wir das anpassen!)

– Lassen Sie mich doch einmal im Zusammenhang vortragen.

Wir müssen doch einsehen, dass die Arbeitswelt von Branche zu Branche sehr viel unterschiedlicher ist als noch vor 25 Jahren. Der Grundgedanke dieses Antrages ist, dass wir glauben – auch ich glaube das; deswegen habe ich bei dem Antrag überhaupt kein schlechtes Gewissen –, dass es heute nicht mehr möglich ist, mit einem Gesetz, das der Deutsche Bundestag verabschiedet, der Lebenswirklichkeit aller Branchen in Deutschland Rechnung zu tragen. Wir können im Deutschen Bundestag nicht ein Arbeitszeitgesetz für alle Branchen machen.

(Beifall von der CDU – Nadja Lüders [SPD]: Es geht um die Lebenswirklichkeit der Arbeitnehmer!)

Deswegen haben wir gesagt: Man muss vom deutschen Arbeitszeitgesetz abweichen können.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das kann man heute schon!)

Man kann abweichen – unter dem Tarifvorbehalt.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Kann man heute schon!)

Die europäische Arbeitszeitrichtlinie muss natürlich in jedem Fall eingehalten werden.

(Michael Hübner [SPD]: Wird sie doch!)

Jetzt frage ich Sie: Was ist denn dagegen einzuwenden,

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Gar nichts! Das gilt ja schon! – Nadja Lüders [SPD]: Das ist die Realität!)

dass man das über Tarifverträge regelt, wenn man dabei den Rahmen der europäischen Arbeitszeitrichtlinie berücksichtigt? Hier will doch wohl niemand sagen, dass die europäische Arbeitszeitrichtlinie nicht den Gesundheitsschutz der Menschen im Auge hat. Denn diese europäische Arbeitszeitrichtlinie ist sowohl von der sozialistischen Fraktion als auch von der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament unterstützt und am Ende ratifiziert worden. Darauf will ich nur einmal hinweisen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Nun möchte ich Ihnen noch etwas vorlesen, was die SPD zumindest unterschrieben hat. Ich zitiere aus dem Tarifvertrag – aus dem Koalitionsvertrag

(Heiterkeit – Zuruf von der CDU: Der war gut!)

der jetzigen Bundesregierung. Da steht ab Zeile 2361 geschrieben:

„Wir werden über eine Tariföffnungsklausel im Arbeitszeitgesetz Experimentierräume für tarifgebundene Unternehmen schaffen, um eine Öffnung für mehr selbstbestimmte Arbeitszeit der Arbeitnehmer und mehr betriebliche Flexibilität in der zunehmend digitalen Arbeitswelt zu erproben. Auf Grundlage von diesen Tarifverträgen kann dann mittels Betriebsvereinbarungen insbesondere die Höchstarbeitszeit wöchentlich flexibler geregelt werden.“

Das, was wir in unserem Antrag geschrieben haben, geht nicht einmal so weit wie das, was im Koalitionsvertrag von Berlin steht.

(Beifall von der CDU)

Denn ich habe in diesem Entschließungsantrag eine Sache ganz klar festgeschrieben: dass man nur dann abweichen kann, wenn man den gesamten Tarifvertrag anerkennt.

Das heißt, wenn das Start-up sagt: „Ich möchte vom deutschen Arbeitszeitgesetz abweichen“, muss es den gesamten Tarifvertrag anerkennen – auch dort, wo es um Entlohnung, um Urlaub und um andere soziale Standards geht.

(Bodo Löttgen [CDU]: So ist das!)

Dann denken Sie doch einmal über Folgendes nach: Wenn heute nur noch 50 % der Arbeitnehmer tarifgebunden sind, ist es vielleicht auch einmal sinnvoll, ein Gesetz zu machen, von dem man nur dann profitieren kann, wenn man sich einer Tarifgebundenheit unterwirft.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Daher ist dieses Gesetz auch ein Gesetz zur Stärkung der Tarifvertragsparteien. Deswegen ist das eine gute Überlegung. Ich hoffe, dass sie sich auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzt.

(Beifall von der CDU und der FDP – Rainer Schmeltzer [SPD]: Hast du das mit der IG Metall auch schon besprochen?)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Frau Kapteinat das Wort.

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung vorab: Der Beitrag, der gerade von der AfD kam, war für mich zum Teil nicht nachzuvollziehen, weil ich überhaupt nicht wusste, worauf der Kollege hinausmöchte. Der Versuch, in dieser Debatte Antisemitismus zu erkennen, fiel mir schon sehr schwer. Ich finde das sehr respektlos – insbesondere, wenn ich mir überlege, was eigentlich unter Antisemitismus zu verstehen ist.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Markus Wagner [AfD])

Spannend ist es sicherlich, wenn man darüber nachdenkt, dass sich nun ausgerechnet die AfD auf Europa bezieht. Das wird dann schon relativ absurd.

Zur Frage, ob ein flexibleres Arbeitszeitengesetz aufgrund der Digitalisierung erforderlich ist, ob also ein Erfordernis besteht: Wenn wir das gegenüber dem Schutz des Arbeitnehmers abwägen, ist das vermutlich eher nicht der Fall.

Aber um das ganz klar zu sagen: Wir stehen der Digitalisierung sehr positiv gegenüber. Wir finden, dass es ganz tolle Aspekte bei der Digitalisierung gibt. Die Frage ist nur, wie man die Digitalisierung nutzt.

Man könnte ja auch einmal darüber nachdenken, die Digitalisierung und damit einhergehende Steigerungen von Produktivität so zu verstehen, dass der Gewinn des Unternehmens nicht weiter auf Kosten der Arbeitnehmer gesteigert werden sollte, sondern dass wir über 30- oder 35-Stunden-Wochen nachdenken und schauen, was wir eigentlich dem Arbeitnehmer bieten können.

Denn beim Arbeitszeitgesetz geht es nicht darum, was die Branchen brauchen oder meinen, zu brauchen, sondern darum, was der Arbeitnehmer an Schutz braucht. Das sollte uns allen wichtig sein.

(Beifall von der SPD)

Die permanente Erreichbarkeit, die wir nicht nur im Berufsleben, sondern sicherlich auch im Privatleben haben, ist etwas, was allen zusetzt – nicht nur der Generation Y oder auch Z, die sicherlich schon ein starkes Bedürfnis nach und eine starke Ausrichtung auf Work-Life-Balance hat. Gerade diese jungen Familien brauchen Regelungen, die Ansprüche schaffen und ihnen nicht mehr Pflichten auferlegen.

Wir haben eine EU-Richtlinie. Genau diese hat aber dazu geführt, dass es tatsächlich in den meisten Ländern eine 40-Stunden-Woche gibt. Ich gehe nicht davon aus, dass einer von Ihnen österreichische oder ungarische Verhältnisse in Deutschland haben möchte, was den Schutz von Arbeitnehmerrechten angeht.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wir sollten darüber hinaus auch die demografische Entwicklung im Auge behalten; denn wenn eine weitere Belastung von Arbeitskräften zu einer verstärkten Frühverrentung führt, ist das sicherlich nicht hilfreich, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Wir wollen und sollten – übrigens auch im Interesse der Branchen – die Leute sich nicht kaputtarbeiten lassen.

Darüber hinaus dürfen wir aber insbesondere hier in Nordrhein-Westfalen auch Folgendes nicht vergessen: NRW ist ein Pendlerland. Ein bis zwei Stunden Fahrt zu und von der Arbeit sind hier längst nichts Besonderes. Wir wissen aber, dass bereits nach acht Stunden – wenn man da überhaupt von „bereits“ sprechen kann – die Produktivität sinkt.

Vor allem steigt die Fehlerquote. Wir haben uns hier sehr viel über den Bereich der Medizin unterhalten. Als Patient habe ich ein ganz besonderes Interesse daran, dass jemand auch nach acht Stunden noch weiß, was er mir gerade spritzt oder welche Pillen er mir verschreibt. Ich hoffe, dass es Ihnen auch so geht.

Noch einmal: Das Arbeitszeitgesetz dient dem Schutz der Arbeitnehmer. Ich weiß, dass es nicht immer en vogue ist, das in den Vordergrund zu stellen. Zwar ist es ganz wichtig, die Branchen zu bedenken. Aber wenn ich mich daran erinnere, wie mit der Einführung des Mindestlohns der Untergang des Abendlandes herbeigeredet wurde, kann ich nur feststellen: Gekommen ist er nicht. – Darüber bin ich sehr froh.

Wir wissen, dass Stress und psychische Erkrankungen seit Jahren auf dem Vormarsch sind. Es gibt übrigens Länder, die diesbezüglich schon Pilotprojekte starten und schauen, wie man dem entgegenwirken kann.

Ich erinnere da zum Beispiel an Schweden, wo über Sechsstundentage gesprochen wurde und diese auch ausprobiert worden sind. Konsequenz: Sie führten zu einer höheren Produktivität der Arbeitnehmer und der Unternehmen. Sie führten zu weniger Krankenständen. Sie führten zu weniger sogenannten natürlichen Pausen, die Arbeitnehmer machen. Die Mitarbeiter waren gesünder und haben mehr Sport gemacht. Die Gesellschaft als Ganzes hat profitiert.

Vor allen Dingen waren die Mitarbeiter – ich weiß; auch das steht für viele nicht im Vordergrund – glücklich. Sie hatten das Gefühl, ein Leben zu führen, wie sie es sich wünschen – ein Leben, bei dem das Familienleben und die Freunde im Vordergrund stehen und nicht die Arbeit.

Um das noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es geht uns nicht darum, dass in erster Linie die Branchen das bekommen, was sie wollen, sondern es geht uns darum, dass der Arbeitnehmer den Schutz erhält, den er braucht.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Gestatten Sie mir noch einen letzten Satz zur Tarifgebundenheit, die ich grundsätzlich natürlich absolut befürworte und toll finde. Da bin ich ganz bei Ihnen. Aber wozu sogenannte Scheingewerkschaften und die Debatten, die dann zum Teil entstehen, führen, darf man einfach nicht außer Acht lassen. Deswegen ist ein vernünftiges Arbeitszeitgesetz nach wie vor sehr wichtig. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion der Grünen hat sich Herr Mostofizadeh noch einmal zu Wort gemeldet.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsminister hat eben wieder eine große Geschichte über die Flexibilisierung der Arbeitszeiten vorgetragen. Aber lassen Sie uns doch einfach wieder auf den Kern zurückkommen, über den wir heute reden, Herr Minister Laumann.

In Ihrem Antrag an den Bundesrat geht es nicht um die generelle Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes, sondern darum, die Vereinbarung der täglichen Arbeitszeit zu einer Vereinbarung der wöchentlichen Arbeitszeit umzufunktionieren und die Ruhezeiten zu verkürzen. Das soll auch noch mit einem angemessenen Schutz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einhergehen.

Da ist nicht die Rede davon, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Anrecht erhalten sollen, Pflegezeiten zu bekommen, Betreuungszeiten für Kinder zu bekommen oder andere Flexibilisierungen zu bekommen, die ihnen nutzen würden. Vielmehr ist das eine einseitige Beschränkung der Arbeitnehmerrechte zugunsten der Arbeitgeber.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das ist die Wahrheit, über die wir heute reden.

Lassen Sie mich noch einige Zahlen nennen, damit wir nicht im luftleeren Raum schweben, wo Sie ein Bild zeichnen, dass hier die Verrückten sind, die die Arbeitnehmerrechte schützen und im vorherigen Jahrhundert zur Zeit der Brennöfen leben. Was die Verbrennung der Braunkohle anbetrifft, sind Sie ja ganz vorne dabei, das immer voranzustellen. Vielleicht sind Sie doch ein bisschen zurückgeblieben, was die Beurteilung dieser Zeiten anbetrifft.

Bezüglich der Souveränität von Arbeitszeitregelungen hat der DGB Folgendes erhoben: 54 % der Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer haben keinen oder wenig Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitszeiten. 20 % der Beschäftigten ohne Abschluss haben gar keinen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitszeiten.

Was die Frage der Fähigkeiten anbelangt, ist Folgendes festzuhalten: Es gibt eine Zweiklassengesellschaft. Diese Problematik wird sich noch verschärfen. Durch die zunehmende Digitalisierung, die zunehmende Arbeitszeit und die Möglichkeiten des Homeoffice wird es sich natürlich noch einmal zulasten der weniger gut qualifizierten Arbeitskräfte verschlechtern. Wir werden das nicht durch ein Arbeitszeitgesetz regeln können, sondern müssen uns möglicherweise andere Gestaltungsoptionen vornehmen.

Wir können doch nicht verschweigen, dass alles das zur Realität des Arbeitsalltags der Menschen hier in Deutschland und in ganz Europa gehört, Herr Minister.

Eines möchte ich Ihnen auch noch sagen, weil die Kollegin Kapteinat es eben noch einmal angesprochen hat: Vergessen Sie nicht die Kosten dafür, dass Menschen länger arbeiten müssen. Ich habe mir die Zahlen eben noch einmal herausgeholt. Nach zwölf Stunden Arbeitszeit verdoppelt sich das Risiko eines Arbeitsunfalls. Es verdoppelt sich! Schon nach sieben Stunden ist es erheblich erhöht und nach acht Stunden in besonderer Weise erhöht. Das müssen Sie als Minister, der für Arbeitsschutz zuständig ist, doch wissen. Deswegen kann es doch nicht sein, dass wir immer am Rand herumschrauben.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Wir, die wir im politischen Alltag unterwegs sind und sehr viel Flexibilität an den Tag legen müssen und das sicherlich auch unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abfordern – das sage ich Ihnen aus eigener Erfahrung –, haben eine hohe Verantwortung für unsere Leute, eben nicht zuzulassen, dass sie den ganzen Tag erreichbar sind und immer wieder die Mails checken. Das elektrisiert die Leute und stellt sie dauernd unter Strom. Wir haben eine Verantwortung in der gesamten Gesellschaft dafür, das auszuschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Deswegen finde ich die Art und Weise der Debatte auch sehr beachtlich. Wenn man hört, dass ein Lkw-Fahrer bis Wuppertal fährt und aufgrund der Lenkzeitbeschränkungen die letzten 20 km dann nicht mehr weiterfahren darf, denkt man natürlich auch: Ach, was ist das unflexibel. – Aber die Wahrheit ist doch andersherum. Dass er überhaupt bis dahin gekommen ist, liegt doch an der fehlenden Planung, die vorher geschehen ist. Das gehört doch auch zur Wahrheit dazu.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist das im Arbeitsalltag immer ein Aushandeln der Rechte der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Natürlich gibt es schlechte und gute Arbeitsverhältnisse. Das ist gar keine Frage. Aber wir haben als Gesetzgeber eine hohe Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ein fairer Ausgleich erfolgt. Dazu mag es auch unterschiedliche flexible Modelle geben.

Aber unser Arbeitszeitgesetz bietet – anders, als hier immer suggeriert wird – sehr viele Möglichkeiten der Flexibilisierung, wenn sie denn angewandt werden. Es wäre aller Ehren wert, das in der Enquetekommission weiter zu diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Daher schließe ich die Aussprache.

Wir kommen damit zu:

2   Jeder Fall ist ein Fall zu viel – alle Kräfte mobilisieren für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5066 – Neudruck

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU-Fraktion Frau Vogt als erster Rednerin das Wort.

Petra Vogt (CDU): Herr Präsident! Mit Ihrer Erlaubnis würde ich meine Rede heute gerne mit einem Zitat aus der Zeitung „Die WeLT“ vom 7. Februar 2019 beginnen:

„Man kann das Leben nur ertragen, indem man sich bestimmte Dinge nicht vorstellt. Man darf sich zum Beispiel auf keinen Fall vorstellen, wie die unzähligen kleinen Kinder gelitten haben, die auf dem Campingplatz im westfälischen Lügde missbraucht und vergewaltigt wurden. Man darf sich nicht vorstellen, wie weh ihnen das tat, wie sie weinten, wie viel Angst sie hatten, welchen Ekel sie empfanden, wie verlassen sie sich fühlten.“

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Man muss es sich vorstellen!)

Sehr geehrte Damen und Herren, ich glaube, der Gedanke, dass Kindern und auch Jugendlichen Leid angetan wird, ist für uns alle unerträglich. Die kürzlich publik gewordenen Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs in Lügde haben uns alle zutiefst erschüttert.

Hier wird nur allzu deutlich: Kinder sind auf unseren Schutz angewiesen. Sie brauchen jemanden, der ihnen Sicherheit gibt – Menschen, auf die sie sich verlassen können, die ihnen Halt geben, besonders in schwierigen Situationen, und die ihnen aus der Gefahrensituation heraushelfen.

Es ist daher auf das Schärfste zu verurteilen, wenn jemand ihnen diesen Schutzraum entzieht und ihre Angreifbarkeit ausnutzt.

Ich sage hier sehr deutlich, sehr geehrte Damen und Herren: Es macht mich fassungslos, dass unser Land mit all seinen Möglichkeiten, die wir haben, nicht in der Lage war, diese Kinder zu beschützen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich fordere daher eine lückenlose Aufklärung dieses Falles und klare Maßnahmen, die verhindern, dass sich solche schrecklichen Verbrechen wiederholen können. Dazu gehört auch, dass alle etablierten Maßnahmen auf den Prüfstand gestellt werden und man ganz genau schaut, wie wirksam sie sind und was wir verändern müssen, damit sich so etwas nicht wiederholen kann.

Denn solche belastenden Erlebnisse, seien es psychische, physische oder körperliche Missbrauchsfälle, können ein Kind über sein gesamtes Leben prägen. In der Kindheit entwickeln wir uns, bilden unseren Charakter und wachsen zu der Persönlichkeit heran, die wir einmal sein werden.

Wenn einem Kind in dieser Entwicklungsphase so etwas Schlimmes widerfährt, hinterlässt das dramatische Spuren. Viele Betroffene bleiben ihr Leben lang durch die Missbrauchserfahrungen gezeichnet.

Sehr geehrte Damen und Herren, Behörden und alle notwendig Beteiligten sind in Deutschland fest verankert, um zum Wohle des Kindes zu handeln und seine Sicherheit zu gewährleisten. Wir wissen um unsere Verantwortung hier im Land Nordrhein-Westfalen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den vielen staatlichen Behörden und Pflegefamilien danken, die sich mit unermüdlichem Einsatz um das Wohl unserer Kinder und Jugendlichen kümmern.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Diese Menschen, die mit voller Überzeugung ihre Arbeit tun, sollen nicht unter diesen Generalverdacht kommen, der durch diesen schrecklichen Fall entstehen kann, den wir jetzt vorliegen haben. Das, denke ich, muss der Gerechtigkeit halber auch gesagt werden.

Aber genauso gehört zur Wahrheit dazu, dass es immer noch Missbrauchsfälle gibt, die unentdeckt bleiben. Es darf nicht sein, dass bewusst weggesehen werden kann, wenn etwaige Verdachtsfälle aufkommen.

Manchen Kindern fehlt auch der Mut, um von dem, was ihnen widerfahren ist, zu erzählen, und so bleiben sie in der Missbrauchssituation gefangen.

Wir können dankbar sein, dass viele Kinder in einem liebenden und sicheren Umfeld aufwachsen. Doch hier muss uns allen auch bewusst sein: Kein Kind ist sicher vor Missbrauch. Täter können auch aus dem vertrauten Umfeld stammen.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Stammen sie meistens!)

Sie nutzen die Abhängigkeit und das Liebes‑ und Trostbedürfnis von Kindern und Jugendlichen aus. Deshalb benötigen Kinder und Jugendliche Schutz durch Eltern, Familien, Freunde oder Betreuer und staatliche Schutzbehörden.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich glaube, wir sind uns alle einig, dass der Schutz von Kindern oberste Priorität haben muss. Es gibt immer noch zu viele Opfer. Allein dass einem einzigen Kind Missbrauch widerfährt, ist immer ein Opfer zu viel.

Daher lassen Sie uns bitte am heutigen Tage gemeinsam klarstellen, dass wir dagegen vorgehen, dass wir gemeinsam Maßnahmen treffen werden, damit so etwas sich nicht wiederholt.

Ich freue mich auch, dass dieser Antrag, der auf Initiative der NRW-Koalition eingebracht wurde, am heutigen Tag von der SPD-Fraktion und den Grünen unterstützt wird. – Zum Wohle unserer Kinder herzlichen Dank, und danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Vogt. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Ganzke das Wort.

Hartmut Ganzke (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In unserem gemeinsamen Antrag, den wir hier diskutieren, steht im Forderungskatalog unter der Ziffer 3 – ich zitiere –:

„Der Landtag beauftragt die Landesregierung, eine effektive Verfolgung und Bestrafung von Tätern und Unterstützern von Missbrauch zu gewährleisten.“

Wie wichtig gerade diese Forderung werden wird, war – so muss ich Ihnen sagen – mir in dieser Tiefe und in dieser immerwährenden Aktualität bis gestern nicht immer bewusst.

„Hören wir den Schrei der Kleinen, die Gerechtigkeit verlangen.“ Mit diesen Worten eröffnete Papst Franziskus gestern den ersten Kinderschutzgipfel im Vatikan.

Dieses Zitat passt aber leider auch zu gut zu den dramatischen Enthüllungen von gestern, die die Landesregierung auch nicht mehr länger unter Verschluss halten konnte und auch nicht unter Verschluss gehalten hat.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich habe heute Morgen – das mache ich häufiger, bevor ich hier Reden halte – meine Mutter zu Hause im westfälischen Unna angerufen, 78-jährig, und gefragt: Sag mal, Mutter, es geht nicht darum, ob du mich gehört oder gesehen hast, sondern du hast Zeitung gelesen. Was sagst du denn dazu, was in der Zeitung steht, gerade zu dem Bereich Lügde? Was hältst du davon?

Und meine 78-jährige Mutter hat mir gesagt: Hartmut, ich verstehe das alles nicht. Da kommen mir Gedanken, die wollen mir gar nicht kommen, wenn ich das lese, was ich da lesen muss.

Denn was hat auch meine Mutter gelesen, und was haben wir alle gelesen? Am 20. Dezember werden zum letzten Mal 155 Datenträger in einem Alukoffer gesehen, die sich in einem Sichtungsraum der Kriminalpolizei befunden haben sollen. Erst am 30. Januar fällt auf, dass dieser Koffer fehlt.

Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir auch so hier diskutieren. Ich glaube, es ist auch wichtig – ich schließe an an die Kollegin –, dass wir hier gemeinsam über diesen Bereich diskutieren, der jetzt leider diese unglaubliche Aktualität gefunden hat.

Allein schon dieser Zeitablauf wirft Fragen auf – nicht nur für meine Mutter und für mich, sondern für uns alle.

Die Landesregierung hat auch der Öffentlichkeit versprochen, dass dieser Fall mit Hochdruck aufgeklärt werden wird.

Aber wir müssen konstatieren: Die Ermittlungsbehörden wollten 155 Datenträger über sechs Wochen lang noch nicht einmal anfassen. Wir fragen uns: Ist das der Hochdruck, den die Landesregierung verspricht?

Dann fällt am 30. Januar auf, dass dieses Datenmaterial weg ist. Und was passiert? Ich muss leider sagen: Zunächst passiert nichts, meine Damen und Herren, und zwar über weitere zweieinhalb bis drei Wochen.

In dieser Woche wird ein Sonderermittler in die Behörde geschickt, was völlig richtig ist. Wir fragen uns aber: Was soll dieser Sonderermittler jetzt nach sieben bis acht Wochen noch alles ermitteln, was vorher nicht ermittelt wurde?

Der Fall Lügde – auch das sage ich ganz klar – war Gegenstand der Sitzung des Integrationsausschusses, des Rechtsausschusses und auch des Innenausschusses in der vorletzten bzw. auch in der letzten Woche.

Keiner der drei Minister hat dort angedeutet – ich will auch ganz klar sagen: konnte möglicherweise auch gar nicht andeuten –, dass es einen Skandal dieser Dimension geben könnte – im Gegenteil.

Ich bin Mitglied im Rechts‑ und im Innenausschuss. Beide Minister haben jeweils angekündigt, dass die Täter die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen werden. Das ist auch Intention natürlich dieses Antrags, den wir hier gemeinsam machen.

Aber auch da müssen wir die Frage stellen: Seit dem 30. Januar ist bekannt, dass die Datenträger weg sind. Auf welcher Grundlage haben Sie, sehr geehrter Herr Innenminister, diese Aussage im Parlament gemacht? Das müssen wir fragen.

Diese Antworten müssen Sie und werden Sie geben. Vielleicht werden Sie auch sagen: Na ja, die jeweils untergeordneten Behörden haben Ihnen das nicht berichtet. – Aber das ist unserer Ansicht nach nur die halbe Wahrheit.

Denn Sie als Chef der Behörden in Ihren Geschäftsbereichen müssen Sorge dafür tragen, dass Sie alle Informationen nicht nur bekommen, sondern auch zeitnah bekommen. Wir haben Anhaltspunkte dafür, dass das nicht passiert, und das haben wir in der letzten Woche nicht nur für den Zuständigkeitsbereich des Rechtsausschusses gesehen.

Aber bevor wir sagen, dass die Minister ihre Geschäftsbereiche nicht im Griff haben, erklären wir ganz klar – und auch das wieder in Einigkeit, glaube ich, mit allen Fraktionen –, dass wir weiterhin ein sehr großes Vertrauen in die Arbeit unserer Polizei haben.

Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist es auch so wahnsinnig wichtig, dass wir nicht nur in der Opposition eine lückenlose Aufklärung dieses Falles fordern.

Wissen Sie, warum das so wichtig ist? – Damit jegliche Verschwörungstheorie, die draußen möglicherweise jetzt aufkommt, ausgeschlossen werden kann. Deshalb ist die lückenlose Aufklärung so wichtig.

(Beifall von der SPD, der CDU und den GRÜNEN)

Damit das Ansehen unserer Polizei eben nicht leidet, müssen wir zügig Transparenz herstellen. Da sage ich Ihnen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen der regierungstragenden Fraktionen: Dann haben wir möglicherweise auch eine andere Aufgabe als Opposition, nämlich besonders diese Zügigkeit an den Anfang, in die Mitte und an das Ende unserer Forderungen zu stellen und Sie immer wieder aufzufordern, so zügig wie möglich diese Transparenz herzustellen.

Wir als SPD erkennen an, Herr Minister Reul, dass Sie versuchen, diese Transparenz herzustellen. Mit der Pressearbeit gestern – so sind wir der Ansicht – ist das vielleicht ansatzweise gelungen, aber nicht in Gänze.

Denn wir fragen uns auch: Wenn der Minister darüber informiert ist in dem Bereich, wie ist dann die Information des Parlamentes zu gewährleisten?

Ich sage ganz klar und offen: Die Information der innenpolitischen Sprecher war gewährleistet, aber wir müssen weiter daran arbeiten, dass das gesamte Parlament und damit auch die Öffentlichkeit informiert wird. Da können auch 48 Stunden, die man wartet, zu lange sein, Herr Minister. Das ist, glaube ich, auch die Krux bei dieser Geschichte.

Sie haben jetzt einen Sonderermittler entsandt. Wir müssen sehen, wie dieser Sonderermittler mit seinem Team arbeitet, denn wir befürchten, dass die Dimension dieses Falles noch weiter geht.

Als der Fall Lügde bekannt wurde, war es für uns wichtig zu erfahren, ob Sie sich denn darum gekümmert haben, dass die Polizei vor Ort genügend Personal hatte, um einen Fall dieser Dimension aufzuklären.

Heute Morgen hat der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten bei WDR 5 gesagt, dass die Behörde überhaupt nicht die personellen Ressourcen hatte, diesen Fall vernünftig aufzuklären.

Da fragen wir Sie, Herr Reul: Wer ist in der Landesregierung zuständig und verantwortlich dafür, dass diese Sachen aufgeklärt werden?

Ich möchte keine Schärfe hineinbringen; ich hoffe, dass ich das auch nicht tue. Aber wir müssen insgesamt überlegen, ob die Einsatzzeiten für die Polizei richtig bemessen sind, wenn über 1.000 Beamte in Aktion geschickt werden und wir hier von Fachverständigen und Sachverständigen hören müssen, dass möglicherweise Beamte gefehlt haben, um dort intensiv aufzuklären.

Denn ist nicht der Schutz unserer Kinder das Wichtigste überhaupt? Kinder haben ein Recht auf den Schutz vor Gewalt. So steht es in Art. 6 Abs. 2 der Landesverfassung.

Aber Kinder, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben auch ein Recht darauf, dass wir diejenigen hart bestrafen, die Kindern Gewalt und vor allem sexuelle Gewalt antun.

Das ist das Wichtige, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass wir es schaffen, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, damit die Bevölkerung sagt, dass wir alles tun, damit die Täter auch bestraft werden können.

Dazu gehört eine intensive Aufklärungsarbeit. Dazu gehört auch, dass wir im Parlament intensiv weiter darüber diskutieren. Deshalb werden wir als SPD-Fraktion für die nächste Woche eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragen – nicht, um ein Tribunal zu veranstalten, nicht, weil wir uns möglicherweise Geländegewinne davon versprechen, sondern damit wir das machen, was wichtig ist, nämlich durch Aufklärung vom ersten Moment an Verschwörungstheorien gerade in diesem Fall den Boden zu entziehen. Das ist die Aufgabe von Politik. – Ich bedanke mich bei Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Ganzke. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Hafke.

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wieder einmal stehen wir fassungslos hier angesichts der fürchterlichen Missbrauchsfälle auf dem Campingplatz in Lügde. Wieder einmal ist es ein besonders monströser Fall, der die Öffentlichkeit schockiert und erschüttert.

Der Fall in Lügde macht deshalb auch so betroffen, weil die Taten so perfide waren. Egal, wie man es dreht oder auch wendet: Viel zu lange ist es einigen einzelnen Sexualstraftätern gelungen, alle zu täuschen. Sie haben eine enorme kriminelle Energie aufgewendet, um Eltern, Nachbarn und Behörden zu täuschen.

So ist es gelungen, über zehn Jahre lang schwerste Sexualstraftaten zu begehen, über 1.000 Sexualdelikte an den Kleinsten unserer Gesellschaft.

Der perfide Gipfel dieser monströsen Tat ist es, dass es ihm auch noch gelungen ist, ein Pflegekind als Lockvogel in die Finger zu bekommen, um damit andere Kinder und Jugendliche zu ihm auf den Campingplatz zu locken.

Als junger Familienvater – das sage ich auch ganz deutlich – kann und will ich mir überhaupt nicht ausmalen, was das für die Opfer bedeutet, was sie durchstehen mussten und jetzt auch im Rahmen dieser öffentlichen Debatte durchstehen müssen.

Meine Damen und Herren, ich sage das auch noch einmal hier in aller Deutlichkeit: Ich bin froh und dankbar, dass wir heute darüber diskutieren. Aber uns muss auch völlig klar sein, dass es heute und auch in den nächsten Wochen nicht darum geht, politische Geländegewinne zu erzielen, sondern dass es darum geht, diesen Fall lückenlos, zügig und transparent aufzuklären.

Lieber Kollege Ganzke, so habe ich den Innenminister verstanden bei seinen öffentlichen Äußerungen, und so habe ich auch den Familienminister Joachim Stamp verstanden, dass wir uns genau diesen Herausforderungen widmen, dass wir uns zum einen um das Thema „Aufklärung“ kümmern und zum anderen aber auch darüber diskutieren, wie so etwas passieren konnte, um strukturell vielleicht zu überlegen, wo unsere Systeme in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen noch nicht optimal funktionieren, damit so etwas nicht erneut passieren kann.

Deswegen hat diese Debatte zwei Dimensionen: zum einen die strafrechtliche und zum anderen die Diskussion um Kinderschutz und Prävention.

Deswegen will ich auch zu Beginn sagen, dass ich der Meinung bin, dass wir eine ernsthafte Debatte darüber führen müssen, wie solche Fälle überhaupt passieren können.

Ich will nicht einzelne Behörden grundsätzlich verurteilen, aber man muss durchaus politisch die Frage stellen, ob die Jugendämter überall im Land in der Lage sind, bei § 8a-Fällen – Kindeswohlgefährdung – angemessen zu reagieren. Deswegen müssen wir uns solche Fälle genau ansehen.

Es geht dabei nicht nur um Sexualdelikte; diese sind nur die Spitze dessen. Es geht um Gewalt gegen Kinder und Verwahrlosung.

Überall, wo Kinder in diesem Land gefährdet sind, müssen wir hinsichtlich der Präventionsmaßnahmen, die es ja in Fülle gibt, überlegen, ob sie zielgerichtet ankommen, den Kindern und Jugendlichen helfen und die Behörden unterstützen oder ob wir diesbezüglich nachsteuern müssen.

Ein Thema, das wir hier im Parlament mit dem Kollegen Laumann und anderen immer wieder diskutieren, ist die Frage, wie wir Ärztehopping verhindern können, also dass Eltern von Arzt zu Arzt gehen können und so Gewalt an Kindern verschleiert werden kann.

Ein zweites Thema ist, wie meine Vorredner schon gesagt haben, die lückenlose Aufklärung. Ich will das in aller Deutlichkeit sagen, und wir sind uns, glaube ich, alle einig, dass das passieren muss.

Das, was gestern an die Öffentlichkeit gelangt ist, dass noch einmal 153 CDs verschwunden sind, macht fassungslos. Es fehlen einem die Worte, und man kann nicht begreifen, wie so etwas passieren kann.

Deswegen bin ich froh und dankbar, dass der Innenminister ein Sonderermittlerteam eingesetzt hat, um das aufzuklären, denn es interessiert uns alle.

Es muss auch klar werden: Jemand, der sich an Kindern in diesem Land vergreift, muss mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft werden. Da müssen wir ein ganz deutliches Zeichen setzen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD und der AfD)

Ich bin froh und dankbar dafür, dass wir auch in diesem Rahmen darüber diskutieren, wie wir uns beim Thema „Cybercrime“ richtig aufstellen können. Die Landesregierung hat erste Maßnahmen in Angriff genommen, um Kompetenzen zu bündeln.

Meine ganz persönliche Meinung: Wenn wir feststellen, dass im digitalen Zeitalter zig Terabyte an kinderpornografischem Datenmaterial digital gelagert, vermarktet und verbreitet werden, muss ich als Politiker darüber nachdenken, ob wir nicht eine digitale Meldepflicht für Internetanbieter vorschreiben, sodass die Sicherheitsbehörden agieren müssen und können, sobald Datenmaterial hochgeladen wird.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich glaube, da sind das Recht der Kinder und der Kinderschutz höher anzusiedeln als andere Rechte, die wir in unserem Grundgesetz vereinbart haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Abschließend möchte ich mit auf den Weg geben, dass ich Familienminister Stamp und Innenminister Reul dankbar bin, dass wir das angehen und diese Diskussion in Ruhe, sachlich, schnell und konzentriert führen; das muss man nämlich auch machen.

Wir diskutieren darüber, dass solche Fälle wie in Freiburg, Lügde oder – Sie haben das dankenswerterweise schon angesprochen – bei der katholischen Kirche nicht unter den Tisch gekehrt werden, sondern dass sie in die Öffentlichkeit gehören, damit es auch abschreckt, dass das entsprechende Konsequenzen mit sich bringt.

Der vorliegende Antrag gibt uns die Chance, uns hinter diesen Maßnahmen zu versammeln, die Evaluierung von bestehenden Maßnahmen einzuleiten sowie die Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen und ihnen politische Rückendeckung zu geben.

Ich bin froh, dass wir das im Parlament diskutieren, weil wir dadurch in Zukunft die Möglichkeit haben, beispielsweise durch eine Anhörung von Experten die Landesregierung zu unterstützen, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dass wir hier am Ball bleiben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. – Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Paul von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Missbrauchsfälle von Lügde sind erschütternd. Mindestens 31 Kinder sind Opfer sexuellen Missbrauchs in über 1.000 Einzeltaten geworden, und es steht leider zu befürchten, dass sich die Zahlen weiter erhöhen.

Unter den Opfern sind – bislang bekannt – 27 Mädchen und 4 Jungen im Alter zwischen 4 und 13 Jahren.

Die Täter haben den massenhaften Missbrauch darüber hinaus auch noch gefilmt und das Material weitergegeben.

Diese Taten schockieren uns. Die Unterstützung der Betroffenen und ihrer Familien muss jetzt absolute Priorität haben. Unser Mitgefühl gilt den Opfern und ihren Familien.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Es muss jetzt lückenlos aufgeklärt werden – das haben ja bislang auch alle Kollegen und Kolleginnen so gesagt –, wie es dazu kommen konnte, dass die Täter über Jahre hinweg unentdeckt Kinder missbrauchen konnten.

Zu dieser Aufklärung muss neben den konkreten Ermittlungen gegen die Beschuldigten zwingend gehören, die Strukturen in den Blick zu nehmen und zu schauen, ob es individuelle Fehler bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Behörden – beispielsweise bei Jugendämtern und Polizei –, ob es Behördenversagen gegeben hat und ob es vielleicht auch strukturelle Defizite beim Kinderschutz in Nordrhein-Westfalen gibt.

Offenkundig hat es individuelle Fehler gegeben, wenn beispielsweise ein Jugendamtsmitarbeiter Aktenvermerke nachträglich rückdatiert.

Es muss auch geklärt werden, ob die Polizei nach ersten Erkenntnissen im Jahr 2016 mehr hätte tun und eventuell Ermittlungen hätte einleiten müssen.

Die Frage nach möglichem Behördenversagen: Welche Erkenntnisse wurden von welcher Behörde wann an welche andere Behörde weitergeleitet?

Viel wichtiger noch: Wenn Erkenntnisse nicht weitergegeben wurden, warum erfolgte dies eigentlich nicht?

Wieso hat es bei der Betreuung des Pflegevaters und Hauptbeschuldigten durch das zuständige Jugendamt eine Lücke in der Begleitung von acht Wochen gegeben?

Was passierte bei den Jugendämtern nach den ersten Hinweisen auf Missbrauch im Jahr 2016?

Kollege Ganzke hat darauf hingewiesen: Auch die aktuellen Ermittlungspannen werfen Fragen auf. Wie kann es sein, dass Beweise aus Räumen der Kriminalpolizei der Kreispolizeibehörde Lippe verschwinden?

Der Innenminister nennt das zu Recht einen Polizeiskandal. Es ist absolut unverständlich, wie ein Raum mit sensiblen und wichtigen Beweisstücken nicht vorschriftsmäßig gesichert sein kann.

Es ist aber genauso unverständlich, wie das Fehlen dieser Asservate so lange unbemerkt bleiben konnte. Sie sind zuletzt am 20.12.2018 gesehen worden; erst über einen Monat später ist der Verlust bemerkt worden. Dann dauert es – in einem so sensiblen Fall wie dem hier vorliegenden – noch einmal einen Monat, bis der Minister darüber informiert wird.

Da muss man doch wohl auch in Bezug auf die Informationsweitergabe zwischen Polizei und Innenminister von einem Kommunikationsversagen sprechen.

(Herbert Reul, Minister des Innern: Nein!)

Wir erwarten von Innenminister Reul, dass er dem Parlament in der nächsten Woche vollumfänglich darlegt, welche Erkenntnisse dem Ministerium jetzt vorliegen.

Wir werden – Kollege Ganzke hat es bereits gesagt – eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragen, denn es muss jetzt schnell aufgeklärt werden, was, wie und zu welchem Zeitpunkt bekannt gewesen ist.

Wie konnte es zu diesen massiven Polizeifehlern kommen? Wieso weiß das Ministerium eigentlich nicht, was in seinen Polizeibehörden los ist? Oder wie ist es anders zu erklären, dass der Minister erst Wochen später über einen solchen Vorfall wie das Verschwinden der Asservate Bescheid weiß?

(Beifall von den GRÜNEN)

Diese Fragen muss der Innenminister schnell und umfassend klären, um jedem möglichen Vertuschungsverdacht gegenüber den Behörden entgegenzuwirken und diesen konsequent auszuräumen.

Sehr geehrte Damen und Herren, jenseits der strafrechtlichen Aufklärung setzen wir mit diesem Antrag aber vor allem ein Zeichen, dass uns der Kinderschutz ein gemeinsames Anliegen ist.

(Beifall von Bodo Löttgen [CDU])

Diese schrecklichen Ereignisse von Lügde haben uns einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch ist.

Neben der Aufklärung des konkreten Falles – ich habe gerade beschrieben, welchen Aufklärungsbedarf es beim Umgang der Behörden damit gibt – müssen wir uns auch die Strukturen des Kinderschutzes in NRW generell anschauen; Kollege Hafke hatte bereits darauf hingewiesen.

Es wird – und das muss leider klar sein – nicht möglich sein, alle Taten zu verhindern. Wir müssen aber alles daran setzen, die Strukturen der Prävention bestmöglich aufzustellen und pädagogisches Personal, Ermittlungsbehörden und medizinisches Fachpersonal im Erkennen von und im Umgang mit sexuellem Missbrauch zu schulen.

Denn es ist leider bekannt, dass sexueller Missbrauch ein nicht leicht zu erkennendes Delikt ist. Für Kinder ist es oftmals noch sehr schwierig, grenzverletzendes Verhalten überhaupt zu erkennen und zu verbalisieren.

Darüber hinaus vertrauen sich Kinder häufig aus Scham, aus Angst, weil sie unter Druck gesetzt werden oder weil es einen Loyalitätskonflikt gibt niemandem an, was ihnen widerfahren ist, weil es oftmals Menschen aus dem direkten sozialen Umfeld sind.

Es ist wichtig, dass wir eine offene Kultur des Hinsehens in Kitas, Schulen, Vereinen, Einrichtungen usw. unterstützen und offen mit dem Thema „Missbrauch“ umgehen.

Wenn Einrichtungen sich öffnen und dieses Problem offen ansprechen, heißt das eben nicht, dass es dort ein konkretes Problem gäbe, sondern es heißt, im Sinne des Kinderschutzes eine Kultur des Hinsehens und Zuhörens zu unterstützen.

Einrichtungen sollen nicht nur nicht zu Tatorten werden, sondern sie sollen als Schutzorte für Kinder und Jugendliche weiter unterstützt werden.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Daher müssen wir sie dabei unterstützen, Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt einzuführen und diese auch konsequent umsetzen zu können.

Auch Eltern brauchen natürlich Unterstützung und Informationen, wenn es um Prävention geht, noch mehr aber natürlich, wenn es um einen konkreten Verdacht geht.

Auch hier müssen wir hinschauen, ob das Netz der spezialisierten Fachberatungsstellen in Nordrhein-Westfalen eng genug gesponnen ist oder ob wir bei spezialisierten Fachberatungen und Unterstützungsangeboten noch Nachholbedarf haben.

Gleichermaßen müssen wir aber auch Täterverhalten sichtbar machen und in den Blick nehmen, denn Missbrauch ist oftmals ein schleichender Prozess, in dem Täter die Gutgläubigkeit und die Schwierigkeiten, die Kinder beim Erkennen von Grenzüberschreitungen haben – ich hatte es gerade erwähnt –, bewusst ausnutzen. Auch das müssen wir transparenter machen; auch dort müssen wir im Erkennen von Täterverhalten besser werden.

Auch hier geht es um strukturelle Fragen – Kollege Hafke hatte schon darauf hingewiesen –: Wie sind unsere Jugendämter in NRW aufgestellt? Die pauschale Forderung nach Personal führt nicht zu mehr Kinderschutz.

Wohl wäre es aber wichtig, vonseiten des Landes eine Personalbedarfsanalyse in den Jugendämtern zu unterstützen. Ist das Personal dort auch richtig eingesetzt?

Diese Fragen müssen wir jetzt stellen, und diese Fragen müssen wir auch gemeinsam beantworten. Auch das Land ist in der Pflicht, die Kommunen als Träger der Jugendämter zu unterstützen.

Darüber hinaus fordert der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Fallobergrenzen einzuführen. In unseren 186 Jugendämtern in Nordrhein-Westfalen sind die Strukturen höchst unterschiedlich, aber zumindest einen solchen Standard der Fallobergrenzen halte ich für äußerst sinnvoll. Das sollte in dieser Art und Weise auch in Nordrhein-Westfalen eingeführt werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Minister Stamp hat bereits zu einer ersten Runde zur Weiterentwicklung des Kinderschutzes ins Ministerium geladen. Das darf allerdings keine einmalige Angelegenheit bleiben, sondern muss unter Beteiligung der Kommunen als Träger der Jugendhilfe, von Kinderschutzexpertinnen und ‑experten, der Justiz, der Polizei, von Betroffenenverbänden, aber eben auch des Parlaments kontinuierlich fortgeführt werden.

Lassen Sie uns auch weiterhin gemeinsam für den Schutz von Kindern und gegen jede Form von Gewalt und Missbrauch eintreten. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die AfD Fraktion spricht jetzt Frau Kollegin Dworeck-Danielowski.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Immer, wenn Kinder Opfer von Gewalt und/oder sexuellem Missbrauch werden, macht es uns besonders traurig, betroffen und oft auch einfach wütend.

Kinder sind schutzbedürftig, arglos, ohne Misstrauen und vor allem ohne jede Schuld. Dass erwachsene Täter diese offene, unschuldige Art missbrauchen, macht mich – insbesondere als Mutter von einem dreijährigen Mädchen und einem fünfjährigen Jungen, bei denen ich täglich diese offene Art ohne jedes Misstrauen erlebe – immer wieder fassungslos.

Deshalb findet der Antrag selbstverständlich auch unsere vollumfängliche Zustimmung. Wir hätten uns gefreut, ihn mit zu unterstützen.

Wenn man sieht, dass in vielen Bereichen der Kriminalitätsbekämpfung Fortschritte erzielt werden – wir haben gestern bereits darüber gesprochen –, muss man gerade, was die Gewalt an Kindern oder auch den Missbrauch von Kindern betrifft, bedauerlicherweise feststellen, dass die Zahl der Opfer und Taten keinen Anlass zu Zuversicht gibt.

Deshalb wünschen wir uns, dass die Feststellungen dieses Antrags und der Auftrag, der damit aus dem Parlament an die Landesregierung beschlossen wird, sehr ernst genommen werden und Vorrang genießen.

Es gibt Gesetzesreformen, bei denen es ärgerlich ist, wenn man etwas länger warten muss, aber mit jeder Woche, mit jedem Monat, den die Landesregierung in diesem Fall wartet, werden mehr Kinder misshandelt, sterben Kinder gegebenenfalls an den Folgen ihrer Misshandlungen, werden Kinder sexuell missbraucht und erleiden möglicherweise unwiderrufliche Schäden für ihr restliches Leben. Jedes einzelne Opfer, das verhindert werden kann, ist ein gerettetes Menschenleben.

Kinder haben einfach noch alles vor sich, Kinder können sich nicht selber schützen. Wir Erwachsenen haben die Verantwortung, das zu tun. Wenn dieser Schutz im eigenen Elternhaus, in der Kita, im Sportverein, im Schwimmverein, im Knabenchor, in der Kirche – wo auch immer – nicht mehr gewährleistet ist, muss konsequent eingegriffen werden.

Besonders bedrückend ist es, dass, wenn – wie in Ihrem Antrag gefordert – wachsame und aufmerksame Mitmenschen Hinweise an die Behörden geben, den Opfern dann aber trotzdem nicht geholfen wird. Die schrecklichen Ereignisse auf dem Campingplatz in Lügde und das Versagen der Behörden werden in Zukunft hoffentlich zu einer noch viel stärkeren Sensibilisierung führen.

Zu den verlorengegangenen Beweisstücken will ich mich an dieser Stelle gar nicht äußern.

Ebenfalls verstörend ist allerdings die Meldung rund um die sexuellen Übergriffe in einer Kita in Köln. Nicht nur wurden die Übergriffe über Monate hinweg von zwei fünfjährigen Kindern begangen – das allein wirft schon viele Fragen auf –, zur Krönung werden die Opfer und deren Eltern weiter beschwert, indem die Opfer die Kita verlassen müssen und die verständlicherweise aufgebrachten Eltern Hausverbot erhalten.

Die Eltern müssen ihre Kinder an der Tür abgeben, dürfen die Kita nicht mehr betreten, und sie dürfen zum 1. März auch noch einen neuen Betreuungsplatz für ihre missbrauchten Kinder suchen.

Es ist unfassbar, wie die Opfer mit ihren Schwierigkeiten alleingelassen werden und die verunsicherten Familien neben den Sorgen, die sie in Bezug auf ihr Kind haben, jetzt auch noch mit einer ungeklärten Betreuungssituationen belastet werden.

Bezugnehmend auf die davonlaufende Zeit möchte ich auch noch auf das Anliegen des RISKID-Vereins eingehen – Herr Hafke hat es vorhin schon angesprochen. Ich nehme der neuen Landesregierung wirklich ab, dass sie ihr Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag, das Ärztehopping zu erschweren, ernst nimmt. Aber gerade im Hinblick darauf, dass jede Verzögerung möglicherweise das Leben eines Kindes kosten kann, wünschen wir uns ganz klar eine Beschleunigung dieses Prozesses.

Und wenn eine Bundesratsinitiative notwendig ist – wie Sie, Herr Hafke, auch angedeutet haben –, dann bringen Sie das auf den Weg.

(Beifall von der AfD)

Was können wir alle tun, insbesondere wir als Eltern? – Der Sexualtherapeut Christoph Joseph Ahlers, Mitinitiator des Präventionsprojekts „Kein Täter werden“, welches sich an Pädophile richtet, die sich zu Kindern hingezogen fühlen, aber eigene sexuelle Übergriffe an Kindern verhindern wollen, lässt in seinem Buch „Vom Himmel auf Erden“, das allgemein aus Ahlers’ Praxis als Sexualtherapeut berichtet, auch einen pädophilen Täter zu Wort kommen.

Dieser Täter beschreibt, wie er als Sporttrainer die Nähe zu Kindern gesucht hat. Nach dem Training ging es immer noch in einer größeren Gruppe zu ihm nach Hause. Die Kinder, die ein intaktes Zuhause hatten, haben sich nach und nach, je später der Abend wurde, verabschiedet. Sie wurden zu Hause erwartet und hatten die Pflicht, zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause zu erscheinen, weil man gegebenenfalls mit dem Abendessen auf sie wartete usw. Aber irgendjemand blieb immer. Da gab es zu Hause niemanden, der gewartet hat.

Besonders gefährdet, so betont Herr Ahlers auch in vielen Interviews, sind Kinder, die wenig Aufmerksamkeit, Fürsorge, Geborgenheit und Aufgehobenheit in ihren Elternhäusern erfahren. Hinzu kommt dann noch, dass niemand da ist, der zuhört oder das Kind ernst nimmt, wenn es vielleicht bei Grenzüberschreitungen ein mulmiges Gefühl hat.

Ahlers betont immer wieder, die beste Prävention gegen Täter – außerhalb des Elternhauses selbstverständlich – sei eine stabile Bindung zu Hause, viel Zeit mit den Kindern verbringen und ein vertrauensvolles Zusammenleben, also starke Kinder, die wissen, dass man ihnen glaubt, dass man sie ernst nimmt, dass man ihnen zuhört. Eine gute Kommunikationskultur zu Hause schützt die Kinder vor Übergriffen.

In diesem Sinne wünsche ich mir von Herzen, dass der Kinderschutz – vielleicht auch aufgerüttelt durch diese schrecklichen Ereignisse, durch dieses ungeheuerliche Verbrechen – noch einen sehr viel größeren Stellenwert erhält. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Dworeck-Danielowski. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Reul in Vertretung von Herrn Minister Dr. Stamp.

Herbert Reul, Minister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mir im Oktober des vergangenen Jahres im Landeskriminalamt einen halben Tag lang zeigen lassen, was Kinderpornografie wirklich bedeutet. Ich habe damals eine lange Zeit gebraucht, um danach wieder ein bisschen normal in der Welt herumlaufen zu können.

Dann kam dieser Kindesmissbrauchsfall von Lügde, und plötzlich waren es nicht nur irgendwelche Fälle, die ich da gesehen habe, sondern dann wurde es ganz konkret, und es war mein Zuständigkeitsbereich.

Ich habe es im Innenausschuss gesagt, ich habe es auch hier im Plenum gesagt – gestern noch einmal –, aber manchmal muss man es oft sagen: Es ist für mich unfassbar, was Menschen Kindern antun können.

Wissen Sie, bei Mord gibt es zu Recht immer riesengroße Überschriften. Bei Missbrauch wird aber sehr häufig weggeschaut – offensichtlich haben wir es manchmal gar nicht bemerkt. Auch wenn Missbrauch juristisch kein Mord ist: Das Leben dieser missbrauchten Kinder ist für immer zerstört. Das ist die Wahrheit.

Deshalb ist es ein hohes Gut, dass vier Fraktionen gemeinsam diesen Antrag gestellt haben

(Helmut Seifen [AfD]: Warum haben Sie die fünfte nicht dazugenommen?)

und dass wir in der letzten Innenausschusssitzung sehr intensiv über die Frage gesprochen sowie ein erfrischend hohes Maß an Gemeinsamkeit gefunden haben. Das hat mir richtig gut getan. Wir haben gesagt: Verdammte Parteipolitik – jetzt geht es um die Sache, wir stehen das gemeinsam durch, und wir finden Lösungen dafür.

(Andreas Keith [AfD]: Eben nicht!)

– Wenn Sie jetzt einfach mal ruhig sein könnten!

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN – Andreas Keith [AfD]: Nein, weil Sie es auch machen!)

– Halten Sie jetzt bitte mal den Mund! Es reicht!

(Andreas Keith [AfD]: Sie nutzen dieses Thema, um parteipolitische Geländegewinne zu machen! Das ist das Schlimme! Wir sind fünf Fraktionen, und Sie haben nicht gefragt! – Weitere Zurufe von der AfD)

Ich will zu dieser Gemeinsamkeit, die sich auch im Antrag widerspiegelt, und diesem Anliegen, eine erste Antwort zu geben – das betrifft mich nur zum Teil –, hinzufügen: Die Landesregierung hat das schon verstanden. Wir werden nach Wegen suchen, wie wir uns bei den unterschiedlichen Zuständigkeiten in den Ministerien etwas stärker vernetzen können.

Ich komme nun zu meinem konkreten Vorgehen. Gestern musste ich die Obleute des Innenausschusses und anschließend die Öffentlichkeit darüber informieren, dass in der für die Ermittlungen zuständigen Ermittlungskommission 155 CDs oder DVDs – das weiß man ja gar nicht genau – vermisst werden. Sie sind aus einem Untersuchungsraum verschwunden.

Es handelt sich um eine Datenmenge von maximal 0,7 TB von insgesamt 15 TB. Man meint vielleicht, das sei gar nicht so viel, aber es ist nun einmal verschwunden. Und es ist nicht irgendwo verschwunden, sondern es ist bei der Polizei verschwunden.

Nach allem, was wir bisher wissen, befindet sich auf diesen Datenträgern kein kinderpornografisches Material. Aber ganz ausschließen können wir es eben nicht. Ich schließe nach dem, was ich jetzt erlebt habe, gar nichts mehr aus.

Diese Datenträger wurden am 20. Dezember zum letzten Mal zweifelsfrei gesehen, und am 30. Januar ist das Verschwinden in der Behörde aufgefallen. Es handelt sich um eine Landratsbehörde, die zugleich Kreispolizeibehörde ist. Und dann hat es einige Tage gedauert, bis der Verlust nach oben durch die unterschiedlichen Gremien bis an das Ministerium gemeldet worden ist.

Ich kann Ihnen nur sagen: Die Sache selbst ist das eine, aber der Ablauf in der Polizei macht mich fassungslos. Ich habe die Polizei in den letzten anderthalb Jahren im wahrsten Sinne des Wortes richtig lieb gewonnen. Ich hätte mir so etwas nicht vorstellen können – auch das will ich aussprechen. Wir sollten aber auch vorsichtig sein: Nicht alle 50.000 Menschen, die bei der Polizei beschäftigt sind, sollten in Misskredit geraten. Das gehört auch dazu.

Ich habe am 3. Februar – nur so viel zu der Frage, wer wann was gesagt und getan hat – im Deutschlandfunk erklärt, dass ich das als ein totales Behördenversagen an allen Ecken und Enden empfinde. Dafür bin ich schwer beschimpft worden, das wäre ungeheuerlich. Ich musste auch im Innenausschuss Rede und Antwort stehen, ob ich das wirklich ernst meinte. Ich hätte mir wirklich gewünscht, ich hätte Unrecht gehabt, aber möglicherweise war mein Gefühl gar nicht so falsch.

Aber das hilft ja alles nichts. Ich persönlich bin in der Pflicht, alles in meiner Macht Stehende zu tun und aufzuklären, und zwar nicht nur, weil das meine Aufgabe als Minister ist – dafür bin ich zu alt; so einfach ist das nicht –, sondern auch, weil es den 31 missbrauchten Kindern gegenüber meine verdammte Pflicht ist. Ich bin Vater von drei Kindern, drei Mädchen, und ich sage Ihnen: Das ist jetzt mein Projekt. Das wird aufgeklärt, soweit es geht, 100%ig. Das sind wir den Kindern gegenüber schuldig.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir müssen aber aufpassen, dass daraus nicht ein allgemeines Misstrauen der Polizei gegenüber entsteht. Unter den 50.000 Leuten dort sind viele, die fleißig arbeiten und ihren Dienst tun. Das muss auch noch mal gesagt werden.

Jetzt gibt es schon wieder neue Gerüchte. Man weiß ja langsam gar nicht mehr, was man glauben soll. Es gibt Gerüchte, die Polizeibehörde stecke mit denen unter einer Decke und so etwas alles.

Eins sage ich Ihnen: Auch diesen Gerüchten wird jetzt nachgegangen. Wir haben die Polizei in Bielefeld noch einmal verstärkt. Wir drehen noch mal jeden Stein auf dem Campingplatz um, und notfalls wird jeder Stein geröntgt. Ich will jetzt wissen, ob da irgendetwas dran ist. Wir müssen das aber – der Hinweis war richtig – ganz schnell klären, so weit wir das können, damit da gar nichts herumwabert und sich weiterentwickelt.

Die Angelegenheit hat eine solche Dimension erreicht – sie ist nicht nur für mich, sondern für alle wichtig –, dass das Parlament stark einbezogen werden muss. Damit rennen Sie bei mir offene Türen ein.

Ich möchte Ihnen vorschlagen, neben dem Innenausschuss – das machen wir; das ist doch klar – so etwas wie eine ständige Arbeitsgruppe einzurichten, von jeder Fraktion eine Person, die permanent dabei sind. Ich lade Sie ein, immer dabei zu sein. Wir können von mir aus täglich tagen, wenn es nötig ist. Sie kriegen alle Informationen. Das ist dann irgendein Gremium, das es eigentlich gar nicht gibt. Aber ich will, dass Sie schnell alles wissen und nicht, dass wir uns durch irgendeine Gremienhuberei lange aufhalten. Wir müssen jetzt schnell sein. Das Angebot steht, dass Sie zentral alle Informationen im Fall „Lügde“ bekommen und dass wir uns austauschen. Der Innenausschuss wird natürlich trotzdem informiert – das ist doch völlig klar; das ist gar kein Widerspruch. Das findet alles zeitgleich statt.

Als erste operationelle Maßnahme haben wir Bielefeld beauftragt, den Fall zu übernehmen. Wir haben – das habe ich eben gesagt – das Personal dort mehrfach verstärkt.

Gestatten Sie mir nur diesen kleinen Satz. Auch ich weiß, dass wir zu wenig Personal bei der Polizei haben. Als ich angefangen habe, habe ich zur Kenntnis genommen, dass die Polizei total unterversorgt ist. Wir fangen an, das aufzubauen, und wir waren uns alle einig, dass es leider nur Schritt für Schritt geht. Verstanden habe ich es, aber schuld bin ich daran nicht – nur, damit man das wenigstens mal formuliert hat.

Wir haben jetzt einen Sonderermittler aus dem LKA und vier weitere Mitarbeiter dorthin geschickt. Das sind absolute Spezialisten, die besten, die wir für diese Aufgabe haben. Die werden jeden einzelnen Stein umdrehen. Sie bilden jetzt die Taskforce „Lügde“. Möglicherweise – aber das können wir dann auch in solch einer Gruppe besprechen – stärken wir sie auch noch mehr, wenn sie mehr Leute brauchen sollten.

Die schauen sich die ganze Frage der Asservate an und befragen alle Menschen, die sie befragen müssen. Zwischendurch haben da Umzüge stattgefunden, und da waren Handwerksmeister mit drin. Das wird alles befragt und untersucht. Auch die Abläufe werden systematisch überprüft, denn auch im Hinblick darauf, wie in dieser Polizeibehörde was passiert ist, muss man noch mal ein bisschen genauer hinschauen.

Ich erwarte, dass ich in der kommenden Woche einen ersten Bericht habe. Ob das bis Mittwoch ist, kann ich nicht versprechen. Vielleicht können wir aber ein bisschen Gas geben, um das zu erreichen.

Sie kriegen aber möglichst schnell Informationen. Es wird lückenlos aufgeklärt. Es ist nicht nur meine Pflicht als Minister, sondern es ist ein persönliches Anliegen. Darauf können Sie sich verlassen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Reul. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Tigges das Wort.

Raphael Tigges (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fassungslosigkeit, Wut und Entsetzen sind die Gefühle, die wir heute Morgen alle miteinander teilen, wenn wir die Berichte über den tausendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in unserem Bundesland hören. Als Vater von vier heranwachsenden Kindern erlaube ich mir, zu beurteilen, dass es so ziemlich das Schlimmste sein muss, was Kindern, was einer Familie überhaupt passieren kann, wenn ein Kind Opfer sexueller Gewalt wird.

Eltern möchten, dass ihre Kinder glücklich und gesund aufwachsen, und sie möchten sie behütet durch das Leben begleiten. Durch den sexuellen Missbrauch werden aber Kinderseelen zerstört, körperliche und psychische Leiden sind oft die Folgen, weit über den Tag hinaus, an dem sie Opfer werden.

Unsere Gedanken sind heute zuallererst bei den Kindern, die zum Opfer des Missbrauchs wurden, und bei ihren Eltern, die unerträgliches Leid erfahren haben und die sich in diesen Tagen wieder mit den Geschehnissen im Rahmen der laufenden Ermittlungen auseinandersetzen müssen.

Ja, es ist absolut notwendig, dass Polizei und Staatsanwaltschaft diese Straftaten umfassend aufklären. Dazu gehören sowohl die Ermittlungen zu den unmittelbaren Tätern, aber auch der Blick auf die möglichen Verfehlungen bei öffentlichen Behörden. Ich bin daher Herbert Reul für seine klaren und auch emotionalen Worte gestern, aber auch gerade hier im Plenum sehr dankbar.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es ist der richtige Weg, den Landtag umfassend und transparent einzubinden und zu informieren und alle Missstände deutlich anzusprechen. Auch die Einrichtung einer ständigen Kommission, wie Herbert Reul es gerade vorgeschlagen hat, ist daher zu unterstützen.

Jeder Fall ist ein Fall zu viel, und so ist es uns wichtig, mit unserem Antrag deutlich zu machen, dass wir die Aufgabe und die Verantwortung haben, im Rahmen unserer Möglichkeiten alle Kräfte zu mobilisieren, um den Schutz unserer Kinder und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen und Missbrauch weiter zu verbessern.

Hierbei geht es uns nicht um Schnellschüsse oder um Vorverurteilungen, sondern es geht darum, Strukturen zu hinterfragen und zu identifizieren. Es geht auch darum, personelle, organisatorische, fachliche Defizite zu eliminieren, um darüber zu einer deutlich besseren Prävention zu kommen.

Aber zunächst, meine Damen und Herren, ist es am wichtigsten, den betroffenen Kindern und deren Familien die notwendige Betreuung und Hilfe zukommen zu lassen. Die Missbrauchsfälle von Lügde zeigen einmal mehr, wie vielschichtig und schwierig die effektive Bekämpfung von sexueller Gewalt ist. Es ist eine Querschnittsaufgabe über Ministerien, über Bund, Länder, Kommunen und Institutionen hinweg.

Ich möchte zu unserem Antrag vier wichtige Handlungsansätze aufzeigen.

Erstens. Machen wir uns zunächst mal ehrlich und erkennen, dass sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – gegen Mädchen und Jungen – kein punktuelles Problem ist und keine Einzelfälle sind und nach wie vor die Dunkelziffer leider sehr, sehr hoch ist.

Wir brauchen daher mehr niederschwellige Zugänge für Kinder und Familien zu Beratungs- und Hilfeleistungen. Wir müssen viel deutlicher machen, welche Beratungs- und Hilfeangebote es in unserem Land gibt. Gleichzeitig müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass wir – umgekehrt – auch den frühzeitigen Zugang der Fachleute in die Familien ermöglichen, um rechtzeitig eingreifen zu können.

Zweitens: Analyse von Strukturen und Schnittstellen. Nicht zuletzt bei den aktuellen Fällen müssen wir erkennen, dass trotz einer Vielzahl an vorhandenen Maßnahmen und Angeboten die Prävention scheinbar nicht ausreichend greift.

Deshalb ist es richtig zu hinterfragen, ob alle 186 Jugendämter in unserem Bundesland in Fragen der Prävention sexueller Gewalt auf einem qualitativ gleichwertig guten Niveau sind – hinsichtlich der Fachlichkeit, aber auch der Verfahrensabläufe und der personellen Ausstattung.

Deshalb müssen wir uns mit den Wirkungszusammenhängen intensiv beschäftigen.

Wir müssen uns auch mit dem Informationsfluss beschäftigen über die Schnittstellen hinweg.

Wir müssen jetzt Jugendämter, Polizei, Schulen, Einrichtungen der Jugendhilfe bundeslandübergreifend ausreichend vernetzen.

Wir müssen auch gewährleisten, dass alle relevanten Informationen und Daten schnell weitergegeben werden, um effektiv handeln zu können.

Der Datenschutz, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf nie über dem Schutz der Kinder stehen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Drittens. Wir müssen unseren Ermittlern die notwendigen technischen und personellen, aber auch vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen an die Hand geben, um effektiv aufklären zu können. Das gilt beispielsweise für die Ermittlungen im Darknet oder in den sozialen Medien, wo es nach wie vor sehr schwer ist, Zugänge zu finden. Diese ermittelnden Tätigkeiten sind für die Beamten emotional und psychisch hoch belastend, und sie haben daher unsere volle Unterstützung und Hilfe an dieser Stelle verdient.

Gleiches gilt aber auch für die Mitarbeiter in den Jugendämtern vor Ort, die oft mit den Abgründen menschlichen Handelns konfrontiert werden.

Viertens. Die Bürger müssen auch unserem Rechtsstaat vertrauen können.

Wir brauchen daher für diese Taten und für die Anforderungen der heutigen Zeit den richtigen Rechtsrahmen, und wir müssen die bestehenden Gesetze konsequent anwenden. Sexuelle Gewalt muss strafrechtlich nach dem behandelt werden, was es ist, nämlich kein Vergehen, sondern ein Verbrechen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ich werbe deshalb dafür, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen, zu prüfen, wie wir dazu § 176 Strafgesetzbuch reformieren können und wie wir aus NRW heraus diesen Prozess anstoßen und unterstützen können. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht nur gesellschaftlich, sondern auch juristisch ein wichtiges Zeichen ist, wenn wir klarmachen, dass es ein Verbrechen ist, Körper und Seele eines Kindes zu missbrauchen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ernst dieses Themas und dieser Debatte eignet sich nicht für politische Grabenkämpfe. Es geht um das körperliche und seelische Wohl unserer Kinder. Es muss endlich Schluss sein mit dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in unserem Bundesland. Wir brauchen einen starken Staat für die Schwächsten dieser Gesellschaft.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es ist Aufgabe für uns alle – für die Zivilgesellschaft, für den Staat, aber auch für jeden Einzelnen –, nicht wegzuschauen, nicht zu tabuisieren, sondern zu handeln. Wir wollen mit diesem Antrag die richtigen Rahmenbedingungen für einen effektiven Kampf gegen sexuelle Gewalt, gegen Missbrauch erarbeiten. Und da ist es gut, dass alle demokratischen Fraktionen den Antrag der NRW-Koalition hier unterstützen. – Herzlichen Dank

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Tigges. – Der nächste Redner ist Herr Kollege Dr. Maelzer aus der SPD-Fraktion.

Dr. Dennis Maelzer (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben hier eine auch im Tonfall sehr angemessene Debatte, und das war auch bereits im Familienausschuss der Fall. Dass wir heute einen gemeinsamen Antrag von vier Fraktionen debattieren, unterstreicht das zusätzlich.

Das sage ich nicht nur als Sprecher für Kinder, Jugend und Familie, sondern auch als Vater einer kleinen Tochter. Es gibt für mich keine widerwärtigere Vorstellung, als dass sich Menschen an wehrlosen Opfern vergehen. 31 Opfer – was für eine erschreckend hohe Zahl. 31 Kinder werden für den Rest ihres Lebens mit den Folgen dieser Taten leben müssen. Und ja, das Mindeste, was jetzt für die Kinder getan werden muss, ist lückenlose Aufklärung, und ich erwarte von allen Behörden, dass sie dazu ihren Beitrag leisten.

(Beifall von der SPD und der CDU)

Es ist auch richtig, dass wir darüber diskutieren, ob die Strafen für sexuellen Missbrauch angemessen sind. Ich sage Ihnen auch ganz klar: Auch für mich ist der Missbrauch eines Kindes kein Vergehen, sondern ein Verbrechen. Hierzu habe ich, hat die SPD, eine ganz klare Haltung: Die Schwere der Tat muss sich im Strafmaß widerspiegeln.

(Beifall von der SPD und der CDU)

Strafe setzt jedoch immer erst an, wenn eine Tat begangen wurde. Wir haben aber gemeinsam die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Taten verhindert werden. Bei Kindesmissbrauch darf es kein Wegsehen gebe, vor allen Dingen darf der Staat in dieser Frage nicht versagen. Jede staatliche Institution hat den Auftrag, das Kindeswohl zu schützen, und wir als Landtag haben die Aufgabe, die Strukturen dafür zu überprüfen.

Wir müssen Kinder stark machen. Sie müssen wissen, dass sie sich an Erwachsene wenden können, dass man sie ernst nimmt und dass ihnen geholfen wird.

Aber ist jede staatliche Stelle – damit meine ich nicht nur Jugendamt und Polizei, sondern auch die Kita, die Schule, den Jugendtreff – schon ausreichend sensibilisiert, um Kindesmissbrauch zu erkennen und entsprechend zu handeln? Ich fürchte, das müssen wir nach den aktuellen Ereignissen infrage stellen.

Die Frage ist schon aufgeworfen worden: Geben wir Kinder- und Jugendärzten die nötigen Spielräume, um auf Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch angemessen reagieren zu können? Auch hier wissen wir, dass wir noch eine Aufgabenstellung vor uns haben.

Es gibt das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“. Es bietet Therapieangebote für Menschen, die Hilfe suchen, damit sie sich nicht eines Tages an Kindern vergehen. Seit 2011 gibt es einen Standort in Düsseldorf. Das Ziel muss ein flächendeckendes Angebot sein.

Zur Frage der Prävention gehört selbstverständlich auch die ausreichende Zahl von Polizeikräften. Es gehört zur Wahrheit, dass seit 2010 die Einstellungszahlen bei der Polizei in diesem Land erhöht werden, und das kontinuierlich. Es gibt auch entsprechende Vorschläge beispielsweise von meiner Fraktion, wie man die Polizeiausstattung gerade im ländlichen Raum stärken könnte.

Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode mit dem Projekt „Kein Kind zurücklassen“ die Vorbeugung vor Ort gestärkt. Der Kinderschutz spielte dabei eine ganz zentrale Rolle. Es war ein Modellprojekt. Für mich steht fest, das müssen wir jetzt in die Fläche bringen. Nennen Sie es „Kein Kind zurücklassen“ oder kommunale Präventionsketten. Das ist mir völlig egal. Die Frage ist: Wann und wie werden wir es endlich auf das gesamte Land ausdehnen?

(Beifall von der SPD)

An dieser Stelle schaue ich alle Kinder-, Jugend- und Familienpolitiker in dieser Runde an: Ja, wir streiten uns gern mal miteinander, beispielsweise wenn es um die Kita-Finanzierung geht. Aber egal welcher Partei wir angehören, wir alle wollen, dass Kinder in Nordrhein-Westfalen sicher und unversehrt aufwachsen können. Das treibt uns an und dafür machen wir uns stark. Dennoch war eine solche Tat in unserem Land möglich.

Zu oft wird an dieser Stelle auf die kommunale Selbstverwaltung verwiesen. Wir haben 186 Jugendämter in Nordrhein-Westfalen. Diese 186 Jugendämter arbeiten jeweils mit einer unterschiedlichen Qualität. Das ist Kleinstaaterei bei der wichtigen Frage des Kinderschutzes. Ich bin davon überzeugt, dass sich das in Nordrhein-Westfalen ändern muss. Lassen Sie uns die heutige Debatte als Startschuss dafür begreifen.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Maelzer. – Für die AfD-Fraktion hat Herr Kollege Seifen das Wort.

Helmut Seifen*) (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Morgen eindrucksvolle Worte gehört, die allesamt das Entsetzen zum Ausdruck gebracht haben, das wir empfinden müssen, wenn wir darüber nachdenken, dass hilflose Geschöpfe, die in der Regel zu Erwachsenen noch Vertrauen haben, in die Hände von Menschen geraten, die abgrundtief Böses mit ihnen tun.

Ich bin froh, dass wir alle die gleichen Worte gefunden haben. Herr Dr. Maelzer hat es gerade noch einmal gesagt: Alle Parteien in diesem Hause verabscheuen dieses Verbrechen und sind entsetzt, dass so etwas über so lange Zeit passieren kann.

Ich muss auch ehrlich sagen, Herr Reul, ich schätze Sie als Person. Ich schätze Ihre Arbeit. Ich glaube, dass Sie ein zutiefst redlicher Mensch sind. Aber ich muss Ihnen sagen, dass ich als Abgeordneter der AfD darüber erschüttert bin, dass wir davon ausgeschlossen worden sind, diesen Antrag zu unterschreiben. Das macht mich einfach

(Zurufe von der CDU und der SPD)

– Entschuldigung –, das macht mich einfach betroffen.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

– Entschuldigung, ich habe jetzt zu Herrn Reul gesprochen. Ich habe ihn ja nicht beschuldigt. Hören Sie doch zu, was ich sage und wie ich es sage.

(Bodo Löttgen [CDU]: Das ist ja das Schlimme daran!)

Sie sind doch aufmerksame Zuhörer. Ich sage zu Herrn Reul gesagt, es macht mich betroffen. Habe ich Sie beschuldigt? – Nein. Es macht mich betroffen. Deswegen gerade unsere Erregung, verstehen Sie? Das war nicht gegen Sie gerichtet, sondern es war gegen einen parlamentarischen Brauch gerichtet, …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Helmut Seifen*) (AfD): … der selbst an dieser Stelle, wo es um die existenziellen Grundlagen eines Menschen geht, uns ausschließt.

Ich frage einfach mal die Fraktionen – das ist jetzt eine heuristische Frage, keine polemische –, ich frage Sie und möchte eine Antwort: Warum haben Sie uns an dieser Stelle ausgeschlossen? Unterstellen Sie uns etwa etwas?

(Beifall von der AfD – Zurufe von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Danke, Herr Kollege Seifen. – Jetzt spricht der Ministerpräsident.

(Zuruf von der CDU: Und jetzt sind Sie das Opfer! – Gegenruf von Helmut Seifen [AfD]: Hören Sie doch auf mit Opfer! Habe ich von Opfer geredet? Mensch, noch einmal! Seien Sie jetzt ruhig! – Gegenruf von Christof Rasche [FDP]: Das können Sie Kindern in der Schule sagen!)

Armin Laschet, Ministerpräsident: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich die Absicht, heute an einem anderen Termin teilzunehmen, zu dem auch andere Kolleginnen und Kollegen eingeladen sind. Ich habe das gestern Abend abgesagt, nachdem wir diese neuen Informationen zu Lügde bekommen haben.

Ich bin sehr dankbar für den Verlauf dieser Debatte. Das kann auch ganz anders verlaufen. Ich bin froh darüber, dass man erstens nicht die vielleicht berechtigte Diskussion über Zuständigkeiten geführt hat: Wie ist es mit den Jugendämtern, was kann das Land machen, sind wir optimal aufgestellt? Vielmehr formuliert der Antrag die Aussage: Unabhängig davon, wie es ist, lasst es uns besser machen. – Das ist der Tenor dieses gemeinsamen Antrags aller Fraktionen.

Man hat das nicht in Bezug auf die Jugendhilfe diskutiert, auch nicht in Bezug auf die Polizei. All das ist nicht diskutiert worden, sondern es ist schlicht die Frage aufgeworfen worden, was jetzt passieren muss. Dafür möchte ich zunächst herzlich danken.

Das Zweite ist, dass keine parteipolitische Debatte stattgefunden hat. Herr Seifen, Sie haben am Ende beklagt, wie formal Anträge gestellt werden. – Es ist trotzdem wahrgenommen worden, auch durch den Beitrag Ihrer Fraktion, dass in der Sache alle Fraktionen dieses Hauses hinter diesem Anliegen stehen. Das hat die Debatte deutlich gemacht: Deshalb sollten wir jetzt auch die formalen Fragen, wie man Anträge stellt, nicht überbetonen.

Zudem gab es mehrmals Beifall des ganzen Hauses; bei jedem Redner war das festzustellen. Das ist etwas, was in dieser Situation hilft. Denn Regierungswechsel finden statt, Strukturen sind da, aber das, was passiert ist, geht über diese Zeiten hinweg.

Deshalb danke ich drittens dem Innenminister. Er hat noch nicht genau ausformuliert, wie das Format aussehen soll. Aber dass wir ein anderes Dialogformat zwischen Regierung und Parlament jenseits von vierwöchig stattfindenden Innenausschusssitzungen brauchen, haben, glaube ich, alle erkannt. Es ist wichtig, dass alles, was der Sonderermittler ermittelt und was da im Moment passiert, zeitnah in einem parlamentarischen Gremium erörtert werden kann, ohne dass wir auf die nächste Innenausschusssitzung oder schriftliche Berichte warten müssen.

Die anderen Fraktionen werden sagen: Wir machen das aber nur mit, wenn wir zeitnah erfahren, was wirklich passiert, wenn diese Transparenz auch in Zukunft erhalten bleibt. – Deshalb werden wir eine Form finden, wie das Ganze stattfindet.

Ich glaube, dieser Fall wird nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in ganz Deutschland beobachtet. Was hat da stattgefunden, und wie geht man damit um?

Es wäre wichtig, dass wir in Nordrhein-Westfalen es bei diesem Beispiel schaffen, in einem solchen Klima, in dem auch die heutige Debatte stattgefunden hat, zu signalisieren: Es gibt Punkte, da endet für uns in Nordrhein-Westfalen die Parteipolitik. Stattdessen kümmern wir uns zusammen um das Kindeswohl, das Aufklären und nehmen Verantwortliche in den Behörden und auch außerhalb in den Griff. Wenn sie Straftaten begangen haben, dann bringen wir sie hinter Schloss und Riegel. – Das machen wir zusammen, und dafür danke ich.

Ich wünsche uns, dass wir in diesem Geist von heute Morgen weiterdiskutieren, wenn in den nächsten Wochen weitere Fakten, Tatbestände oder Fehlverhalten Einzelner aufgedeckt werden. – Danke für die heutige Debatte.

(Allgemeiner Beifall)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident Laschet.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, sodass wir nun zur Abstimmung über die Empfehlung des Ältestenrates kommen können, den Antrag Drucksache 17/5066Neudruck – an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend – federführend –, an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales, an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen, an den Innenausschuss, an den Rechtsausschuss sowie an den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen zu überweisen. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Gibt es dazu Gegenstimmen? – Das ist nicht der Fall. Enthaltungen? – Das ist auch nicht der Fall. Dann stelle ich die einstimmige Zustimmung zu dieser Überweisungsempfehlung fest.

Ich rufe auf:

3   10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Die schwarzgelbe Landesregierung muss alle Kräfte bündeln, um ein inklusives NRW zu schaffen!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/5061

Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5222

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellende Fraktion der SPD dem Abgeordneten Neumann das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Josef Neumann (SPD): Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inklusion ist für einige ein Modewort, anderen ist es wert, sonntags darüber zu sprechen. Aber es geht weder um Mode noch um Sonntagsreden. Es geht um etwas sehr Urdemokratisches und Urrechtsstaatliches, nämlich das Menschenrecht, dass auch die Würde aller Menschen mit Behinderung in einem Staat gewahrt ist.

Dass gestern das Bundesverfassungsgericht ein Urteil veröffentlicht hat, nach dem das Wahlrecht für Menschen mit Behinderung rechtens ist, wogegen Beschwerdeführer angegangen sind, ist für Nordrhein-Westfalen, für die ehemalige rot-grüne Landesregierung ein sehr großer Erfolg.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir waren das erste Bundesland, das dieses Wahlrecht gegen viele Unkenrufe durchgesetzt hat. Deshalb ist es ein wichtiges Zeichen, dass auch das deutsche Verfassungsgericht klar und deutlich seine Stimme für das Wahlrecht der Menschen mit Behinderung erhoben hat.

„Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv“ war das Markenzeichen zur Umsetzung der UN-BRK, um das uns viele in anderen Ländern und im Bund beneidet haben. Dem daraus resultierenden Inklusionsstärkungsgesetz von Nordrhein-Westfalen wird das Potenzial zugeschrieben, die Umsetzung der Inklusion auf Landesebene weiter voranzubringen und zusätzliche Prozesse zur Stärkung der Inklusion anzustoßen.

Trotz dieser Aktivitäten belegt die Studie des Instituts für Menschenrechte als zuständiger Monitoring-Stelle zur Umsetzung der UN-BRK in Nordrhein-Westfalen, dass die schwarz-gelbe Landesregierung sich auf diesen wichtigen und guten Vorarbeiten nicht ausruhen darf. Sie ist gefordert, deutlich mehr Maßnahmen für ein inklusives Nordrhein-Westfalen zu initiieren und umzusetzen. Deswegen wird die Landesregierung von der Monitoring-Stelle aufgefordert, ein umfassendes Maßnahmenpaket vorzulegen, um die Defizite bei der Umsetzung der Inklusion zu beseitigen.

Hier gibt es zentrale Kritikpunkte aufzuführen:

Lassen Sie mich mit dem Thema „Recht auf Wohnen“ anfangen. Die Wahrheit ist, dass es je nach Behinderungsform faktisch gar kein Wahlrecht für eine freie Wohnstätte gibt. Das liegt nicht nur an der verschärften Wohnungsnot und daran, dass es in vielen Städten letztlich keine barrierefreien Wohnungen gibt, es liegt auch daran, dass insbesondere mit der Schaffung der neuen Landesbauordnung nichts unternommen wurde, was diesen Tatbestand beseitigt.

Nicht viel besser ist die Entwicklung bei der Mobilität. Mit Mobilität verbinden wir Freiheit, Teilhabe und Selbstbestimmung. Doch die Menschen mit Behinderung in NRW sind in Wahrheit weit davon entfernt. Ein mobiles inklusives Nordrhein-Westfalen liegt in weiter Ferne.

Beim Thema „inklusive Bildung“ stellen wir fest, dass sich die Gymnasien zwischenzeitlich aus dem Inklusionsansatz verabschiedet haben und es im Rahmen des Ausführungsgesetzes zum Bundesteilhabegesetz nicht gelungen ist, die Hochzonung der so wichtigen Inklusionshelfer auf die Landschaftsverbände umzusetzen. Wenn es um dieses Thema geht, scheint es bei Schwarz-Gelb viele verfestigte negative Einstellungen zu geben.

Der inklusive Arbeitsmarkt bedeutet, dass nach wie vor doppelt so viele Menschen mit Behinderung arbeitslos sind wie ohne Behinderung. Wir sind hier gefordert, proaktiv neue Wege zur Arbeitsteilhabe zu gehen.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, Ihr Entschließungsantrag zeugt nicht nur von Unkenntnis, was die Umsetzung der UN-BRK betrifft, er ist aus meiner Sicht auch ein Affront gegenüber der Monitoring-Stelle. Mit keinem Wort gehen Sie in Ihrem Antrag auf die massiven Kritikpunkte ein, die von da vorgetragen wurden – mit keinem einzigen Wort. Das ist nicht haltbar.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Nordrhein-Westfalen war bei der Umsetzung der UN-BRK mal in der Poleposition. Es entsteht der Eindruck, dass Sie zwischenzeitlich mit einer Pferdekutsche durch die Landschaft fahren und den Leuten vorgaukeln, Sie würden ein Formel-1-Rennen fahren, wenn es um die Inklusion geht.

Es gab einmal einen Minister, für den die Behindertenpolitik die Königin der Sozialpolitik war. Inzwischen muss man den Eindruck gewinnen, dass die Königin weder einen Thron noch einen König hat.

Kolleginnen und Kollegen, Inklusion lebt nicht von Behäbigkeit und Mutlosigkeit, sondern vom Bewusstsein des Wollens und Machens. Fangen Sie endlich damit an! – Vielen Dank.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Neumann. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Hagemeier das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Daniel Hagemeier (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die antragstellende Fraktion hat die Analyse der Monitoring-Stelle am Deutschen Institut für Menschenrechte mit dem Titel „Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen“ anscheinend so gründlich gelesen, dass sich deren Gliederung im Antrag sehr gut wiedererkennen lässt.

Mit der Verabschiedung des Inklusionsstärkungsgesetzes hat der Landtag Nordrhein-Westfalen am 14. Juni 2016 einen rechtlichen Rahmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in unserem Bundesland geschaffen. Diesen Rahmen mit konkreten Maßnahmen schrittweise weiter auszugestalten, seine Wirkung zu beobachten und notwendige Anpassungen vorzunehmen, ist eine langfristige politische Aufgabe. Ich hebe hervor, die Betonung liegt hier auf „schrittweise“ und „langfristig“.

Den Prozess dazu begleitet das Deutsche Institut für Menschenrechte dauerhaft und unabhängig seit dem 1. März 2017. Es ist gut, dass wir in dem nun vorliegenden Bericht lesen dürfen, dass in Nordrhein-Westfalen viele Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu verzeichnen sind.

Falsch ist aber, wenn im vorliegenden SPD-Antrag behauptet wird, dass besonders die wichtigen Maßnahmen der rot-grünen Vorgängerregierung gewürdigt würden. Wenn wir von „dauerhaft“ und „schrittweise“ sprechen, müssen wir uns so weit ehrlich machen, dass klar ist: Dann wird ein Schritt nach dem anderen gegangen. Natürlich ist es richtig und gut, dass die zuerst gegangenen Schritte auch zuerst Wirkung zeigen.

Meine Damen und Herren, in Nordrhein-Westfalen leben rund 1,8 Millionen schwerbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 %. Das entspricht gut 10 % der Bevölkerung von NRW. Es ist davon auszugehen, dass deutlich mehr Menschen – vermutlich rund 25 % der Bevölkerung – längerfristige Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen haben. Für das Leben dieser Menschen ist es von zentraler Bedeutung, ob und wie sie ihre Menschenrechte wahrnehmen können.

Die NRW-Koalition bekennt sich ausdrücklich zur UN-Behindertenrechtskonvention, und die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte unterstützt Landtag und Landesregierung bei deren Umsetzung.

Die im vorliegenden Bericht benannten Herausforderungen betreffen die Themenfelder „Bildung“, „Teilhabe an Arbeit“, „selbstständiges Wohnen“ und „Mobilität“. Die genannten Bereiche sind uns aus zum Teil abgeschlossenen, zum Teil noch laufenden Gesetzgebungsverfahren und aus zahlreichen Gesprächen mit Verbänden der Menschen mit Behinderung, mit denen wir in regelmäßigem und engem Austausch stehen, grundsätzlich bekannt. Denn so ist es, und so soll es auch sein: Die Menschen mit Behinderungen sind Experten in der eigenen Sache.

Das Recht auf individuelle Entscheidungen, wo, wie und mit wem die betroffenen Menschen leben und arbeiten wollen, ist zu respektieren. Die auch von Minister Karl-Josef Laumann immer wieder verwendete Vokabel dafür heißt „Selbstbestimmung“.

Ich denke, in dieser Sache haben wir Einigkeit: Schritt für Schritt in ein selbstbestimmtes, inklusives Leben gehen und immer einen Schritt nach dem anderen machen.

Soweit ich informiert bin, hat es im Rahmen der Beratungen zum Inklusionsstärkungsgesetz in der letzten Wahlperiode eine sehr konstruktive und fachbezogene politische Auseinandersetzung gegeben. Teile der CDU-Vorschläge, zum Beispiel das Wahlrecht für alle, sind komplett in den Gesetzentwurf eingeflossen und damit in NRW bereits vor dem aktuellen Bundesverfassungsgerichtsurteil umgesetzt worden.

Ich ärgere mich über die Polemik des SPD-Antrags, in dem behauptet wird, die schwarz-gelbe Landesregierung ruhe sich auf den Vorarbeiten von Rot-Grün aus. Diese Behauptung wird auch der Sache überhaupt nicht gerecht.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Ich weise sie daher in aller Entschiedenheit zurück.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ebenso kritisiere ich, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten, behaupten, dass fast zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention die dort kodifizierten Rechte für Menschen mit Behinderung nicht umfassend verwirklicht seien. Das können sie auch gar nicht.

Zum einen hat die Umsetzung erst vor zwei Jahren begonnen. Wenn es Ihnen nun nicht schnell genug geht, sage ich: Sie hätten viel eher anfangen können.

Zum anderen gehen wir diesen Weg weiter Schritt für Schritt und einen Schritt nach dem anderen.

Dieses so wichtige Thema parteipolitisch zu instrumentalisieren, halte ich für den komplett falschen Weg. Vielleicht gehen Sie noch einmal in sich, überlegen und unterstützen unseren Entschließungsantrag. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Hagemeier. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP Herr Kollege Lenzen das Wort. Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Stefan Lenzen (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vorweg: Herr Kollege Neumann, unserem Sozialminister zu unterstellen, gerade die Menschen mit Behinderungen hätten keinen hohen Stellenwert in seiner Politik – zumindest kam das so rüber –, das muss ich auch aufgrund persönlicher Gespräche und nicht nur seiner persönlichen Betroffenheit stark zurückweisen.

(Zuruf von Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales)

Man kann unserem Sozialminister beileibe nicht unterstellen, dass er die Menschen mit Behinderungen nicht im Auge hätte. An der Stelle sind Sie über das Ziel hinausgeschossen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist vor zehn Jahren in Deutschland in Kraft getreten. Wir wissen, seitdem hat sich in Deutschland, aber auch in Nordrhein-Westfalen schon einiges getan.

Doch wir wissen auch – bei Ihnen klang eben durch, als ob das unter Rot-Grün durchgehend eine Erfolgsstory war –, dass nicht jede gut gemeinte Idee gut umgesetzt wurde. Denken Sie an das Thema „schulische Inklusion“. Wie schnell wollte man gleiche Chancen schaffen?

(Josef Neumann [SPD]: Quatsch!)

Daraus wurde schnell Gleichmacherei. Wie haben Sie das auch an der Lebenswirklichkeit vorbeigeplant? Das sollte doch ein mahnendes Beispiel für uns alle sein.

Was hatten wir denn für eine Situation? Wir hatten keine ausreichende personelle und finanzielle Unterstützung an den Schulen, überforderte Eltern, Lehrer und Schüler. Inklusion stand auf einmal nicht mehr für eine vielfältige, chancengerechte Gesellschaft, sondern für Chaos, Staatsdirigismus und Zwang.

Aber dass wir uns nicht falsch verstehen: Zumindest die Mehrheit im Hause eint schon die Idee der Inklusion. Wir halten die Inklusion für gut und sinnvoll. Die Frage ist doch nur, wie und wie schnell man sie umsetzt. Da sollten wir uns nicht falsch verstehen. Hinter der Idee der Inklusion stehen wir Freien Demokraten genauso wie die Christdemokraten. Ich denke, dass auch die Sozialdemokraten und die Grünen dahinterstehen; denn Äußerungen, dass das eine schadhafte Idee sei, kamen von keiner der vier Fraktionen.

So war es richtig, dass Schulministerin Yvonne Gebauer ebendiese Art der Inklusionspolitik gestoppt hat. Es war auch richtig, dass die NRW-Koalition zu einer realistischeren Inklusionspolitik gekommen ist – schulisch wie auch sozial. Es ist nur konsequent, dass wir das mit der Regierungsübernahme angegangen sind; dazu haben wir in dieser Woche immer wieder etwas gehört.

Es geht jetzt nicht um den Blick zurück: Was hat Rot-Grün in sieben Jahren getan? Was hat die NRW-Koalition in zwei Jahren getan? Wichtig festzustellen ist, dass wir bei der Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention noch lange nicht am Ziel sind. Es gibt besondere Herausforderungen, die die Themenfelder „Bildung“, „Arbeit“, „Wohnen“ und „Mobilität“ betreffen.

Herr Kollege Neumann, in Bezug auf die Landesbauordnung und überhaupt das Thema „Bauen und Wohnen“ haben Sie komplett verschwiegen, dass die NRW-Koalition nicht nur die Mittel für den öffentlich geförderten Wohnraum auf 1,1 Milliarden Euro erhöht hat, sondern auch

(Jochen Ott [SPD]: 2.000 Wohnungen weniger!)

mehr Mittel für barrierefreies Wohnen zur Verfügung stellt. Wir setzen eben auf eine gezielte Förderung statt auf starre Quoten. Wer hat denn die Barrierefreiheit zum Standard gemacht? Das war doch die NRW-Koalition aus CDU und FDP und nicht SPD und Grüne. Ich finde es schon interessant.

(Beifall von der FDP und der CDU – Jochen Ott [SPD]: Was? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! Wo lebst du denn?)

– Ja, die Wahrheit tut manchmal weh. Da können Sie schreien, Herr Kollege Ott, doch das macht es leider nicht besser.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das tut weh!)

Wichtig ist der NRW-Koalition, dass wir die Wahlfreiheit für die Betroffenen erhalten. Die Menschen mit Behinderungen sollen selbst entscheiden können, wo sie leben und wohnen.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD])

Wir sehen alle unterschiedlichen Wohnformen – betreutes Wohnen, Wohngruppen, stationäre Einrichtungen – gleichberechtigt nebeneinander. So wollen wir sie auch entsprechend unterstützen.

Was die Arbeit betrifft, setzen wir auf innovative, praktikable und betriebsnahe Lösungen. So ist es wichtig, dass das „Budget für Arbeit“ eigenverantwortlich für die Arbeitsmarktintegration eingesetzt werden kann. Mit den Budgets der Landschaftsverbände waren wir in Nordrhein-Westfalen Vorreiter bei der Umsetzung dieses Instruments. Es ist sinnvoll, bewährte Budgets, wie auch das „Budget für Arbeit“, nach bundesrechtlichen Vorgaben zu verbinden.

Bei der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt setzen wir weiter auf Wahlfreiheit. Wir wollen – das ist jetzt nichts Neues – die Werkstätten weiterhin erhalten, geben also ein klares Bekenntnis zu den Werkstätten ab.

(Zuruf von Rainer Schmeltzer [SPD])

Es gibt immer wieder Menschen, die sonst überhaupt keine Chance zur Teilhabe am Arbeitsleben hätten. Das muss man auch einmal klar sagen.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das ist ja alles Zufall, Herr Kollege!)

So ist es neben dem fließenden Übergang in den ersten Arbeitsmarkt wichtig, zu schauen:

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das haben Sie auch erfunden!)

Welche Modelle brauchen wir? Wir können wir Betriebe aus dem ersten Arbeitsmarkt räumlich in die Werkstätten holen? Wie können wir die Arbeitszeiten zwischen der Tätigkeit in der Werkstatt und im Unternehmen aufteilen? Dahin gehend müssen wir die Werkstätten weiterentwickeln.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Lenzen, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Abgeordneten Ott.

Stefan Lenzen (FDP): Ich habe nur noch einen Absatz, den ich gern noch ausführen möchte. – Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns weiter an einer realistischen Inklusionspolitik arbeiten, die den Bedürfnissen der Betroffenen gerecht wird.

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Werben wir in unserer täglichen Arbeit bei den Menschen und in den Unternehmen für eine inklusive Gesellschaft. Tragen wir Sorge dafür, dass die Stärken der Menschen besser sichtbar gemacht werden.

Zu guter Letzt – ich glaube, das eint uns doch –:

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Inklusion muss sich stets am Menschen orientieren. – Vielen Dank.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Was ist jetzt mit der Zwischenfrage? – Zuruf von Horst Becker [GRÜNE])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Lenzen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Abgeordneter Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lenzen, nach Ihrem Vortrag müsste man den Eindruck haben, dass in Nordrhein-Westfalen irgendwie alles super ist,

(Jochen Ott [SPD]: Wir tanzen Samba!)

dass sich die Behindertenvertretungen alle geirrt und in den Anhörungen nur gesagt haben: Es ist großartig, was CDU und FDP hier abgeliefert haben. – Ich hatte in den letzten anderthalb Jahren hier im Landtag einen völlig anderen Eindruck.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Um mit dem letzten Punkt, mit der Landesbauordnung, anzufangen, Herr Kollege: Ich wollte mich eigentlich nicht so aufregen, sondern ich wollte hier ein paar Punkte abarbeiten. Aber wenn Sie die NRW-Koalition so definieren, Herr Kollege, dann muss ich dazu schon ein paar Punkte ausführen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Bei der Verabschiedung der Landesbauordnung waren es die Behindertenverbände und der SoVD, also der Sozialverband VdK, die auf den Barrikaden standen und gesagt haben: Das ist nicht unser Gesetz. Ihr verschlechtert die Situation für Menschen mit Behinderungen, und zwar gerade auf dem Wohnungsmarkt, Herr Kollege Lenzen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es ist doch abenteuerlich, das hier als positives Beispiel vorzutragen. Das finde ich, ehrlich gesagt, nicht in Ordnung.

Ein zweiter Punkt, Herr Kollege Hagemeier, den ich auch ansprechen muss, weil ich das als sehr wichtig empfinde, ist die Frage des Wahlausschlusses von Menschen mit Behinderung und von Menschen, die unter Betreuung stehen.

Gerade in dieser Woche berät der Deutsche Bundestag einen Gesetzentwurf von Linken und Grünen, der zum Ziel hat, den Wahlrechtsausschluss, der ja verfassungswidrig ist, zu beseitigen, Kollege Neumann. Das haben Sie nicht ganz richtig dargestellt. Das hat sich nicht gegen unser Gesetz gerichtet, sondern gegen die Regelung auf Bundesebene, dass nämlich das Bundeswahlgesetz verfassungswidrig ist. Es ist verfassungswidrig, was CDU und leider auch die Kollegen von der SPD auf Bundesebene machen, diesen Menschen das Wahlrecht zu verweigern. Da bitte ich Sie dringend, kurzfristig nachzuarbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch was die Realität betrifft, ist es mir ein wichtiges Anliegen, Herr Ministerpräsident und andere, die im Moment den Geräuschpegel ziemlich hochziehen, darauf hinzuweisen, dass bei der politischen Teilhabe vor Ort sowohl bei meiner Partei als auch bei jeder anderen Partei sicherlich Luft nach oben ist. Wie ist es denn mit Hör- und Sehgeschädigten auf Parteiveranstaltungen? Wie ist es denn auf Ämtern? Wie ist es denn um die Kommunikation des Gehörlosenverbandes mit der öffentlichen Verwaltung bestellt? Da haben wir doch noch Luft nach oben.

Lassen Sie uns nicht so tun, als wenn das alles in Ordnung wäre. Die Teilhabe aller Menschen in Nordrhein-Westfalen muss unser Ziel sein statt einzelner Maßnahmenblöcke, die sich hintereinander aufreihen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ein wichtiger Punkt, den ich ansprechen möchte und den auch die UN-Konvention hergibt, betrifft die Monitoring-Stelle. Ich hoffe, ich habe Sie von CDU und FDP richtig verstanden: Sie halten es für richtig und notwendig, dass die Monitoring-Stelle ihre Arbeit in der bisherigen Form weiterführt, dass sie weiterhin vom Land Nordrhein-Westfalen entsprechend ausgestattet wird und uns immer wieder den Spiegel vorhält, ob die Maßnahmen, die in Nordrhein-Westfalen gemacht werden, auch richtig sind? Es wäre sehr wichtig, dieses Signal abzugeben und nicht zu sagen: Die stören uns, dann stellen wir möglicherweise die Förderung ein. – Es wäre ganz gut, wenn das heute noch, vielleicht auch vom Minister, klargestellt würde.

Neben dem Thema „Wohnen“ stellt die Monitoring-Stelle fest, dass gerade bei der Mobilität sehr viel zu tun ist. Ich will Ihnen sagen: Fahren Sie doch einmal mit einem Rollstuhl im ÖPNV durch Nordrhein-Westfalen. Sie werden kaum barriere- oder hindernisfrei Ihr Ziel erreichen. Sie werden kaum – da nehme ich keine Stadt aus – substanziell die Information bekommen, wo Sie denn aussteigen können, wo ein Aufzug funktioniert und wo nicht.

Es ist für die Teilhabe von hohem Wert, ob Menschen sich außerhalb ihrer Wohnung bewegen können oder nicht. Deswegen hat das mit Schönreden und Gesundbeten nichts zu tun. Das muss konzeptionell ausgestaltet werden. Die Forderung, die hier auch formuliert wird, dass der ÖPNV bis 2022 systematisch barrierefrei gemacht wird, ist doch das Mindeste, was wir anstreben müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Was die Umsetzung der Konvention angeht, so hätte ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, gewünscht, wir hätten die Möglichkeit gehabt, das auch im Ausschuss zu diskutieren; denn ein Monitoring allein im Rahmen einer Plenardebatte zu beraten, ist nicht möglich. In fünf Minuten diese 70 Seiten durchzugehen, das übersteigt, glaube ich, all unsere Kräfte. Deswegen wäre es klug, wenn wir im Laufe des Jahres einzelne Bausteine noch einmal herausnehmen und dann im Ausschuss noch einmal gesondert darüber sprechen würden.

Der letzte Punkt: Schule. Es ist ja gestern wieder dieses Spielchen gemacht worden: Wer ist schuld? Wer hat es gemacht, was das Thema Inklusion anbetrifft?

Die Monitoring-Stelle formuliert sehr klar und eindeutig, dass auch behinderte Kinder, und zwar zieldifferent, in allen Schulformen unterrichtet werden müssen, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, dass sie sich ihren Schulplatz frei aussuchen können und nicht das passiert, was jetzt geschieht, dass nämlich faktisch das Gymnasium ausgenommen wird. Inklusion gilt überall und nicht nur an den Stellen, an denen es Ihnen gerade passt. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Mostofizadeh. – Für die AfD-Fraktion hat nun Herr Abgeordneter Seifen das Wort. Bitte sehr.

Helmut Seifen*) (AfD): Danke schön. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der SPD beschäftigt sich wieder einmal mit Inklusion, mit der Teilhabe von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft. Das ist zunächst mehr als ehrenwert und scheint darauf hinzudeuten, dass die SPD stets die Bedürftigen in den Blick nimmt und in besonderer Weise menschenfreundlich ist.

Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir hier im Parlament und in der Öffentlichkeit überhaupt den Einsatz der SPD für die Belange der Behinderten in dieser Art benötigen; denn gerade in unserem Land haben wir in den letzten 70 Jahren zum Glück sehr, sehr viel dafür getan, dass Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in hohem Maße an allen gesellschaftlichen Prozessen teilhaben können.

Das ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass wir zum Ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, mit den Verbrechen nationalsozialistischer Ärzteschaft an Behinderten konfrontiert, besonders für den Lebenswert von Menschen mit Behinderungen sensibilisiert wurden und zum Zweiten durch den Contergan-Skandal dann endgültig die Sorgen, Nöte und Bedürfnisse von Behinderten in den Blick nehmen konnten.

Mediale Aktionen für Behinderte und Verantwortliche in Politik, Gewerkschaften, Gesundheitswesen und Verwaltung sowie natürlich nicht zuletzt die Behindertenvertreter selbst weckten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für den Wert und die Notwendigkeit von Barrierefreiheit sowie die Bereitschaft, dies auch mitzutragen und dafür finanzielle Mittel einzusetzen.

Aus dieser Haltung heraus entstanden in vielen Städten übrigens auch Förderschulen für die unterschiedlichen Bedürfnisse. Die Gehörlosenschulen etwa sind technisch aufs Beste ausgestattet, ebenso andere Spezialschulen für Sinnesgeschädigte.

Gleich wertvoll sind die Förderschulen für Schüler mit besonderem Förderbedarf. In Gronau zum Beispiel hat sich ein Volksschullehrer in den 60er-Jahren große Verdienste erworben, indem er gegen viele Widerstände die Gründung der Pestalozzi-Förderschule durchgesetzt hat. Nach ihm ist in Gronau auch eine Straße benannt worden; so wurde dieser Lehrer geehrt. Dieser Lehrer hatte persönlich erlebt, dass es eben auch Kinder gibt, für welche der Unterricht in der Regelschule eine Barriere darstellt. Dieser Lehrer hat aus tiefer Menschenfreundlichkeit die Förderschule als barrierefreie Regelschule für Kinder mit besonderem Förderbedarf gegründet.

Deshalb ist es für mich, ehrlich gesagt, völlig unverständlich, dass Sie in Ihrem Antrag die Barrierefreiheit fordern, andererseits aber, wie häufig hier vom Redepult aus, die Kinder mit besonderem Förderbedarf in die Regelschule pressen wollen und den Barrieren aussetzen wollen, die es dort für sie gibt. Das verstehe, wer will.

Ich bin aber sowieso nicht davon überzeugt, dass Sie Ihren Antrag gestellt haben, um sich für das Anliegen der Behinderten einzusetzen. Denn was soll der Hinweis auf die etwas erhöhte Arbeitslosigkeit von Behinderten im Vergleich zu anderen Bundesländern? Ja, die Arbeitslosigkeit Behinderter liegt in NRW geringfügig über dem Bundesdurchschnitt. Das trifft für die nichtbehinderten Arbeitslosen übrigens auch zu.

Ihre Forderung nach einem umfassenden Konzept für einen inklusiven Arbeitsmarkt ist allerdings eigentlich falsch adressiert, Herr Neumann. Arbeitsvermittlung ist Aufgabe der Arbeitsagentur und nicht des Bundeslandes oder der Jobcenter. Die Arbeitsagentur ist der Big Player, der sich mit Milliarden Euro pro Jahr in NRW engagiert. Diesem kann man vom Land auch kein Konzept oder Verhalten vorschreiben. Das höchste der Gefühle wäre vielleicht ein Modellprojekt, in dem in Abstimmung mit der Arbeitsagentur in einer Stadt oder einem Kreis modellhaft so etwas ausprobiert würde und möglicherweise als Test für ein späteres Projekt in Angriff genommen werden könnte.

Sie müssen sich auch schon den Vorwurf gefallen lassen, Ihren Einsatz für die Bedürftigen möglicherweise nicht mit den Möglichkeiten abgestimmt zu haben, die Mittel der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Ich bin dafür, dass man das nicht aufrechnet. Der Wert von behinderten Menschen ist an dieser Stelle unteilbar.

Überlegen Sie trotzdem einmal: Wenn die EU-Vorgabe, in öffentlichen Verkehrsmitteln bis 2022 Barrierefreiheit zu garantieren, durchgesetzt wird, würde das zum Beispiel für die Brandenburger Straßenbahnbetriebe zur Existenznot führen; denn sie müssten Kosten in Höhe von 32,5 Millionen Euro aufwenden – so schätzt das zumindest der Geschäftsführer der Stadtverkehrsgesellschaft Frankfurt (Oder), Wolfgang Worf.

An dieser Stelle müssen wir also mit Augenmaß agieren. Wir müssen vernunftgeleitete Maßnahmen treffen, indem auf der einen Seite das Recht der Behinderten völlig ungeschmälert durchgesetzt wird, aber auf der anderen Seite auch sichergestellt wird, dass die Möglichkeiten, die das Gemeinwesen bietet, ausgeschöpft werden können. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Seifen. – Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Laumann das Wort.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat am 29. Januar dieses Jahres seinen Bericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen vorgelegt.

Ich freue mich, dass Nordrhein-Westfalen dort in vielen Bereichen ganz klar als Vorreiter auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft benannt wird. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Das deckt sich doch auch mit unserer Wahrnehmung. Es ist doch auch ein Erfolg unserer gemeinsamen Arbeit in der Behindertenpolitik über viele Wahlperioden.

Wenn nun die SPD feststellt, dass zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK die dort verankerten Rech-te für Menschen mit Behinderungen noch nicht umfassend verwirklicht sind, dann hat sie ja recht.

Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Inklusion ein Prozess ist, den man nicht von heute auf morgen abschließen kann. Erinnern Sie sich einmal daran, wie die Situation vor 10 Jahren, vor 15 Jahren und vor 20 Jahren noch war. Da hat unsere Gesellschaft doch riesige Schritte in Richtung Inklusion gemacht. Wir freuen uns ja sicherlich alle darüber, dass das in den letzten Jahren erreicht werden konnte.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Der Bericht des Institutes bewertet viele landespolitische Aktivitäten zur Umsetzung der UN-BRK durchweg positiv. Das betrifft zum Beispiel den Inklusionsbeirat und das ambulant betreute Wohnen von Menschen mit Behinderungen.

Zugleich zeigt der Bericht aber auch auf, dass wir noch nicht am Ziel sind und weiterer Handlungsbedarf besteht. Diese Hinweise nehmen wir natürlich ernst. Daraus werden wir auch Schlüsse ziehen.

Unabhängig von diesen Hinweisen hat die Landesregierung bereits eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen beschlossen, um die Umsetzung der Inklusion voranzubringen. Wir dürfen hier in Nordrhein-Westfalen doch wohl sagen, dass wir gemeinsam bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes gut dastehen und auch dort in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle einnehmen.

Bei dem Aufbau der Studienkapazitäten für das Lehramt für sonderpädagogische Förderung sind wir weitergekommen. Unsere Hochschulen haben die Studienplätze in diesem Bereich erheblich ausgeweitet, damit wir mehr Förderlehrer bekommen.

Das Bündnis für Mobilität unseres Verkehrsministers hat in besonderer Art und Weise auch die Interessen der Behinderten mit ins Auge gefasst.

Klar ist natürlich, dass wir mehr Beschäftigung für Menschen mit Behinderungen brauchen. Ich will aber auf Folgendes hinweisen: Überall da, wo wir Einfluss nehmen können, tun wir dies.

Wir haben zum Beispiel Inklusionsvereinbarungen mit den Jobcentern abgeschlossen, damit auch Behinderte in vernünftigem Umfang an integrierenden Arbeitsmarktmaßnahmen beteiligt werden.

Das Landesprogramm Integration für Inklusionsbetriebe will ich an dieser Stelle ebenfalls nennen. Es gibt kein anderes Bundesland, das so viele Inklusionsbetriebe geschaffen hat wie Nordrhein-Westfalen. Im Übrigen habe ich das in meiner ersten Ministerzeit entwickelt. Wir geben Menschen dadurch die Möglichkeit, am ersten Arbeitsmarkt teilzunehmen, indem wir Unternehmen gründen, die sich dem Schwerpunkt widmen, gerade Menschen mit Behinderungen einzustellen.

(Beifall von der CDU)

Ich möchte einen weiteren Punkt nennen. Am Dienstag hat unser Kabinett beschlossen

(Unruhe)

– hören Sie jetzt einmal zu –, dass im Land Nordrhein-Westfalen in allen Landesbehörden künftig bei 5 % der Einstellungen behinderte Menschen zum Zuge kommen müssen. Damit machen wir sehr deutlich, dass wir als Landesregierung eine Menge tun wollen, um auch behinderte Menschen in den Landesdienst zu bringen.

Ich darf einmal daran erinnern, dass es vorher ganze 16 behinderte Menschen pro Jahr waren, die in den Schulen überhaupt zur Ausbildung im allgemeinen Verwaltungsrecht aufgenommen wurden. Das Innenministerium musste oft noch bei den Ministerien bitten und betteln, damit diese 16 Personen überhaupt übernommen wurden.

Wir sagen jetzt, dass es 5 % der Einstellungen sein müssen. Das ist doch ein riesiges Zeichen, das diese Landesregierung setzt.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Natürlich ist auch wahr, dass dieser Bericht uns in zwei Punkten sagt: Da sind wir anderer Meinung.

Das ist zum einen das Thema „Schule“. Diejenigen, die den Bericht geschrieben haben, sind der Meinung, es dürfe keine Sondersysteme mehr geben. Diese Auffassung kann man ja vertreten.

Wir haben aber nun einmal entschieden – Sie kennen doch auch den politischen Diskussionsprozess –, dass wir jetzt in Nordrhein-Westfalen neben der inklusiven Schule überall in den Regionen auch noch Förderschulen haben wollen und dass die Eltern die Wahlfreiheit zwischen einer inklusiven Schule und einer Förderschule haben sollen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dann muss man auch einmal politisch sagen, dass wir als jetzige Landesregierung hier einen anderen Weg gehen wollen, weil wir die Wahlfreiheit zwischen inklusiver Schule und Förderschule erhalten wollen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Darüber, ob es nun die beste Idee war, die Förderschulen abzuschaffen und die Kinder in die Inklusionsschule zu schicken, aber die Förderlehrer nicht mitzuschicken, mögen Sie urteilen. Mein Urteil steht allerdings fest: Das war ein Weg, der in diesem Land nicht verantwortungsbewusst gegangen wurde.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Zum anderen werden wir im Bericht dafür kritisiert, dass wir noch Behindertenwerkstätten haben. Das wird ganz eindeutig kritisiert. Es darf eben keine Sondereinrichtungen mehr geben. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin für jeden Menschen, den wir aus den Behindertenwerkstätten heraus in den ersten Arbeitsmarkt integrieren können, dankbar. An dieser Stelle müssen wir immer wieder hingucken und fragen, ob sich Menschen da so entwickelt haben, dass das geht.

Meine Damen und Herren, ich will Sie aber auf einen anderen Punkt aufmerksam machen. Solange ich hier bin, werde ich sehr darauf achten, dass es in Nordrhein-Westfalen dabei bleibt – in anderen Bundesländern ist das teilweise anders –, dass alle Menschen mit Behinderungen ein Zugangsrecht zu den Behindertenwerkstätten haben und dass dieser Zugang nicht daran geknüpft wird, ob eine Arbeitsfähigkeit in einem gewissen Umfang vorhanden ist.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Minister …

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Ich mache sofort Schluss.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Nein. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, dass es den Wunsch nach einer Zwischenfrage gibt.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Gut. Ich möchte nur noch diesen Punkt ausführen. Dann können wir das machen.

Das ist ein nordrhein-westfälischer Sonderweg. Ich habe jetzt noch einmal mit den Arbeitsverwaltungen gesprochen, weil ich den Eindruck hatte, dass in manchen Bereichen in den Behinderteneinrichtungen doch etwas viele Menschen sind, die nicht mehr über Tag in die Werkstatt gehen. Ich kann nur sagen: Ich werde sehr darauf achten, dass in diesem Land, solange ich Sozialminister bin, eine Behörde nicht ein Papier abstempelt, auf dem steht, dass ein Mensch gar nichts kann. Deswegen will ich den Zugang für alle Menschen mit Behinderungen zu den Behindertenwerkstätten erhalten.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wenn man das so sieht, muss man auch den Mut haben, zu sagen: Wir können uns die Behindertenwerkstätten zurzeit nicht wegdenken.

Ich bin auch der Meinung, dass unsere Behindertenwerkstätten für einen Teil der Menschen mit Behinderungen eine gute Alternative zur Teilnahme an Arbeit sind. Ich bin den Menschen, die in den Behindertenwerkstätten arbeiten, auch dankbar für das, was sie dort für unsere Behinderten tun.

Mit einem solchen Punkt der Kritik seitens der Organisation, die für uns den Bericht erstellt – ich möchte auch, dass sie diese Tätigkeit fortsetzt –, muss man umgehen. Man muss aber auch politisch sagen: Wir werden die Behindertenwerkstätten nicht abschaffen – genauso, wie wir die Förderschulen nicht abschaffen werden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir wollen aber so viele Menschen in das Regelsystem integrieren, wie wir können.

Mir ist heute Morgen zum Schluss noch eine Sache wirklich wichtig. Ich bin in meinem Ministerium Claudia Mittendorf für ihre Arbeit als Behindertenbeauftragte der Landesregierung sehr dankbar.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Claudia ist unermüdlich im ganzen Land unterwegs – bei den Behindertenverbänden, in den Behinderteneinrichtungen. Sie führt die Gespräche. Sie verknüpft die Dinge. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich sie als Behindertenbeauftragte der Landesregierung habe, und wollte deswegen an dieser Stelle auch ein Dankeschön für ihre Arbeit in diesem Bereich sagen.

Jetzt könnte ich die Zwischenfrage zulassen, wenn Sie das wollen.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Das habe nicht ich zu entscheiden. – Der Abgeordnete Ott nimmt das Recht auf eine Zwischenfrage wahr. Bitte sehr, Herr Kollege Ott.

(Zurufe von der CDU)

Jochen Ott (SPD): Immer diese Beifallsstürme von der rechten Seite. Herrlich!

(Zurufe von der CDU)

– Sie glauben doch nicht, dass ich zu Ihnen „linke Seite“ sage. Diesen Titel muss man sich erarbeiten.

Herr Minister, Sie haben über das Thema „Förderschule“ gesprochen. Ich habe nur eine Nachfrage, weil wir das ja gestern auch diskutiert haben.

Wie bewerten Sie denn, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen und an Förderschulen in nur acht Jahren um insgesamt 31.000 gewachsen ist? Das heißt, dass diese Zahl sich vervierfacht hat. Bei den Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung hat innerhalb von acht Jahren sogar eine Verfünffachung stattgefunden. Haben Sie eine Erklärung dafür, wieso der Anteil der Kinder mit Förderbedarf dermaßen angestiegen ist?

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege, Sie wissen das mit der einen Frage auch.

(Jochen Ott [SPD]: Das ist ja eine!)

Herr Minister, bitte.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Ich habe darauf auch keine abschließende Antwort. Meines Erachtens liegt es aber auch daran, dass Schulen heute Förderbedarf mehr erkennen als früher. Es ist doch richtig, dass dann, wenn der Förderbedarf da ist, er auch geltend gemacht wird. Daher sind diese Zahlen eher positiv zu bewerten – nämlich dahin gehend, dass diese Kinder einen Förderbedarf haben und ihn auch anerkannt bekommen –, als dass man sie negativ bewerten müsste.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Das waren Zwischenfrage und Antwort.

Ich darf darauf hinweisen, dass die Landesregierung ihre Redezeit um 3:21 Minuten überzogen hat, sodass es noch die Möglichkeit weiterer Wortmeldungen der Fraktionen gibt. – Diese Möglichkeit wird für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom Abgeordneten Mostofizadeh genutzt, der damit auch das Wort bekommt. Bitte sehr.

(Zurufe von der CDU)

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Es erfreut und überrascht mich immer wieder, dass die Koalitionsfraktionen dann, wenn die Landesregierung ihre Redezeit überschreitet und jemand das ihm nach der Geschäftsordnung zustehende gute Recht wahrnimmt, reden zu wollen, in Stöhnen ausbrechen. Das mag ja Ihr Stil sein.

Ich habe nur einen ganz konkreten Hinweis, Herr Minister. Sie haben vorhin sehr viel ausgeführt, was Sie persönlich meinen, wie mit Behindertenpolitik umzugehen ist. Es gibt aber zwei ganz konkrete Punkte, nach denen ich Sie auch gefragt hatte.

Erstens. Sind Sie der Meinung, dass die Monitoring-Stelle ihre Arbeit in Nordrhein-Westfalen mindestens so fortsetzen muss wie jetzt? Sichern Sie auch zu, dass die Förderung weiterhin stattfindet? Darauf hätte ich gerne noch eine Antwort.

Zweitens. Bezüglich der Beschreibung zum Thema „Mobilität und Schule“ würde ich gerne noch einmal klarstellen: Wir haben sehr viel Ausbaubedarf, was das Thema „Mobilität“ betrifft. Wir sind himmelweit davon entfernt, dass sich Menschen mit Behinderung systematisch daran beteiligen können. Das ist auch nicht mit „schrittweise“ zu erklären. Vielmehr muss jede einzelne verkehrspolitische Entscheidung danach ausgerichtet werden, ob sie barrierefrei und behindertengerecht ist. Das muss dann auch in Ausbautatbestände umgesetzt werden.

Deswegen müssen wir systematisch daran herangehen und nicht stückchenweise. Das werden wir – ich hatte es bereits angekündigt – im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales sicherlich noch intensiver ausführen.

Ich hätte jetzt gerne von Ihnen ein klares Signal, was die weitere Arbeit der Monitoring-Stelle betrifft. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Mostofizadeh. – Die Landesregierung hat noch einmal um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Minister Laumann. Sie haben das Wort.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Kollege Mostofizadeh, diese Frage hätten Sie mir gar nicht stellen müssen. Es steht nämlich im Gesetz, dass diese Stelle dafür verantwortlich und zuständig ist. Das ist bei uns in Nordrhein-Westfalen Gesetzeslage. Daher war die Frage völlig überflüssig. Wenn Sie das Gesetz gelesen hätten, das Sie selber verabschiedet haben, hätten Sie es gewusst.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Ich weise auf die Redezeitüberziehung von damit 3:39 Minuten hin. – Weitere Wortmeldungen liegen mir trotz dieses Hinweises oder vielleicht auch gerade deshalb nicht vor, sodass wir am Schluss der Aussprache sind und zur Abstimmung kommen können.

Erstens stimmen wir über den Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/5061 ab. Die antragstellende Fraktion der SPD hat direkte Abstimmung beantragt, sodass ich nun um das Votum für den Inhalt des Antrags Drucksache 17/5061 bitte.

Wer dem Inhalt des Antrags zustimmen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der FDP und der Fraktion der AfD sowie der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Meine Damen und Herren, damit hat der Antrag Drucksache 17/5061 nicht die Mehrheit des Hohen Hauses gefunden.

Zweitens lasse ich über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion FDP Drucksache 17/5222 abstimmen. Ich darf fragen, wer diesem Entschließungsantrag zustimmen möchte. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der FDP und der Fraktion der AfD sowie der fraktionslose Abgeordnete Neppe. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 17/5222 angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zu:

4   IT-Sicherheit in NRW stärken – Freiheit sichern

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/5056

Ich darf für die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Kollegen Matthi Bolte-Richter das Wort geben. Bitte sehr, Herr Abgeordneter. – Alle anderen darf ich bitten, leise den Saal zu verlassen, wenn sie es denn wollen.

Matthi Bolte-Richter*) (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Oder auch hierzubleiben, würde ich gerne anfügen; denn es ist natürlich eine interessante Debatte, die wir im letzten Plenum schon begonnen haben.

Der Doxing-Angriff, der Anfang dieses Jahres publik geworden ist, war – darin waren wir uns in den letzten Wochen glücklicherweise immer einig – ein Angriff auf die Demokratie. Es ging den Tätern darum, Menschen einzuschüchtern, politisches Engagement zu diskreditieren und die Menschen, die Haltung zeigen, in ihrem Engagement zu beschränken.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu der Verantwortung, die wir als Politik in solchen Fällen haben, gehört es auch, da nicht zum Tagesgeschäft überzugehen, sondern gemeinsam und konstruktiv Maßnahmen nach vorne zu entwickeln.

Wir haben Ihnen mit dem grünen Plan für mehr IT-Sicherheit sechs konkrete Punkte vorgelegt, die wir heute auch in diesem Antrag hier in den Landtag einbringen.

Gestatten Sie mir einige Vorbemerkungen aus der Debatte der letzten Wochen. Denn es wird immer wieder die Frage sogenannter Datensouveränität gegen Datenschutz, gegen Schutzrechte von Betroffenen, ausgespielt.

Wenn man sich den Begriff „Datensouveränität“ anschaut, stellt man fest, dass er etwas impliziert, was einfach nicht gegeben ist, was im digitalen Zeitalter nicht gegeben sein kann. Diejenigen, die ihn verwenden – sie kommen immer aus dem konservativen und dem liberalen Spektrum –, meinen mit Datensouveränität nämlich den Abbau von Schutzrechten. Denn wie soll ein einzelner Verbraucher wirklich souverän gegenüber einem Multimilliardenkonzern auftreten? Der Begriff „Datensouveränität“ bedeutet nichts anderes als einen Abbau von Schutzrechten. Er bedeutet nicht weniger als weniger Datenschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Und das ist die direkte Übersetzung des alten Slogans, den zumindest eine regierungstragende Partei in Wahlkampfzeiten hatte, „Digital first, Bedenken second“.

Die Geltung von Grundrechten für alle Menschen einzufordern, ist doch keine Bedenkenträgerei. Gerade im digitalen Zeitalter stehen wir vor viel größeren, viel enormeren Herausforderungen. Das ist keine Bedenkenträgerei, sondern es ist die vornehmste Aufgabe dieses Parlaments, dafür zu sorgen, dass auch im digitalen Zeitalter die Freiheit geschützt wird.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aber es passt in diese Geschichte, wie das Regierungshandeln in den letzten Monaten aussah. Mit dem Polizeigesetz haben Sie die IT-Sicherheit in unserem Land gezielt untergraben. Wenn der Staat zum Hacker werden soll, dann muss er die gleichen Schutzlücken ausnutzen, die auch Kriminelle ausnutzen. Deswegen fordern wir Sie heute erneut auf: Nehmen Sie diese Regelungen zurück.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, was sind nun unsere konkreten Vorschläge für mehr IT-Sicherheit?

Wir wollen als Erstes ein unabhängiges Beratungsnetzwerk schaffen. Wir haben viele gute Ideen. Da geht es um viele gute Angebote. Aber es reicht oftmals nicht aus, gute Angebote zu haben. Vielmehr müssen wir auch die Wege weisen, wie man zu der richtigen Stelle kommen kann, wenn man Beratungsbedarf und Unterstützungsbedarf hat. Gerade kleine und mittlere Unternehmen haben diesen Bedarf und wissen oft nicht, an wen sie sich wenden müssen. Genauso geht es darum, dass wir auch für Betroffene von Onlinebetrug und vergleichbaren Straftaten niedrigschwellige und einfach zugängliche Hilfen schaffen.

Ein zweiter Punkt in unserem Sechspunkteplan sind Hochschulausgründungen konkret im Sicherheitsbereich. Wir haben einen europaweit führenden Standort der Forschung zu IT-Sicherheitsfragen hier bei uns im Land. Wir wollen, dass wir das auch unternehmerisch übersetzen und die damit vorhandenen Innovationspotenziale wirtschaftlich heben können.

Wir wollen drittens Schutzlücken schließen, statt von ihren Offenheiten zu profitieren. Das ist der Auftrag an die Landesregierung. Im Moment geht es auch für die Sicherheitsbehörden nicht, ohne dass Sicherheitslücken offen gehalten werden. Damit muss Schluss sein. Wenn ich etwas von den wirklich fortschrittlichen Staaten im Bereich der IT gelernt habe, dann, dass Innovationspotenziale nur da freigesetzt werden, wo es auch eine öffentliche IT gibt, die Top-Runner ist. Davon sollten wir uns eine Scheibe abschneiden. Da sollten wir digitale Innovationspotenziale freisetzen.

Wir wollen viertens die Rechte von Betroffenen gegenüber Plattformbetreibern stärken. Heute fühlen sich viele Menschen gegenüber großen Plattformbetreibern machtlos, wenn sie von Angriffen, von Profil-Hacks und von Ähnlichem betroffen sind. Da wollen wir durch Notfallkontakte und die Ermöglichung von Profilsperrungen in kürzerer Zeit die Betroffenenrechte stärken.

Wir wollen auf der europäischen Ebene Standards für IT-Sicherheit. Ein europaweit gültiges Gütesiegel ist da unser Instrument.

Wir wollen die Regeln zur Produkthaftung deutlich stärken.

Denn das haben wir im letzten Jahr gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn Europa sich einig ist und wenn Europa verbindliche Regeln schaffen will, dann hat Europa auch die Macht, sich gegenüber den Großen aus der IT-Wirtschaft durchzusetzen. Geben wir Europa endlich diese Macht. Setzen wir uns gemeinsam dafür ein.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben Punkte gefordert, bei denen wir uns sicherlich nicht einig sind. Mit unserem Plan haben wir, glaube ich, aber auch eine ganze Reihe von Anregungen und Ideen vorgebracht, mit denen wir hier gemeinsam ein Zeichen setzen könnten, um gemeinsam etwas nach vorne zu entwickeln. Denn die Freiheit muss im digitalen Zeitalter auch als digitale Freiheit geschützt werden. Sie muss erhalten und erkämpft werden. Ich hoffe, dabei viele von Ihnen an meiner Seite zu haben. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Bolte-Richter. Natürlich ist der Hinweis, den Sie ganz am Anfang gegeben haben, was das Verbleiben im Plenarsaal angeht, die vorrangigste Bitte, die wir alle immer an die Kollegen haben. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Kollege Dr. Katzidis das Wort. Bitte sehr.

Dr. Christos Georg Katzidis (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Bolte-Richter, es verwundert mich nicht, dass Sie mittlerweile noch populistischere Anträge stellen, als es die rechte Opposition tut. Auch knapp zwei Jahre nach Ihrer Abwahl leben Sie offensichtlich immer noch in Ihrem eigenen Paralleluniversum und bekommen nicht mit, was es schon alles gibt und was alles bereits vorhanden ist, und zwar nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch darüber hinaus.

Sie haben von „gemeinsam“ und „konstruktiv“ gesprochen. Ich gehe gerne konkret auf Ihre Forderungen, die Sie hier aufstellen, ein.

Lassen Sie mich mit dem ersten Punkt beginnen, Ihrer Forderung nach einem unabhängigen Beratungsnetzwerk und den entsprechenden Strategien sowie danach, dass sich die NRW-Koalition nicht hinter den Angeboten des BSI verstecken soll.

Das tun wir keineswegs. Aber das BSI ist die Kompetenzbehörde – neben unserem Cybercrime-Kompetenzzentrum im LKA Nordrhein-Westfalen –, die mit der IT-Sicherheit befasst ist. Das BSI ist auch seit letztem Jahr in besonderem Maße für die Bundesländer offen. Da muss nicht jedes Bundesland etwas Neues, Eigenes schaffen; denn es gibt mittlerweile auch Vereinbarungen mit dem BSI.

Auch unser Minister Pinkwart hat im letzten Jahr zusammen mit dem Präsidenten des BSI eine Absichtserklärung beschlossen, wonach wir zukünftig eine vertiefte Zusammenarbeit durchführen werden. Das geht bei der Aus- und Fortbildung los und reicht über das IT-Krisenmanagement, wo es eine vertiefte Zusammenarbeit geben wird, bis hin zur Planung konkreter Projekte. Da gibt es also schon einiges ganz Konkretes, das auf dem Weg ist.

Das BSI ist im Übrigen auch für Bürger offen. Es hält für sie eine ganze Reihe von Angeboten vor. Das BSI ist auch Cyber-Abwehrzentrum. Es veröffentlicht regelmäßig Lageberichte. Es leistet Beratung und Entwicklung. Es gibt Handlungsempfehlungen heraus. Es macht Standardisierungen und Zertifizierungen– genauso wie andere Stellen auch. Darauf gehe ich gleich noch kurz ein. Insofern ist der erste Punkt schon völlig überflüssig.

Zum zweiten Punkt sage ich Ihnen ganz unmissverständlich: Wir als NRW-Koalition werden niemanden zu irgendetwas anhalten. Wir machen keine grüne Bevormundungspolitik – um das einmal in aller Deutlichkeit zu sagen.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Wir unterstützen, wenn überhaupt, und fördern auch mit finanziellen Mitteln. Aber wir halten niemanden zu irgendetwas an. Ich glaube auch, dass unsere Hochschulen, unsere Ausbildungsstätten und unsere Schulen sehr gut wissen, wohin die Entwicklung geht und was in verschiedenen Bereichen zu tun ist.

Im dritten Punkt geht es um die Einsetzung einer „Task Force Internet-Betrug“. Auch diese Forderung ist völlig überflüssig. Da gibt es schon ganz viele Stellen. Ich habe eben das Cybercrime- Kompetenzzentrum beim LKA angesprochen. Auch in den großen Polizeibehörden in Nordrhein-Westfalen existieren entsprechende Einheiten. Insofern ist auch das völlig überflüssig.

Was den Bedarf bezüglich Ihrer im vierten Punkt erhobenen Forderung angeht, habe ich gerade schon etwas gesagt.

Auch die Hochschulen wissen in besonderem Maße, worauf es ankommt und wohin die Entwicklung geht. Deshalb gibt es da ja schon ganz viel. Schauen Sie sich nur einmal den Bereich IT-Sicherheit und Cyber Security bei den Forschungseinrichtungen und den Hochschulen an. An der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen existiert ein Masterstudiengang zur Internetsicherheit. Bergisch Gladbach bietet ein duales Studium Cyber Security an. Es gibt an der Ruhr-Universität Masterstudiengänge zur IT-Sicherheit für Netze und Systeme. An der Ruhr-Universität Bochum existieren Informationstechnikstudiengänge. Darüber hinaus gibt es Fernstudiengänge. Geplant ist darüber hinaus, im Raum Bonn an der Fachhochschule ein Cyber-Security-Center und Studiengänge einzurichten. Wir haben das Max-Planck-Institut und auch das Fraunhofer-Institut. Da gibt es also auch schon ganz viel. Insofern brauchen wir das alles nicht.

Was den fünften Punkt Ihrer Forderungen betrifft, kann ich Ihnen nur ganz unmissverständlich sagen: Wir haben gerade die Telekommunikationsüberwachung inklusive der Quellen-TKÜ eingeführt – unter anderem als Ausfluss aus dem Fall Amri. Früher waren auf der Grundlage des Polizeigesetzes keine präventiven Maßnahmen möglich. Bevor wir die Telekommunikationsüberwachung wieder abschaffen, können wir gerne einmal darüber diskutieren, ob wir nicht mittel- bis langfristig sachgerechterweise die Onlinedurchsuchung präventiv einführen müssten – gerade wegen der Hacker.

Wenn Sie von Hackerangriffen reden und diesen Leuten das Wasser abgraben wollen, müssen die Sicherheitsbehörden doch auch adäquate Mittel und Befugnisse haben, um gegen diese Leute vorgehen zu können. Das ist nicht möglich, wenn man Befugnisse wieder abschafft. Da sind wir nicht mit dabei.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU] – Matthi Bolte-Richter [GRÜNE]: Sie kennen aber schon die Rechtsprechung zu diesem Thema?)

Was die Bundesratsinitiative angeht: Sie haben eine Bundestagsfraktion und sind auch an Landesregierungen beteiligt. Wenn Sie da Bedürfnisse haben, können Sie das gerne auf diesen Schienen machen. Das müssen wir hier nicht machen.

Neben den Dingen, die ich eben angesprochen habe, gibt es noch eine ganze Reihe anderer Sachen. Erwähnen möchte ich das Programm „Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes“, bekannt unter der Abkürzung „ProPK“. Auch da gibt es eine Internetseite mit sehr vielen Verhaltenstipps, auch zu ganz konkreten Fällen.

Ob zu Romance Scamming, Bestellbetrug, falschen Microsoft-Mitarbeitern, Gefahren im Internet insbesondere für Kinder – „Kinder sicher im Netz“ –, Bot-Netzen, Cybermobbing, Phishing, Smartphone-Sicherheit oder zu Viren und Trojanern: Es gibt ganz viele, ganz spezielle Angebote. Man muss nicht noch zusätzlich etwas Eigenes schaffen und einen eigenen bürokratischen Apparat aufbauen. Das macht überhaupt keinen Sinn.

Bonn, mein Wahlkreis, entwickelt sich aktuell zum Cyber-Security-Center-Cluster für Europa. Da gibt es enorme Initiativen, die sich unter anderem aus der Telekom, der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, der Stadt Bonn, der Polizei Bonn und dem BSI zusammensetzen. Auch die Bundeswehr ist mit dabei. Dort gibt es eine hervorragende Entwicklung.

Ich bin der Meinung, wir haben hier in Nordrhein Westfalen schon jetzt einiges zu bieten, und wenn alles in Gänze umgesetzt ist, werden wir noch viel mehr zu bieten haben.

Wir können Ihren Antrag gerne noch im Innenausschuss diskutieren, aber viel wird es dazu nicht mehr zu sagen geben. Der Überweisung stimmen wir heute zu, wenn der Antrag anschließend wieder zurück ins Plenum kommt, werden wir ihn natürlich ablehnen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Dr. Katzidis. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der SPD Frau Kollegin Kampmann das Wort. Bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Christina Kampmann*) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Katzidis, setzen Sie sich ruhig erst hin; zuhören müssen Sie ja nicht.

Zu dem, was Sie gerade zum Antrag der Grünen gesagt haben: Diesen Antrag mit demjenigen der AfD zu vergleichen, sollte auch unter Ihrer Würde sein. Ich würde mir sehr gut überlegen, in Zukunft von solchen Äußerungen gehörigen Abstand zu nehmen, Herr Dr. Katzidis.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wenn Sie sich das Ganze mal angeschaut und sich vorher zu dem Thema informiert hätten, wie ich es ehrlich gesagt von jedem erwarten würde, der hier im Plenum dazu spricht, hätten Sie deutlich die Unterschiede zwischen dem Antrag der AfD und dem Antrag der Grünen erkennen können.

Dann wüssten Sie auch, dass wir im Ausschuss für Digitalisierung und Innovation längst sehr ausführlich mit Herrn Minister Pinkwart über die Kooperation mit dem BSI gesprochen haben.

Diese Kooperation – so hat der Minister gesagt – betrifft aber gar nicht die Daten‑ und IT-Sicherheit für Bürgerinnen und Bürger; sie ist auf die Unternehmen und die Wirtschaft ausgerichtet.

Das heißt, diese Kooperation hat gar nichts mit diesem Antrag und auch nichts mit dem Doxing-Skandal zu tun, der, wenn ich es richtig verstanden habe, der Ausgangspunkt für diesen Antrag war.

Also: Bitte informieren Sie sich doch beim nächsten Mal etwas ausführlicher, bevor Sie sich hier hinstellen und solche Vergleiche anstellen. Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das Thema zwar schon in der letzten Plenarwoche sehr ausführlich diskutiert und Argumente ausgetauscht; ich bin aber dennoch sehr dankbar, dass es heute diesen Antrag gibt.

Herr Reul ist zwar gerade wieder rausgegangen, aber mir ist noch immer nicht klar, wie eigentlich …

(Oliver Kehrl [CDU]: Hier ist er! – Oliver Krauß [CDU]: Kontaktlinsen nicht drin?)

– Ach, wunderbar. Schön, Herr Reul; dann hören Sie ja trotzdem zu.

Mir ist ehrlich gesagt immer noch nicht klar, wie nach dem Skandal das Konzept der Landesregierung zum Thema „Daten‑ und IT-Sicherheit“ wirklich aussieht.

Herr Dr. Katzidis hat vorhin beschrieben, was die Universitäten und die Forschungslandschaft in Nordrhein-Westfalen tun, und das ist in der Tat sehr beeindruckend. Aber was die Landesregierung aus dem Skandal gelernt hat und wie ihr Konzept aussieht, weiß ich bis heute nicht.

Deshalb bin ich sehr gespannt und freue mich darauf, was Herr Minister Reul gleich vorlegen wird und welche Konsequenzen daraus gezogen werden, denn das Thema ist nicht unwichtiger geworden.

In der vergangenen Woche hat das BSI die Zahlen zu den Angriffen auf kritische Infrastrukturen präsentiert: Sie sind in der zweiten Jahreshälfte 2018 – das wundert uns nicht – noch einmal angestiegen.

Wir brauchen dringend politische Maßnahmen dieser Landesregierung, um darauf zu reagieren, denn kriminelle Clans sitzen heute nicht nur in Shisha-Bars, sondern auch vor Rechnern. Deshalb ist es wichtig, dieses Thema als wichtigen Baustein der inneren Sicherheit anzuerkennen und auch tatsächlich danach zu handeln.

(Beifall von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

– Danke, Matthi.

(Heiterkeit)

Die SPD hat sich schon in der vergangenen Plenarwoche sehr ausführlich damit auseinandergesetzt. Wir haben dazu auch einen Antrag gestellt. Uns war es wichtig, deutlich zu machen, dass es eben nicht nur darum gehen kann, als Konsequenz aus diesem Skandal Politikerinnen, Politiker und Prominente zu schützen. Das Thema „Datensicherheit“ betrifft alle Bürgerinnen und Bürger.

Wir wissen, dass eine digitale Gesellschaft nur dann gelingen kann, wenn die Menschen auch Vertrauen in die Digitalisierung haben. Niemand wird Angebote der digitalen Verwaltung nutzen, wenn man nicht weiß, dass die Daten dort auch sicher aufgehoben sind.

Niemand wird in ein autonom fahrendes Auto steigen, wenn er oder sie nicht weiß, dass dieses Auto nicht gehackt werden kann, damit nicht möglicherweise ein Unfall provoziert wird.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Ich fürchte, leider doch!)

Es wird auch niemanden geben, der seine Daten in ein Gesundheitssystem einspeist, von dem er oder sie nicht weiß, dass es seine Daten sicher schützt.

Das heißt, dass Thema „Datensicherheit“ ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Digitalisierung. Es ist unsere politische Verantwortung, an dieser Stelle tätig zu werden.

Wir haben deshalb vorgeschlagen, die Verbraucherzentralen zu stärken. Sie arbeiten bereits zum Thema der digitalen Souveränität, also dazu, wie wir die Bürgerinnen und Bürger so fit für das Internet und für die Datensicherheit machen können, dass letztlich alle davon profitieren.

Wir müssen das zum einen stärker in die Schulen tragen, wir müssen es aber auch stärker in die gesamte Gesellschaft tragen. Deshalb sollten wir uns alle Gedanken über Ansätze machen, wie das gelingen kann, damit alle diese digitale Souveränität und digitale Aufklärung erfahren und wir alle uns sicherer im Netz bewegen können.

Man hat im Moment noch das Gefühl, dass es der Landesregierung trotz der guten Forschungslandschaft in Nordrhein-Westfalen zu diesem Thema an vielem fehlt.

Dazu, wie wir die Wirtschaft schützen können, gibt es die Kooperation mit dem BSI; ich glaube aber, da kann man auch noch mehr machen. Wie schaffen wir es, die Wirtschaft und die Unternehmen so zu schützen, dass sie tatsächlich gut aufgestellt sind?

Wir müssen auch noch einmal einen Schwerpunkt auf die kritischen Infrastrukturen legen, denn jeder von uns kann sich vorstellen, was in diesem Land los wäre, wenn tatsächlich mal ein Atomkraftwerk – das muss ja nicht bei uns passieren – oder zum Beispiel die Elektrizität eines Krankenhauses so gehackt wird, dass Ausfallerscheinungen auftreten, die für die gesamte Gesellschaft sehr gefährlich sein könnten.

Wir müssen uns eben auch überlegen, wie wir alle Menschen in Nordrhein-Westfalen an das Thema „Datensicherheit“ heranführen, damit sich alle sicher im Netz bewegen können.

Die Digitalisierung kann nicht von oben verordnet, sondern sie muss von unten gelebt werden.

Es ist unsere Pflicht – sowohl der Landesregierung, aber auch der Fraktionen im Parlament –, dafür zu sorgen, dass alle Menschen in diesem Land den bestmöglichen Schutz erfahren. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.

Ich bin sehr gespannt zu erfahren, was der Innenminister dafür tut, aber das wird er uns ja gleich mitteilen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kampmann. – Nun spricht für die FDP-Fraktion Herr Matheisen.

Rainer Matheisen (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immer, wenn jemand von der grünen Fraktion an das Rednerpult tritt – auch Herr Mostofizadeh macht das gerne mal –, wird die FDP zitiert.

Soeben wieder: Digitalisierung first, Bedenken second. – Ich nehme das einfach einmal als Lob, dass wir offenbar doch mit so guten Slogans punkten, dass auch die Grünen sie ständig zitieren müssen.

(Beifall von der FDP – Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Ich kann nur sagen: Ich stehe zu diesen Slogans.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Stehen auch Konzepte dahinter?)

Für uns ist Digitalisierung eine Herzensangelegenheit, und die lassen wir uns auch nicht schlechtreden. Wir stehen zu „Digitalisierung first, Bedenken second“.

(Matthi Bolte-Richter [GRÜNE]: Ihr Vorsitzender hat das eingesammelt!)

Wir können uns eine Welt ohne Digitalisierung nicht mehr vorstellen. Die Digitalisierung macht unser Leben besser, leichter und bietet alle Chancen und Möglichkeiten.

Das heißt aber nicht, dass wir als Freie Demokraten uns nicht auch mit den Risiken beschäftigen. Die bestehen aber nicht nur in der digitalen, sondern auch in der realen, in der analogen Welt.

Wenn man beispielsweise für ein Meeting irgendwohin fährt, setzt man sich auch einer Gefahr aus: einer Gefahr im Straßenverkehr oder der Gefahr, nicht rechtzeitig anzukommen. In der digitalen Welt gibt es eben andere Gefahren.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Wenn man vom Boden aus schaut, sehen alle gleich aus!)

Wir dürfen nicht die Digitalisierung verdammen, sondern wir müssen auf diese Gefahren hinweisen. Das macht die Landesregierung.

(Beifall von der FDP)

Auch die Kreispolizeibehörden stellen dazu ein breites Informationsangebot zur Verfügung. Es gibt zielgruppenspezifische Kampagnen, beispielsweise auch zusammen mit dem Landespräventionsrat und mit der Verbraucherberatung der Verbraucherzentrale NRW zum Thema „Datenschutz in der digitalen Welt“.

Dazu kamen im vergangenen Jahr 90 Vortragsveranstaltungen für Entscheiderinnen und Entscheider aus Unternehmen in Kooperation mit dem eco-Verband, mit Bitkom und mit VOICE, dem Bundesverband der IT-Anwender.

Es gibt die Sicherheitspartnerschaft Nordrhein-Westfalen und eine ganze Menge an Möglichkeiten, und auch das Wirtschaftsministerium klärt auf. An verschiedensten Stellen gibt es Maßnahmen und Unterstützung.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Bolte-Richter?

Rainer Matheisen (FDP): Ja, gerne.

Vizepräsident Oliver Keymis: Das habe ich mir gedacht. – Bitte schön, Herr Bolte-Richter.

Matthi Bolte-Richter*) (GRÜNE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Vielen Dank, Herr Kollege, für die Zulassung dieser Zwischenfrage.

Mir liegt eine Meldung von „FOCUS Online“ vom 12.05.2018 vor, die lautet: „Lindner distanziert sich nach Datenskandal von Wahlplakat“. Gemeint waren übrigens der Datenskandal vom letzten Jahr zu Facebook sowie das Wahlplakat, das wir soeben zitiert haben. Da sagte Ihr Bundesvorsitzender: „Das Plakat war wohl doch etwas im Überschwang gestaltet.“

Jetzt frage ich Sie, Herr Kollege: Warum stellen Sie sich hier gegen Ihren Bundesvorsitzenden?

(Heiterkeit von Minister Herbert Reul)

Rainer Matheisen (FDP): Ich habe eine schöne rhetorische Frage erwartet

(Matthi Bolte-Richter [GRÜNE]: Ich möchte eine Antwort! – Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Nix rhetorisch!)

und sie auch bekommen.

Die Antwort ist ganz klar: Wir stehen weiterhin zu dem, was wir bisher gesagt haben. Für uns ist die Digitalisierung wichtig. Wir müssen natürlich darauf achten, dass man vernünftig mit Daten umgeht. Nichts anderes wollte er damit sagen. Wir reden jetzt aber nicht über „FOCUS Online“-Überschriften, sondern wir reden darüber, wie wir die Datensicherheit in diesem Land besser machen können.

(Beifall von der FDP)

Dabei nehmen wir eine andere Position als Sie ein.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das war ja nicht mal witzig, Herr Kollege!)

Sie sagen beispielsweise, wir brauchen ein neues Netzwerk. Das ist eine der Kernforderungen in Ihrem Antrag. Da sage ich: Wir brauchen kein neues Netzwerk.

Wenn ich unterwegs bin und mich mit IT-Sicherheitsexperten im Land unterhalte, sagen die mir, wir hätten teilweise sogar zu viele Netzwerke und müssten das Bestehende konzentrieren und besser machen.

Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen, und nicht, neue Gruppierungen und Netzwerke oder Plattformen einzurichten, wo Kaffee getrunken und diskutiert wird.

(Beifall von der FDP)

Nein, wir müssen das Bestehende konzentrieren und noch besser machen.

In Ihrem Antrag steht ein ganz wichtiger Punkt – das muss ich anerkennen –: Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen sollen in die Lage versetzt werden, geeignete Lern‑ und Sensibilisierungsmaßnahmen effektiv anzubieten und durchzuführen.

Das ist absolut richtig. Wir sind schon dabei: Wir gehen jetzt die ersten Schritte. Wir tun genau das, was Sie dort fordern.

Es ist wichtig, dass wir bereits in der Schule damit beginnen, für das wichtige Thema „Datensicherheit“ zu sensibilisieren.

Wenn wir aber in der Schule nicht damit beginnen, wenn dort ein zu lockerer Umgang mit Daten eingeübt wird und die Schüler sich schon in dem Alter keine Gedanken machen – wie soll das denn dann später werden?

Es ist also das Allerwichtigste, an den Schulen zu beginnen. Wir machen es bereits; Sie brauchen es nicht noch einmal extra zu fordern. Genau das werden wir auch entsprechend fortsetzen.

Sie haben das Thema „Gründer/Start-ups“ in diesem Bereich angesprochen. Ich glaube, dass man mit Fug und Recht sagen kann, dass sich Bochum gerade zu einem absoluten Leuchtturm entwickelt.

Es gibt die Exzellenz-Start-up-Center, wobei Bochum von den 150 Millionen Euro, die auf sechs Start-up-Center verteilt werden, einen entsprechenden Anteil abbekommt. Wir sind also dabei, genau das Thema zu implementieren und weiter voranzutreiben.

Es gibt dort bereits erfolgreiche Ausgründungen. Wir machen an dieser Stelle weiter und schauen, dass man in dieser Hinsicht nicht nachlässt und das Vorhandene nicht als ausreichend ansieht. Wir wollen Bochum zu einem Leuchtturm der IT-Sicherheit machen.

Bevor ich jetzt mitteile, dass wir empfehlen werden, den Antrag abzulehnen – was Sie nicht wahnsinnig verwundern wird –, möchte ich meine Meinung zu einem Punkt etwas von der Meinung der CDU differenzieren.

Sie haben soeben die Onlinedurchsuchungen angesprochen. Ich stelle hiermit für die Freien Demokraten klar, dass wir die Onlinedurchsuchungen weiterhin als einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung ablehnen.

Wir werden in diese Richtung keinerlei Schritte mittragen. Sollte das soeben ein ernsthafter Vorschlag des Kollegen gewesen sein, möchte ich sagen: Die Freien Demokraten werden so etwas nicht mitmachen.

Wir sind für gute Datensicherheit und dafür, die Angebote zu stärken, insbesondere bei den Jüngsten anzusetzen, aber auch Unternehmen zu helfen. Da sind wir hier in Nordrhein-Westfalen auf einem guten Weg. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Matheisen. – Jetzt spricht für die AfD-Fraktion Herr Tritschler.

Sven Werner Tritschler (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der vergangenen Plenarwoche haben wir unter dem Eindruck der Doxing-Affäre um den Jahreswechsel sehr ausführlich über das Thema „Datensicherheit“ gesprochen – zu Recht.

Dazu gab es einen Antrag der SPD, einen Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen und einen Antrag von meiner Fraktion. Nur die Grünen waren nicht im Rennen – macht ja nichts.

Herr Bolte-Richter, ich bin noch nicht so lange wie Sie hier, aber es wäre doch der übliche Weg, jetzt im Ausschuss neue Gedanken und Ideen einzubringen.

Sie aber bringen einen Antrag, der wenig Neues bietet. Wahrscheinlich muss irgendeine Art von Plansoll erfüllt werden; schließlich es geht ja um das beliebte Buzzwort „Digital“.

Auf ein paar Punkte will ich eingehen.

Der Landtag soll feststellen – das ist der erste Punkt im Antrag –, dass das Internet ein freier digitaler Raum sei. Auch in Ihrer Rede eben war viel vom Thema „Freiheit“ die Rede.

Das klingt gut, Herr Bolte-Richter. Als Grüner müssen Sie sich dann aber schon fragen lassen, wo die Bundestagsabgeordneten der Grünen waren, als in Berlin das Zensurgesetz unter dem klangvollen Namen „NetzDG“ verabschiedet wurde. Da haben Sie sich weggeduckt.

Wo waren die Europaabgeordneten der Grünen, die gegen die Uploadfilter im Rahmen der Urheberrechtsrichtlinie gestimmt haben? Sie haben alle dafür gestimmt.

Herr Bolte-Richter, für ein freies Internet steht vielleicht meine Partei, Sie stehen für Zensur und nette Lippenbekenntnisse.

(Matthi Bolte-Richter [GRÜNE]: Das stimmt überhaupt nicht! Das ist glatt gelogen!)

Ansonsten fällt Ihnen nicht viel mehr ein als der SPD schon vor vier Wochen.

Natürlich ist das ein Bildungsthema, natürlich müssen sich die Bürger, wir alle uns in diesem Bereich lebenslang fortbilden; das hören wir alle ja hier zum allerersten Mal.

Was Sie allerdings ähnlich wie die SPD mit Ihrem Antrag ein wenig verkennen, ist die Ursache der jüngsten Angriffe, der jüngsten Doxing-Affäre.

In Ihrer paternalistischen Denkart gehen Sie wieder mal vom armen, schwachen Bürger aus, den man vor sich selbst schützen muss. Tatsächlich lag der Fehler in diesem Fall aber doch bei uns, in der politischen Sphäre. Zuerst müssen wir unsere Hausaufgaben machen, bevor wir die Bürger belehren.

Wenn Sie die Handynummern von Herrn Laschet und Herrn Hofreiter im Netz finden, dann ist das sicherlich kein Verbraucherschutzthema, sondern eine Frage des eigenen Versagens.

Darum mogeln Sie sich herum und machen das, was Ihnen immer einfällt: Ein paar nette neue Stellen schaffen, ein paar nette Broschüren drucken, und am Ende hat man irgendwie das gute Gefühl – jedoch nicht wirklich berechtigt –, etwas Gutes getan zu haben.

Insgesamt ist also nicht ersichtlich, wo und wie uns dieser Antrag jetzt noch weiterbringen soll. Wir werden ihn genauso wie die anderen drei Anträge zu dem Thema natürlich gerne im Ausschuss mitberaten.

Nun beende ich meine Rede und schenke ich Ihnen damit fünf Minuten Wochenende. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: So weit sind wir noch nicht. – Jetzt spricht für die Landesregierung Herr Minister Reul.

Herbert Reul, Minister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich über den Antrag, denn man kann über Cybersicherheit gar nicht oft genug reden und dem Thema vor allem nicht genügend Aufmerksamkeit schenken.

Dass wir IT-Sicherheit in Nordrhein-Westfalen stärken müssen, ist relativ klar; da sind wir einer Meinung.

Auch in dem Punkt, dass das Internet ein freier Raum bleiben soll und wir alle ihn sicher nutzen können sollen, gebe ich Ihnen recht. – Das ist aber schon fast alles, wo ich Ihnen zustimmen kann.

Dafür gibt es zwei einfache Gründe: Manches, was im Antrag steht, macht keinen Sinn, und anderes machen wir sowieso schon.

(Beifall von Dr. Christos Georg Katzidis [CDU] und Dr. Christian Untrieser [CDU])

Es gibt vielfältige Informations‑ und Schulungsangebote für kleine und mittelständische Unternehmen vom MWIDE sowie von meinem Haus. Es gibt Kooperationen mit verschiedenen Verbänden und Vortragsreihen, um Wissen zu transferieren und zu multiplizieren.

Die Lehrpläne aller Schulformen – der Primar‑ und Sekundarstufe I sowie der gymnasialen Oberstufe – werden angepasst, damit sicheres Leben und Lernen mit digitalen Medien zur Selbstverständlichkeit wird.

Bei der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern ist bereits das Kerncurriculum angepasst worden.

In diesem Land forschen bereits mehr als 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an rund 30 Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zu IT-Sicherheit. Das ist doch was.

Die Aufzählung von Einrichtungen und Informationsmöglichkeiten, die es in Nordrhein-Westfalen gibt, könnte ich noch fortsetzen. Ich will Sie damit aber nicht langweilen, denn das eigentliche Problem liegt ja woanders: Man muss sich zurechtfinden bei der Vielzahl an Angeboten.

Damit komme ich wieder auf Ihren Antrag zu sprechen: Sie fordern die Bündelung bei einer unabhängigen Stelle, die extra geschaffen werden müsste; das wäre also noch eine weitere Anlaufstelle. Das macht den Durchblick – übrigens ganz abgesehen von dem damit verbundenen finanziellen Aufwand – nicht einfacher.

Es gibt schon einiges: Alles, was Sie mit Ihrem Antrag feststellen lassen wollen – wie der Schutz der Persönlichkeitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern, der Demokratie und der kritischen Infrastrukturen –, liegt in der Zuständigkeit von Polizei, Verfassungsschutz und Katastrophenschutz, also in der Zuständigkeit meines Hauses.

Da passiert schon einiges. Eine Bündelung der Angebote, Einrichtungen und Maßnahmen im Land und im Bund durch eine koordinierende Stelle müsste dann logischerweise im Innenministerium liegen.

Die Polizei in Nordrhein-Westfalen bemüht sich, auf die dynamische Entwicklung von Cybercrime personell, technisch und organisatorisch ordentlich vorbereitet zu sein, aber – das muss man hinzufügen – wir arbeiten wie bei anderen heute diskutierten Themen auch mit einer begrenzten Menge an Manpower.

Das Landeskriminalamt hat ein Cybercrime-Kompetenzzentrum; da arbeiten mittlerweile 140 spezialisierte Beamte, IT-Wissenschaftler und Techniker. Nach den Personalzuwächsen, die ich angeschoben habe, werden wir das Landeskriminalamt in diesem Bereich in diesem Jahr noch mit zusätzlichem Personal ausstatten können.

Das Landeskriminalamt betreibt für Cybercrimefragen einen Single Point of Contact, der an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr für Behörden, Institutionen, Verbände, Forschung und Lehre sowie die Wissenschaft erreichbar ist.

Die Fachberaterinnen und Fachberater der 47 Kreispolizeibehörden beraten die Bürgerinnen und Bürger und ebenfalls Institutionen im Bereich „Cybercrime“ – auch über Erste-Hilfe-Maßnahmen im Cybercrimenotfall.

Es gibt sogar schon eine Telefonnummer dazu, nämlich die 110; die braucht man gar nicht neu.

Der Verfassungsschutz erstellt aktuell erstmals ein „Lagebild Wirtschaftsschutz NRW“, denn wir wollen ganz genau wissen, mit wem wir es zu tun haben, um vom Verfassungsschutz – als Frühwarnsystem – auf Veränderungen oder künftige Gefahren früh aufmerksam gemacht zu werden.

Das kann in diesem Maße keine andere Behörde oder Stelle leisten. Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist also einmalig und das ist auch gut so.

Das Innenministerium gibt übrigens zu all diesen Fragen auf der Homepage „sicher-im-netz.de“ Antworten; da können Sie das alles noch mal in Ruhe nachlesen.

Es gibt einen weiteren Punkt, der fast noch wichtiger ist: das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger für die Gefahr aus dem Netz. Letztlich hat es nämlich jeder selbst in der Hand. Früher sagte man: Gelegenheit macht Diebe. – Damit meinte man, dass man Fahrräder abschließen und Fenster schließen sollte, wenn man aus dem Haus geht.

Heute – und das ist nicht banal – müssen wir diesen Spruch noch ganz anders deuten. Schwache Passwörter sind immer noch weitverbreitet; sie sind so etwas wie eine offene Tür für Kriminelle. Wir müssen das Risikobewusstsein und die Kompetenzen im sicheren Umgang mit technischen Möglichkeiten stärken.

Der Spruch „Gelegenheit macht Diebe“ gilt auch und im besonderen Maße im Cyberraum. Deshalb setzen wir bei der Bekämpfung von Cybercrime auch auf Prävention.

Es gibt Präventionsangebote der Polizei, polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes sowie beim Verfassungsschutz.

Zudem gibt es Kooperationen mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und weiteren Trägern. Ich will mich nicht hinter dem BSI verstecken – das haben wir gar nicht nötig –, aber wir nutzen vorhandene Angebote. Warum auch nicht? Die sind seit 15 Jahren etabliert und gut, und man muss nicht immer alles neu erfinden.

Das Bewusstsein muss in der gesamten Bevölkerung ankommen. So wie wir uns bei der momentan anhaltenden Grippewelle regelmäßig die Hände waschen oder desinfizieren, muss auch so etwas wie Cyberhygiene in den Köpfen der Menschen verankert werden. Der Vergleich ist ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, aber ich will dafür werben, dass die Bürgerinnen und Bürger ein Teil der Verantwortung selber tragen.

Im Bereich Cybercrime wird von allen viel erwartet, und es wird viel Geld kosten. Jedem muss klar sein, dass wir mit der rasanten Entwicklung Schritt halten müssen. Straftaten im Verborgenen, die bequem von der Couch aus verübt werden, darf es nicht geben.

Wer sich Kinderpornografie in seinem Wohnzimmer anschaut und denkt, er mache sich nicht strafbar und würde sowieso nicht entdeckt, der irrt in beiden Punkten. – Danke schön.

(Beifall von der CDU und Angela Freimuth [FDP])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Reul. – Für die CDU-Fraktion hat nun das Wort Herr Dr. Untrieser.

Dr. Christian Untrieser (CDU): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in der Tat schon eine Menge vom Minister gehört, aber auch in der Plenardebatte am 24. Januar – das ist ja noch gar nicht so lange her – haben wir im Rahmen zweier Tagesordnungspunkte exzessiv über das wichtige Thema „IT-Sicherheit“ und darüber geredet, wie man damit umgeht.

Es ist daher gar kein Problem, das noch mal hier einzubringen und zu diskutieren; das will ich nicht kritisieren.

Aber was ich dann doch kritisiere, Herr Bolte-Richter, ist, dass Sie offenbar nach folgendem Motto verfahren: Es ist zwar schon alles gesagt worden, aber noch nicht von den Grünen. – Ihr Antrag ist letztlich eine Aneinanderreihung von Selbstverständlichkeiten und bereits erfüllten Forderungen.

(Beifall von der CDU – Zuruf von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

– Das ist so.

Herr Minister Reul hat gerade schon ausgeführt, was alles gemacht worden ist. Im Plenarprotokoll von vor vier Wochen konnte ich nachlesen, dass Minister Pinkwart darüber für den Bereich des Wirtschaftsministeriums berichtet hat.

Er sprach von zehn Beispielen und Maßnahmen, die in dem Bereich bereits umgesetzt oder auf den Weg gebracht worden waren. Ich glaube, Herr Pinkwart hätte noch länger darüber ausführen können, wenn seine Redezeit nicht irgendwann zu Ende gewesen wäre.

Um das nicht noch mal alles zu wiederholen, greife ich zwei Stichworte heraus, auf die Sie auch in Ihrem Antrag eingehen.

Sie sprechen die Verbraucherzentralen an. Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen ist ein wichtiger Akteur, um Bürger, Schüler und jeden, der Interesse daran hat, zu informieren, was es heutzutage mit IT-Sicherheit auf sich hat.

Als Koalitionsparteien bzw. Landesregierung haben wir in diesem Jahr der Verbraucherzentrale eine halbe Millionen Euro mehr zur Verfügung gestellt, damit sie in diesem wichtigen Bereich Arbeit leisten kann. Wir sind also bereits auf dem Weg.

Außerdem möchte ich den Landespräventionsrat Nordrhein-Westfalen erwähnen. Den sollten Sie sich auch mal anschauen, wenn Sie sonst schon nicht alle Daten und Fakten parat haben.

Auf eine Sache gehe ich noch mal ein, weil sie mich ein bisschen ärgerlich macht: Sie verknüpfen das Thema mit der Quellentelekommunikationsüberwachung. Wir haben hier vor einigen Wochen ein sehr, sehr wichtiges Gesetz verabschiedet, und ich bin froh, dass nicht nur CDU und FDP, sondern auch die SPD mitgegangen ist.

Für mich ist eigentlich ganz klar: Vor 100 Jahren haben sich Verbrecher vielleicht mündlich verabredet, eine Bank auszurauben, einen Mord zu begehen oder irgendetwas anderes zu machen. Die Polizei musste das dann aufklären.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Schöne Geschichte!)

Vor 50 oder 60 Jahren gab es mit dem Telefon eine technologische Weiterentwicklung, und Verbrecher und Terroristen haben sich damit verständigt.

Was hat der Staat gemacht? – Er hat gesagt, dass er auf diese Technologie natürlich auch Einfluss nehmen müsse, um herauszufinden, was Verbrecher am Telefon verabreden wollen. Deswegen wurden zum Schutz der Bürger die rechtlichen Möglichkeiten der Telekommunikationsüberwachung geschaffen.

Heutzutage wird eben nicht mehr telefoniert, sondern Terroristen und Kriminelle nutzen vielleicht ihr Handy oder eine App. Für mich ist es ganz logisch, dass der Staat in Zeiten von Terrorismus, Clankriminalität usw. in der Lage sein muss, seine Bürger zu schützen. Deshalb muss er eine Lücke schließen, um bei Gefahr für den Bürger auf solch wichtige Telekommunikationseinrichtungen zugreifen zu können.

(Beifall von der CDU)

Zum Schluss zitiere ich aus Ihrem Antrag, in dem Sie fordern, dass die Landesregierung „Erste-Hilfe-Maßnahmen für akute Fälle von Hacking, Leaking, Doxing und Internetbetrug für Betroffene schaffen und eine entsprechende Hotline für Bürgerinnen und Bürger sowie für die Wirtschaft bereitstellen“ müsse.

Herr Bolte-Richter, zum Mitschreiben: 0221 4774922 – das ist die Hotline der Zentral‑ und Ansprechstelle Cybercrime der Staatsanwaltschaft Köln. Dort können Sie sich gerne weiter informieren, aber Anträge in dieser Form lassen Sie vielleicht besser bleiben. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Untrieser. – Nun hat die SPD-Fraktion das Wort, und es spricht Frau Kollegin Stotz.

Marlies Stotz (SPD): Verehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist jetzt schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Thematik, die dem Antrag zugrunde liegt, bereits im Januar in verschiedenen Anträgen behandelt worden ist. Dennoch spreche ich jetzt gerne zu diesem Antrag.

Dieser Antrag greift viele Punkte auf, die bereits in den vorliegenden Debatten andiskutiert worden sind, und ich glaube, wir vergeben uns gar nichts, jetzt aufgrund des Antrags der Grünen noch einmal tiefer einzusteigen.

Wir haben in der Debatte im Januar schon deutlich gemacht – und das möchte ich an dieser Stelle noch einmal erwähnen –, es geht bei dem Thema „IT-Sicherheit“ nicht nur um neue Verschlüsselungstechnologien oder Sicherheitslösungen, die in der Hardware verankert werden müssen.

Die Technologien müssen so eingerichtet werden, dass sie effektiv und mit geringem Aufwand sicher genutzt werden können. Zudem müssen Schlüsselkompetenzen, die zum Erhalt und Aufbau digitaler Souveränität und Sicherheit notwendig sind, gezielt und möglichst früh angeboten und gefördert werden. Dies gilt von der Schule über die duale Ausbildung bis hin in die Hochschulen, für die berufliche Weiterbildung, und auch in der gemeinwohlorientierten Weiterbildung sollten dazu Angebote gemacht werden.

Die Stichworte lauten: Aufklärung und digitale Souveränität.

Meine Kollegin Inge Blask hatte bereits im Januar erwähnt, beim Schutz der Daten von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen und Behörden müssen wir beide Seiten der Medaille ins Auge fassen. Auf der einen Seite müssen die Behörden und Einrichtungen in ihrer bisherigen, sicher sehr guten Arbeit deutlich und besser unterstützt werden, um ihre Strukturen und Systeme zu stärken. Aber auf der anderen Seite brauchen vor allem auch die Bürgerinnen und Bürger das Rüstzeug für die digitale Souveränität. Ich bin froh, dass Minister Reul eben schon darauf abgehoben hat.

Die digitale Bildung ist sicherlich ein sehr weites Feld. Eines ist sicher: Sie wird immer mehr zu einer wichtigen Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme am Erwerbsleben und ist zugleich die Voraussetzung für unsere Selbstbestimmung und den sicheren Umgang in der digitalen Welt.

Wir benötigen eben nicht nur kompetente Fachkräfte in der IT-Sicherheit und in Hochsicherheitszentralen. Darüber hinaus müssen möglichst alle Bürgerinnen und Bürger über Digitalkompetenzen verfügen, denn ein gewisses Grundverständnis ist Voraussetzung dafür, dass IT-Sicherheit auch von Otto Normalverbraucher verstanden und besser eingeschätzt werden kann. Den Grundstein dafür legen wir unter anderem in unseren Bildungseinrichtungen.

Von daher, finde ich, passt dieser Antrag, obwohl wir darüber schon diskutiert haben, dennoch in die aktuellen Debatten, denn wir sollten hier nicht so tun, als wäre bereits alles auf dem richtigen Weg. Insofern begrüße ich den Antrag und freue mich auf die Diskussion in den Ausschüssen. – Danke schön.

(Beifall von der SPD und Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Stotz. – Weitere Wortmeldungen haben wir nicht.

Kommen wir also zur Abstimmung.  Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung des Antrags Drucksache 17/5056 an den Ausschuss für Digitalisierung und Innovation – federführend –, an den Innenausschuss, an den Wissenschaftsausschuss, an den Ausschuss für Schule und Bildung sowie an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Gibt es jemand, der etwas dagegen hat, dass wir so verfahren? –

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Nein!)

Nein. Gibt es jemanden, der sich enthalten will? –

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Nein!)

Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig so überwiesen.

Ich rufe auf:

5   Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung – Verletzungen von Körper und Seele von Kindern, Mädchen und Frauen entschieden entgegentreten

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/5067

In Verbindung mit:

Genitalverstümmelung – wirksame Hilfe für die Opfer

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5071

Ich eröffne die Aussprache. Es ist Frau Schlottmann für die CDU-Fraktion, die jetzt das Wort hat. Bitte schön.

Claudia Schlottmann (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Mädchen und jungen Frauen, die weltweit mit verstümmelten Genitalien leben, wird auf rund 130 Millionen geschätzt. Tendenz steigend!

Auch in Deutschland können wir dieses Thema nicht mehr länger ignorieren. Durch Flucht und Migration sind in den vergangenen Jahren viele Frauen aus Ländern zu uns gekommen, in denen Beschneidungen vorgenommen werden. Nach Berechnungen der Organisation Terre des Femmes leben in Deutschland mindestens 65.000 Mädchen und Frauen, die aus sogenannten Prävalenzländern kommen, in denen diese Menschenrechtsverletzungen immer noch praktiziert werden, und die von dem sogenannten FGM oder FGM/C betroffen sein könnten.

Nach einer Studie, die der Deutsche Bundestag in Auftrag gegeben hat und die am 6. Februar 2017 veröffentlicht worden ist, wird die Zahl der von FGM betroffenen Frauen auf mindestens 45.000 geschätzt. Die geschätzte Zahl der von FGM bedrohten Mädchen unter 18 Jahren differiert zwischen 1.560 und 5.690. Ich denke, wir sind uns alle einig darüber, dass jede Frau davon eine zu viel ist.

(Beifall von der CDU)

Fest steht – und da sind wir uns mit den verantwortlichen Fraktionen im Deutschen Bundestag völlig einig –, es besteht dringender Handlungsbedarf. Die Konsequenzen weiblicher Genitalverstümmelung sind gravierend. Aus rein medizinischer Sicht kann die Praktik zu schwerwiegenden Blutungen, Wundinfektionen, Schmerzen, Unfruchtbarkeit, Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt sowie zahlreichen weiteren körperlichen Problemen führen. Viele Opfer erleiden darüber hinaus ein lebenslanges Trauma.

 In den meisten Fällen werden die Beschneidungen unter schlechten hygienischen Bedingungen vorgenommen. So wird laut WHO sogar davon ausgegangen, dass ca. 10 % der betroffenen Mädchen und Frauen an den akuten Konsequenzen der Beschneidung sterben, ca. 25 % an den langfristigen Folgen.

Diese medizinischen und psychischen Leiden bis hin zum tödlichen Ausgang sollten Grund genug dafür sein, dass Politik endlich dem einen Riegel vorschiebt. Die weibliche Genitalbeschneidung ist nicht nur eine Kindeswohlgefährdung gemäß § 8 SGB VIII, sondern sie gilt seit 2013 in Deutschland als Straftatbestand gemäß § 226 a Strafgesetzbuch und ist damit ein Verbrechen und nicht mehr nur eine Körperverletzung. Ich denke, das muss man immer sehr, sehr deutlich hervorheben und sehr, sehr deutlich sagen.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Doch die alleinige Tatsache der Strafbarkeit kann das Problem nicht ausreichend bei den Wurzeln packen. Das Problem liegt hier leider viel tiefer. Die Beweggründe der Eltern für eine weibliche Beschneidung sind zahlreich und in vielen Kulturen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger tief verankert. Es gibt zahlreiche Gründe, die die Betroffenen zur Begründung heranziehen. Diese sind oftmals traditionell und kulturell begründet. Diese positiven Konnotationen führen dazu, dass Mädchen und Jungen im schlimmsten Fall die Durchführung einer Beschneidung sogar selbst wünschen.

Wenn wir den betroffenen Mädchen und Frauen wirklich helfen wollen, müssen wir behutsam vorgehen und vor allen Dingen umfassend und nachhaltig aufklären, aufklären über die folgenschweren medizinischen Gefahren und über die weitreichenden psychischen Gefahren.

Wir müssen offen darüber sprechen, dass die Beschneidung von Mädchen und Frauen nicht einfach nur ein schmerzhafter Brauch nach alten Traditionen ist, sondern ein Verbrechen an kleinen Mädchen und jungen Frauen.

Wir müssen das Selbstwertgefühl bei den Mädchen und jungen Frauen und das Bewusstsein bei den Eltern fördern. Nur so können wir eine Veränderung bewirken und den betroffenen Eltern, die eine Beschneidung ihres Kindes erwägen, bei der Entscheidung dagegen helfen.

Wir müssen durch eine intensive Informations- und Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein in der Bevölkerung für das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung schärfen. Die Handlungsbereitschaft in konkreten Gefährdungsfällen kann auf diese Weise erhöht werden.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung fördert seit vielen Jahren die Präventions- und Sensibilisierungsarbeit des Runden Tisches NRW gegen Beschneidung von Mädchen. Hier müssen wir noch intensiver arbeiten und das Verzahnen mit der vorhandenen Frauenhilfeinfrastruktur verstärken.

Ich habe bei meiner Teilnahme am Runden Tisch viel gelernt und viele Informationen mitgenommen. Denn dort – das ist ganz wichtig – diskutieren die Expertinnen und Experten zu diesem Thema, die sich intensiv mit den Frauen und ihren Schicksalen beschäftigen.

Wir benötigen eine Handlungsempfehlung für Fachkräfte im sozialen Dienst, für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, für den Gesundheitssektor sowie für Polizei und Justiz mit dem Ziel, einen Einblick in die Thematik zu geben, hierfür zu sensibilisieren und eine erhöhte Sicherheit im Handeln zum Schutz der bedrohten Mädchen und jungen Frauen zu vermitteln.

Dies setzt aber eine frühzeitige Schulung von Fachleuten ebenso wie ein Einbinden in die aufklärende Familienarbeit von Geburt an voraus. Ich denke dabei auch an die Schulung von Hebammen, Erzieherinnen und Ärzten.

Auf diese Weise können wir einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung machen. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir damit hoffentlich vielen Mädchen und jungen Frauen eine selbstbestimmte Zukunft in einer selbstbestimmten körperlichen Integrität ermöglichen können. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Schlottmann. – Für die FDP-Fraktion hat nun Frau Schneider das Wort.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung. Das ist die Wahrheit. Selbst der Titel des vorliegenden Antrags vermag gar nicht zu beschreiben, was diese unmenschliche Praxis in Wirklichkeit bedeutet.

Viele Frauen sterben an dieser Barbarei, entweder sofort oder erst nach einigen Jahren an den Spätfolgen. Für die Frauen, die den Eingriff überleben, bedeutet er meist lebenslanges Leiden. Das sind körperliche Schmerzen, die jeden Tag direkt fühlbar sind. Da ist aber vor allem auch das seelische Leid, das die Betroffenen lebenslang belastet. Und da ist auch diese unglaubliche Zurücksetzung als Mensch, als Individuum, die mit dieser Unmenschlichkeit einhergeht.

Es darf daher gar nicht erst der Eindruck entstehen, dass diese barbarische Praxis in unserem Land in irgendeiner Weise toleriert wird.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wir beschäftigen uns hier im Landtag mit diesem Thema nicht zum ersten Mal. Es macht mich unglaublich traurig, dass wir uns immer und immer wieder damit auseinandersetzen müssen. Denn in unserem Land gibt es leider immer mehr Frauen, die Opfer einer Zwangsbeschneidung geworden sind.

Es gibt Mädchen, die in ihrem ursprünglichen Heimatland Opfer wurden, es gibt Mädchen, die hier Opfer wurden, und es gibt sogar Mädchen, die eigens für die Zwangsbeschneidung ins Ausland gebracht wurden, weil diese Barbarei dort akzeptiert wird und unbemerkt vollzogen werden kann.

In Deutschland sind mehr als 15.000 Mädchen gefährdet. Wir müssen alles tun, damit nicht auch sie noch zu Opfern werden.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Haus eine grundsätzliche Übereinstimmung in dieser Frage haben. Das hat sich in den vergangenen Debatten gezeigt.

Das wird auch immer wieder aufs Neue deutlich, wenn der Runde Tisch NRW gegen Beschneidung von Mädchen zusammentritt. Seit 2007 tagt er regelmäßig. Im Namen der FDP-Landtagsfraktion danke ich allen am Runden Tisch Beteiligten für die von ihnen geleistete Arbeit zu diesem wichtigen Thema ganz herzlich.

Was ist nun künftig zu tun? – Wir müssen die Erfahrungen des runden Tisches und der bereits bestehenden Beratungsangebote stärker nutzen und neue Maßnahmen daraufhin ausrichten. Beratungsgespräche mit Eltern potenziell gefährdeter Mädchen erreichen nämlich längst nicht alle Bevölkerungsgruppen. Nach einem Bericht der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte nehmen solche Angebote nämlich eher gebildetere Eltern in Anspruch.

Wir müssen also niedrigschwellige Angebote zum Schutz aller Mädchen und Frauen in der Community entwickeln. Damit solche Angebote erfolgreicher werden, bedarf es eines guten Netzwerks.

Projekte wie Change Plus in Berlin, das auf Initiative von Terre des Femmes entwickelt wurde und von der EU finanziert wird, können in dieser Hinsicht Vorbildcharakter haben. Bei Change Plus werden einerseits Schlüsselpersonen als Multiplikatoren in praktizierenden Berliner Communities ausgebildet, um ein Umdenken und dann einen Verhaltenswechsel anzustoßen. Andererseits wird ein besonderer Fokus auf die Netzwerkarbeit auf politischer und institutioneller Ebene gelegt. Natürlich muss die Präventions- und Sensibilisierungsarbeit stets eng mit der vorhandenen spezifischen Frauenhilfeinfrastruktur verzahnt werden.

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir dürfen die Fachkräfte im sozialen Dienst, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, den Gesundheitssektor sowie Polizei und Justiz bei diesem stark tabuisierten Thema nicht alleinlassen. Sie brauchen spezifische Handlungsempfehlungen.

Diese sollen einen Ein- und Überblick über die Thematik geben, sensibilisieren und eine erhöhte Sicherheit im Handeln zum Schutz der bedrohten Mädchen und jungen Frauen vermitteln. Nicht zuletzt sollen die Empfehlungen konkrete Hilfen im Einzelfall geben und die rechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Jugendhilfe aufzeigen.

Wenn ein Fall von Genitalverstümmelung entdeckt wird, müssen die Täterinnen oder Täter, die dieses Verbrechen begehen, mit allen strafrechtlichen Mitteln verfolgt werden.

Sorgen wir aber vor allem mit kluger Aufklärungs- und Präventionsarbeit dafür, dass irgendwann kein Mädchen und keine Frau mehr Opfer dieser Barbarei wird. Lassen Sie uns im Fachausschuss die entsprechenden Konzepte dazu entwickeln. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Schneider. – Nun spricht für die AfD-Fraktion Herr Röckemann.

Thomas Röckemann (AfD): Die Genitalverstümmelung ist eine menschenfeindliche Abscheulichkeit, die national wie international zu ächten ist. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Im Dezember-Plenum habe ich in mehreren Redebeiträgen diese widerwärtige Praxis in verschiedenen Zusammenhängen aufgezeigt. Ich habe appelliert, sich der erbarmungswürdigen kleinen Mädchen anzunehmen. Ich habe darauf hingewiesen, dass diese verabscheuungswürdigen Taten, die ich nicht mehr im Näheren beschreiben werde, Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches sind – Verbrechen wie Mord und Totschlag, vorgenommen an Körpern und Seelen kleiner Mädchen.

Direkt angesprochen oder gar zuständig fühlte sich beinahe niemand. Auch die Medien haben hier völlig versagt, und dabei bin ich von Pontius bis Pilatus gezogen und musste feststellen, dass offensichtlich an diesem Thema fast gar kein Interesse besteht.

Jetzt, wo die AfD einen Antrag im Landtag stellt, regen sich die Regierungsfraktionen mit einem eigenen Antrag, der bei VroniPlag sicher nicht bestehen würde. Er wurde offensichtlich zu großen Teilen abgeschrieben, und wie das beim Abschreiben so ist, haben sich Fehler eingeschlichen: Im CDU/FDP-Antrag wird von „Genitalbeschneidungen“ gesprochen. Das tut man schon seit langer Zeit nicht mehr, und auch in Ihren Redebeiträgen bricht es immer mal wieder heraus. Diese Verniedlichung ist ein Schlag in die kindlichen Gesichter der verstümmelten Opfer.

Meine Damen und Herren Kollegen, obwohl es in Nordrhein-Westfalen über 10.000 Opfer dieser Verbrechen gibt, ist seit 2013 nicht ein einziges Strafverfahren eingeleitet worden – null, nicht ein einziges –, stattdessen Frauenquoten, Gender-Ga-Ga, Feierlichkeiten zum Frauenwahlrecht und Landtagsillumination.

Mir stellen sich folgende Fragen, die ich gerne im Ausschuss behandelt wissen würde:

Warum gibt es bei mehr als 10.000 festgestellten Verbrechen in Nordrhein-Westfalen kein einziges Strafverfahren?

Warum melden Jugendämter keine Verdachtsfälle an Polizei bzw. Staatsanwaltschaften weiter?

(Stefan Engstfeld [GRÜNE]: Von wem reden Sie hier eigentlich?)

Warum tun Ärzte dies nicht? Welchen Sinn haben die U-Untersuchungen für Kinder, wenn Verstümmelungen nicht zur Anzeige gebracht werden?

Gibt es in Deutschland ernsthaft ein Gesetz, das Täterinnen schützt und Opfer dem Verbrechen preisgibt? – Ein solches Gesetz ist mir nicht bekannt.

Warum werden die betroffenen Mädchen nicht aus den Familien genommen? Fehlt es vielleicht an Pflegefamilien, die schwersttraumatisierte Kinder aus dem afrikanischen Kulturkreis womöglich mit geringen bis gar keinen Kenntnissen der deutschen Sprache aufnehmen möchten?

Passt möglicherweise das Täterbild – ausgehend von Männergewalt gegen Frauen – nicht ins tagesaktuelle Gender-Raster der einen oder anderen ach so demokratischen Partei? Sie wissen schon, dass die Verstümmelungen hauptsächlich von Frauen vorgenommen werden?

Meine Damen und Herren Kollegen, jede Woche, die hier ungenutzt verstreicht, werden Mädchen aus Nordrhein-Westfalen genitalverstümmelt. Ich persönlich möchte – und wenn auch nur im übertragenen Sinne – das Blut dieser kleinen Mädchen nicht an meinen Händen kleben haben.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Für die SPD-Fraktion spricht nun Frau Butschkau.

Anja Butschkau (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung und ein Verbrechen. Genitalverstümmelung muss bekämpft und die betroffenen Mädchen und Frauen müssen unterstützt werden. Darin sind sich in diesem Hause alle einig.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Es reicht nicht aus, dass Genitalverstümmelung seit 2013 ein Straftatbestand ist. Einer Studie des Bundesfamilienministeriums von 2017 zufolge leben in Deutschland rund 50.000 Mädchen und Frauen, die betroffen sind. In den Familien, in denen Genitalverstümmelung Realität ist, ist dies ein Tabuthema. Darüber spricht man nicht. Und somit wird es auch nicht infrage gestellt, sondern als eine Tradition angesehen – eine in meinen Augen abscheuliche Tradition patriarchalischer Gewalt und Machtausübung, die die Selbstbestimmung von Mädchen und Frauen gezielt unterdrückt und ihre Gesundheit aufs Spiel setzt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Freiheit, Selbstbestimmtheit und Unversehrtheit sind Werte, für die unsere Gesellschaft steht. Daher ist es unsere Pflicht, dieses Thema zu enttabuisieren und den Mädchen und Frauen aufzuzeigen, dass es ein Verbrechen ist, dass sie das nicht über sich ergehen lassen müssen, dass sie nicht allein sind und dass wir ihnen helfen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Liste der möglichen Folgen einer Genitalverstümmelung, unter denen die Mädchen und Frauen ein Leben lang leiden, ist lang. Die WHO schätzt, dass 10 % der Betroffenen aufgrund der akuten Folgen und 25 % an den langfristigen Auswirkungen dieses Eingriffes sterben. Blutungen, Infektionen, Inkontinenz und Unfruchtbarkeit sind genauso Auswirkungen wie psychische Störungen, Depressionen, Ess-, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Auch die Sexualität der Frauen ist davon enorm betroffen.

Das Thema ist nicht neu. Bereits vor knapp drei Jahren hat der Landtag das Thema debattiert. Das Ergebnis war ein von allen Fraktionen beschlossener Antrag, der bis auf Nuancen mit dem heutigen Antrag der Regierungsfraktionen identisch ist. Daher können wir dem Antrag selbstverständlich zustimmen. Sie hätten uns aber auch direkt fragen können, ob wir den Antrag, den Sie ja größtenteils im Wortlaut übernommen haben, nicht auch als Antragstellende mittragen wollen.

Sie fordern im Grunde, das fortzusetzen, was bereits seit Jahren getan wird.

Ich denke, dass die spezialisierten Fachberatungsstellen und die Jugendhilfen der Kommunen in den letzten Jahren ausreichend für dieses Thema sensibilisiert wurden. Diese haben allerdings meist erst dann Kontakt zu Frauen und Mädchen, wenn etwas vorgefallen ist oder der Verdachtsmoment im Raume steht. Da das Thema allerdings, wie eingangs erwähnt, tabuisiert wird, bleiben viele Fälle drohender Genitalverstümmelung unerkannt.

Daher müssen wir diejenigen sensibilisieren, die mit den Mädchen und Frauen im Alltag Kontakt haben. Das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kitas, die Lehrerinnen und Lehrer, Mitschülerinnen und Mitschüler, Ärztinnen und Ärzte und deren Praxispersonal sowie das Pflegepersonal in den Krankenhäusern. Das sind aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen und Beratungsstellen für Geflüchtete.

Hier wäre es einmal absolut interessant zu hören, welche Erfahrungen mit dem Thema in der Beratung traumatisierter Flüchtlingsfrauen gemacht wurden, deren Finanzierung die Landesregierung im letzten Jahr gestrichen hat.

Nicht zuletzt braucht es – hier ist das Land der richtige Ansprechpartner – eine Sensibilisierung der Richterinnen und Richter und Polizeikräfte, um den richtigen Umgang mit Betroffenen zu erreichen, damit Genitalverstümmelungen als Straftat angezeigt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, das Thema „Genitalverstümmelung“ liegt uns seit vielen Jahren sehr am Herzen. Deshalb ist es uns ein Anliegen, die Bewältigung der Problematik auf mehr Schultern zu verteilen.

Eine breite Vernetzungs- und Aufklärungskampagne kann ein ehrenamtlicher Kreis wie der Runde Tisch NRW gegen Beschneidung von Mädchen, der eine ganz hervorragende Arbeit leistet, nicht allein stemmen. Daher ist es sinnvoll, wenn solch ein Prozess durch das Land gesteuert wird. Wir sollten uns also gemeinsam und aktiv dafür einsetzen, in allen Kommunen lokale runde Tische zu dem Thema zu bilden und Programme für Schulen ins Leben zu rufen.

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam dieses wichtige Thema anpacken. Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Gleichstellungsausschuss und bin mir sicher, dass wir einen Beitrag dazu leisten können, um jungen Mädchen und Frauen das grausame Schicksal einer Genitalverstümmelung zu ersparen. – Herzlichen Dank und Glück auf!

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Butschkau. – Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Josefine Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Weibliche Genitalverstümmelung gehört als archaische Praxis leider nicht der Vergangenheit an. Es ist leider auch kein Phänomen des globalen Südens allein. Nach Zahlen des schon oftmals angesprochenen Runden Tisches NRW leben auch in Nordrhein-Westfalen schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Mädchen und Frauen, die von Beschneidung betroffen oder bedroht sind. Zu vermuten steht leider auch, dass auch hier die Dunkelziffer höher ist. Denn weibliche Genitalverstümmelung – das ist schon vermehrt angeklungen – ist nach wie vor ein Tabuthema.

Weltweit leben mehr als 150 Millionen Frauen und Mädchen mit verstümmelten Genitalien, das heißt, mit ganz oder teilweise entfernten Genitalien, mit teils erheblichen täglichen Folgen, was soziale, körperliche und psychische Belastungen angeht. Nicht zuletzt stellt auch das einen eklatanten Eingriff in ihre sexuelle Selbstbestimmung dar.

Umso wichtiger ist es, hier mit Aufklärung anzusetzen und insbesondere Frauen und Familien zu stärken. Denn es geht nicht nur darum, dass wir eine strafrechtliche Verfolgung brauchen, sondern auch darum, deutlich zu machen, dass wir die dahinterstehenden Traditionen aufbrechen müssen, dass es eben kein Übergangsritual zum Erwachsenwerden ist, damit Mütter und Eltern den Mut haben, ihre Kinder einer solchen Praxis nicht auszusetzen.

Deswegen brauchen wir hier mehr Sensibilisierung, mehr Aufklärung, aber auch mehr Stärkung. Diese Familien brauchen nicht mehr Stigmatisierung, sondern sie brauchen die Rückenstärkung von uns, damit sie ihre Kinder dieser archaischen Praxis nicht mehr aussetzen.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Sehr geehrte Damen und Herren, der Runde Tisch NRW arbeitet seit 2007; das ist schon mehrfach erwähnt worden. Diese kontinuierliche Arbeit für Sensibilisierung und Aufklärung ist immens wichtig und ist in Nordrhein-Westfalen und bundesweit einzigartig. Selbstverständlich gebührt dieser Arbeit unser gemeinsamer Dank. Frau Schneider hat es auch schon erwähnt.

Wir wollen diese Arbeit des Runden Tisches NRW natürlich weiterhin unterstützen. Das wäre zum Beispiel auch dadurch möglich, ihn einmal mehr in den Frauenausschuss einzuladen. Das haben wir in der letzten Legislatur bereits gemacht. Der Runde Tisch konnte seine Arbeit vorstellen.

Wir sind in den Austausch gekommen – auch und gerade über die Handlungsempfehlungen, die der Runde Tisch uns bereits vor Jahren sehr konkret an die Hand gegeben hat:

Dazu gehören beispielsweise die Sensibilisierung und die Öffentlichkeitsarbeit. Da ist durch den Runden Tisch schon sehr viel an Arbeit geleistet worden.

Dazu gehören aber auch die Stärkung und die Förderung von Strukturen – „stop mutilation“, eine Beratungsstelle aus Düsseldorf, ist nur ein Beispiel dafür – sowie die Stärkung unserer insgesamt vielfältigen Beratungslandschaft. Diese Beratungslandschaft gerade in diesem speziellen Themenbereich weiter zu qualifizieren, wäre ein wichtiger Punkt, den wir ebenso wie die Arbeit aus den Communities heraus landesseitig unterstützen müssten.

Das Aufbrechen alter Traditionen ist nicht nur für die Familien von Bedeutung – ich habe es gerade ausgeführt –, sondern auch für die Communities. Die Enttabuisierung geht auch nur über die Communities und ihre Brückenfunktion. Auch dort Projekte zu fördern, wäre also ein sehr konkreter Schritt, den wir auch als Land gemeinsam umsetzen könnten.

(Beifall von den GRÜNEN)

Und nicht zuletzt geht es auch um die Forschung zum Thema „Mädchenbeschneidung“ und um die medizinische Versorgung der Betroffenen.

Es gibt also bereits ein ganzes Bündel an Handlungsempfehlungen, die uns der Runde Tisch vorgelegt hat. Wir müssten uns jetzt an die Umsetzung machen, anstatt immer wieder darüber zu debattieren: Wir brauchen jetzt mal Konzepte.

Frau Schneider, Sie haben gerade gesagt: Wir müssen uns daranmachen, im Ausschuss Konzepte zu entwickeln. – Nein, wir müssen uns daranmachen, die Dinge, die wir bereits wissen, die der Runde Tisch erarbeitet hat, umzusetzen. Das ist unsere Aufgabe.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wir haben heute schon über Kinderschutz gesprochen. Auch hier gilt eindeutig: Mädchen müssen vor Genitalverstümmelung geschützt werden. Denn Genitalverstümmelung – das gilt es immer wieder deutlich zu machen – stellt eine Form der Kindeswohlgefährdung dar.

Und ich kann es Ihnen nicht ersparen – Frau Butschkau hat gerade darauf hingewiesen –: Bei der Lektüre des Antrags waren wir doch einigermaßen erstaunt, und ich dachte: Diesen Antrag habe ich irgendwo schon mal gelesen. – Deshalb steht in dem Antrag trotzdem viel Richtiges, und selbstverständlich können wir uns dem Antrag inhaltlich anschließen.

Trotzdem will ich noch mal unterstreichen, was Frau Butschkau gerade gesagt hat: Es wäre schön gewesen, wenn Sie auf uns zugekommen wären und die Initiative ergriffen hätten, den Antrag gemeinsam auf den Weg zu bringen, um dieses Signal heute gemeinsam auszusenden.

Da der Antrag überwiesen wird, hoffe ich, dass wir noch dazu kommen, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen, gemeinsam das Signal auszusenden, dass wir in Nordrhein-Westfalen Genitalverstümmelungen weder tolerieren noch akzeptieren, aber gleichzeitig alles für Aufklärung und für die Unterstützung von Familien tun, um sie und die Mädchen stark zu machen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Paul. – Für die Landesregierung spricht Ministerin Heinen-Esser in Vertretung von Frau Scharrenbach, die heute nicht hier ist. Bitte schön.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist heute schon vielfach gesagt worden, aber ich glaube, man kann nicht müde werden, es zu betonen: Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung mit lebenslangen physischen und psychischen Belastungen für die Betroffenen.

Daher steht der Kampf gegen diese massive Grundrechtsverletzung schon lange auf der Agenda der Landesregierung. Maßnahmen zur Sensibilisierung und Aufklärung über die Problematik, zur nachhaltigen Vernetzung sowie zur Unterstützung von betroffenen Mädchen und Frauen werden schon seit vielen Jahren in Nordrhein-Westfalen umgesetzt.

Der Kampf gegen Genitalbeschneidung ist eine globale menschenrechtliche Herausforderung und ein wirklich internationales Problem. Die Ursachen müssen in erster Linie in den Herkunftsländern der Betroffenen bekämpft werden.

Genitalbeschneidung ist in vielen Ländern, in denen sie praktiziert wird, seit Langem strafbar. Dennoch sind die Zahlen der betroffenen und bedrohten Mädchen und Frauen weiterhin erschreckend hoch. Weltweit wird von rund 200 Millionen Betroffenen, deutschlandweit von rund 60.000 Betroffenen und 15.000 Gefährdeten ausgegangen.

Für Nordrhein-Westfalen stehen der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes zufolge Zahlen von 13.000 betroffenen Mädchen und Frauen und 3.600 bedrohten Mädchen im Raum. Das sind aber tatsächlich nur geschätzte Zahlen. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher.

Deshalb wird die Landesregierung den bisher in NRW beschrittenen Weg im Kampf gegen Genitalbeschneidung fortsetzen. Ein wichtiger Bündnispartner ist dabei der „Runde Tisch NRW gegen Beschneidung von Mädchen“; er ist fast in allen Reden erwähnt worden. Der runde Tisch zeichnet sich dadurch aus, dass Fachkräfte, Beratungsstellen, NGOs, Betroffene und Politik gemeinsam effektive Ansatzpunkte für den Kampf gegen Beschneidung suchen.

Allen Beteiligten ist dabei klar: Einfache Lösungen für die komplexe Problematik gibt es nicht; denn wir bewegen uns in einem enormen Spannungsfeld, wie wir mit der Internationalisierung von Traditionen und Riten umgehen, die gegen Menschenrechte verstoßen und großes Leid verursachen.

Ungeachtet dessen muss kulturelle Identität grundsätzlich geachtet werden, natürlich innerhalb der Grenzen unseres Rechtsstaats. Es ist ein Spannungsfeld, das uns nicht nur beim Thema „Genitalbeschneidung“ begegnet, sondern ebenso zum Beispiel bei Zwangsheirat oder Ehrenmord.

Neben Gesetzen und Strafverfolgung müssen insbesondere Präventionsarbeit und der Schutz von Gefährdeten beim Kampf gegen Genitalbeschneidung im Vordergrund stehen. Dabei geht es vor allem um die nachhaltige und sensible Aufklärung der betroffenen Mütter und Väter.

Der Zugang zu den Communities, in denen Genitalbeschneidung praktiziert wird, ist ausgesprochen schwierig. Aber diese Communities sind eben der Hebel, an dem wir für eine wirkungsvolle Prävention ansetzen müssen.

Gleichzeitig gilt es, auch die Personen zu informieren und zu schulen, die mit potenziell bedrohten Mädchen in Kontakt kommen. Das sind die Erzieher, die Lehrer, die Ärzte, Sozialarbeiter, Mitarbeiter in den Jugendämtern.

Neben der Stärkung des runden Tisches, den wir weiter mit der Frauenunterstützungsstruktur in Nordrhein-Westfalen verzahnen wollen, hat das Bildungsportal KUTAIRI eine wichtige Funktion. Als digitales Informationsmedium mit spezifischen Handlungsempfehlungen richtet es sich gezielt an Mitarbeiter in Kindergärten, Schulen, Jugendhilfe, im Gesundheitswesen sowie in der Justiz. Hier wollen wir ansetzen, das Portal sukzessive weiter ausbauen und durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit noch stärker allen Professionen bekannt machen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen natürlich auch weiter die von Genitalbeschneidung betroffenen Bevölkerungsgruppen über die Strafbarkeit und über vorhandene Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen aufklären. Nicht zuletzt wollen wir auch künftig dringend notwendige Beratungsangebote und Unterstützungsangebote für betroffene Mädchen und Frauen und bedrohte Mädchen in NRW fördern und unterstützen.

Bei der Bekämpfung der Genitalverstümmelung ist die Landesregierung auf einem guten Weg. Trotzdem ist noch einiges zu tun. Daher sind die Forderungen im Antrag der Koalitionsfraktionen sinnvoll und nötig.

Die Landesregierung stimmt dem Inhalt dieses Antrags zu. Wir werden alles Mögliche tun, dass die Rechte von Frauen und Mädchen auf körperliche Selbstbestimmung gewahrt werden und gewahrt bleiben. – Danke schön.

(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Mir liegt jetzt keine weitere Wortmeldung mehr vor. Daher kommen wir zum Schluss der Aussprache und zu zwei Abstimmungen.

Wir haben erstens abzustimmen über den Antrag der Fraktion von CDU und FDP Drucksache 17/5067. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen. Die abschließende Abstimmung soll dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer möchte zustimmen? – Das sind SPD, Grüne, CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Abgeordnete. Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir stimmen zweitens ab über den Antrag der Fraktion der AfD Drucksache 17/5071. Auch hier empfiehlt der Ältestenrat die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen – federführend –, an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie an den Rechtsausschuss. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich nochmals um das Handzeichen. – Das sind SPD, Grüne, CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Kollege. Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist auch diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

6   Debatte um Feinstaub und Luftreinheit versachlichen, Ideologie ausblenden, unabhängige und wissenschaftlich fundierte Untersuchungen schnellstmöglich auf den Weg bringen

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/5073

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die AfD-Fraktion dem Abgeordneten Vogel das Wort.

Nic Peter Vogel*) (AfD): EU-Höchstwerte und Dieselfahrverbote. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin heilfroh, dass die Debatte mal wieder ein bisschen Schwung aufnehmen wird. Wir erinnern uns: Vor nicht allzu langer Zeit kam eine Gruppe von mehr als 100 renommierten Lungenfachärzten und anderen Experten zu der Sicht, dass die Zahlen der Dieseltoten oder der beschleunigten Todesfälle doch ein kleines bisschen an den Haaren herbeigezogen sind. Es gäbe keine validen wissenschaftlichen Daten darüber.

Gut, das schien ein Wespennest gewesen zu sein; denn kurz darauf hatten wir eine Presseerklärung. Unsere Ministerin Schulze und ihre Fachleute erklärten uns – ich fasse mal für mich zusammen –: Nein, alles tutti. Die Studien sind seriös, und überhaupt haben sich die Lungenfachärzte auch in Sachen Zigarettenrauch einmal verrechnet. Dementsprechend könnte man die Sache ja auch diskreditieren. – Deckel drauf!

Der Deckel blieb aber nicht allzu lange drauf. Vor ein paar Tagen meldeten sich Mathematiker der Ruhruniversität Bochum zu Wort und monierten, dass ihre Kollegen in München – das sind die Kollegen, die eigentlich für die Studien verantwortlich waren, in deren Folge es jetzt als Quintessenz Fahrverbote gibt – sich massiv verrechnet haben, gar systematische Rechenfehler eingebaut haben.

Jetzt bleiben natürlich die Dieselbesitzer etwas verwirrt zurück. In Zeiten von Relotius und einem „Framing Manual“ der ARD beschleicht wahrscheinlich den einen oder anderen Dieselbesitzer auch der Verdacht, es könnte bei der Vergabe der Studien oder bei den Auswirkungen vielleicht so eine ganz kleine Prise politischer Wille mit eingeführt worden sein.

Was wollen wir? – Wir möchten gerne, dass eine Gruppe von unabhängigen Wissenschaftlern ergebnisoffen – das ist nun mal der Kern der seriösen Wissenschaft – diese Studien noch einmal überprüft und gegebenenfalls neu bewertet. Sollten diese Damen und Herren zu dem Schluss kommen, dass die 40 µg einfach viel zu gering angesetzt sind und keine Dieselverbote rechtfertigen, dann bleibt uns nur – wir sind ein Rechtsstaat – die Möglichkeit, mit einer EU-Gesetzesänderung daranzugehen.

Gut, demnächst sind erst einmal Wahlen. Das Parlament wird sich neu konstituieren, und die Zeit wird ihren Lauf nehmen. Aber wir können die Zeit nutzen a) für diese unabhängigen Studien, und b) sollten wir uns endlich noch einmal die Standorte unserer Messstationen angucken. Sie gehen durch die ganze Bundesrepublik, von Düsseldorf bis Stuttgart.

Die EU macht hier wirklich strenge Vorgaben. Eine beispielsweise ist die freie Luftzirkulation. Gehen Sie einmal in die Großstadt Ihres Vertrauens und schauen, wo die Messgeräte aufgestellt sind: teilweise viel zu dicht an Häuserwänden, am Neckartor direkt in eine Ecke hineingebaut, am besten noch ein großer Baum obendrüber. Wenn wir es so gestalten würden wie unsere europäischen Nachbarn und die Messgeräte mit Augenmaß und wirklich an repräsentativen Stellen aufstellen würden, dann wären die meisten Fahrverbote in Deutschland bald obsolet.

Bevor mein Kollege Dr. Vincentz Ihnen gleich noch die medizinischen Komponenten etwas näherbringt, freue ich mich auf eine offene Debatte hier. Seien Sie sportlich, bleiben Sie sachlich! – Schönen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. – Für die CDU-Fraktion erteile ich dem Abgeordneten Ritter das Wort.

Jochen Ritter (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Plenar-, aber auch Fußballwoche will ich mit Erlaubnis des Präsidenten mit einem Zitat des ARD-Sportjournalisten Gerd Delling beginnen: „Die Luft, die nie drin war, ist raus aus dem Spiel.“ Das trifft so oder so ähnlich zumindest auch auf den vorliegenden Antrag zu.

Die Diskrepanz jedenfalls, die der Pneumologe Dieter Köhler ausgemacht hatte zwischen dem, was unter anderem die Protagonisten von Fahrverboten auf der einen Seite als Effekt von Grenzwertüberschreitungen bei Stickoxid vorgetragen haben, nämlich erhöhte Mortalität, und dem, was rund 100 Lungenärzte auf der anderen Seite aus ihren Kenntnissen und Erfahrungen dagegengestellt haben, auch mit einfachen Beispielen illustriert haben – Zigaretten rauchen versus freies Atmen am Neckartor –, hat doch bei näherem Hinsehen, jedenfalls in der dargestellten Ausprägung, nicht bestanden. Der Hype, der darum getrieben wurde, ist jedenfalls zunächst vorbei.

Deshalb wird Dieter Köhler jetzt medial tatsächlich so behandelt wie einst Günter Netzer von besagtem Gerd Delling, den ich abermals mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren möchte: „Sie sind der Experte – Betonung liegt auf ‚Ex‘.“

So wie ich als Gladbach-Fan leide, wenn Netzer attackiert wird, so tut es mir auch weh, wenn ich sehe, mit welcher Häme Dieter Köhler überzogen wird. Das Pendel schlägt jetzt arg in die andere Richtung, nicht zuletzt, weil er sich über lange Zeit im Sauerland, wo ich herkomme, einen guten Ruf erarbeitet hat, den er gegen Ende seiner Karriere nun doch tatsächlich ein wenig ramponiert hat.

Den Kollateralschaden haben jetzt diejenigen, die noch mittendrin im Geschehen und ihm gefolgt sind, wobei bedauerlicherweise wenig differenziert wird zwischen solchen, die unter Berufung auf Köhler mehr oder weniger berechtigte Fragen gestellt haben, und denjenigen, die es eigentlich schon immer besser gewusst haben.

Das Bundesverkehrsministerium sieht als positiven Effekt der jüngsten Debatte, dass sich nun die Leopoldina als Nationale Akademie der Wissenschaften des Themas annimmt. Das ist eine Sichtweise, der ich mich durchaus anschließen kann.

Damit geht der vorliegende Antrag, dem ich mich vom Ende her genähert habe, um zu sehen, worauf der Verfasser hinauswill, in seinem Beschlussvorschlag Nr. 1 ins Leere, nämlich was die Bundesebene angeht; denn dort wird die zusätzlich erbetene Expertise, Stichwort „Leopoldina“, ja nun tatsächlich eingeholt.

Was die europäische Ebene angeht, so hat der Spitzenkandidat der EVP für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, Manfred Weber, für den Fall seiner Wahl Folgendes angekündigt – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

„Es macht Sinn, sich die Grenzwerte noch einmal erläutern zu lassen und über eine Revision nachzudenken.“

Ich bin zuverlässig oder zuversichtlich – zuverlässig bin ich auch, aber noch mehr bin ich zuversichtlich –, was die Wahl von Manfred Weber angeht, sodass der Antrag, soweit er auf die EU-Ebene gerichtet ist, ebenfalls überflüssig ist, weil da durchaus etwas in Bewegung ist und gegebenenfalls dann auch noch in Bewegung kommt.

Es bleibt der Vorschlag, eigene Gutachten in Auftrag zu geben. Das wäre noch mehr das, was Sie wollen. Aber nach allem, was ich über die Leopoldina gesehen und gelesen habe, erwarte ich, dass die Ergebnisse von deren Untersuchung so aussagekräftig und auch so belastbar sind, dass nicht ersichtlich ist, warum es zum jetzigen Zeitpunkt daneben noch erforderlich sein sollte, seitens des Landes Nordrhein-Westfalen weitere Gutachten in Auftrag zu geben.

Die bereits weiter vorne im Antrag begehrten Feststellungen taugen nicht als Grundlage für die oben genannten Vorschläge. Die erstgenannte Feststellung stellt infrage, dass von den sogenannten Leitschadstoffen auf Weiteres, auf die Qualität der Luft in Gänze in Bezug auf die menschliche Gesundheit geschlossen werden kann. Das erscheint mir nicht so abwegig, wie Sie das hier darstellen.

Auch die zweite Feststellung relativiert, meine ich, unangemessen die Wirkung, die tatsächlich von Feinstaub ausgeht. Da denke ich beispielsweise an Professor Schreckenberg von der Uni Duisburg, den wir vor einem guten halben Jahr mal als Experten zu einer Anhörung hier im Hohen Hause hatten, bei der es um den Sinn von Fahrverboten im Hinblick auf Stickoxide ging. Er hat auch Feinstaub angesprochen. Ich habe ihn jedenfalls nicht als geifernden Ideologen erlebt.

Damit entbehrt die aus der ersten und zweiten abgeleitete dritte Feststellung auch ihrer Grundlage. Deshalb will ich weiter auf den vorderen Teil Ihres Antrags eingehen.

Den Streit der unterschiedlichen Thesen werden wir hier und heute genauso wenig lösen, wie es gestern Abend bei „Markus Lanz“ Dieter Köhler im Zwiegespräch mit Karl Lauterbach hinbekommen hat. Das würde den Rahmen hier sprengen.

Was bleibt übrig? Am vergangenen Wochenende hatte Roger Vontobels „Hamlet“-Inszenierung hier im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere. In dieser Tragödie witterte Hamlets Vater als Geist Morgenluft. Das scheint mir dem Antragsteller hier auch so gegangen zu sein.

(Nic Peter Vogel [AfD]: Das sage ich seit einem Jahr!)

– Bitte?

(Nic Peter Vogel [AfD]: Das sage ich seit einem Jahr! Keine Morgenluft!)

– Ja, nun denn. Das Schicksal zwischen Antragstellung und dem, was in den letzten 14 Tagen passiert ist, desillusioniert da vielleicht ein wenig. Es hat Ihnen jedenfalls nichts genutzt. Das wäre ja auch noch zu verschmerzen. Aber es hat jedenfalls auch denjenigen nichts genutzt, die von Fahrverboten betroffen sein könnten.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: So ist das nämlich!)

Nutzen wird hingegen das – auch das sage ich in Richtung Rot-Grün –, was nach siebenjähriger Schreckstarre der Vorgängerregierung nun namentlich in Person von Frau Ministerin Heinen-Esser mit viel Energie und Akribie in Bezug auf die Luftreinhaltepläne

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das musste jetzt aber noch eingebaut werden, oder, Herr Kollege?)

und was auch in Person von Hendrik Wüst – jetzt leider nicht anwesend – etwa in Sachen Verkehr – Stichwort „vom Lkw auf die Schiene“ – auf den Weg gebracht wurde.

Nutzen wird auch, was die CDU-geführte Bundesregierung initiiert hat, nämlich eine klarstellende Ergänzung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz in puncto Verhältnismäßigkeit. Ich hoffe, dass sie nach der positiven Stellungnahme der EU nun bald im Deutschen Bundestag beschlossen werden kann.

Um bei Shakespeare zu bleiben, könnte man diesen Antrag alles in allem mit „Viel Wind um nichts“ bezeichnen. Anders als der eine oder andere Akteur in diesem Zusammenhang will ich in Anbetracht der Dynamik allerdings etwas vorsichtiger sein und schlage nicht alles in den Wind. Ich freue mich auf eine, wie Sie es eben angesprochen haben, differenzierte Auseinandersetzung im Ausschuss mit dem Ziel, dass wir Mobilität, Umwelt und Gesundheit doch in einen vernünftigen Ausgleich bekommen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD spricht nun der Abgeordnete Löcker zu uns.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU] – Gegenruf von Carsten Löcker [SPD]: Immer schön freundlich bleiben, Herr Kollege! – Josef Hovenjürgen [CDU]: Ich habe dich beobachtet!)

Carsten Löcker (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der gebotenen Kürze am fortgeschrittenen Nachmittag zur Sache. Das soll allerdings nicht heißen, dass man sich damit nicht noch inhaltlich auseinandersetzen darf.

Ein hier im Antrag viel zitierter Lungenfacharzt hat vor gut drei Wochen, nach der Veröffentlichung der bekannten Stellungnahme von mehr als 100 Lungenfachärzten, Irrtümer und Berechnungsfehler eingeräumt. Richtig. Okay, das halten wir so fest. Die Berechnungen im Gutachten von Herrn Dieter Köhler weisen also falsche Ausgangswerte und Umrechnungsfehler auf.

(Zuruf von Nic Peter Vogel [AfD])

– Richtig, beim Zigarettenrauchen. Bleiben wir bei der Sache, meine Damen und Herren.

Nun kommen Sie heute mit einem neuerlichen Antrag. Da darf man ja mal öffentlich spekulieren, warum Sie von der AfD gerade jetzt diesem viel beachteten geistigen Erguss folgen wollen und eine weitere Debatte in der Sache draufsetzen wollen. Man muss ja dann fragen: Was gibt es denn Neues?

(Zuruf von Nic Peter Vogel [AfD])

Das ist ja die Frage, die sich im Grunde genommen stellt: Was gibt es denn Neues? Neben den bereits genannten Erkenntnissen, die Sie hier noch mal anführen und die uns allen sattsam bekannt und oft diskutiert sind, sage ich Ihnen, meine Damen und Herren, was es Neues gibt: nichts – nichts, was von großer Relevanz in diesem Zusammenhang wäre.

Deshalb ist eines deutlich: Dieser Antrag beschäftigt sich wiederholt mit akademischen Fragen. Das ist auch Ihre Absicht. Deshalb haben Sie noch Ihren Doktor angekündigt, der uns das gleich sozusagen fachlich-akademisch erklären will.

Ich sage Ihnen was: In der Zwischenzeit fragen sich Tausende von Dieselfahrzeugbesitzern, wann ihr Fahrzeug denn endlich umgerüstet wird

(Christian Dahm [SPD]: So ist das!)

und wann sie wieder sicher sein können, dass sie mit ihrem Auto in die Innenstadt fahren können.

(Beifall von der SPD)

Sie organisieren hier akademische Debatten darüber, wer denn jetzt recht hat oder nicht. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das ist mir wie vielen Tausend anderen Dieselbesitzern herzlich egal. Da können Sie sicher sein. Deshalb laufen wir Ihrer fachlichen Debatte – Pseudodebatte –, die Sie heute anzetteln wollen, überhaupt nicht nach. Das geht nämlich gar nicht in der Form, in der Sie das hier vortragen.

Aufmerksamkeit durch populistischen Unsinn zu ermöglichen, können wir Ihnen auf jeden Fall nicht durchgehen lassen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD – Zuruf von Nic Peter Vogel [AfD])

Wir werden den Antrag dem parlamentarischen Brauch entsprechend zur Fachdebatte überweisen. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir diesem Blödsinn in der Form nicht zustimmen werden. – Herzlichen Dank.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Als Nächstes hat für die FDP der Abgeordnete Middeldorf das Wort.

Bodo Middeldorf (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick mag der Antrag der AfD vielleicht noch ganz differenziert daherkommen,

(Nic Peter Vogel [AfD]: Auf den letzten Blick auch!)

auf den letzten Blick leider nicht mehr. In der Überschrift ist zumindest von „versachlichen“ die Rede. Was kann man gegen eine Versachlichung haben? Auf den letzten Blick aber, Herr Kollege, stellen Ihre Formulierungen dann schon wieder das infrage, was Sie in Ihrer eigenen Überschrift formuliert haben.

Das komplexe Thema der Luftreinhaltung und der drohenden Dieselfahrverbote auf diesen einzigen medialen Anknüpfungspunkt zu reduzieren, ist keine seriöse Politik. Das muss ich eindeutig sagen.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und der CDU)

Natürlich liegt die Frage nahe, ob die Herleitung der Grenzwerte wissenschaftlichen Kriterien genügt. Wir haben uns diese Frage selbstverständlich auch schon gestellt. Deswegen hat sich die FDP-Bundestagsfraktion auch dafür eingesetzt, ein Moratorium auf europäischer Ebene zu erwirken.

Aber ich muss genauso feststellen – ich sage das hier in aller Deutlichkeit –: Seit Beginn der Debatte und seitdem die Bundesrepublik Deutschland diesen Grenzwerten zugestimmt hat, ist lange Jahre nichts passiert, um den NOx-Ausstoß nennenswert zu reduzieren.

(Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Das ist wahr!)

Autohersteller haben in der Zwischenzeit versucht, ihre Motoren zu manipulieren.

(Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Ja!)

Parteiübergreifend und über alle staatlichen Instanzen hinweg ist das Thema über zehn Jahre systematisch verschleppt worden. Die Bundesregierung, hauptzuständig in dieser Frage, hat noch bis Anfang letzten Jahres versucht, das Problem alleine über den Flottenaustausch zu regeln, der natürlich völlig unwirksam ist.

Was aber noch wichtiger ist: Auf Landesebene, und da gebe ich Herrn Löcker absolut recht, bringt uns eine Debatte über Grenzwerte keinen einzigen Schritt voran. Im Gegenteil! Jetzt selbst Gutachten in Auftrag geben zu wollen, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern, würde die Debatte ohne Grund anheizen. Sie würde vor allen Dingen zu noch mehr Verunsicherung von Autofahrerinnen und Autofahrern führen.

(Nic Peter Vogel [AfD]: Oder Aufklärung!)

Es wäre auch schlicht unredlich, zu suggerieren, wir könnten damit kurzfristige Lösungen erreichen. Für die akut anstehenden gerichtlichen Auseinandersetzungen hilft uns Ihr Vorschlag in keiner Weise weiter.

(Beifall von der FDP, der CDU und den GRÜNEN)

Stattdessen setzen wir darauf, den Anspruch der Menschen auf saubere Luft mit den Mobilitätsbedürfnissen unserer Gesellschaft in Einklang zu bringen. Das heißt konkret: saubere Luft ohne Fahrverbote. Das ist unser Ziel, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Daran arbeitet unsere Landesregierung intensiv. Der Schlüssel hierfür sind Maßnahmenbündel, die auf die spezifischen Anforderungen jeder einzelnen betroffenen Stadt abgestimmt werden müssen. Kernpunkt sind lokal emissionsfreie Antriebssysteme insbesondere bei den öffentlichen Flotten, bei Bussystemen beispielsweise. Die Umsetzung wird vonseiten des Landes massiv unterstützt, und zwar sowohl personell als auch finanziell.

Auf Bundesebene setzen wir auf eine Hardwarenachrüstung von Dieselfahrzeugen. Mehrfach haben wir, übrigens auch von dieser Stelle, sehr eindeutig gefordert, dass der Bundesgesetzgeber endlich den Rahmen hierfür schafft. Nach jahrelangem Zaudern scheint dies immerhin jetzt zu gelingen.

Wir unterstützen den vorliegenden Entwurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, mit dem das nun möglich wird. Entscheidend für seine Wirksamkeit – das will ich der Vollständigkeit halber dazusagen – wird sein, ob es uns gelingt, die Autoindustrie zu bewegen, Nachrüstungen endlich möglich zu machen. Das, was in den USA längst verfügbar ist, darf den Autokundinnen und -kunden in diesem Land nicht mehr verwehrt werden, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wir wollen darüber hinaus alles tun, um die Chancen neuer Mobilitätsangebote für dieses Land nutzbar zu machen. Eine bessere Vernetzung unterschiedlicher Verkehrsträger, eine Attraktivierung des öffentlichen Verkehrs, der Einsatz digitaler Technologien, all das wird zu Umstiegsanreizen und zu einer deutlichen Effizienzsteigerung auch in der Abwicklung von Verkehren führen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass uns die Auseinandersetzung über Antriebssysteme und Emissionen schon in wenigen Jahren antiquiert vorkommen wird. Unser Ziel muss es sein, die Zukunft der Mobilität zu gestalten und keine Debatten der Vergangenheit zu führen.

(Beifall von der FDP)

Bei allen Diskussionen über den richtigen Weg – darüber kann man ja durchaus geteilter Meinung sein – muss aus unserer Sicht immer im Vordergrund stehen, wie wir den Menschen in unserem Land das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unseres Staates zurückgeben.

Mit einer verspäteten, mit einer mutmaßlich endlosen und mit großer Wahrscheinlichkeit am Ende auch fruchtlosen Debatte über Grenzwerte, sehr geehrte Damen und Herren von der AfD, wird uns das definitiv nicht gelingen.

Dennoch stimmen wir selbstverständlich der Überweisung an den Ausschuss zu, um das Thema noch einmal zu vertiefen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion der Grünen hat nun der Abgeordnete Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Ritter, die Fußballvergleiche fand ich ganz hervorragend, obwohl Sie dazwischen mit der rot-grünen Schockstarre einen unnötigen Schlenker gemacht haben. Ich möchte das um das Zitat eines weiteren Borussia-Spielers ergänzen. Rolf Rüssmann pflegte zu sagen: „Wenn wir hier nicht gewinnen, treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.“

Das scheint auch ein bisschen das Motto des AfD-Antrags zu sein. Der Antrag bringt nichts, aber er soll in der Plenardebatte am Freitagnachmittag ein wenig beschäftigen. Insofern kann ich erstaunlicherweise auf viele Punkte meines Vorredners von der FDP, Herrn Middeldorf, zurückgreifen.

(Henning Höne [FDP]: Könnten Sie doch öfter machen!)

– Zumindest heute geht es.

Wir haben eine klare Rechtslage in Europa, die hier umzusetzen ist. Die heißt, den Grenzwert von 40 µg einzuhalten, darunterzubleiben und alle Maßnahmen darauf abzustimmen, dass das möglich ist. Es hält Sie niemand davon ab, andere Gutachten erstellen zu lassen, sich zu bewegen, auf europäischer Ebene die Gesetze zu ändern. Aber das ist die Gesetzeslage.

Deswegen habe ich mich sehr gefreut, dass der ehemalige Minister Gerhart Baum einen sehr guten Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben hat. Wenn man den gelesen hat, weiß man, woran man ist. Der Artikel fängt allerdings mit einem sehr bedenklichen Zitat an. In seinen weiteren Ausführungen stellt er das, was im Moment passiert, was den Umgang der Politik mit der Verfassung betrifft, infrage. Er warnt sehr davor, was der Ministerpräsident gemacht hat, nämlich die Urteile zu den Dieselfahrverboten anzuzweifeln und zu suggerieren, dass man sie umgehen könnte. Er weist den Gerichten ausdrücklich Unabhängigkeit zu und sagt, dass diese Urteile umzusetzen sind.

Wie man das gut machen kann, haben wir in der Landeshauptstadt von Hessen gesehen. Wiesbaden wurde auch verklagt und hat entsprechende Maßnahmen vorgeschlagen, unter anderem die Einführung von Elektrobussen in der Innenstadt, die Stärkung des ÖPNV. Deswegen, Herr Middeldorf: sehr gut. Wir müssen dafür sorgen, dass wir gesunde Luft haben und die Mobilität trotzdem gewährleisten können.

Aber eins ist klar: Mit einem Weiter-so wird das bei der Verdichtung der Innenstädte mit Autoverkehr alter Antriebsart und auch mit dem Platzbedarf der Autos nicht funktionieren. Wir werden den öffentlichen Nahverkehr massiv stärken müssen. Wir werden neue Konzepte für die Organisation der öffentlichen Behörden, unterschiedliche Schulanfangszeiten und viele weitere Maßnahmen vornehmen müssen, um das Ziel zu erreichen.

Es funktioniert aber nicht, den Menschen zu suggerieren: Ach, wir machen mal ein Moratorium – ein Moratorium gibt es nicht; Gesetze kann man nicht aussetzen –; ach, wir sagen mal, dass durch die Heraufsetzung der Grenzwerte in Deutschland eine Verhältnismäßigkeit entsteht. – Damit wird das alles nicht funktionieren. Es wird nur mit harter Arbeit, mit klarer Gesetzgebung und mit deutlichen Maßnahmen vor Ort funktionieren.

Dann wird man die Luftreinhaltepläne umsetzen können. Dann wird es keine Klagen der Deutschen Umwelthilfe mehr geben. Dann wird der Ministerpräsident auch nicht mehr die Bezirksregierungen anweisen müssen, dass man die Luftreinhaltepläne auf jeden Fall ohne Fahrverbote auszugestalten hat. Das wird dann alles Geschichte sein. Davon sehe ich allerdings im Moment nicht allzu viel.

Ich möchte hier noch etwas zitieren, was Herr Baum, der ehemalige Umweltminister, vorgetragen hat:

Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen individueller Mobilität und Schutz der Gesundheit. Man kann verstehen, dass dies die betroffenen Autohalter mit Kritik erfüllt. Das Ziel muss sein, verlässliche Lösungen mit neuen Mobilitätskonzepten zu verknüpfen und das Auto der Zukunft auf den Markt zu bringen. Wer aber die Gewaltenteilung für einen kurzfristigen politischen Vorteil aufs Spiel setzt, der gefährdet unsere rechtsstaatliche Ordnung. Die Politik sollte sich hüten, den Menschen falsche Hoffnungen zu machen.

Das macht dieser Antrag und haben einige Debatten in diesem Landtag auch getan. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung erteile ich Frau Ministerin Heinen-Esser das Wort.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Trotz des Antrags, will ich einmal sagen, ist es doch ganz gut gelungen, hier eine vernünftige Debatte zu führen und auch das eine oder andere grundsätzlich zum Thema zu sagen.

Ich möchte mit dem Thema „Messstationen“ beginnen, weil Sie daran so wunderbar Kritik geübt haben. Was haben die Städte Madrid, Barcelona, Kopenhagen, Oslo, Stockholm, Athen, Rom, London und Paris gemein? – Eine große Frage.

(Zuruf: Es sind europäische Städte!)

– Ja, es sind europäische Städte. In allen diesen Städten gibt es tatsächlich Fahrverbote. Da gibt es Dieselfahrverbote, weitergehende Fahrverbote etc.

Es ist also keine deutsche Diskussion, die hier geführt wird. Das kann es auch gar nicht sein, weil es darum geht, die EU-Luftqualitätsrichtlinie umzusetzen. Sie ist seit dem Jahre 2010 geltendes Recht in Deutschland.

Wir haben Erfolge beim Feinstaub erreicht. Deshalb irritiert mich die neue Feinstaubdebatte, die hier angeführt wird. Seit 2014 halten wir in Nordrhein-Westfalen die Feinstaubgrenzwerte ein. Auch das müssen wir einmal klar als Erfolg benennen. Wir arbeiten jetzt mit aller Kraft daran, mit den Luftreinhalteplänen zu erreichen, dass auch die Grenzwerte für Stickoxid eingehalten werden.

Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit allen Maßnahmen, die meine Vorredner schon erwähnt haben, besonders mein FDP-Kollege – sie haben geschildert, was alles auf der Verkehrsseite und auf der Verkehrslenkungsseite passiert –, an den allermeisten Straßen im Jahresmittel 2020 die 40-µg/m³-Grenzwerte einhalten werden. Das ist dann ein großer gemeinsamer Erfolg, den wir im Verkehrsballungsraum Nordrhein-Westfalen erreicht haben werden.

Dieses Thema „Grenzwerte“ war noch einmal hochgejazzt worden. Es wird immer weiter diskutiert. Das können wir auch tun. Die Grenzwerte bestehen seit vielen Jahren. WHO-Studien liegen ihnen zugrunde. Ich habe dem Ausschuss eine Übersicht über die zugrunde liegenden Studien zur Verfügung stellen lassen.

Jetzt bezweifeln ein paar Lungenfachärzte die Werte. Dann gibt es den Hinweis auf Rechenfehler. Daraufhin wird das wieder öffentlich hin und her diskutiert. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das alles nur dazu dient, die Bevölkerung noch einmal ganz besonders zu verunsichern. Es geht gar nicht darum – das atmet auch Ihr Antrag, wenn ich das einmal so sagen darf –, dass man sich vernünftig sachlich damit auseinandersetzt. Vielmehr geht es letztendlich um eine Verunsicherung der Bevölkerung. Dabei machen wir nicht mit.

Wir haben eine sehr kluge Bundeskanzlerin. Sie hat nämlich gesagt, dass sie ganzen Studien noch einmal von der Leopoldina, einer sehr angesehenen Einrichtung unter anderem für Naturwissenschaften, überprüfen lassen will. Ich glaube, anschließend werden auch Sie die Ergebnisse nicht mehr diskreditieren bzw. hinterfragen. Irgendwann ist Schluss mit der Diskussion.

Ich muss auch Folgendes sagen: Nach allem, was wir international beispielsweise von der WHO hören, wird die derzeitige Diskussion der Grenzwerte – es gibt neue Studien, die zurzeit erarbeitet werden – wahrscheinlich nicht dazu führen, dass die Grenzwerte angehoben werden. So, wie die internationale Diskussion zurzeit läuft, werden die Grenzwerte wohl eher abgesenkt werden.

Wie gesagt, ist das, was Sie wollen, schon längst geschehen. Die Leopoldina wird hoffentlich in Kürze der Diskussion, die wir hier ja schon seit Wochen führen, ein Ende bereiten.

Die Messstationen sind das zweite beliebte Thema. Wir haben in Nordrhein-Westfalen die Messstationen überprüfen lassen – erst kleinräumig, wie es technisch so schön heißt. Das heißt, dass wir uns angeschaut haben, ob die Stationen tatsächlich am richtigen Ort stehen. Fast alle Messstationen standen richtig. Eine einzige Station in Mettmann stand nicht an der richtigen Stelle. Das hatte etwas mit einer Baustelle zu tun, die vorher dort war.

Auch der entscheidenden Frage, die viele von Ihnen umtreibt, ob es eine Möglichkeit gibt, die Messstationen mehr nach links, mehr nach rechts, näher an ein Haus oder wohin auch immer zu stellen, gehen wir zurzeit nach. Wir haben den TÜV Rheinland beauftragt, noch einmal eine sogenannte großräumige Überprüfung unserer Messstationen in Nordrhein-Westfalen vorzunehmen. In spätestens zwei Monaten rechnen wir mit Ergebnissen.

Das alles heißt aber nicht, dass wir nichts mehr machen können. Ich finde, dass es unsere Aufgabe und unsere Verantwortung als Politik ist, für eine vernünftige Luftqualität in unserem Land zu sorgen.

Daran arbeiten zurzeit alle Bezirksregierungen mit ihren Luftreinhalteplänen. Das ist keine einfache Aufgabe, wenn ich Ihnen das einmal sagen darf, sondern ein schweres Stück Arbeit.

Hier geht es beispielsweise darum, wie man den ÖPNV noch stärker unterstützen kann. Ich bin auch dem Verkehrsminister dankbar, der diese Woche noch einmal Förderbescheide für die Umrüstung von Bussen im Straßenverkehr aus Berlin mitgebracht hat.

Es geht auch darum, ob verkehrslenkende Maßnahmen möglich sind, wie man mehr Park-and-ride-Plätze hinbekommen kann, inwiefern man die Straßenbahntaktung ändern kann etc. pp.

Das, was im Moment stattfindet, ist harte Arbeit in vielen Kommunalparlamenten und in den Bezirksregierungen mit dem Ziel einer Verbesserung der Luftqualität. Das ist genau der richtige Weg, den wir zurzeit gehen und auch weiter gehen müssen.

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich dafür, dass ich noch einmal zu diesem Thema sprechen durfte. Ich mache das immer wieder gerne und stets geduldig. Als Mutter einer 13-jährigen Tochter bin ich es auch gewöhnt, geduldig sein zu müssen. Deshalb unterhalte ich mich mit Ihnen immer wieder gerne über Grenzwerte und Ähnliches.

Ich schlage vor, dass wir uns das nächste Mal zusammenfinden, wenn die Ergebnisse der Leopoldina vorliegen. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Für die CDU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Krauß das Wort.

Oliver Krauß (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich darüber, dass doch noch viel mehr Kolleginnen und Kollegen anwesend sind, als ich gedacht hatte. Daher werde ich Sie damit belohnen, dass ich mich möglichst kurz fasse.

Entscheidend ist für mich aber, dass jeder selbst beurteilen kann, ob es der antragstellenden Fraktion wirklich darum geht, die Debatte um Feinstaub und Luftreinheit zu versachlichen und Ideologien auszublenden. Schließlich kommt dieser Antrag von einer Fraktion, die bei anderen Themenbereichen wie dem Klimawandel eine große Skepsis gegenüber gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen an den Tag gelegt hat, meine Damen und Herren.

(Zuruf von Christian Loose [AfD])

– Herr Kollege, hören Sie mir erst einmal zu. Dann können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie möchten.

Wenn es um die Feinstaubbelastung und insbesondere um den Diesel geht, dann werden in Deutschland viele hellhörig – Autobesitzer, Autohersteller, Anwohner an stark befahrenen Straßen und eben auch Politiker.

Erinnert sei an dieser Stelle einmal an jene, die ganz bewusst ein Dieselfahrzeug gekauft haben – in der Annahme, etwas für die Umwelt zu tun. Denn Dieselmotoren verbrauchen nun einmal bei gleicher Leistung weniger Kraftstoff als Ottomotoren und bringen infolgedessen weniger schädliches CO2 in die Luft. Insofern müssen wir auch das zu einer sachlichen Debatte hinzufügen.

Über Feinstaub und Luftreinheit – die Ministerin hat es dargestellt – findet doch bereits eine sachliche, wissenschaftliche und unabhängige Diskussion unter Experten statt.

Nun wird Ihnen Herr Dr. Vincentz in seiner Eigenschaft als Mediziner gleich noch das eine oder andere sagen können.

Das Positionspapier aber, auf das Sie sich als AfD hier berufen, wurde – es ist dargestellt worden – federführend von dem Lungenmediziner Dieter Köhler verfasst. Herr Köhler hat dieses Papier mit der Bitte um Unterstützung an rund 3.800 Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin verschickt. Unterschrieben haben von diesen 3.800 Mitgliedern lediglich knapp 150 Mitglieder.

Haben Sie sich denn schon einmal gefragt, warum sich über 90 % der angeschriebenen Mitglieder dem nicht angeschlossen haben?

(Zuruf von der AfD: Die hatten Angst!)

Das heißt nicht zwangsläufig, dass die Meinung von Herrn Köhler völlig falsch ist. Aber auch dieser Umstand gehört für mich zu einer Versachlichung der Debatte dazu. Er ist ein starkes Indiz dafür, dass sehr viele nicht diese Auffassung teilen.

Sofern es gesicherte neue wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, werden diese beachtet. Auch das hat die Ministerin dargestellt. Die EU-Kommission überprüft die bisherigen Grenzwerte.

Wichtig ist auch uns, dass wir die Landesregierung dabei begleiten, dass in den betroffenen Städten Luftreinhaltepläne aufgestellt werden. Das ist nämlich entscheidend – und nicht die Forderung nach immer neuen Gutachten. Denn die Luftreinhaltepläne enthalten eine Vielzahl von Maßnahmen, die zu einer deutlichen Reduzierung der Schadstoffbelastung führen können – der Kollege Middeldorf hat es angesprochen –: Ausbau des ÖPNV, Digitalisierung, Fahrradverleihstationen, attraktive Tickets für den ÖPNV.

Drei Grundsatzfragen stehen für uns – dabei bleibt es – im Zentrum einer ideologiefreien, sachlichen Diskussion: erstens die Berechnung der Grenzwerte, zweitens die Messstationen und deren Standorte und drittens die Erstellung von Belastungskarten, die uns Auskunft darüber geben, wie sich streckenbezogene und zonale Fahrverbote auf alternative Fahrstrecken auswirken.

Herr Kollege Ritter hat Ihnen ja schon verraten, dass wir der Überweisung an die Fachausschüsse zustimmen werden.

Als letztem Redner der CDU-Fraktion am heutigen Tage bleibt mir dann noch, Ihnen eine schöne, unbeschwerte Karnevalszeit zu wünschen. Machen Sie das Beste für sich aus diesen Tagen. – Alaaf!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die AfD-Fraktion hat nun Herr Dr. Vincentz das Wort.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde jetzt mehrfach in Zweifel gezogen, dass wir uns über diesen Punkt überhaupt noch einmal unterhalten sollten. Die Fahrverbote hängen aber doch sehr damit zusammen, dass es dort um eine Verhältnismäßigkeit geht.

Schauen wir uns einmal die Studien an, die dazu im Umlauf sind. Darin wird immer davon gesprochen, dass 49.000 bis 120.000 Menschen durch verkehrsbezogene Feinstäube und Stickoxide sterben. Wer würde bei solchen Zahlen nicht sagen, dass es verhältnismäßig wäre, wenn wir am besten ganze Stadtteile für den Diesel sperrten?

Aber erinnern Sie sich bitte an das alte Churchill-Sprichwort. Ab und zu lohnt sich auch ein zweiter Blick in die Studien. Denn vergleichen wir das einmal mit den Menschen, die allein an Lungenkrebs sterben. Das sind in Deutschland rund 41.000. 120.000 sterben an Feinstäuben. Ich rechne Ihnen das im Folgenden einfach einmal vor, und Sie entscheiden dann selbst, ob Sie das alles als stichhaltig empfinden oder auch nicht.

95 % der Lungenkrebstoten sind Raucher. Lediglich bei 5 % geht das Bronchialkarzinom auf andere Gründe, zum Beispiel Asbest, Tuberkulose, Radon oder chronische Lungenerkrankungen, zurück. Menschen ohne diese Risikofaktoren, die also quasi als Risikofaktor nur ihr normales westliches Leben leben, erkranken höchst selten. Auch bei ihnen gelten Bewegungsmangel, Fehlernährung, Stress und erbliche Faktoren als viel, viel, viel wahrscheinlicher als Abgase aus dem Straßenverkehr. Bei Fällen von COPD sieht es im Übrigen ähnlich aus.

Woran genau sterben dann aber diese 120.000 Menschen jedes Jahr, die durch die Feinstäube in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn nicht an Lungenerkrankungen? Nun, die ideologisch geneigten Experten haben sich einen etwas anderen Mechanismus überlegt, nachdem die Lungenerkrankungen schon am Rechenschieber widerlegt werden können. Jetzt ist es der oxidative Stress durch Feinstäube und Stickoxide, der zu deutlich mehr Herzinfarkten, Schlaganfällen und Diabetes und darüber dann zum Tod führen soll. Dass es dort überhaupt einen Zusammenhang gibt, ist natürlich nicht bewiesen. Aber das hört sich erst einmal wichtig an; denn schon mit den Worten „oxidativer Stress“ kann ja wohl kaum jemand etwas anfangen.

Führt jetzt also Feinstaub zu Diabetes und Herztod? Das lässt sich total einfach überprüfen. Sterben dort weniger Menschen an Zucker und Herzinfarkten, wo es weniger Feinstaub gibt? Einfache Frage, einfache Antwort: Nein. Denn auch hier sind andere Risikofaktoren viel bedeutsamer, sodass allenfalls ein statistischer, sehr theoretischer, aber keinesfalls bedeutsamer Zusammenhang gesehen werden kann. Einen viel stärkeren statistischen Zusammenhang gibt es auch hier mit Fehlernährung und Bewegungsmangel. Ja, sogar niedriger sozio-ökonomischer Status korreliert statistisch gesehen strenger mit diesen Erkrankungen. Feinstäube hingegen machen explizit keinen signifikanten Unterschied.

Aber gehen wir noch einen Schritt zurück. Was ist eigentlich dieser oxidative Stress, von dem ich sprach, die Wurzel allen Übels? Oxidativer Stress entsteht in allererster Linie nicht durch Feinstäube, sondern als logische Konsequenz aus der Energiegewinnung des menschlichen Körpers. Wie der Name schon sagt, hat er etwas mit Sauerstoff zu tun.

Sauerstoff – das wissen die wenigsten – hat mit seiner Eigenschaft zum bisher größten da gewesenen Artensterben auf unserem Planeten geführt. Das waren nicht Dieselabgase, Treibhausgase oder CO2. Nein, für die meisten Arten auf unserem Planeten hat Sauerstoff das Ende bedeutet. Das ist tatsächlich der Fall.

Sollten wir also nun alle aufhören, zu atmen, um dem Tod zu entgehen? Natürlich nicht! Oxidativer Stress ist gefährlich; gar keine Frage. Aber die absolute Hauptquelle dafür bleiben wir selbst.

Unser eigener Körper, der diesen Mechanismus schon seit Jahrhunderten kennt, hat aber auch Mechanismen entwickelt, um sich gegen diesen Stress zu wehren. Ich habe selbst auf diesem Gebiet geforscht. Es gibt die sogenannte antioxidative Kapazität. Und wie verbessern wir diese? Überraschung: durch ausgewogene Ernährung und regelmäßigen Sport.

Es gibt noch eine weitere Fraktion, deren Slogan lautet, dass Feinstäube schlicht kanzerogen seien. Auch hier könnte man wieder fragen, ob in Stuttgart mehr Menschen an Krebs sterben als im Erzgebirge. Die Antwort lautet: Nein. Denn auch hier sind wieder zahlreiche andere Faktoren viel entscheidender als die Feinstäube – zum Beispiel das im Erzgebirge vorkommende Radon.

Aber was bedeutet „kanzerogen“ eigentlich? Es bedeutet zunächst einmal nur „krebserregend“ – wie zum Beispiel Gegrilltes, Aufschnitt, rotes Fleisch oder Chips. Das alles ist krebserregend.

Kann mit Grenzwerten dem Ganzen begegnet werden? Nein. Krebs ist in etwa so wie Lotto. Wenn ich Pech habe, ziehe ich das falsche Los. Dazu reichen schon natürliche Faktoren wie Alter und Übergewicht aus. Dazu braucht es keine Feinstäube, rein logisch also auch keine Grenzwerte.

Fassen wir noch einmal zusammen: Die großen Killer sind heutzutage Rauchen, Alkohol, Bewegungsmangel, ungesundes Essen und fehlende Bildung, während die Belastung durch Umweltschadstoffe einschließlich Stickoxiden seit Jahrzehnten abnimmt.

Ist es also Zeit für Panik? Mitnichten! Es ist an der Zeit, die Diskussion endlich zu versachlichen und wissenschaftlich nüchtern zu führen.

(Carsten Löcker [SPD]: Ja!)

Man kann die Statistik übrigens auch so lesen: Durch NO2 werden dem Bundesbürger im statistischen Mittel etwa 19 Stunden Lebenszeit genommen. – Das bedeutet: An zwei Abenden in der Woche mehr joggen, und Sie hätten das alles wieder drin. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Mir liegt keine weitere Wortmeldung vor. Daher schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/5073  an den Verkehrsausschuss – federführend –, an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales sowie an den Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer möchte dem so zustimmen? – Das sind die SPD, die Grünen, die CDU, die FDP, die AfD und die beiden fraktionslosen Abgeordneten. Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir sind am Ende der heutigen Sitzung angelangt.

Ich berufe das Plenum wieder ein für Mittwoch, 20. März 2019, 10 Uhr.

Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Tag und ein angenehmes Wochenende. Bis demnächst!

Schluss: 14:47 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.