Das Dokument ist auch im PDF und Word Format verfügbar.

Landtag

https://www.landtag.nrw.de/portal/Grafiken/Logos/pp_wappen.jpg

Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/35

17. Wahlperiode

20.09.2018

 

35. Sitzung

Düsseldorf, Donnerstag, 20. September 2018

Mitteilungen des Präsidenten. 5

Vor Eintritt in die Tagesordnung. 5

Änderung der Tagesordnung. 5

1   Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest verhindern! Wachsamkeit der Bevölkerung stärken und Schwarzwild weiter stark bejagen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3681. 5

Dr. Ralf Nolten (CDU) 5

Markus Diekhoff (FDP) 6

Annette Watermann-Krass (SPD) 7

Norwich Rüße (GRÜNE) 8

Sven Werner Tritschler (AfD) 10

Ordnungsruf gegen
den Abgeordneten Christian Loose. 11

Ministerin Ursula Heinen-Esser 11

Rainer Deppe (CDU) 13

Dr. Christian Blex (AfD) 14

2   Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten! Wehrhafte Demokratie mit Leben füllen.

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3581

Entschließungsantrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3695. 15

Dr. Marcus Optendrenk (CDU) 15

Sven Wolf (SPD) 16

Stephen Paul (FDP) 18

Josefine Paul (GRÜNE) 20

Roger Beckamp (AfD) 22

Ministerpräsident Armin Laschet 23

Formlose Rüge  
des Abgeordneten Christian Loose. 25

Ergebnis. 25

3   Geschönte Statistiken oder Steuergeldverschwendung? – Wie hoch ist die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche und deren finanzielle Auswirkungen auf das Land NRW tatsächlich?

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3591. 25

Dr. Martin Vincentz (AfD) 25

Simone Wendland (CDU) 27

Angela Lück (SPD) 29

Susanne Schneider (FDP) 31

Josefine Paul (GRÜNE) 32

Marcus Pretzell (fraktionslos) 34

Minister Dr. Joachim Stamp. 34

Dr. Martin Vincentz (AfD) 34

Ergebnis. 35

4   In Nordrhein-Westfalen ist kein Platz für die antisemitische BDS-Bewegung

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3577. 35

Dr. Günther Bergmann (CDU) 35

Elisabeth Müller-Witt (SPD) 36

Lorenz Deutsch (FDP) 37

Josefine Paul (GRÜNE) 38

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 39

Minister Dr. Joachim Stamp. 40

Ergebnis. 41

5   Erhöhte Gewerbesteuerumlage muss 2020 enden – Landesregierung muss Farbe bekennen!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/3595. 41

Stefan Zimkeit (SPD) 41

Arne Moritz (CDU) 41

Ralf Witzel (FDP) 42

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 43

Herbert Strotebeck (AfD) 44

Minister Lutz Lienenkämper 45

Stefan Zimkeit (SPD) 45

Ralf Witzel (FDP) 46

Ergebnis. 46

6   Studienerfolg einer vielfältigen Studierendenschaft sichern

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3583. 46

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) 46

Raphael Tigges (CDU) 47

Dietmar Bell (SPD) 48

Moritz Körner (FDP) 49

Helmut Seifen (AfD) 50

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 52

Ergebnis. 52

7   Vertrauen in die Mediziner stärken – Qualität statt Quantität als Maßstab der Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse im Fachbereich Medizin

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3590. 52

Dr. Martin Vincentz (AfD) 52

Peter Preuß (CDU) 53

Serdar Yüksel (SPD) 54

Susanne Schneider (FDP) 56

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 56

Minister Karl-Josef Laumann. 57

Dr. Martin Vincentz (AfD) 59

Ergebnis. 59

Formlose Rüge  
des Abgeordneten Josef Hovenjürgen
betreffend TOP 4 der 34. Plenarsitzung
am 19. September 2018. 59

8   Gesetz zur Änderung des Abschiebungshaftvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/3558

erste Lesung. 59

Minister Dr. Joachim Stamp. 59

Bernhard Hoppe-Biermeyer (CDU) 60

Ellen Stock (SPD) 61

Stefan Lenzen (FDP) 62

Berivan Aymaz (GRÜNE) 63

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 65

Minister Dr. Joachim Stamp. 65

Ergebnis. 66

9   Neue Technologien im Straßenbau am Beispiel der Niederlande

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3592. 66

Nic Peter Vogel (AfD) 66

Matthias Goeken (CDU) 67

Gordan Dudas (SPD) 68

Ulrich Reuter (FDP) 69

Johannes Remmel (GRÜNE) 69

Minister Hendrik Wüst 70

Ergebnis. 70

10 Laienreanimation an Schulen in Nordrhein-Westfalen weiterentwickeln

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3576. 70

Katharina Gebauer (CDU) 70

Susanne Schneider (FDP) 71

Ina Spanier-Oppermann (SPD) 72

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 73

Dr. Martin Vincentz (AfD) 74

Minister Karl-Josef Laumann. 74

Ergebnis. 74

11 Kita- und OGS-Gebühren sowie weitere finanzielle Belastungen der Familien in NRW

Große Anfrage 4
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/2017

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 17/3201 – Neudruck. 75

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 75

Margret Voßeler (CDU) 76

Marcel Hafke (FDP) 77

Josefine Paul (GRÜNE) 78

Iris Dworeck-Danielowski (AfD) 80

Minister Dr. Joachim Stamp. 80

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 82

Minister Dr. Joachim Stamp. 82

12 Milchkrisen wirksam mit neuen Instrumenten begegnen!

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/2548

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Umwelt, Landwirtschaft, Natur-
und Verbraucherschutz
Drucksache 17/3604. 82

Bianca Winkelmann (CDU) 82

Annette Watermann-Krass (SPD) 83

Stephan Haupt (FDP) 84

Norwich Rüße (GRÜNE) 85

Dr. Christian Blex (AfD) 86

Ministerin Ursula Heinen-Esser 87

Ergebnis. 88

13 „Nicht beantwortete Kleine Anfragen“

Große Anfrage 6
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/2791

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 17/3563. 88

Sven Werner Tritschler (AfD) 88

Matthias Kerkhoff (CDU) 89

Sarah Philipp (SPD) 90

Henning Höne (FDP) 90

Josefine Paul (GRÜNE) 91

Minister Hendrik Wüst 91

14 Leistungen deutschstämmiger Zugewanderter, der Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler wertschätzen – unsere und ihre Geschichte lebendig halten

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3526. 92

Rüdiger Scholz (CDU) 92

Lorenz Deutsch (FDP) 94

Josef Neumann (SPD) 95

Berivan Aymaz (GRÜNE) 95

Roger Beckamp (AfD) 96

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 96

Ergebnis. 97

15 Nordrhein-Westfalen in Europa III: Grenzüberschreitende Mobilität ausbauen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3017

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Europa und Internationales
Drucksache 17/3605. 97

Oliver Krauß (CDU) 98

Frank Börner (SPD) 99

Thomas Nückel (FDP) 99

Johannes Remmel (GRÜNE) 100

Sven Werner Tritschler (AfD) 101

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 101

Ergebnis. 101

Entschuldigt waren:

Minister Dr. Stephan Holthoff-Pförtner  
(ab 14 Uhr)

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart

Minister Herbert Reul   
(von 10–14 Uhr)

Marc Herter (SPD)

Frank Müller (SPD)      
(ab 16 Uhr)

Arndt Klocke (GRÜNE) 
(ab 17:30 Uhr)

Verena Schäffer (GRÜNE)

 

Beginn: 10:03 Uhr

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, 35. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien sowie den Zuschauern an den Bildschirmen.

Für die heutige Sitzung hat sich ein Abgeordneter entschuldigt; der Name wird in das Protokoll aufgenommen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung:

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit gestrigem Schreiben den als Tagesordnungspunkt 3 vorgesehenen Antrag „Den gesellschaftlichen Konsens zum Kohleausstieg nicht gefährden – Die Landesregierung muss sich für ein Rodungsmoratorium im Hambacher Wald einsetzen“ zurückgenommen.

Die Behandlung dieses Antrags und die gestellten Entschließungsanträge der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 17/3685 und der Fraktion der SPD Drucksache 17/3694 sind deshalb erledigt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte verschieben sich entsprechend.

Ich rufe auf:

1  Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest verhindern! Wachsamkeit der Bevölkerung stärken und Schwarzwild weiter stark bejagen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3681

Die Fraktionen von CDU und FDP haben mit Schreiben vom 17. September gemäß § 95 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die CDU Herrn Kollegen Dr. Nolten das Wort.

Dr. Ralf Nolten (CDU): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich folgende Situation vor: Wandertag mit der Schule, Picknick: Das Kind mag die Salami, die Onkel Piotr mitgebracht hat, nicht, und schwupp, landet das Brötchen im Gebüsch. – Die Wildschweine fressen es. Sie sind da, die Afrikanische Schweinepest auch – in Belgien, gut 100 km vom Südwesten unseres Landes entfernt.

ASP ist für den Menschen ungefährlich, für Schweine fast immer tödlich. Die Zahl der in der Region Étalle gefundenen Kadaver steigt täglich. Im 63.000 ha großen Sperrbezirk gilt für einen Monat ein Verbot aller jagdlichen Aktivitäten und forstlichen Arbeiten. Allen landwirtschaftlichen Betrieben ist eine Ausfahrt mit Fahrzeugen verboten. Die schweinehaltenden Betriebe werden intensiv beobachtet.

Der Mensch bringt den Virus über die großen Distanzen, die Wildschweine über die kleinen bis in die Ställe hinein. Auch in nordrhein-westfälische? Die Inkubationszeit beträgt in der Regel etwa vier Tage. Die Tiere verenden meist innerhalb einer Woche. Selbst im Verwesungsprozess bleiben die Kadaver über Monate infektiös. Der Erreger kann wochenlang an Schuhsohlen oder Lkw-Reifen haften.

Die Ausbreitung der Seuche – in Osteuropa wurde der Virus bei 1.000 Hausschweinen und 4.000 Wildschweinen nachgewiesen – war Anlass, sich so gut, wie es geht, auf die Einschleppung der ASP vorzubereiten: mit der Neufassung der Schweinepestverordnung, mit Notfallplänen, mit Übungen und mit erhöhten Abschüssen von Wildschweinen.

Die Jagdstrecke hat sich in NRW im letzten Jagdjahr von 40.000 auf 60.000 Stück erhöht. Die Zahl der möglichen Infektionsträger ist nach den milden Wintern der letzten Jahre hoch – zu hoch. Selbst in den reinen Grünlandlagen in meinem Wahlkreis haben wir Bestandsdichten, die sehr weit über der Zielgröße des Nationalparks Eifel – zwei Stück je 100 ha – liegen.

Während wir vor Ort über die Organisation von revierübergreifenden Jagden, über die Zulassung von robusten Weidezäunen aus Baustahlmatten zum Schutz der Wiesen und Weiden diskutiert haben, sind die Bestände unaufhaltsam gewachsen. An alle Jäger daher die Bitte: Lassen Sie nicht nach mit der Bejagung!

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Eine weitere Situation: Männertour, zum Schnaps werden aus der Hand dicke Scheiben Salami vom letzten Jagdausflug nach Tschechien geschnitten – lecker. Ups, da fällt eine Scheibe auf den Boden. Macht nichts, hier hast du eine neue.

Schon der Fund von zwei Wildschweinkadavern zog ein chinesisches Einfuhrverbot für Schweinefleisch aus ganz Belgien nach sich. Sind große Erzeugerländer in der EU von derartigen Ausfuhrbeschränkungen betroffen, gibt der Marktpreis deutlich nach. Er beträgt zurzeit ohnehin nur 1,50 Euro je Kilogramm.

Wir haben in NRW noch gut 7.000 Schweinehalter mit etwa 7,2 Millionen Schweinen. Die Produktionskette ist bestens organisiert. Es zählt jeder Cent. Ferkel und Schlachtschweine werden auch aus den Nachbarländern herangebracht und durch ganz Deutschland gekarrt.

Die uns bestens bekannten Firmen Tönnies und Westfleisch schlachten fast die Hälfte aller Schweine in Deutschland, und damit steigt die Gefahr der Verschleppung über kontaminierte Transport- und Arbeitsgeräte.

Ich habe noch ein Beispiel: Ein langer Tag auf der Autobahn für den osteuropäischen Fahrer. Die Zeit ist knapp, die Mahlzeit an der Raststätte teuer, die mitgebrachte Dauerwurst stillt den Hunger. Der Wurstzipfel wandert über das Fenster oder über die ungesicherte Mülltonne zu den Schwarzkitteln.

Ein infiziertes, ein totes Schwein im Stall. Der Kreisveterinär ist zu informieren, ein Sperrbezirk wird festgelegt und das Beobachtungsgebiet eingerichtet, mindestens 10 km im Umkreis. Menschen in Ganzkörperschutzanzügen erscheinen. Es werden die Kontaminationsschleusen eingerichtet, Betriebe mit Stacheldraht abgeriegelt. Betriebsfremde Personen, auch Nachbarn, dürfen den Hof nur mit Schutzkleidung und mit schriftlicher Genehmigung der zuständigen Behörde betreten. Alle Schweine des betroffenen Betriebs werden gekeult, Großcontainer bis oben hinaus mit Schweinekadavern gefüllt. Polizei sichert das Geschehen.

Ja, die Tierseuchenkasse hilft finanziell. Aber was macht die Seuche mit den Landwirten? Die Agrarsoziologin Karin Jürgens hat nach dem letzten großen Schweinepestausbruch Interviews mit den Landwirten zu den psychosozialen Folgen geführt. Ich zitiere:

Zwischen jedem Finger ein Ferkel, und du trägst sie hinaus. Dann kommt der Strom dran, und dann sind sie weg. Die ganz Kleinen, das war fast noch das Schlimmste.

Die lagen meterhoch, die toten Schweine. Das sah man, wenn man hier aus dem Küchenfenster herausguckte.

Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, wurde immer wach, und dann waren jedes Mal die Keuler da.

Nicht selten blieben nach der großen Stille traumatisierte Landwirte zurück und die Ställe leer. 15 % der Schweinehalter gaben seinerzeit auf, vor allem die kleineren Betriebe.

Unsere Sorglosigkeit, deine Nachlässigkeit, mein Verhalten bringen Tausenden, Zehntausenden Schweinen den sinnlosen Tod und unendliches Leid in die Bauernfamilien. Deswegen ist ASP ein Thema für uns alle. Seien wir achtsam! – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Nolten. – Für die FDP erteile ich dem Kollegen Diekhoff das Wort.

Markus Diekhoff*) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige aktuelle Stunde zur ASP dient der Aufklärung der Menschen in Nordrhein-Westfalen über die Gefahren dieser Seuche. Denn Stand heute haben wir nur ein sehr eingeschränktes Instrumentarium zur Verfügung, um auf einen eventuellen Ausbruch dieser Seuche in Nordrhein-Westfalen zu reagieren.

Deshalb ist es so wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sensibilisiert sind, welche Folgen unbedachtes Handeln in einer aktuellen Situation hat.

Der Auftritt der ASP in Belgien, der große Sprung aus Osteuropa an die Westgrenze unseres Bundeslandes ist eindeutig die Folge einer Verschleppung des Virus. Der wahrscheinlichste Übertragungsweg sind Lkw-Fahrer oder Urlauber, die kontaminiertes Schweinefleisch aus Osteuropa mitbringen und achtlos wegwerfen. Wildschweine nehmen dieses Fleisch auf, infizierten sich innerhalb kürzester Zeit mit dem Virus und sterben wenige Tage danach qualvoll. Auch über Kleidung, Autoreifen und andere Gegenstände kann die Seuche übertragen werden. Denn die ASP ist besonders aggressiv und wird sehr leicht übertragen.

Ich möchte daher an dieser Stelle eindringlich an alle betroffenen Berufsgruppen, aber auch an die ganze Bevölkerung appellieren, wachsam zu sein. Denn es gibt keine Immunitätsbildung bei den Tieren bei der ASP, es gibt keinen Impfstoff. Auf infizierte Tiere wartet der sichere Tod.

Für die Tiere, aber auch für die Wirtschaft ist ein akuter Seuchenausbruch eine Katastrophe. Die Infizierung eines Schweins in einem Schweinemastbetrieb hat die Tötung und Entsorgung aller Schweine des Betriebs zur Folge. Anschließend muss der Betrieb umfangreich gereinigt werden. Die Schäden gehen nach Schätzungen in den Bereich von 2 Milliarden Euro pro Jahr, und da ist die vor- und nachgelagerte Wirtschaftskette noch gar nicht dabei.

Die Handelsrestriktionen, die auch Belgien sofort getroffen hat, werden den Handel mit Produkten aus Schweinefleisch, auch aus Nordrhein-Westfalen, umgehend zum Erliegen bringen.

Massiv gefährdet sind auch die Bio-Betriebe in Nordrhein-Westfalen. Denn der extrem trockene Sommer hat zu einem regen grenzübergreifenden Handel mit Stroh und Heu geführt, was ein neues gefährliches Einfallstor für die ASP entstehen lässt. Besonders problematisch ist es natürlich auch für die Bio-Landwirte, die ihre Schweine im Freiland halten. Eine langfristige Aufstallung wird aus Platzgründen nicht möglich sein. Zudem droht in einem solchen Fall der Entzug des Bio-Zertifikats, und das wird für Teile der ohnehin oft sehr kleinen Bio-Betriebe definitiv existenzbedrohend sein.

Wir sind uns daher alle ein, dass wir diese Szenarien mit allen Mitteln und aller Kraft verhindern müssen. Ich bin daher dem Umweltministerium, dem LANUV, dem Verkehrsministerium und weiteren staatlichen Stellen sehr dankbar für die Präventionsmaßnahmen, die seit Monaten durchgeführt werden und nach dem Befund bei unserem belgischen Nachbarn umgehend ausgeweitet wurden.

Aber wir müssen an dieser Stelle auch um Verständnis werben für Maßnahmen, die niemand durchführen will, die aber angesichts des Szenarios im Zweifel unausweichlich sind, wenn die ASP NRW erreicht: großflächige Einzäunung von Wildschweinbeständen beim Auftritt eines ASP-Falls und die anschließende vollständige Ausräumung des Bestands. Das werden für uns, für die Bürger, für Tierschützer und natürlich für die Jägerinnen und Jäger, welche diese Wildbestände seit Jahren gehegt und gepflegt haben, schwer erträgliche Bilder. Wichtig ist daher, dass allen die Notwendigkeit solcher Maßnahmen klar ist. Denn die drastischen, aber notwendigen Maßnahmen, die vor allem auch das vor einiger Zeit betroffene Tschechien getroffen hat, zeigen, dass dies der einzige Weg zum Schutz der Wild- und Hausschweine ist.

Danken möchte ich deshalb an dieser Stelle der Jägerschaft, die schon seit den letzten Monaten durch eine massive Erhöhung der Wildschweinstrecke einen massiven Beitrag, einen wichtigen Beitrag zur ASP-Prävention geleistet hat.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Das ist keine Schädlingsbekämpfung, sondern ein wertvoller und unverzichtbarer Beitrag dieser ehrenamtlichen Tier- und Naturschützer aus der Jägerschaft für das Gemeinwohl und für das Tierwohl in Nordrhein-Westfalen. Wir werden diese Leistung auch mit unserem neuen Jagdgesetz, das gestern eingebracht wurde, begrüßen und Rechenschaft tragen, dass das alles geschieht.

Vorsorglich haben wir bereits im letzten Jahr Haushaltsmittel zur ASP-Prävention zur Verfügung gestellt. Es ist absehbar, dass diese Mittel noch deutlich erhöht werden müssen, um die erarbeiteten Notfallpläne im Ernstfall auch durchführen zu können. Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt! – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Diekhoff. – Für die SPD erteile ich Frau Watermann-Krass das Wort.

Annette Watermann-Krass (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Ja, Ende Februar haben wir uns hier bereits über die Afrikanische Schweinepest sehr ausführlich ausgetauscht. Ich kann an dieser Stelle sagen: Ich hätte heute hier lieber über die 7.000 Beschäftigten von Kaufhof und Karstadt gesprochen, statt über …

(Beifall von der SPD – Zuruf von der CDU: Was soll das hier?)

– Entschuldigen Sie!

(Matthias Kerkhoff [CDU]: Es gibt klare Regeln!)

Ich habe hier jetzt gerade keine neuen Aspekte vernommen zu den Ausführungen Ihres Kollegen und auch von der FDP.

(Matthias Kerkhoff [CDU]: Das geht so nicht!)

Also, im Februar haben wir …

Präsident André Kuper: Frau Watermann, ich möchte Sie gerade einmal stoppen. Sie wissen, dass eine Kritik an der Zulassung dieser Aktuellen Stunde eine Kritik am Präsidium ist, was immer zu einer entsprechenden Rüge führt. Aber Sie wissen ganz genau, dass die Ablehnung aus formellen Gründen erfolgt ist. Der gesamte Tatbestand war am 6. September öffentlich, und Sie hätten bis zum 11. September einen regulären Tagesordnungspunkt beantragen können. Das haben Sie nicht gemacht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es hätte formell eines neuen Argumentes oder eines neuen Hinweises bedurft – nach dem 11. September –, dann wäre das hier zu behandeln gewesen. So aber nicht!

(Beifall von der CDU und der FDP)

Annette Watermann-Krass (SPD): Herr Präsident, ich nehme das zur Kenntnis und komme jetzt zu meinen Ausführungen zu der Afrikanischen Schweinepest.

(Zurufe von der CDU und der FDP)

Also, im Februar haben wir uns hier ausgetauscht. Damals war die Seuche in Osteuropa aufgetaucht, und wir waren uns weitgehend einig, dass alle vernünftigen Maßnahmen getroffen werden müssen, um diese Seuche fernzuhalten. Heute stehen wir hier und wissen, dass die Schweinepest jetzt vor der Grenze Nordrhein-Westfalens steht, aktuell im Dreiländereck zu Belgien. Zugegebenermaßen hat die Landesregierung viele Anstrengungen unternommen, um diesen Fall zu verhindern, aber leider hat das alles wenig genützt. Die Krankheit schreitet weiter voran. In nur wenigen Monaten ist sie über Hunderte von Kilometern vorgerückt und steht jetzt hier vor unseren Toren.

Was das für die Schweinezucht zu bedeuten hat, brauche ich Ihnen sicher nicht noch einmal in allen Einzelheiten zu erläutern. Herr Nolten ist darauf eingegangen, aber ich sage mal: In 2016 wurden zwei Millionen Tonnen Schweinefleisch aus Deutschland in andere EU-Staaten exportiert und eine Million Tonnen in Drittländer. Ob das die richtige Politik ist, Schweinefleisch, billiges Schweinefleisch für den Weltmarkt zu produzieren, das haben wir gestern im Zuge der Neuausrichtung der gemeinsamen Agrarpolitik hier an dieser Stelle schon behandelt. In meinen Augen ist das nicht der richtige Weg für unsere Bäuerinnen und Bauern.

(Beifall von der SPD)

Wenn es jetzt zum Exportstopp kommt, würde das einen immensen wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe bedeuten, und das nicht nur für Wochen, sondern, wie ich glaube, über Monate, sogar über das nächste Jahr hinaus. Also, wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass dieses Thema keines sein darf, wofür wir hier politische Schaukämpfe austragen.

Ich habe bereits im Frühjahr deutlich gemacht, dass wir uns in NRW nicht alleine vor der Afrikanischen Schweinepest schützen können, sondern dass das bitte schön nur auf der europäischen und auch auf der bundesweiten Ebene einer Planung bedarf.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist. In den Sommerferien bin ich nicht nur durch Deutschland, sondern auch ein bisschen in die umliegenden Länder gefahren. Wenn man dort mit dem Auto fährt, kommt man gar nicht umhin, auch Pausen einzuhalten, und man sieht die Rastplätze. Ich kann sagen, Anfang des Jahres haben wir darüber gesprochen, wir brauchen Einzäunungen von Autobahnraststätten. Wir müssen Wildschweine von den Speiseresten fernhalten.

Wir können die Wildschweine bejagen und versuchen, ihre Zahl kleinzuhalten, aber der eigentliche Faktor ist doch der Mensch. Das sind auch unsere Lkw-Fahrer, die vielleicht nicht das Geld haben, in Raststätten einzukehren, sondern sich die Wildschweinwurst selber mitnehmen. Neben den Hygienemaßnahmen, die bereits für Schweinezuchtbetriebe und Jägerinnen und Jäger gelten, brauchen wir dringend eine bessere Aufklärung der Bevölkerung. Denn wir alle müssen wissen, dass ein achtlos weggeworfenes Wurstbrot schon Schaden anrichten kann.

Aber was muss passieren, wenn der schlimmste Fall eintritt? Denn es wird ernsthaft spekuliert, dass die Frage nicht lautet, ob die Schweinepest kommt, sondern wann sie kommt.

Wir werden also sehen, was wir hier machen müssen. Es wird sicher zu Sperrungen ganzer Bereiche kommen, zu flächendeckenden Desinfektionsmaßnahmen im großen Stil und nicht zuletzt zur zwangsweisen Tötung vieler erkrankter oder von Krankheit bedrohter Tiere. Vielleicht sind sogar Gesetzesänderungen notwendig; ich würde mich freuen, von Ihnen dazu auch noch einmal etwas zu hören.

Ich appelliere an die Landesregierung, an Frau Ministerin Heinen-Esser: Bereiten Sie sich auf den Ernstfall vor! Bereiten Sie auch die Bevölkerung darauf vor, dass es zu unschönen Erlebnissen und Einschränkungen kommen wird, die aber notwendig sein werden, um die Schweine und die Betriebe vor der weiteren Verbreitung der Afrikanischen Schweinepest zu schützen. Wenn die Joggerin und der Jogger und die Spaziergängerin nicht mehr in ihre gewohnte Runde einkehren können, wenn Wald- und Freizeitgebiete abgesperrt sind und wir die Menschen an der Behinderung …

(Kopfschütteln)

– Ja, das sind die Notfallpläne, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln. – Ich glaube, das müssen wir in der Bevölkerung kommunizieren, sonst bekommen wir langfristig ein Problem.

Wichtig ist zum Schluss: Nehmen Sie es mit, und zwar auch auf die Agrarministerkonferenz. Wir brauchen deutschland- und europaweit eine Planung. Wir müssen einheitlich vorgehen. Wir wollen in NRW, dass der Ernstfall in aller Rechtssicherheit vorbereitet und die Bevölkerung sensibilisiert wird. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Als Nächstes hat jetzt für die Grünen der Abgeordnetenkollege Rüße das Wort.

Norwich Rüße (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren schon seit Längerem über die Afrikanische Schweinepest. Sie steht nun tatsächlich – ich glaube, das kann man so sagen – unmittelbar vor unserer Haustür, und die Bedrohungslage ist noch einmal stärker geworden. Wir haben im Februar darüber diskutiert, und wir Grüne haben auch einen Antrag dazu gestellt. Die Schweinepest war damals noch weit von uns entfernt, aber wir haben beobachtet, dass sie allmählich über Osteuropa weitere Schritte in Richtung Westen machte. Sie war aber trotzdem immer noch ein entferntes Bedrohungsszenario.

Jetzt ist die Lage eine andere: Sie ist 60 km von der deutschen Grenze und 120 km von Nordrhein-Westfalen entfernt. Damit ist sie in unmittelbarer Nähe zu den europäischen Zentren der Schweinehaltung aufgetreten – zum Münsterland und zur Provinz Nordbrabant in den Niederlanden. Ich glaube – und das zeigen mir auch die anderen Redebeiträge –, das alles gibt Anlass zur Sorge.

Über die Ursache können wir lange streiten. War es der berühmte Lkw-Fahrer mit seinem Salamibrot, den wir immer erwähnen? Vielleicht war es auch einfach ein Tourist oder ein Jäger, der aus Osteuropa zurück nach Belgien gekommen ist – den würde ich an dieser Stelle auch nicht ausschließen wollen. Es gibt viele, viele Möglichkeiten, aber auf alle Fälle ist die Gefahr eines Seuchenausbruchs – das hat Frau Watermann-Krass eben auch sehr deutlich gesagt – in Nordrhein-Westfalen dramatisch gestiegen.

Ich finde es gut, dass Sie sich als Ministerium gut darauf vorbereiten und dass Sie eine Arbeitsgruppe eingerichtet haben; denn das ist der richtige Weg.

Die Bedeutung für die Landwirtschaft hat auch der Vorredner der CDU deutlich dargelegt. Sie haben die Belastung geschildert und was das psychisch bedeutet, wenn der eigene Betrieb gekeult wird. Ich will an der Stelle auch sagen: Wir kennen noch die Bilder aus den 90er-Jahren, und es gibt natürlich auch den tierschutzrechtlichen Aspekt. Die Bilder, die dann entstehen, wollen wir eigentlich alle nicht sehen.

Eines will ich schon noch sagen. Mich stört ein wenig – auch an dem Antrag, mit dem Sie die Aktuelle Stunde beantragt haben –, wie Sie die Schweinepest immer wieder mit der Jagd verknüpfen.

(Zuruf von der CDU)

Das haben Sie schon früher gemacht. Die Amtsvorgängerin von Frau Heinen-Esser hat das 2017 in einer Pressemitteilung gemacht. Frau Winkelmann hat das im Plenum gemacht, als unser Antrag diskutiert wurde. Ich finde, der immer wieder erfolgte Versuch, die Jagd als Präventionsmaßnahme darzustellen, ist falsch.

Sie sagen: Wir haben die Abschusszahlen jetzt von 40.000 auf 60.000 Tiere erhöht. In NRW sind wir lange zwischen 30.000 und 40.000 Tieren gependelt, und jetzt sind wir bei 60.000 Tieren. Setzen Sie das in Relation zum Wildschweinbestand in Nordrhein-Westfalen, bei dem wir uns eigentlich alle einig sind, dass wir ihn auch aus Naturschutzgründen herunterfahren wollen – es ist nicht so, dass wir ihn aus Gründen der Schweinepest herunterfahren müssen, sondern das ist allein schon aus naturschutzfachlicher Sicht sinnvoll –, dann wissen wir doch alle, dass diese Steigerung nicht so ist, dass wir damit schon einen Rückgang der Population erreichen. Dafür müsste noch mehr geschehen, und die Frage ist, ob wir das tatsächlich erreichen werden. Ich glaube das ehrlich gesagt nicht.

Ich finde die Maßnahmen, wenn ein Seuchenfall eintritt, richtig. Es ist in Ordnung, in einem begrenzten, festgelegten bzw. definierten Gebiet den Schweinebestand auf null herunterzufahren. Trotzdem will ich eines deutlich sagen: Der eigentliche Gefährder ist aber der Mensch und nicht das Wildschwein.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wildschweine übertragen das Virus auch nicht in den Hausschweinebestand. Diese Gefahr ist vergleichsweise gering.

Es gibt aber viele Facetten und natürlich durchaus ernst zu nehmende Meinungen, die besagen, dass wir mit einer Intensivierung der Jagd für enorme Unruhen in den Rotten, in dem Wildschweinebestand sorgen, die mit einer noch mal erhöhten Reproduktionsrate beantwortet werden. Wir werden sehen, was dann tatsächlich im Wildschweinebestand passiert.

Ich hätte heute gerne Antworten gehabt. Appelle an die Bevölkerung, die Wurstbrote nicht wegzuwerfen oder am besten keine Salami aus Osteuropa mitzubringen, sind richtig. Das wird aber nicht reichen. Ich hätte zum Beispiel gerne eine Antwort darauf, wie es denn jetzt an den Rastanlagen aussieht.

(Zuruf von den GRÜNEN: So ist es!)

Wenn ich auf der Autobahn bin, dann fahre ich jetzt auch mal runter und gucke, wie die Abfalleimer so aussehen. Ich kann noch nicht feststellen, dass da viel passiert ist.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich sehe immer noch überfüllte Abfallbehälter und frage mich dann schon: Ist da wirklich etwas passiert? Arbeiten Sie mit dem Landesbetrieb intensiv zusammen, und klappt das irgendwann einmal?

Die nächste Frage ist dann – darüber haben wir auch schon diskutiert –: Kann man die Rastplätze besser absichern? Was ist mit Zäunen entlang der Rastplätze? Was ist mit Abfallbehältern, die die Wildschweine nicht öffnen können? Sind wir da dabei? Dass das nicht von heute auf morgen geht, ist mir klar. Aber sind wir dabei, die Umstellung hinzubekommen, um an dieser Stelle mehr Sicherheit zu erreichen? Das würde uns als Grüne schon interessieren.

(Beifall von den GRÜNEN)

Mich würde auch interessieren, ob wir denn wirklich alles tun. Wir haben eben gehört, welche Kosten hervorgerufen werden, welchen wirtschaftlichen Schaden das bedeutet. Wenn wir über 2 Milliarden Euro reden, frage ich mich – ich habe das schon im Februar dieses Jahres gesagt –, wie es sein kann, dass wir nur an Lkw-Fahrer appellieren, ihr Wurstbrot nicht mitzunehmen. Dann müssten wir doch eigentlich noch ganz andere Maßnahmen ergreifen. Dann müsste man sich doch einmal fragen: Sind Desinfektionsanlagen entlang der A2, der Haupteinflugschneise aus Osteuropa, denn unmöglich? Muss man am Ende die Lkw-Fahrer direkter ansprechen? Reicht ein Informationszettel aus? Schließlich sind wir alle, und Lkw-Fahrer auch, am Ende nur Menschen.

Was ist mit den Jägern? Ich weiß das nicht. Vielleicht können Sie gleich etwas dazu sagen. Ist es eigentlich mittlerweile verboten, als Jäger aus Belgien oder Deutschland als Hobby zur Jagd in solche Gebiete zu fahren, die einen hohen Infektionsdruck haben und in denen die Wahrscheinlichkeit nicht gering ist, dass sie dann als Überträger so etwas mit zu uns zurückbringen? Das würde ich gerne von Ihnen gleich hören.

Ich frage mich auch: Haben wir ein funktionierendes Meldesystem? Erfassen wir wirklich alle Wildschweine, die infiziert sind? Ich weiß das nicht. Wie sieht das aus?

(Zurufe von der AfD)

Haben Sie mit dem Jagdverband vereinbart, dass die Rückmeldung an dieser Stelle automatisch kommt?

Ich glaube, am Ende sollten wir uns in einem Punkt einig sein: Alles, was wir jetzt tun, ist Nachsorge; man schaut, wie man den Schadensfall möglichst begrenzen kann. Aber es ist nicht die Lösung. Die Lösung wäre ein funktionierender Impfstoff. Wir haben es am Anfang gehört: 2007 sind die ersten Fälle aufgetreten. Das ist über ein Jahrzehnt her. Die Afrikanische Schweinepest gab es auch schon vorher. Ich frage mich, ob wir in der Vergangenheit wirklich alles getan haben – das ist ja kein Vorwurf an Sie –, um einen Impfstoff zu entwickeln. Oder haben wir gedacht, der Kelch würde doch noch an uns vorübergehen? Wir werden am Ende einen Impfstoff brauchen, um dieses Problem tatsächlich lösen zu können. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Rüße. – Für die AfD hat der Kollege Tritschler das Wort.

Sven Werner Tritschler (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aktuelle Stunden sind so etwas wie der Falsche Hase des Parlamentarismus: Weder dauern sie eine Stunde, noch müssen sie besonders aktuell sein.

Deshalb beraten wir an dieser prominenten Stelle jetzt einen Antrag der regierungstragenden Fraktionen, den man auch mit „Warum wir alle so toll sind“ hätte überschreiben können. Was wir dafür nicht debattieren, ist ein Eilantrag meiner Fraktion, der sich mit dem Erdoğan-Besuch befasst, der die Menschen im Land gerade sehr bewegt. Auch eine Aktuelle Stunde zur Räumung des Hambacher Forsts steht nicht auf der Tagesordnung.

(Beifall von Dr. Christian Blex [AfD])

Aber ich bin mir sicher: Das hat mit der Zusammensetzung des Präsidiums nichts zu tun.

(Heiterkeit von der AfD)

Natürlich ist es auch wichtig, dass wir uns hier über die Afrikanische Schweinepest unterhalten; denn die Sorge vor dieser Seuche treibt Jäger und Bauern im Lande schon lange um. Das ist nicht neu. Neu ist aus nordrhein-westfälischer Sicht nur die Nähe des Problems. Es ist, nachdem wir den Blick bisher immer gen Osten gerichtet haben, nach Polen und in die Tschechei, plötzlich in unserer nächsten Nähe, in unserem Rücken, aufgetaucht.

Brisant ist das in erster Linie – da sind wir uns ebenfalls einig –, weil die Tierseuche eine riesige Bedrohung für unseren Nutztierbestand darstellt. 3 Millionen t Schweinefleisch werden jedes Jahr aus NRW exportiert; ganze 12 Milliarden Euro werden auf diesem Wege erwirtschaftet.

Es geht also nicht um ein Nischenproblem, wie man meinen könnte, sondern um Tausende von Existenzen. Vor diesem Hintergrund sollten Sie vielleicht den Mund nicht ganz so voll nehmen, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb. Ihr Selbstlob an dieser Stelle könnte Sie nämlich bald einholen.

Denn wenn Sie schreiben, NRW und der Bund seien für einen Ausbruch der ASP, wie es heißt, gut gerüstet, mag das zwar gut klingen. Wenn man dann aber die penibel aufgezählten vermeintlichen Großtaten liest, wirkt es eher ein bisschen ärmlich. Ja, Sie haben eine Arbeitsgruppe gebildet und ein paar Warnschilder aufgestellt. Aber wollen Sie das wirklich „gut gerüstet“ nennen? Ich glaube nicht, dass Sie die Schweinehalter im Land damit beruhigen können.

Wir reden jetzt nicht mehr in der Theorie von einem tschechischen Lkw-Fahrer, der sein Wurstbrot aus dem Fenster wirft. Wir haben die befallenen Schweine jetzt unmittelbar an unserer Grenze in der Wallonie. Und Wildschweine halten sich noch weniger an unbefestigte Grenzen als Menschen. Meine Damen und Herren von der Regierung, sie können jetzt hierher laufen. Von Arbeitsgruppen und Warnschildern lassen sie sich davon nicht abhalten.

Nehmen Sie sich doch einmal ein Beispiel an Dänemark. Die Dänen sichern ihre Südgrenze jetzt mit Zäunen, weil sie offenbar nicht der Meinung sind, dass Deutschland gut auf die ASP vorbereitet ist.

(Beifall von der AfD)

Zu Ihren Großtaten zählen Sie auch Appelle an die Jägerschaft, doch bitte mehr Sauen zu schießen. Die Jäger brauchen weder Belehrungen noch Appelle. Auch Abschussprämien stehen nicht besonders weit oben auf deren Wunschliste.

Unsere Jäger sind keine Kammerjäger, die sich für ein paar Euro Handgeld durch die Wälder ballern, auch wenn die Grünen das vielleicht glauben. Wir haben hier gut ausgebildete, ehrenamtliche und hoch engagierte Bürger, die von der gewesenen Landesregierung, namentlich von Herrn Remmel, wie Kriminelle behandelt wurden. Jetzt kommt sein Parteifreund Rüße, der Bio-Schweinebauer, und will den Jägern auch noch die Schuld am ASP-Ausbruch geben. Das ist schäbig, meine Damen und Herren.

(Beifall von der AfD – Norwich Rüße [GRÜNE]: Schäbig ist das, was Sie machen!)

– Herr Rüße, hören Sie einmal zu; dann lernen Sie noch etwas. – Dabei sind die Grünen und ihre wahnwitzige Energiepolitik Hauptschuldige am gewaltigen Wildschweinbestand. Gäbe es nicht landauf, landab riesige Maismonokulturen, sogenannten Energiemais, wäre das Problem längst nicht so groß und so gefährlich.

(Zuruf von Norwich Rüße [GRÜNE])

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die Grünen mögen diesen Unsinn begonnen haben. Aber kein anderer hat den Mumm, ihn zu beenden. – Das Letzte, was die Jägerschaft braucht, sind schlaue Ratschläge aus diesem Hause, erst recht nicht von dieser Seite.

Bevor Sie die Jäger dafür einspannen, die Folgen Ihrer politischen Fehlleistungen zu mildern, machen Sie erst einmal Ihren Job. Schaffen Sie endlich ein Jagdrecht, dass die Jäger und ihre Leistungen wertschätzt. Ich weiß; das ist geplant und kommt jetzt. Aber eigentlich hätte es längst passieren können, meine Damen und Herren von der Regierung.

(Beifall von der AfD – Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Bis dahin ersparen Sie uns bitte, solange Sie nicht einmal die elementarsten Grundbedingungen zur Beseitigung des Problems geschaffen haben, solche albernen Anträge zur Selbstbeweihräucherung.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Herr Kollege Tritschler, Ihre einleitenden Bemerkungen waren genauso rügewürdig wie die der SPD-Kollegin. Sie wissen, dass es feste formelle Spielregeln für die Zulassung einer Aktuellen Stunde gibt, die es einfach zu beachten gilt.

(Christian Loose [AfD]: Die hat er nicht infrage gestellt! Da hätten Sie zuhören müssen! – Widerspruch von der CDU und der FDP)

– Herr Kollege Loose, Sie wissen, dass Sie sich mit dieser Äußerung so verhalten haben, dass ich Ihr Verhalten an dieser Stelle formell rügen muss. Sie geben mir keine andere Chance. Das mache ich hiermit.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Für die Landesregierung erteile ich nun Frau Ministerin Heinen-Esser das Wort.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur‑ und Verbraucherschutz: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht darf ich ganz kurz sagen, Herr Präsident, dass ich außerordentlich dankbar dafür bin, heute Morgen zum Thema „Afrikanische Schweinepest“ Ausführungen machen zu können; denn Information der Öffentlichkeit ist bei diesem frühen Beginn des Ausbruchs in Westeuropa schon sehr notwendig.

Der Landtag eines Landes, das nach Rheinland-Pfalz wahrscheinlich als zweites bedroht ist, ist tatsächlich ein richtiger Ort, um hier Ausführungen zu machen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, ich darf zu Beginn ausdrücklich feststellen: Die Afrikanische Schweinepest ist für den Menschen nicht gefährlich.

Allerdings ist sie eine Viruserkrankung, die bei Wildschwein und Hausschwein zu schwersten Krankheitserscheinungen mit einer sehr hohen Todesrate führt.

Wir haben seit dem 13. September 2018 eine deutlich verschärfte Bedrohungslage. An diesem Tag wurde der Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest im Süden Belgiens amtlich festgestellt.

Damit hat sich die ASP – das ist von meinen Vorrednern schon erwähnt worden – in einem Sprung von mehr als 600 km in Richtung Westeuropa ausgebreitet.

Das Ausbruchsgebiet in Belgien liegt nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Es sind 60 km zur rheinland-pfälzischen Grenze und etwa 120 km zur nordrhein-westfälischen Grenze im Bereich der Eifel. Frankreich und Luxemburg grenzen an.

In der Nähe des Ausbruchsgebiets verlaufen Transitstrecken. Deshalb ist die Gefahr einer Verschleppung der ASP innerhalb Westeuropas und auch nach Nordrhein-Westfalen exponentiell höher geworden.

Die Faktenlage zur Situation in Belgien ist jedoch auch eine Woche nach der amtlichen Feststellung der ASP noch sehr dünn. Die Belgier haben Restriktions- und Infektionszonen eingerichtet, haben die Gebiete gesperrt und betreiben Kadaversuche.

Wir wissen, dass mittlerweile mehrere verendete Tiere gefunden worden sind. Bei fünf Tieren wurde ASP festgestellt. Aufgrund des Zeitraums von mehr als 14 Tagen, den die infizierten Tierkörper dort gelegen haben, wird davon ausgegangen, dass sich das Virus in dieser Region sogar noch weiter ausgebreitet hat. Es wird damit gerechnet, dass es kontinuierlich zu neuen Nachweisen infizierter Tiere aus diesem Gebiet kommen wird.

Am gestrigen Mittwoch hat der Ständige Ausschuss der EU-Kommission zu dieser Thematik beraten. Ein Expertenteam der Europäischen Union, das am Wochenende die Lage im Ausbruchsgebiet untersucht hat, berichtete dazu.

Es wird sich in der nächsten Zeit herausstellen, ob Belgien das Seuchengeschehen in diesem Gebiet isolieren kann oder ob wir mit einer Verbreitung in der Wildtierpopulation bis in die Nordeifel rechnen müssen.

Gleichzeitig gilt es – auch das haben Vorredner schon angesprochen –, eine Seuchenverbreitung über den Menschen durch möglicherweise kontaminierte Lebensmittel oder andere lebende Tiere zu unterbinden.

Ich bin in diesem Zusammenhang auch dem Verkehrsminister dankbar, der schon seit Januar/Februar dieses Jahres verschiedene Maßnahmen gegenüber seinen Behörden erlassen hat, was beispielsweise die Raststätten oder Wildschutzzäune angeht. Wir stehen in ständigem Austausch zu diesem Thema. Der Verkehrsminister hat jetzt auch noch einmal Kontakt zu seinen nachgeordneten Behörden aufgenommen, um die Anstrengungen an den Raststätten und den Straßen, die Warnhinweise etc. zu verstärken.

Was tun wir? Nach ersten Beratungen über das ASP-Geschehen in Belgien am 13. September dieses Jahres haben wir am 14. September dieses Jahres umgehend Fachexperten aus der Verwaltung zu einer Sonderarbeitsgruppe ASP unter Leitung unseres zuständigen Abteilungsleiters für Verbraucherschutz zusammengebracht.

Daran nehmen natürlich auch der Präsident der Umweltbehörde LANUV und der Direktor der Landwirtschaftskammer teil. Ich bin beiden dankbar dafür, dass sie heute mit zu der Debatte in den Landtag gekommen sind, um zu zeigen, was für ein wirklich wichtiges und ernstes Thema dies für mein Haus und für unser Land ist.

Im Laufe des Freitags ist zudem eine erste Telefonkonferenz der Taskforce des Arbeitsstabes Tierseuchenbekämpfung zwischen Bund und Ländern durchgeführt worden, um sich zur weiteren Vorgehensweise abzustimmen.

In einer weiteren Telefonkonferenz wurden die betroffenen Verbände informiert.

In den hauptsächlich betroffenen grenznahen Kreisen – das sind Aachen, Düren und Euskirchen – wurden die ersten zusätzlichen Maßnahmen festgelegt.

Wir haben eine zeitnahe Abstimmung zwischen Bundesländer- und kommunaler Ebene erreicht.

Die Beratungen und Unterrichtungen durch die Sonderarbeitsgruppe ASP in meinem Haus werden ständig fortgeführt, sodass alle Beteiligten über aktuelle Entwicklungen und notwendige Schritte unterrichtet sind.

Es wird ein verstärktes Tierseuchenmonitoring in den grenznahen Kreisen durchgeführt, das nicht nur durch die Veterinärbehörden geleistet wird; auch die Jagdverbände haben ihre volle Unterstützung zugesagt.

Personal der Forstverwaltung wird im Staatswald der Grenzregion in den Revieren eingesetzt, um gezielt nach Wildschweinkadavern zu suchen.

Gleichzeitig wird für die Waldbesucher Informationsmaterial bereitgestellt, um über die Seuche und die notwendigen Maßnahmen zu informieren und zur Mithilfe beim Auffinden und Melden von Wildschweinkadavern zu ermuntern.

Weiterhin ist es natürlich wichtig, den Wildschweinbestand weiter zu reduzieren; denn dadurch wird der unmittelbare Übertragungsweg für das Virus erschwert.

Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz vor Beginn der Jagdsaison noch einmal auf ein vielleicht nicht ganz bewusstes Risiko aufmerksam machen, nämlich zurzeit durch die Teilnahme an Jagden in anderen Gebieten insbesondere in Südbelgien oder durch das Einladen von Jagdgästen aus möglicherweise sogar betroffenen Gebieten in Belgien. Dadurch entsteht trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ein zusätzliches sehr hohes und unkalkulierbares Risiko für Nordrhein-Westfalen.

Die Aufzählung dieser Maßnahmen macht deutlich, dass die Vorsorge und der Schutz vor der Afrikanischen Schweinepest nicht alleine die Aufgabe der Veterinärverwaltung und der Landwirtschaft sind. Vielmehr ist es eine Aufgabe von vielen Gruppen, intensiv alle Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen und wachsam gegenüber möglichen Risiken zu bleiben.

Wenn uns diese Zusammenbindung aller Gruppen gelingt, bin ich zuversichtlich, dass wir das Problem auch bewältigen können und gut bewältigen können. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Für die CDU-Fraktion spricht der Kollege Deppe.

Rainer Deppe (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich danke der Ministerin dafür, dass sie hier so ruhig und sachlich dargestellt hat, welche Maßnahmen im Moment ergriffen werden und wie die Landesregierung vorgeht. Ich denke, diese Information ist für die Öffentlichkeit und für uns alle wichtig.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich möchte mich im Folgenden überwiegend mit den Auswirkungen beschäftigen, die auf uns alle zukommen, falls es auch hier zu einem Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest kommen sollte. Wir können jetzt durch den Ausbruch in Belgien auch in einer größeren räumlichen Nähe, als es in der Vergangenheit der Fall war, beobachten, was das für Folgen hat.

630.000 ha sind zum Sperrgebiet erklärt worden. Das ist eine Fläche – vielleicht kann sich das nicht jeder vorstellen – von umgerechnet 630 km², also mehr als die Fläche von Köln und Düsseldorf zusammen oder – für die Kollegen aus Westfalen – etwa so groß wie der Kreis Soest. Man stelle sich das einmal vor: ein Sperrgebiet in dieser Ausdehnung.

Dort herrscht Stillstand. Niemand darf landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Flächen in diesem Gebiet betreten. Ausgenommen sind Personen, die beauftragt sind, kranke und tote Wildschweine zu finden oder zu bergen. Die Wälder sind gesperrt. Der Forstbetrieb ist bis auf Weiteres untersagt. Es finden keine Forstarbeiten statt. Stellen Sie sich bitte einmal vor, was das in der Situation, die wir diesen Sommer mit der Borkenkäfer-Kalamität haben, für den Wald bedeutet.

Übrigens: Was heißt das für die Forstbetriebe und die Forstarbeiter, die dort arbeiten? Was heißt das für die Sägewerke? Was heißt das für die Holzversorgung in unserem Land? – Das sind nur einmal die Fragen und Probleme, die drohen, auf uns zuzukommen. Es herrscht auch absolutes Jagdverbot; darüber ist eben schon gesprochen worden.

Jetzt richten wir einmal den Blick in die freie Landschaft. Das Gebiet ist wildschweinsicher einzuzäunen. Meine Damen und Herren, wer hat denn dann noch Lust, dort spazieren zu gehen? Dann gibt es keine Spaziergänger und keine Freizeitaktivitäten. Was für Auswirkungen auf den Tourismus hat das denn? Wie viele Menschen in Hotels, Gaststätten, Kneipen und Cafés, beim Bötchenverleih, in Museen und an Tankstellen werden betroffen sein, wenn die Urlauber oder die Tagesgäste gar keine Lust mehr haben, dorthin zu fahren?

Sehen wir uns auch einmal die Landwirtschaft an. Den landwirtschaftlichen Betrieben ist eine Ausfahrt mit Fahrzeugen jedweder Art untersagt. Keine Ernte mehr? Dürfen landwirtschaftliche Produkte überhaupt noch transportiert werden? Die Getreideernte ist zwar vorbei. Aber wer weiß, wie lange die Sperrung bestehen bleiben muss? Derzeit ist der Mais noch nicht überall abgeerntet. Und was ist mit den Kartoffeln? Was ist mit den Zuckerrüben? Bei einem Fahrverbot stockt die Versorgung der Zuckerfabriken. Jetzt beginnt die Herbstbestellung. Wollen wir nicht mehr säen? Was ist mit dem Ausbringen von Mist und Gülle innerhalb der jetzt zugelassenen Ausbringzeiten?

Das Hauptthema, über das einige hier auch schon gesprochen haben, ist jedoch die Übertragbarkeit der Afrikanischen Schweinepest von den Wildschweinen auf die Hausschweine. Das ist die größte Gefahr. Diese Folgen mag sich überhaupt niemand ausmalen. Zu Schweinebetrieben haben dann nur noch Seuchenexperten und Sicherheitskräfte Zutritt. Was ist eigentlich mit Futterlieferungen? Wo bleiben die Schweine, die ihr Schlachtgewicht erreicht haben? Im Stall wird es dann jeden Tag enger.

Reden wir nun einmal von den wirtschaftlichen Folgen. Wir haben in Nordrhein-Westfalen ca. 7.100 schweinehaltende Betriebe mit 7,1 Millionen Schweinen. Für belgisches Schweinefleisch haben neun Staaten außerhalb der EU sofort einen Importstopp erlassen. Darunter sind wichtige Exportländer wie Südkorea, China, Taiwan und Weißrussland.

In Deutschland sind in der Fleischbranche über 110.000 Menschen beschäftigt. Sie sorgen für einen Umsatz von 40 Milliarden Euro. In Nordrhein-Westfalen ist die Bruttowertschöpfung der Fleischwirtschaft vergleichbar mit den Branchen der Chemieindustrie oder des Maschinenbaus. Ich glaube, darüber machen sich viele keine Vorstellungen.

Die riesige Dimension ist jetzt vielleicht einigen klar geworden – ich hoffe, auch Ihnen, Herr Kutschaty. Ihr unsäglicher Tweet, in dem Sie sich darüber beschwert haben, dass heute dieses Thema hier behandelt wird,

(Britta Altenkamp [SPD]: Bitte?)

war ja schon Gegenstand der Äußerungen von Frau Watermann-Krass. Ich denke, der Präsident hat dazu das Richtige gesagt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Noch viel bemerkenswerter ist aber Folgendes: Die SPD hat doch den Bezug zum realen Leben der Menschen in Nordrhein-Westfalen vollkommen verloren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Hier droht eine Katastrophe mit Auswirkungen für Zigtausende Arbeitsplätze und Verlusten im Milliardenbereich, die knapp vor unserer Landesgrenze angekommen ist – und die SPD nimmt das noch nicht einmal zur Kenntnis. Frau Watermann-Krass hält hier eine lustlose Rede und beklagt sich noch darüber, dass das Thema hier im Landtag behandelt wird.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Liebe Kollegen der SPD, wie weit sind Sie eigentlich mittlerweile von der Wirklichkeit der Menschen und dieses Landes entfernt?

(Beifall von der CDU)

Ich muss sagen, dass Herr Rüße die Themen angesprochen hat. Er hat die richtigen Fragen gestellt. Herr Rüße, ich bin froh, dass Sie dieses Thema hier mittragen und weiter dafür sorgen, dass wir uns um die Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest, aber auch um die Folgen kümmern.

Meine Damen und Herren, es ist gut, dass wir eine Landesregierung haben, die nicht die Augen verschließt und nicht sagt, das sei ein unwichtiges Thema, sondern die Dimension erkannt hat und hier handelt. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Deppe. – Für die AfD-Fraktion spricht der Abgeordnete Dr. Blex.

Dr. Christian Blex (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist schon interessant: Wir haben eine Aktuelle Stunde – nicht zum Hambacher Forst, sondern zur Afrikanischen Schweinepest –, und selbst die Laschet-Parteien halten es nur für nötig, hier mit drei Rednern aufzutreten, während die Öko-Sozialisten es gar nicht für erforderlich halten, in die zweite Runde zu gehen. So wichtig ist Ihnen das Thema, das wir hier in der Aktuellen Stunde behandeln.

(Beifall von der AfD)

Abgesehen davon hört man hier natürlich ganz interessante Äußerungen. Herr Rüße möchte registrieren; Herr Rüße möchte Grenzen sichern und den Transit verhindern. Das ist interessant; das ist ganz toll. Allerdings möchte er das nicht bezüglich der illegalen Massenimmigration machen,

(Zurufe von der CDU: Aha!)

sondern bezüglich der Wildschweine.

Herr Rüße, ganz toll! Sie wollen alle Wildschweine in Deutschland registrieren. Das machen Sie mal. Vielleicht schaffen Sie das. Ich weiß nicht, wie; aber vielleicht haben Sie dazu eine Idee. Das ist eine schöne Sache. Das ist wirklich schön.

Aber kommen wir einmal zu dem ernsten Thema, meine Damen und Herren. Seit Jahresbeginn wurden in der EU gut 4.000 positive Befunde der Afrikanischen Schweinepest bei Wildschweinen und fast 1.100 positive Befunde bei Hausschweinen gemeldet. Sie haben es eben schon gesagt: Polen, Rumänien und Litauen sind die Länder mit den häufigsten Infektionen.

In Tschechien hat man es geschafft, die Tierseuche nach einem Ausbruch im April 2018 rigoros auszurotten. Seit man das mit dem entsprechenden Durchgreifen geschafft hat, gibt es dort auch keine Fälle mehr.

Wir haben eben gehört – Frau Ministerin hat es gesagt –, dass die Belgier das wohl ein bisschen entspannter nehmen.

(Zuruf von Ministerin Ursula Heinen-Esser)

– Entschuldigung. Sie haben das nicht gesagt. In der Sitzung vorhin wurde es gesagt. – Die Belgier nehmen das Ganze ein bisschen entspannter. Deshalb müssen wir einmal sehen, was hier passiert. Wir müssen sehen, wann die ersten Schweine über die Grenze kommen.

Schlimm ist, dass die Schwarzwildpopulation in Deutschland so groß ist wie noch nie. Hier im Plenum davon zu sprechen, dass der Bund gut auf einen Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest vorbereitet ist, ist Kokolores.

Die Explosion der Wildschweinpopulation lässt sich aus zwei Gründen auf die verfehlte Politik der Grünen zurückführen.

Erstens haben die grünen Moralisten – Herr Tritschler hat es schon erwähnt – die Jäger mit dem völlig grauenhaften Jagdgesetz kastriert und sie somit ganz bewusst an der Ausübung ihres Dienstes gehindert.

(Beifall von der AfD)

Der Kabinettsentwurf zum neuen Jagdgesetz ist gestern eingereicht worden. Wir werden den Prozess sehr kritisch begleiten; denn wir haben ein großes Interesse an der Emanzipation der Jäger.

Zweitens hat die geförderte europäische Agrarsubvention in Verbindung mit der fürchterlichen EEG-Zulage zu einer Vermaisung der Landwirtschaft geführt. Wir haben ökoideologische Monokulturen. Aber das nehmen die Grünen gerne hin; denn es entspricht ihrer Ideologie. Mais ist die schlimmste Monokultur und bedeckt, wie wir aus einer Antwort auf eine Kleine Anfrage erfahren haben, mehr als 9.000 ha der Ackerfläche in Nordrhein-Westfalen. Das entspricht 8,5 % im Jahr 2016. Aber Ihre Ideologie ist Ihnen jedes Opfer wert.

Immer mehr landwirtschaftliche Fläche wird für Energieproduktion und nicht für die Nahrungsmittelproduktion genutzt. Und den Wildschweinen ist die deutsche Energiewende absolut egal. Sie setzen sich an den gedeckten Tisch, kommen gut genährt durch den Winter und vermehren sich.

Effektive Maßnahmen zum Schutz vor der Afrikanischen Schweinepest können nur sein, zum einen den Jägern mit einem ideologiefreien Jagdgesetz schnellstmöglich wieder die ordnungsgemäße Ausübung ihres Berufes zu ermöglichen. Denn nur mit einer freien Jägerschaft ist das Land überhaupt in der Lage, die Wildschweinpopulation drastisch zu senken. Damit sich Wildschweinpopulationen gar nicht erst so dramatisch entwickeln können, gehören zum anderen die agrarfeindliche Energiewende, die EEG-Subventionen und die Vermaisung der Landwirtschaft schnellstmöglich beendet.

(Beifall von der AfD)

Erst dann kann man sich als Landesregierung auf die Fahnen schreiben, auf einen Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest gut vorbereitet zu sein.

Ja, meine Damen und Herren, auch hier müssen wir die Grenzen schützen.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Das war der Abgeordnete Dr. Blex für die AfD-Fraktion. – Weitere Wortmeldungen liegen mir zurzeit nicht vor, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich schaue noch einmal in die Runde. – Das bleibt auch so. Dann schließe ich die Aussprache zur Aktuellen Stunde.

Ich rufe auf:

2  Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten! Wehrhafte Demokratie mit Leben füllen.

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3581

Entschließungsantrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3695

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Herr Dr. Optendrenk für die CDU-Fraktion das Wort.

Dr. Marcus Optendrenk*) (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Ohne Demokratie kann es keinen dauerhaften Frieden geben, weder nach außen noch im Inneren.“

Diese Erkenntnis hat der frühere Bundespräsident Roman Herzog einmal mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht.

Ohne Menschen, die diese Demokratie leben und vorleben, kann es auch keinen Frieden nach außen und innen geben. Denn eine Demokratie lebt nicht nur durch ihre demokratischen Institutionen, durch Staat und Politik.

Unsere Gesellschaft selbst muss diese Demokratie jeden Tag aktiv leben. Jeder von uns – nicht nur in diesem Landtag – ist jeden Tag als Teil dieser Gesellschaft selbst daran beteiligt, die großen Entwicklungen unserer Gesellschaft mit herbeizuführen. Dieses Herbeiführen kann darin bestehen, entweder etwas aktiv zu tun, oder auch darin, es zu unterlassen. Deshalb sind wir als Gesellschaft verantwortlich, wie es weitergeht mit unserem Staat, mit unserer Politik, mit unserer Gesellschaft, mit unserem Land und darüber hinaus. Wir sind auch dafür verantwortlich, ob wir und unsere Kinder und Enkel auch in Zukunft in Frieden und Freiheit leben werden.

„Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten!“ heißt durchaus zutreffend die Überschrift eines Antrages, in dem wir uns mit aktuellen Ereignissen, aber auch mit grundsätzlichen Fragestellungen unserer Demokratie befassen. Die letzten Wochen haben uns vor Augen geführt, dass es in unserer Gesellschaft eine zunehmende Verunsicherung darüber gibt, wie es mit Frieden, Freiheit und Sicherheit in unserem Land aussieht. Wir sehen Bilder, die fassungslos machen – und das nicht einmal, sondern leider vielfach. Ich habe mir in meiner Schulzeit nicht vorstellen können, dass es in Deutschland noch einmal Zeiten geben würde, in denen Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer Rasse verfolgt und gejagt werden. Ich habe gedacht: Deutschland hat aus seiner Geschichte gelernt.

Wir haben in diesem Jahr 70 Jahre Grundgesetz gefeiert. Über diesem Grundgesetz prangt in großen Lettern unausgesprochen: Nie wieder. – Deswegen formuliert Art. 1 unseres Grundgesetzes:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Weniger zitiert, aber genauso wichtig ist der Abs. 2 dieses Artikels:

„Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Wer den Art. 1 unserer Verfassung liest, kann daraus sehr genau erkennen, was uns die Väter und Mütter des Grundgesetzes aus den Erfahrungen von Drittem Reich und Weltkriegen mit auf den Weg gegeben haben: Vergesst niemals, das wertvolle Gut von Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Es ist wertvoll, und es ist nicht selbstverständlich da. Es muss jeden Tag neu erarbeitet werden. Es muss bewahrt und gestaltet werden. Vergesst niemals, dass die Würde des Menschen die Grundlage allen menschlichen Miteinanders und vor allen Dingen des friedlichen Miteinanders sein muss. Und sorgt dafür, dass ein handlungsfähiger Staat die Werte und Regeln auch durchsetzt, die Grundlage unseres Gemeinwesens sind.

Deshalb ist das Gewaltmonopol des Staates die zwingende, unabdingbare Voraussetzung für die Wahrung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat. Deshalb ist dieser Rechtsstaat, die Durchsetzung von Recht, nicht relativierbar – von keiner Seite und zu keiner Zeit.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Die Bilder der letzten Wochen fordern uns alle. Sie fordern uns auf, für unsere freiheitliche Gesellschaft einzustehen. Ohne ein solches Einstehen wird es auf Dauer keinen Frieden geben – weder nach außen noch nach innen.

Der Landtag von Nordrhein-Westfalen setzt heute im Wissen um unsere Geschichte und in Verantwortung für eine gute Zukunft ein starkes Zeichen für Freiheit, Frieden und Demokratie. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Optendrenk. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Wolf.

Sven Wolf (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 70 Jahren trat der Parlamentarische Rat zusammen, beriet und beschloss ein Grundgesetz, das trotz seiner Vorläufigkeit eigentlich die stabilste und beste Verfassung ist, die wir bisher in der Geschichte Deutschlands hatten. Darüber wurde in einer Zeit beraten, in der die Menschen nach zwölf Jahren Terror und Diktatur sowie nach Jahren des Krieges im Alltag sicherlich andere Sorgen hatten, als sich mit Demokratie oder Grundrechten zu befassen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Demokratie hat dabei feste Regeln und Rollen und besonders den Streit mit den Mitteln der Fairness. Dazu kommt das feste Wechselspiel zwischen Mehrheit und Minderheit, der Wechsel zwischen Regierung und Opposition. Die verbindlichen Entscheidungen trifft bei uns das Volk in Wahlen und Abstimmungen. Demokratie fragt nicht, woher du bist und was du glaubst, sondern was du in diese Demokratie einbringen kannst. Ein ganz zentraler Grundkonsens ist dabei, dass die Minderheit – auch wenn sie in Wahlen unterliegt – grundsätzlich akzeptiert, dass die Mehrheit entscheidet.

Allein unabhängigen Gerichten obliegt die Rechtsprechung. Niemand hat das Recht, dieser Rechtsprechung vorzugreifen, und niemand hat das Recht, die Umsetzung demokratischer Entscheidungen durch Gewalt zu verhindern. Wer diese Regeln verletzt und infrage stellt, stellt seine eigenen Rechte infrage. Wer diesen Konsens mit Hetze und Diffamierung gefährdet, der gefährdet die gesamte Demokratie.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Aber heute, 70 Jahre später, geht es uns wirtschaftlich im Alltag viel besser. Trotzdem bedroht diese Hetze unsere Demokratie so stark wie nie zuvor.

Meine Damen und Herren, aber es gibt auch gute Zeichen. Es gibt Zeichen der Hoffnung. Am 3. September setzten 65.000 Menschen mit einem Konzert in Chemnitz ein sehr klares und deutliches Zeichen. Die Demokratinnen und Demokraten sind gegenüber den Feinden der Freiheit in der Überzahl. Sie sind mehr, wir sind mehr!

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten allen danken, die friedlich und mit Leidenschaft für die Werte unserer Verfassung demonstriert haben – in Chemnitz, in Köln, in Essen und anderswo –, die demonstriert haben für die Unantastbarkeit der Menschenwürde, für unsere freiheitlichen Grundrechte und nicht zuletzt für das Recht eines jeden Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben, unabhängig von der Frage nach der Religion, dem Geschlecht oder der Herkunft.

(Christian Loose [AfD]: Und von der politischen Einstellung!)

Das passt genau in die Tradition, an die wir hier vor wenigen Tagen erinnert haben, nämlich die 200-jährige Tradition des Bergbaus. Herr Ministerpräsident, Sie haben das sehr richtig betont: Im Bergbau wurde nicht die Frage gestellt, ob der Islam zu Deutschland gehört, sondern ob man sich auf den Kumpel verlassen kann. Und auch wenn der Bergbau enden wird, wird diese besondere Tradition in Nordrhein-Westfalen fortbestehen.

(Beifall von der SPD)

Wir verurteilen sehr deutlich die bösartigen Angriffe, die Hetze, die es gegeben hat, und die Angriffe auf unsere Freiheitsrechte. Denn jeder von uns muss wissen: Wenn auf einer Kundgebung der Hitlergruß gezeigt wird, wenn Redner gegen Minderheiten hetzen und jüdische Einrichtungen angreifen, dann werden demokratische Anliegen von Extremisten missbraucht und benutzt.

(Beifall von der SPD und der FDP)

Aus meiner Sicht ist es sehr tragisch, dass bei dem vorgeblichen Trauermarsch in Chemnitz auch Kolleginnen und Kollegen aus unserem Haus dabei waren.

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Die waren ja auch in Syrien!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Sven Wolf (SPD): Wir müssen heute ein sehr deutliches Zeichen im Hinblick darauf setzen, was die couragierten Menschen in Chemnitz getan haben. In unserem Land ist kein Platz für Extremismus. Lassen Sie uns das jeden Tag aufs Neue zeigen, damit wir nicht eines Tages in einer Diktatur aufwachen. Wir in Nordrhein-Westfalen versöhnen, anstatt zu spalten.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und Angela Freimuth [FDP])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Wolf. Herr Kollege Wolf bleibt stehen, weil es die Anmeldung einer Kurzintervention durch Herrn Dr. Blex gegeben hat.

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Der Syrienexperte!)

Dr. Christian Blex (AfD): Herr Wolf, viele sind nicht mehr. Ganz viele in Deutschland sind nicht mehr, weil sie Ihrer Einwanderungspolitik zum Opfer gefallen sind.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Herr Blex, jetzt ist es gut!)

Diesen Toten zu gedenken und das zu kritisieren, was Sie gemacht haben, das nennen Sie schäbig.

Herr Wolf, ich möchte Ihnen eines mal vortragen, und ich bin gespannt, wie Sie das finden. Sie behaupten, es habe ein friedliches Konzert stattgefunden, bei dem Menschen sich unter dem Hashtag „Herz statt Hetze“ zusammengefunden hätten. Ich möchte Ihnen sagen, was da auf präsidiale Empfehlung gesungen wurde. Und entschuldigen Sie jetzt bitte die Wortwahl, aber ich glaube, es gehört zur Wahrheit dazu, dass Sie wissen und auch die Bevölkerung weiß, was dort von der Band K.I.Z. gesungen worden ist, die Herr Steinmeier, Ihr Bundespräsident, eingeladen und beworben hat.

(Zurufe von der SPD: Unser! – Michael Hübner [SPD]: Das ist auch Ihr Bundespräsident!)

„Ich mache Muß aus deiner Fresse. Boom verrecke, wenn ich den Polenböller in deine Kapuze stecke. Die halbe Schule war querschnittsgelähmt von meinen Nackenklatschern. Meine Hausaufgaben mussten irgendwelche deutschen Spasten machen. Ich ramm die Messerklinge in die Journalistenfresse.“

(Zuruf von Andreas Keith [AfD])

Jetzt wird es ganz abartig und ganz schäbig – Zitat –:

„Trete Deiner Frau in den Bauch, fresse die Fehlgeburt.“

Meine Damen und Herren, das haben Sie unter dem Hashtag „Herz statt Hetze“ zusammengerufen. Das ist menschenverachtender Müll, der da gesungen wurde, und das hat mit „Herz“ überhaupt nichts zu tun!

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Dr. Blex, Ihre Redezeit für die Kurzintervention ist beendet.

Dr. Christian Blex (AfD): Wenn ein Bundespräsident, Ihr Bundespräsident, so etwas Menschenverachtendes unterstützt, dann wäre es an der Zeit, zurückzutreten.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit ist beendet. Und ich würde gerne eines klarstellen: In diesem Plenarsaal wird nicht die Öffentlichkeit aufgeklärt, hier wird Wort und Widerwort getauscht für das Parlament. Und auch bei Zitaten bitte ich, künftig darauf zu achten, dass es der Würde des Hauses entspricht.

(Helmut Seifen [AfD]: Also, Entschuldigung …! )

Wir werden prüfen lassen, wie weit Zitate möglich sind, wenn sie in dieser Weise vorgetragen werden.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN – Sven Werner Tritschler [AfD]: Fragen Sie mal ihren Parteifreund Steinmeier – Helmut Seifen [AfD]: Von 65.000 friedlichen Menschen! – Weitere Zurufe von der AfD)

Jetzt hat Herr Kollege Wolf das Wort. Und wenn Sie Kritik an meiner Sitzungsführung haben, dann können Sie das, wie Sie wissen, schriftlich einreichen, damit wir das im Präsidium und im Ältestenrat behandeln – aber nicht hier im Plenarsaal.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Sven Wolf (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben wahrscheinlich meiner Rede gar nicht zugehört.

(Andreas Keith [AfD]: Sehr intensiv! Sie schauen sich die Bilder nicht an! – Weiterer Zuruf von der AfD: Doch!)

Das, was Sie hier in fast jeder Plenardebatte tun, zu jedem Thema, das ist genau diese Hetze und diese Diffamierung, die unseren Grundkonsens der Demokratie gefährdet.

(Widerspruch von der AfD – Andreas Keith [AfD]: Sie hetzen!)

Sie zerren Minderheiten in dieses Plenum und beschuldigen sie.

(Zurufe von der AfD)

Sie zerren Minderheiten unserer Gesellschaft in dieses Plenum und beschuldigen sie, dass sie für alle Probleme in unserer Gesellschaft die Verantwortung tragen. Und das ist genau die Tradition, die uns bis 1945 in die schlimmsten Auseinandersetzungen in Europa geführt hat.

(Markus Wagner [AfD]: Die Migrationspolitik ist die Mutter aller Probleme seit 1945!)

Daraus haben Sie nichts gelernt – überhaupt nichts!

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN – Fortgesetzt Zurufe von der AfD)

Ich habe Ihnen ganz klar gesagt: Wir als Demokratinnen und Demokraten müssen diesen Grundkonsens wagen –

(Andreas Keith [AfD]: Sie sind doch keine Demokraten! – Anhaltende Zurufe von der AfD – Glocke)

Wort und Widerwort, wie die Präsidentin es gerade gesagt hat. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Grundkonsens – auch wenn man in einer Wahl keine Mehrheit erreicht – weiterhin gilt und dass wir nicht anfangen, diejenigen, die die Mehrheit haben, zu diffamieren.

(Zuruf von Dr. Christian Blex [AfD])

Diesen Grundkonsens müssen wir in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland wahren.

(Widerspruch von der AfD – Glocke)

– Sie können mich hier nicht niederschreien, das schaffen Sie nicht.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Aber trotzdem ist die Redezeit beendet.

Sven Wolf (SPD): Ich danke Ihnen. Ich danke dem demokratischen Teil dieses Hauses für seine Unterstützung. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Wir diskutieren gerade über Demokratie. Demokratie hat Spielregeln, und zu den minimalsten Spielregeln gehört, dass man in einem Parlament auch bei unterschiedlicher Meinung einander zuhört und sich nicht wechselseitig niederbrüllt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Der nächste Redebeitrag kommt von Herrn Kollegen Paul von der FDP.

Stephen Paul (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass sich der Staat mit all seinen Einrichtungen jeder Gefährdung unserer Grund- und Menschenrechte entgegenstellen muss, ist die Maxime unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung. Der Staat ist dabei nicht allein. Ich füge hinzu: Wir dürfen ihn dabei auch nicht allein lassen.

Staatliche Einrichtungen müssen sich bei der Abwehr von Gefahren für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung stets auf die Loyalität aller Bürgerinnen und Bürger verlassen können; denn – ich zitiere aus Art. 1 Abs. 2 unseres Grundgesetzes –:

„Das Deutsche Volk bekennt sich … zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Leider haben die letzten Wochen ein anderes Bild unseres Landes und seiner Menschen gezeichnet. Verfassungsfeindliche, rassistische Parolen, begleitet von gewalttätigen Auseinandersetzungen in Chemnitz haben unsere Grundwerte und das Vertrauen in unser ansonsten so tolerantes, stets friedliches Zusammenleben erschüttert.

Dass ein Mensch Opfer eines Tötungsdelikts geworden ist, können wir alle nur bedauern. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und seinen Freunden. Um es ganz klar zu sagen: Der dortige Messerangriff ist eine Straftat und in keiner Weise zu entschuldigen. Wir Freie Demokraten erwarten, dass die mutmaßlichen Täter ermittelt werden; dann haben unsere Gerichte über die Tat und das Strafmaß zu entscheiden.

Jene mit der Tat einhergehende Trauer, Wut und Ohnmacht sind menschliche Gefühle. Trauer, Wut und Ohnmacht dürfen in unserem Land aber nie Anlass dafür sein, die Sache jetzt mal endlich selbst in die Hand zu nehmen, wie mancher in Chemnitz sich das wohl gedacht hat.

Auch rechtfertigen Trauer, Wut oder Ohnmacht niemals Rassismus, den alten Hitlergruß oder gar Gewalt gegen Mitmenschen. Ja, wo sind wir denn hier?

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und Alexander Langguth [fraktionslos])

Eine Instrumentalisierung von Gefühlen für Zwecke, die nicht mit unserem verfassungsrechtlichen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Demokratie vereinbar sind, ist eine schwerwiegende Gefahr für unser aller Zusammenleben.

Gefühle zu äußern und zu demonstrieren wird durch unsere verfassungsmäßige Meinungsfreiheit im Allgemeinen und das Versammlungsrecht im Besonderen garantiert. Garantiert wird indessen nicht das Recht auf Rassismus, Gewalt und den Hitlergruß als Meinungsfreiheit oder diese Dinge gar dem Demonstrationsrecht zu unterstellen. Das gilt übrigens auch für jede Gegendemonstration in Chemnitz und überall in unserem Land.

Unter dem vermeintlichen Deckmantel der Meinungsfreiheit menschen- und verfassungsfeindliche oder gar hetzerische Äußerungen zu tätigen oder Gewalt zu relativieren, widerspricht in jedem Maße unseren Grundrechten. Nicht nur das: Es verhöhnt unsere deutsche Verfassungstradition.

(Beifall von Henning Höne [FDP] und Dr. Marcus Optendrenk [CDU])

Wir Freie Demokraten stellen uns dem gesellschaftlichen Diskurs. Wir diskutieren gerne über alle Missstände in unserem Land; vor allem diskutieren wir darüber, wie wir unser großartiges Land noch besser machen können.

Dabei stellen wir uns offen jeder Kritik an uns selbst. Wir Freie Demokraten haben über Jahre und Jahrzehnte hinweg gelernt, da nicht allzu empfindlich zu sein. Kritik an uns selbst, das sind wir gewohnt.

(Sven Wolf [SPD]: Wir auch!)

Aber jeglicher Gewalt – verbal oder nonverbal – stellen wir uns entschieden entgegen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Deswegen möchten wir alle Menschen und demokratischen Kräfte in Nordrhein-Westfalen ermuntern, für unsere freiheitliche Gesellschaft und für ein geordnetes, von gegenseitiger Achtung geprägtes Zusammenleben einzustehen.

Die Demokratie und unsere Verfassung ermöglichen es jedem Einzelnen, sein Leben so zu gestalten, wie er es für richtig hält. Diese freiheitliche Lebensform müssen wir vor Angriffen – egal aus welcher weltanschaulichen oder religiösen Richtung – beschützen.

Das tun wir nicht in erster Linie für den Staat. Wir tun es für uns selbst; für ein tolerantes, von humanistischen Idealen und Nächstenliebe motiviertes friedliches Zusammenleben. Lasst uns also die lebhafte demokratische Diskussion fördern. Lasst uns unser Land vorantreiben und besser machen.

Demokratie macht Spaß, wie wir es jüngst bei den Jugendlichen während des Jugendlandtags erlebt haben. Jeder kann und darf hier mitmachen. Lasst uns mit Argumenten streiten, einander gar überzeugen, aber lasst uns nicht dem Hass verfallen.

In unserem Land gibt es keinen Platz für Hetze und Gewalt, auch in Zukunft wird es den nicht geben – weder in unseren Herzen noch in unseren Köpfen.

(Beifall von der FDP, der CDU, Sven Wolf [SPD], Andreas Keith [AfD] und Roger Beckamp [AfD])

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Paul. – Es gibt eine Kurzintervention des Herrn Abgeordneten Seifen.

Helmut Seifen*) (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Paul, ich kann alles unterstützen, was Sie zum Extremismus gesagt haben.

Wir lehnen Extremismus – egal von welcher Seite – ganz entschieden ab. Wir verurteilen alles, was damit zu tun hat: beispielsweise die Verwendung von Symbolen aus dem kommunistischen oder dem nationalsozialistischen Arsenal, um damit zu protestieren. Davon distanzieren wir uns ganz entschieden.

(Zurufe – Gegenruf von Andreas Keith [AfD]: Was sollen wir denn noch machen?)

Diejenigen, die diesen Hass zeigen, sind dafür verantwortlich.

Ich muss Ihnen aber ehrlich sagen, dass vielleicht auch ein bisschen Selbstreflexion nötig wäre. Es gibt den lateinischen Spruch „Furor fit laesa saepius patientia“. Das heißt: Wut und Zorn entsteht, wenn Geduld lange genug mit Füßen getreten, verletzt wird.

(Zuruf)

– Ja, Entschuldigung. Das heißt, jemand, der Menschen so aufbringt, was ich nicht rechtfertige, muss sich überlegen, woran das liegt. Ich kann Ihnen sagt, woran das liegt: Die Nöte und Sorgen der Menschen werden erstens von den Regierenden und zweitens von den Medien nicht mehr aufgenommen.

Wenn die besorgten Bürger auf die Straße gehen, werden sie beschimpft und als Nazis deklariert, weil es leider Gottes auch ein paar Idioten gibt, die natürlich Anlass dazu geben.

Zweitens. Wir haben mittlerweile – das hat die Rede von Herrn Wolf gezeigt – eine Beschneidung der Meinungsfreiheit.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Zeit.

Helmut Seifen*) (AfD): Ich bin gleich fertig.

Drittens. Bezüglich der Ereignisse, Berichterstattung über Chemnitz war es katastrophal, dass die Bundeskanzlerin und der Regierungssprecher Dinge genannt haben, die nicht gewesen sind. Und das führt zu Misstrauen bei der Bevölkerung.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Seifen.

Helmut Seifen*) (AfD): Und wer für Misstrauen sorgt, ist verantwortlich. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Paul hat jetzt die Gelegenheit, wenn er möchte, zu antworten.

Stephen Paul*) (FDP): Sie erleben mich ähnlich ratlos wie, glaube ich, die meisten Kolleginnen und Kollegen im Saal. Wir haben gerade darüber gesprochen, dass wir uns alle darin einig sind, als Demokraten gegen Hetze, gegen Rassismus einzustehen. Sie haben das auch für Ihre Fraktion bestätigt.

Ich habe für uns Freie Demokraten betont, dass wir in unserer liberalen, auch nationalliberalen Tradition selber oft genug für große Ziele und wichtige Dinge in der Geschichte der liberalen Bewegung in Deutschland protestiert haben. Gerade unsere liberale Bewegung steht dafür, dass man auf die Straße gehen kann, dass man demonstrieren kann. Aber ich habe deutlich gemacht: Das darf nie dazu führen, dass jemand in einem Überschwang von Gefühlen zur Selbstjustiz greift und meint, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu müssen.

Wenn wir das zulassen – da sehe ich uns ja offensichtlich einig –, dann wird unsere Gesellschaft Schaden nehmen, dann wird sie sich verändern, da wird eine Gesellschaft von Hass, von Übergriffen entstehen, da wird es kein friedliches Zusammenleben mehr auf Straßen, in Quartieren, in Dörfern und Städten geben, eine Gesellschaft, in der wir, glaube ich, alle nicht leben wollen. Deswegen nehme ich da auch keinen Widerspruch wahr.

(Beifall von der FDP und der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Kollegin Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Ereignisse in Chemnitz haben uns alle schockiert: Bilder von Hass, rechtsradikalen Symbolen und Gesten bis hin zu Hetzjagden. Wir verurteilen diese gewalttätigen Ausschreitungen, denn Hass, Hetze und Gewalt sind ein Angriff auf uns alle als Demokratinnen und Demokraten und unsere demokratische Gesellschaft.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Viele Menschen in Chemnitz und in ganz Deutschland sind auch auf die Straße gegangen. Sie haben gezeigt, dass sie sich eben nicht vor den Karren rechtsextremer und rechtspopulistischer Instrumentalisierung spannen lassen wollen. Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Es darf aber nicht missbraucht werden, um genau gegen diesen Rechtsstaat Front zu machen.

Sehr geehrte Damen und Herren, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sind kein Ost-Problem. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, der wir uns gemeinsam stellen müssen. Deshalb wollen wir als Landtag von Nordrhein-Westfalen auch heute dieses gemeinsame Zeichen setzen, denn Politik darf nicht wegschauen, sie darf nicht relativieren, sondern sie muss entschlossen handeln, und sie muss Haltung zeigen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

„Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten!“ – so ist dieser Antrag überschrieben. Davon sind wir als Politikerin und Politiker ein Teil, aber eben auch nur ein Teil, denn unsere starke Demokratie in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland steht nicht zuletzt auf den starken Schultern einer starken Zivilgesellschaft, engagierten Männern und Frauen, die jeden Tag für unsere Demokratie eintreten, die jeden Tag für den Schutz von Minderheiten eintreten und die sich jeden Tag Hass und Hetze entgegenstellen. Auch für ihr Engagement bedanken wir uns.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Dieses Engagement müssen wir wertschätzen.

Unsere Demokratie kann auch Kontroversen aushalten, denn Meinungsvielfalt ist nicht zuletzt der Kern jeder Demokratie.

(Helmut Seifen [AfD]: Alles klar! Nur die richtige Meinung!)

Allerdings ziehen wir auch klare Grenzen, denn wir reden hier von einer wehrhaften Demokratie. Und die Grenzen der Meinungsfreiheit sind da erreicht und werden dann überschritten, wenn Menschen für ihr zivilgesellschaftliches Engagement bedroht werden, um sie einzuschüchtern, um sie mundtot zu machen ...

(Helmut Seifen [AfD]: Das sind ja wir! – Markus Wagner [AfD]: Wir werden bedroht!)

– Wenn Sie sich den Schuh anziehen wollen, ist das Ihr Problem, nicht meins. Das habe ich nicht gesagt.

(Beifall von den GRÜNEN)

… wenn bewusst Falschmeldungen in sozialen Netzwerken gestreut werden, um Stimmung gegen Minderheiten zu machen, wenn die Pressefreiheit durch Bedrohung, Beleidigung und Einschüchterung auf Journalistinnen und Journalisten infrage gestellt wird, und nicht zuletzt wird sie auch dann an Grenzen geführt, wenn im Plenum Debatten niedergebrüllt werden sollen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren, Demokratie ist aber auch keine einmalige Entscheidung, sondern sie ist ein Prozess, an dem wir alle gemeinsam jeden Tag mitarbeiten müssen, den wir alle täglich mitgestalten.

(Helmut Seifen [AfD]: Da haben Sie sogar recht!)

Und sie findet auch nicht nur im luftleeren Raum statt. Gerade wir in Deutschland haben eine historische Verantwortung, die Geschichte immer mit zu reflektieren und gemeinsam den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken,

(Markus Wagner [AfD]: Seite an Seite mit der DKP! Das ist Ihre Antwort!)

auch immer wieder ein klares Zeichen zu setzen gegen diejenigen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt infrage stellen und die diese Gesellschaft spalten wollen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU und der SPD)

Zukunft braucht Erinnerung. Zuweilen hat man leider den Eindruck, dass eine gewisse Geschichtsvergessenheit Einzug gehalten hat.

(Helmut Seifen [AfD]: DDR!)

Aber Zukunft braucht eben eine Erinnerung und eine starke Gesellschaft, die für unsere Demokratie einsteht. Und wir wollen heute von diesem Landtag hier das Zeichen setzen, dass wir für unsere starke, vielfältige Demokratie einstehen, dass wir für eine plurale Gesellschaft einstehen. Ich glaube – da bin ich ganz der Meinung der Kollegen –: Wir sind nicht nur mehr, sondern die Demokratinnen und Demokraten in diesem Land stehen für eine vielfältige Gesellschaft ein, und sie stehen für eine wehrhafte Demokratie ein.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Paul, ganz herzlichen Dank. Ich darf Sie noch mal zurück bitten. In allerletzter Sekunde, aber pünktlich, gab es am Ende Ihres Redebeitrags die Anmeldung einer Kurzintervention durch Herrn Kollegen Wagner von der AfD-Fraktion.

Markus Wagner (AfD): Frau Präsidentin, vielen Dank. – Frau Paul, Sie sprachen gerade von Verantwortung gegenüber der Gegenwart und der Geschichte. Die jüngere Geschichte hat uns gelehrt, welche katastrophalen Zustände der Kommunismus und der Sozialismus anrichten. Da stelle ich mir schon die Frage, warum Ihre Fraktionsvorsitzende Frau Düker im Nachgang zu Chemnitz hier vor dem Landtag bei einer Kundgebung spricht, an der organisatorisch und für jeden sichtbar auch die linksextreme DKP beteiligt ist.

(Michael Hübner [SPD]: Sie haben doch DKP-Leute in Ihren eigenen Reihen! – Zuruf von Berivan Aymaz [GRÜNE] – Unruhe – Glocke)

Ist das etwa Ihr Lernen aus der Geschichte?

(Zuruf von Berivan Aymaz [GRÜNE])

– Ja, Frau Aymaz. – Es gibt Fotos von dieser Kundgebung, Frau Düker, auf denen klar erkennbar ist, dass die linksextreme DKP da mitmarschiert.

(Michael Hübner [SPD]: Die haben Sie in Ihren eigenen Reihen! Hören Sie doch auf! Das ist doch lächerlich!)

Sie marschieren Seite an Seite mit den Kommunisten, angeblich zum Erhalt unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

(Beifall von der AfD – Unruhe – Glocke)

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Wagner, dazu kann ich Ihnen klar sagen: Nicht nur Frau Düker ist bei dieser Demonstration gewesen, sondern auch ich bin bei dieser Demonstration gewesen,

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

um ein klares Zeichen zu setzen gegen diejenigen, die auf der anderen Seite gestanden haben, wo auch Teile Ihrer Fraktion gestanden haben.

(Zurufe von der AfD – Unruhe – Glocke)

– Jetzt sind wir schon wieder beim Niederbrüllen, weil Sie nicht in der Lage sind, die Antwort entgegenzunehmen auf die Anschuldigungen, die Sie vorbringen. Das ist offensichtlich Ihr Niveau in der politischen Auseinandersetzung. Das finde ich undemokratisch.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das finde ich unwürdig in einem Hohen Haus, in dem es um Wort und Widerwort geht. Sie wollen eine Antwort von mir haben, oder besser: Sie wollen einfach irgendetwas unterstellen. Denn das ist offensichtlich der ganze Kern der politischen Auseinandersetzung, die Sie durch Ihre Kurzintervention hier die ganze Zeit dokumentieren.

(Markus Wagner [AfD]: Marschieren Sie Seite an Seite mit Kommunisten? Ja oder nein? – Gegenruf von Michael Hübner [SPD]: Die sind doch bei Ihnen in den eigenen Reihen! Das ist doch lächerlich!)

Sie wollen etwas in den Raum stellen, Sie wollen aber überhaupt nicht hören, was wir dazu zu sagen haben.

Ich könnte ja mal die Gegenfrage stellen. Diese Gegenfrage stelle ich jetzt auch: Wie beantworten Sie denn die Frage danach, dass Teile von Ihrer Fraktion Seite an Seite marschiert sind mit Pegida und mit anderen Rechtsextremen? Wie erklären Sie diesen Schulterschluss?

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Für die AfD-Fraktion spricht jetzt der Abgeordnete Beckamp.

Roger Beckamp (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie reden von Chemnitz. Das war also der Tag, an dem tobende Horden ein Trümmerfeld aus Blut und Angst hinterließen – „n-tv“. Das war der Tag, an dem sich ein Mob in Chemnitz in blinder Selbstjustiz übte – „Tagesspiegel“. Das war der Tag, an dem Hetzjagden stattfanden – Steffen Seibert, Angela Merkel –, ja, ein Pogrom – Jürgen Trittin.

Die Polizeibilanz des 26. August 2018 und damit die Bilanz über die wirklichen Ereignisse lesen sich deutlich anders: zwei leicht verletzte Beamte; ein Asylbewerber, der angab, ein Rechtsradikaler habe mit einer Bierflasche nach seinem Mobiltelefon geschlagen; ein Dutzend Ermittlungsverfahren wegen Zeigen des Hitlergrußes, einige wegen volksverhetzender Parolen und kleinerer Ausschreitungen gegen die Polizei.

Ohne Zweifel: Hitlergrüße, ausländerfeindliche Parolen, Attacken gegen Polizisten gehen nicht und müssen geahndet und bestraft werden.

(Beifall von der AfD)

Was aber vor allem ins Auge springt und was die ganze Debatte beherrscht hat, war die pauschale Verleumdung protestierender Bürger als rechtsextrem, Nazi und Ähnliches.

(Beifall von der AfD)

Damit sollte die berechtigte Trauer und die Empörung über die kriminellen Taten sogenannter Flüchtlinge in Chemnitz und woanders diffamiert werden.

Wenn aber vermummte Gestalten Polizisten mit Steinen, Fäkalien und Molotowcocktails bewerfen oder mit Zwillen beschießen – aktuelle Ereignisse lassen grüßen –, werden sie als Aktivisten, Ökorevolutionäre, Demokratiefreunde oder als Demonstranten gegen rechts bezeichnet. Wenn aber Bürger aus Protest gegen die als unerträglich empfundenen Zustände im Land auf die Straße gehen und Schilder mit Aufschriften wie „Wir sind das Volk“ und „Merkel muss weg“ mit sich führen, werden sie als brauner Mob, Nazis, Pack oder Rechtsextreme diffamiert.

In Ihrem Antrag schwingen noch die regierungsamtlichen Bezeichnungen „Zusammenrottungen“ und „Hetzjagden“ mit, die später relativiert werden mussten. Alles schon passé.

Der Regierungssprecher und seine Kanzlerin denunzierten Teile ihres eigenen Volkes – ein unerhörter Vorgang, und das alles auf Basis eines Kurzvideos von irgendeinem Antifa-Menschen, einem Videoausschnitt, dessen Anfang und Ende wir nicht kennen. Von den migrationssüchtigen Medien wurden diese Behauptungen sofort ungeprüft weiterverbreitet und fanden ihren Weg in die internationalen Leitmedien.

Anscheinend hat es in Chemnitz gar keine Hetzjagden gegeben. Es gibt sie aber jetzt auf die Chemnitzer Bürger, auf die Sachsen, auf die AfD, auf alle Leute, die offen Kritik äußern an der völlig verfehlten Migrationspolitik im Land.

(Beifall von der AfD)

Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch System. Der Bundespräsident, der Herr Steinmeier, empfiehlt ein Konzert gegen rechts – wir haben eben schon ein paar Zitate hören dürfen –, bei dem ganz offen und massiv gegen unsere Gesellschaft gehetzt wird – Ihr Lieblingswort: „Hetze“.

(Zuruf von Berivan Aymaz [GRÜNE])

Das ist ein furchtbares Wort, Frau Aymaz. Hören Sie doch mal zu. Ich freue mich, Sie als grüne Frau noch einmal ganz besonders anzusprechen. Bei diesem Konzert wurden nämlich bestimmte Dinge gesagt.

(Unruhe – Glocke)

Ich zitiere mit Erlaubnis von Frau Aymaz und der Präsidentin:

„Eva Herman sieht mich, denkt sich: „Was'n Deutscher!“ Und ich gebe ihr von hinten, wie ein Staffelläufer Ich fick sie grün und blau, wie mein Kunterbuntes Haus“

Ist das das Zitat, das Sie hören wollen? Ist das das Konzert gegen Hass? Hasserfüllte Parolen auf diesem Konzert präsidial empfohlen – und Sie finden das auch noch gut! Was sagen Sie zu so was, Frau Aymaz?

(Beifall von der AfD – Zuruf von Berivan Aymaz [GRÜNE])

– An dem Punkt bleiben Sie besser mal still! Ach ja, Frau Aymaz, das ist lustig, oder? Das ist Kunstfreiheit?

Aber was sagen Sie alle zu so was? – Das ist der Duktus auf diesem Konzert gewesen. Da heißt es: Wir sind mehr.

(Helmut Seifen [AfD]: Verkommen ist das! Verkommenheit!)

Ich hoffe, die sind bald viel weniger! Das wird der Fall sein.

Ohnehin fragt man sich: Warum gaben all diese Musikgruppen kein Konzert für sexuelle Selbstbestimmung nach der Kölner Silvesternacht? Warum gaben sie kein Konzert gegen Hass nach dem Terrorakt auf dem Breitscheidplatz? Warum kein Konzert nach dem Mord in Kandel?

Wo war da die Zivilgesellschaft? Wo waren Sie da?

(Markus Wagner [AfD]: Abgetaucht!)

Wo waren die Aufrufe von Herrn Steinmeier, Frau Merkel und Herrn Maas? Wo waren die Kulturschaffenden? Oder waren einfach deutsche Opfer die falschen Opfer? – Wohl schon in Ihren Augen.

(Beifall von der AfD)

Jetzt noch mal zu dem Themenbereich, der Sie immer, stets und ständig erfasst: Ihr Antrag nimmt die zurzeit in der Politik und vor allem in der SPD und in den Medien herrschende Hysterie vor einer angeblich drohenden Wiederkehr der braunen Herrschaft auf. Dazu hat ein Autor in der „Frankfurter Allgemeinen“ schon in den 80er-Jahren gesagt – Zitat –: Die politische Linke in der Bundesrepublik befindet sich mental im Deutschland des Jahres 1932.

Ich verrate Ihnen: Hitler ist tot. Aber, Herr Laschet, die Einflüsterer der Gruppen wie Islamischer Staat, Al-Qaida, Boko Haram, Taliban, DITIB und alle weiteren sind äußerst vital.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Roger Beckamp (AfD): Klug handelt, wer die neuen Feinde erkennt und entsprechend handelt. Das ist hier leider nicht der Fall. Insofern: Das ist Demokratie, was wir hier betreiben. Nicht die Demokratie muss Angst vor uns haben. Sie müssen Angst vor uns haben.

(Beifall von der AfD – Zuruf: Volksverräter!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Nach Herrn Abgeordneten Beckamp von der AfD-Fraktion hat jetzt für die Landesregierung Herr Ministerpräsident Laschet das Wort.

Armin Laschet, Ministerpräsident: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Tagesordnungspunkt „Demokratie braucht Demokraten!“ aufgesetzt wurde, habe ich gedacht, dass sich zumindest an diesem einen Tag alle Fraktionen dieses Landtags zu bestimmten Grundprinzipien bekennen könnten.

(Zurufe von der AfD – Gegenruf von der CDU: Hören Sie wenigstens einmal zu!)

Ich fange mit Ihrem letzten Punkt an. Man kann sicher über muslimische Verbände bei uns in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland diskutieren. Wenn man das aber so tut, wie Sie das gerade gemacht haben, nämlich einen Verband in Zusammenhang mit Al-Qaida und Boko Haram zu bringen, dann ist das genau das Spalterische, was bei den Menschen wieder Wut auslöst. Das ist nicht akzeptabel.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Bei den Liedern auf dem Konzert gefällt mir auch nicht jeder Text. Aber um diese Frage geht es hier doch gar nicht.

(Zuruf von der AfD: Doch! – Weitere Zurufe von der AfD)

Da wollten 65.000 Menschen sagen: Wir lassen das nicht zu, dass in unserer Stadt wieder Menschen mit dem Hitlergruß durch die Gegend laufen. – Das war die Botschaft, um die es ging!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Das wird auch in dem Antrag der Fraktionen deutlich: Er richtet sich gegen politischen Extremismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen jede Form politischer Gewalt.

Es ist sehr wichtig, das wahrzunehmen, was Menschen bei Demonstrationen artikulieren. Wir haben über Chemnitz gesprochen. Aber auch in Nordrhein-Westfalen sind Menschen in Essen, in Gelsenkirchen, in Köln zusammengekommen, um zu sagen: Wir wollen hier ein Zeichen setzen.

Ich füge hinzu: Auf Dauer reicht es für uns alle nicht, nur zu sagen: Nordrhein-Westfalen ist und bleibt ein Land des politischen Anstands. – Es reicht auch nicht, zu sagen: Wir haben es denen mal wieder gezeigt, wenn wir zu vielen Tausenden auf der Straße waren. – Es reicht leider auch nicht, zu sagen: Wir sind mehr. Ich teile das, was der Kollege Wolf hier vorgetragen hat. Indem wir immer nur sagen „Wir sind mehr“, verkennen wir aber die Aggression, mit der diese Minderheit auch medial versucht, alles zu dominieren.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Deshalb müssen wir etwas dafür tun, dass aus diesen wenigen, die auch bei Wahlen wenige sind, die aber verbal im Netz mehr zu sein scheinen, nicht wirklich mehr werden. Das geht auch uns etwas an.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Karl Arnold hat 1946 gesagt – da war die Menschheitskatastrophe des Nationalsozialismus gerade ein Jahr vorüber –:

„Wir müssen uns klar sein, die Demokratie kann nicht wie ein Arzneimittel von oben her verordnet werden, sie muss ausgehen und wachsen aus der politischen Gesinnung des einzelnen Staatsbürgers.“

Jetzt nehme ich mal das auf, was Sie eben vorgetragen haben, nämlich dass diese Proteste angeblich – ich sage: angeblich – daher stammen, dass die Menschen ungeduldig und mit irgendetwas unzufrieden seien und man dieser Unzufriedenheit Verständnis entgegenbringen müsste.

(Zuruf von der AfD: Genau!)

So war Ihre These.

Es mag sein, dass Menschen unzufrieden sind. Ich kenne nicht jede Befindlichkeit in Sachsen. Es ist jedenfalls nicht nur das Migrationsthema, das die Menschen bewegt, sondern das sind viele Themen. Auch bei uns in Nordrhein-Westfalen haben wir hohe Werte für Parteien, denen wir skeptisch gegenüberstehen. Wir müssen uns fragen: Was können wir dagegen machen?

Der Vorwurf an Ihre politische Fraktion ist folgender: Ich nehme einem Landtagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen, der sich, sobald er hört, dass dort ein Mensch ums Leben gekommen ist, auf den Weg nach Chemnitz macht und dort mit Pegida demonstriert, diese Unzufriedenheit nicht ab. Er will Hass schüren; das ist seine Absicht.

(Anhaltender Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und von Frank Neppe [fraktionslos])

Wer 600 km nach Chemnitz fährt, der ist kein besorgter Bürger der Stadt Chemnitz. Wir haben das Bild vor Augen, wer die Demonstranten waren. Wer zu dieser Demonstration geht und dort aufgereiht mit Herrn Höcke steht, der ist auch verantwortlich, wenn sich aus dieser Gruppe heraus nachher Trupps bilden, die an jüdischen Restaurants vorbeiziehen, diese attackieren am Tag danach ...

(Anhaltende Zurufe von der AfD)

– Was?

(Zurufe von der AfD: Unverschämt! – Weitere Zurufe – Unruhe)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Einen Augenblick, Herr Ministerpräsident.

Armin Laschet, Ministerpräsident: Diese Leute sind an jüdischen Restaurants vorbeigezogen. Ich habe die Bilder selbst gesehen: Menschen sind zu Hunderten durch die Straßen gelaufen und haben wörtlich gesagt: Nationalsozialismus – jetzt!

(Zurufe von der AfD)

Das sind keine besorgten Bürger! Mit denen lohnt kein Dialog!

(Lebhafter anhaltender Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Noch eine letzte Bemerkung. Wir haben immer eine klare Haltung gegenüber denen gehabt, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Das sind auch die DKP und in Teilen die Linken. Da gibt es Unterschiede, wie man das bewertet. Die Haltung war hier immer klar. Deshalb brauchen wir gar keine Belehrung, wer mit wem demonstriert.

Man muss in bestimmten Zeiten wissen: Was ist derzeit die größte Gefahr für unser Land? Ich habe an diesem Ort schon einmal zitiert, was der Reichskanzler Wirth einmal gesagt hat: „… dieser Feind steht rechts!“ Und das ist meine Meinung: In diesen Tagen, mit dieser Tonlage und mit dieser Aggression steht der Feind rechts. Das werden wir ganz klar benennen!

(Lebhafter anhaltender Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Frank Neppe [fraktionslos] – Zuruf: Bravo!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Zuerst vielen Dank, Herr Ministerpräsident. Darf ich Sie zurück ans Redepult bitten, weil es erstens …

(Zuruf von Ministerpräsidenten Armin Laschet)

– Sehr gut. Dann würde ich aber gern Ihr Einvernehmen erzielen wollen, weil ich Sie nicht unterbrechen konnte und auch nicht unterbrechen wollte, …

(Roger Beckamp [AfD]: Wir lassen auch gern …!)

– Sie haben jetzt gar nichts zu sagen, Herr Kollege Beckamp!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich wollte, da Sie eine Zwischenfrage stellen wollten, in Ihrem Sinne eben das Einvernehmen mit dem Ministerpräsidenten erzielen, ob er diese noch zulässt. Zum Zweiten möchte ich den Ministerpräsidenten darüber informieren, dass eine Kurzintervention von Herrn Abgeordneten Loose angemeldet ist.

Herr Loose, Ihnen wiederum möchte ich sagen, dass in diesem Raum nicht mehr in dieser Weise gebrüllt und dass Sie schon gar nicht auf den Tisch hauen, um das auch noch zu unterstützen. Sonst werden wir andere Maßnahmen ergreifen!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, darf ich erst die Zwischenfrage ...

Armin Laschet, Ministerpräsident: Die Rede ist beendet. Nach einer Rede gibt es keine Zwischenfrage mehr.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Gut, dann ist das …

(Roger Beckamp [AfD]: Die war nicht beendet!)

– Doch, die Rede war beendet.

Dann jetzt die Kurzintervention von Herrn Abgeordneten Loose. Der müsste sich allerdings eindrücken, damit ich ihm das Mikro freigeben kann. Bitte schön.

Christian Loose (AfD): Frau Präsidentin! Ich bin ein gerechtigkeitsliebender Mensch.

(Lachen von der SPD)

Und wenn jemand versucht, Leute zu diffamieren, dann rege ich mich darüber auf. Das ist eine Sache. Deswegen rege ich mich manchmal auch im Plenum auf, wenn jemand versucht, einen Zusammenhang herzustellen, wenn während oder nach einer AfD-Demonstration irgendwelche Aktionen gelaufen sind, so wie Sie das gerade gemacht haben, Herr Ministerpräsident.

Die Gegendemonstration wurde angemeldet unter dem Titel „Herz statt Hetze“. Damit haben Sie das Land gespalten; denn Sie sagen: Wir sind das Herz, und ihr seid die Hetzer.

(Beifall von der AfD – Zurufe)

Sie haben damit die Menschen in Chemnitz zutiefst beleidigt und eine Riesengruppe diffamiert.

Im Bundeslagebericht „Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“ wurden im letzten Jahr 51 Tote durch Asylbewerber erfasst – das ist praktisch jede Woche einer, außer Weihnachten. Irgendwann reißt den Menschen der Geduldsfaden. In Chemnitz wurde ein Deutsch-Kubaner, also ein Migrant, getötet, und die Menschen sind auf die Straße gegangen, um zu trauern. Das jetzt hier in dieser Form zu diffamieren,

(Volkan Baran [SPD]: Das war aber kein Deutscher!)

ist nicht angemessen für die aktuelle Lage in Deutschland.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Ministerpräsident, Sie können, Sie müssen aber nicht im Rahmen der Kurzintervention antworten.

(Zuruf von Ministerpräsident Armin Laschet)

– Okay. – Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am Ende der Aussprache zu Tagesordnungspunkt 2, der – das will ich noch mal in Erinnerung rufen – den Titel trägt „Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten! Wehrhafte Demokratie mit Leben füllen.“

Wir kommen erstens zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/3581. Wie Sie wissen, haben die antragstellenden Fraktionen direkte Abstimmung beantragt. Wer also dem Antrag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das sind die antragstellenden Fraktionen CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die AfD-Fraktion. Die Enthaltungen sind demzufolge bei den drei fraktionslosen Abgeordneten. Damit ist mit der festgestellten Mehrheit der eben zur Abstimmung stehende Antrag angenommen worden.

Wir kommen zweitens zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der AfD Drucksache 17/3695. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das ist die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Das sind CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die drei fraktionslosen Abgeordneten haben sich enthalten. Damit ist der Entschließungsantrag der Fraktion der AfD abgelehnt, und wir sind am Ende von Tagesordnungspunkt 2.

Ich rufe auf:

3  Geschönte Statistiken oder Steuergeldverschwendung? – Wie hoch ist die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche und deren finanzielle Auswirkungen auf das Land NRW tatsächlich?

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3591

Wie Sie sehen, eröffne ich die Aussprache, indem Herr Dr. Vincentz für den Antragsteller das Wort hat.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht genehmigen Sie mir, während Sie alle den Raum verlassen, noch ein paar Worte vorweg. Ich bin wirklich erschrocken darüber, wie der Umgang allseitig hier im Parlament stattfindet.

(Lachen von der SPD)

– Begegnen Sie dem gerne mit Häme.

(Karl Schultheis [SPD]: Das ist keine Häme!)

Ich sagte extra: „allseitig stattfindet“.

(Zurufe)

Ich glaube, die Zeit der deutlichen Worte – bitte hören Sie mir doch einmal zu – ist an diesem Punkt der Polarisierung der Gesellschaft deutlich überschritten. Ich glaube nicht, dass Sie mit diesen lauten Tönen die Polarisierung wieder zurücknehmen können.

(Frank Müller [SPD]: Vielleicht besprechen Sie das mal mit Ihrer eigenen Fraktion, bevor Sie sich aufregen!)

Vielleicht ist jetzt wirklich die Zeit der leisen und nachdenklichen Töne, um die Gesellschaft irgendwie wieder zusammenzuführen. Deswegen bedanke ich mich ausdrücklich bei allen, die es bei diesem relativ emotionalen Tagesordnungspunkt geschafft haben,

(Frank Müller [SPD]: Sie sitzen doch neben dem Kollegen Loose!)

bei Zimmertemperatur zu sprechen.

(Zuruf von der SPD)

Ich habe wirklich die starke Befürchtung, dass die Demokratie wieder zugrunde gehen könnte, wie sie das letzte Mal zugrunde gegangen ist, und zwar unter tosendem Applaus.

Jetzt möchte ich einen Punkt mit Ihnen besprechen, der sicherlich auch zu einem der emotionalsten und kontroversesten Themen in der Politik zählt. Ich möchte explizit darauf hinweisen, dass es mir an dieser Stelle nicht darum geht, das Für und Wider von Abtreibungen zu diskutieren, sondern ich möchte die ureigene Eigenschaft der Opposition aufgreifen, und zwar die Regierung in dem zu kontrollieren, was sie tut.

Mir sind einige interessante Ungereimtheiten in den offiziellen Statistiken aufgefallen, die an dieser Stelle diskutiert werden müssen, um so die spätere Diskussion auf eine vernünftige Grundlage zu hieven. Dafür muss ich ein wenig ausholen.

Die Bundesrepublik und damit das Land NRW übernehmen bei einkommensschwachen Frauen die Kosten für eine Abtreibung. Das ist nachvollziehbar. In einer Kleinen Anfrage wollte ich wissen, wie hoch die finanziellen Auswirkungen für das Land NRW denn nun sind.

Dabei stellte sich heraus, dass beinahe in jedem Jahr der geführten Statistik die Zahl der übernommenen Schwangerschaftsabbrüche die Zahlen in den offiziellen Abbruchstatistiken überstieg. Noch einmal im Klartext: Das Land NRW übernimmt Kosten für mehr Abbrüche, als laut Statistik pro Jahr überhaupt vorgenommen werden. Dabei ist doch anzunehmen, dass nicht nur einkommensschwache Frauen abtreiben, obgleich allein ihre Zahl schon die offiziellen Statistiken übersteigt.

Hinzukommen müssten doch zumindest noch die Aborte mit kriminologischer Indikation, Aborte mit medizinischer Indikation und natürlich alle Aborte von Frauen, die über ein Einkommen von mehr als 1.001 Euro verfügen, und das sind – die letzten Statistiken weisen das aus – über 50 % der Frauen. Vom Ministerium wurden als Gründe für mögliche Verzerrungen der Zahlen Abrechnungsfehler oder Wohnsitzverschiebungen angegeben. Das wurde von uns wissenschaftlich überprüft, und wir haben festgestellt: Beides trifft schlicht nicht zu. Es gibt also exakt fünf Möglichkeiten für das Zustandekommen der Zahlen, und jede birgt für sich ein Skandalpotenzial.

Erstens. Die Kassen rechnen möglicherweise deutlich mehr Abtreibungen mit dem Land ab, als vorgenommen werden. In dem Fall wäre das ein gewaltiger Fall von Sozialbetrug. Bitte überlegen Sie sich, was das bedeutet.

Zweitens. Die Ärzte kommen ihrer Pflicht, die Aborte zu melden, nicht nach. In diesem Fall hat es die Regierung über Jahre hinweg verschlafen, mit Nachdruck für belastbare Zahlen zu sorgen.

Drittens. Jede Frau, die eine Abtreibung vornimmt, gibt sich als sozial benachteiligt und einkommensschwach aus. Auch in diesem Fall erfüllt das Land seine Kontrollpflicht nicht und verschwendet massiv Steuergelder.

Viertens. Die Zahlen stimmen, wie angegeben, und die vom Ministerium zur Verfügung gestellten Erklärungen reichen irgendwie aus, um zumindest die Zahlen der Abtreibungen in der Statistik mit der Zahl der bezahlten Abtreibungen übereinzubringen. In dem Fall hätten wir einen Sozialskandal noch nie dagewesener Größe; denn dann gäben die Zahlen her, dass quasi nur sozialschwache Frauen abtreiben würden. Stellen Sie sich einmal vor, in was für einem Land wir leben würden, in dem alle Abtreibungen nur für sozial schwache Frauen vorgenommen werden!

Fünftens. Bei den Abtreibungsstatistiken wird gezielt mit einem sehr schlanken Fuß gerechnet, und man führt nicht die Gesamtzahl der übernommenen Abtreibungen auf, geschweige denn die Zahl der kriminologischen Aborte, der medizinischen Aborte, der Aborte, die im Ausland vorgenommen werden und über die beispielsweise die Niederlande Statistiken führen. Die könnte man ja abrufen und mit in die Statistik aufnehmen.

Wirft man einen einen Blick ins europäische Ausland, dann stellt man fest, dass die letzte These deutlich untermauert wird. Das scheint die wahrscheinlichste These zu sein. Während in Deutschland offizielle Zahlen ca. 4 Abtreibungen auf 1.000 Frauen im Alter zwischen 12 und 55 ausweisen, sind es beispielsweise in den Niederlanden 7,5, in Belgien 8,4, in der Schweiz 7, in Luxemburg sogar 37, in Dänemark 13, in Schweden 13, in Norwegen 9, in Großbritannien 15, in Frankreich 12, in Ungarn 15, in Bulgarien 12, in Rumänien 12 und in Island 14.

Diese Länder haben teils sehr unterschiedliche Regeln für Abtreibungen. Einige, wie die Niederlande, sind deutlich liberaler als wir, andere deutlich strenger. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Die Abtreibungszahlen liegen deutlich über unseren. Ist das möglich? – Es ist so vieles möglich. Ist das wahrscheinlich? – Überhaupt nicht.

73 % der Länder der Europäischen Union haben eine Fristenregelung, vergleichbar mit der von Deutschland, also ein ähnliches System. Frankreich beispielsweise ist da sehr vergleichbar. Wie ist es zu erklären, dass bei unseren Nachbarn die Zahlen der Abtreibungen dreimal höher liegen als bei uns? Oder erfassen wir die Zahlen einfach denkbar schlecht?

Diese Erklärung liegt nahe; denn das Bundesverfassungsgericht – und jetzt wird es spannend – hat zuletzt festgelegt, dass in Deutschland Abtreibungen nur dann weiter straffrei bleiben, wenn nachzuweisen ist, dass die Aufklärungskampagnen greifen und die Zahl der Abtreibungen weiter sinkt oder zumindest konstant niedrig bleibt. Also sinken die Zahlen seit Jahren kontinuierlich, ganz entgegen den europäischen Trends. In unseren Nachbarländern bleiben die Zahlen zumindest konstant hoch, zum Teil sind sie weiter gestiegen. Ist das möglich? – Wie gesagt, möglich ist vieles.

Die Landesregierung sollte allerdings in erster Linie schnell daran arbeiten, dass uns Zahlen zur Verfügung stehen, die valide sind, sodass wir überhaupt auf einer vernünftigen Grundlage weiter diskutieren können. Die vorliegenden Zahlen sind es nämlich aus den genannten Gründen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Im Übrigen sind Abtreibungen auch weiterhin gesetzlich im Abschnitt „Straftaten gegen das Leben“ geregelt und nicht im medizinischen Leistungskatalog – nur, um das einzuordnen. Es sind keine Kleinigkeiten, über die wir sprechen.

Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Vincentz.

Für die CDU-Fraktion spricht die Kollegin Wendland.

Simone Wendland (CDU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe zu, die Vorbereitung dieser Rede ist mir sehr schwergefallen: Ich habe mir das Bundestagswahlprogramm der AfD vorgenommen; denn ich wollte wissen, was Sie dort zum Thema „Schwangerschaftsabbrüche und Schutz des ungeborenen Lebens“ sagen. Dort geht es Ihnen – wenig überraschend nach dieser Vorrede – unter der Überschrift „Schutz des ungeborenen Lebens“ vor allen Dingen darum, die Meldepflicht für Schwangerschaftsabbrüche zu verschärfen.

Hier im Landtag von Nordrhein-Westfalen haben Sie vor einigen Wochen eine Anfrage zu den statistischen Zahlen über Schwangerschaftsabbrüche gestellt, und auch Ihr heutiger Antrag konzentriert sich vor allen Dingen auf Fragen der Statistik. Man könnte es auch so sagen: Während das Thema „Schwangerschaftsabbrüche“ für uns ein sehr kompliziertes gesellschaftliches, soziales, verfassungsrechtliches, emotionales und vor allen Dingen ein menschliches Thema ist, ist es für Sie vor allen Dingen eine Frage von Zahlen.

Das passt konsequent dazu, wie Sie auch an anderer Stelle über Menschen reden, die sich in besonders schwierigen Lebenslagen befinden. Da geht es auch immer nur um Zahlen.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin Wendland, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Herr Dr. Vincentz würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Simone Wendland (CDU): Möchte ich im Moment nicht!

Für die CDU geht es um die Menschen in diesem Land. Dabei ist der Schutz des ungeborenen Lebens für uns ein ganz wichtiges Thema. Deshalb haben wir uns ganz aktuell – Sie erinnern sich – gegen eine vollständige Abschaffung des Werbeverbots im Strafgesetzbuch gewehrt. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist ein hohes Gut unserer Gesellschaft und richtigerweise auch essentieller Bestandteil unserer Verfassung.

Gleichwohl wissen alle, die sich dem Schutz des ungeborenen Lebens in besonderer Weise verpflichtet fühlen – so auch das Bundesverfassungsgericht –, um die schwierige Situation von Frauen, die sich in einem Schwangerschaftskonflikt befinden. Ein Schwangerschaftskonflikt ist nicht einfach ein bloßer Gewissenskonflikt. Es geht natürlich und zunächst vor allem um die höchstpersönliche Frage, ob eine Frau ihre Schwangerschaft beenden will und damit ungeborenes Leben tötet und mit dieser Entscheidung später weiterleben kann und muss. Damit verbunden sind weitere Konflikte.

Bei dieser Entscheidung geht es um ethische, religiöse, soziale, familiäre, wirtschaftliche und berufliche Aspekte. Jeder dieser Konflikte ist für sich genommen tiefgreifend und existenziell. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass es sich keine einzige Frau, die sich in dieser Lebenssituation befindet, mit dieser Entscheidung irgendwie leicht macht. Sie wird sehr mit sich ringen, bevor sie diese Entscheidung trifft.

Es ist richtig, dass das Bundesverfassungsgericht und der Gesetzgeber es Frauen, die vor dieser Entscheidung stehen, ebenfalls nicht leicht machen. Die Beratungspflicht soll schließlich gewährleisten, dass jede Frau genau weiß, was sie tut und unter welchen Rahmenbedingungen sie ihre Entscheidung trifft.

Ebenso richtig ist es, dass wir im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden alles dafür tun, den Frauen das „Ja“ zum Leben zu erleichtern, indem wir beispielsweise Betreuungsangebote ausbauen, die gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit familienfreundlicher gestalten oder Familien finanziell fördern.

Ihr Antrag geht an diesen Themen völlig vorbei. Für Sie sind die Unterschiede zwischen der Zahl der gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche und den vom Land finanzierten Schwangerschaftsabbrüchen ein Thema, obwohl sie sich im Promillebereich bewegen und zudem auch noch relativ leicht – zum Beispiel durch jahresübergreifende Abrechnungszeiträume – zu erklären sind.

Sie mutmaßen lieber, die Statistiken seien „fragwürdig“, „bedenklich“ oder gar „geschönt“. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Eine Statistik, in der auch nur eine Abtreibung, einen Schwangerschaftsabbruch erfasst ist, ist niemals eine „schöne“ Statistik.

(Beifall von der CDU)

Sie monieren, dass das Land quasi alle Schwangerschaftsabbrüche finanziert. Auch das zeigt in meinen Augen Ihr fehlendes Verständnis für Menschliches. Es war der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers, dass eine Frau, die sich nach Abwägung aller Gründe und der vorgeschriebenen Beratung in ihrer persönlichen Konfliktsituation zum Schwangerschaftsabbruch entschieden hat, diesen auch vornehmen kann und nicht aus finanziellen Gründen gezwungen ist, das Kind auszutragen. Das ist auch richtig; denn von uns will keiner, dass Abtreibungen aus Kostengründen von irgendwelchen Kurpfuschern in dunklen Hinterzimmern vorgenommen werden.

Es war der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers und im Übrigen auch des Bundesverfassungsgerichts, dass es den betroffenen Frauen, die eine solche Entscheidung treffen mussten und getroffen haben, möglichst leicht gemacht wird, die Finanzierung zu erlangen. Deshalb gibt es auch das System, dass die Frauen die Kostenübernahme bei der Krankenkasse, mit der sie ohnehin Kontakt aufnehmen müssen, beantragen, und die Krankenkassen die Kostenübernahmeanträge an das Land weiterleiten.

Der Antragsweg ist für die Frauen möglichst einfach und zeitsparend zu gestalten – zeitsparend, weil Abtreibungen nach dem Willen des Gesetzgebers möglichst früh vorgenommen werden sollen, wenn sie denn vorgenommen werden müssen, und einfach vor allem auch aus Respekt vor der außerordentlich schwierigen und belastenden Entscheidung einer Frau in einer sehr schwierigen konflikthaften Situation. Sie will man nicht noch durch einen mit vielen Formularen und Nachweisen gepflasterten Weg durch ein Behördenlabyrinth schicken.

(Zuruf von der AfD)

Diesen Respekt vermisse ich in Ihrem Antrag.

(Zuruf von der AfD)

Sie reduzieren eine persönliche Entscheidung in einer Situation, die hinsichtlich ihrer Komplexität und ihrer Konfliktfähigkeit wohl einmalig sein dürfte, auf statistische Fragen und auf ein Haushaltsproblem. Das finde ich frauenfeindlich und menschenfeindlich.

(Zuruf von der AfD)

Damit werden Sie weder der Situation von Frauen in Schwangerschaftskonflikten noch dem Anspruch, möglichst alles für den Schutz des ungeborenen Lebens tun zu wollen, gerecht.

Der Antrag wird überwiesen, und wir werden darüber in der Sache sicherlich noch weiter diskutieren. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Wendland. Sie haben die Signalleuchte gesehen; es gibt eine angemeldete Kurzintervention. Ich sehe aber auch, dass es von dem Abgeordneten Röckemann noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage gibt. Auch hier steht es Ihnen frei, ob Sie diese zulassen oder nicht.

Simone Wendland (CDU): Die Zwischenfrage lasse ich nicht zu. Ich habe ja gesagt: Wir diskutieren in den Ausschüssen weiter. – Aber die Kurzintervention …

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Die Kurzintervention ist selbstverständlich auch angemeldet. Das Wort hat Herr Dr. Vincentz. Wenn er sich freundlicherweise einmal kurz eindrücken würde … – Ah, Sie sitzen auf dem Platz von Herrn Röckemann. Okay. Gut, dann probieren wir es einmal.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Vielen Dank. – Frau Kollegin Wendland, vielleicht räumen Sie mir, als anderem Politiker in diesem Parlament, ein, dass Sie nicht über meine Gefühle zu diesen Themen zu bestimmen haben und ich zu diesem Thema vielleicht auch Gefühle habe, die Sie nicht einfach vom Rednerpult aus negieren können. Das wäre menschlich schon einmal ganz gut.

Sie als regierungstragende Fraktion, werfen mir tatsächlich vor, dass ich meiner Aufgabe als Oppositionspolitiker nachkomme und die offiziellen Zahlen zu diesem sehr sensiblen Thema – und ich habe es extra so ausformuliert – überprüfe und infrage stelle, obgleich Ihr eigener Kollege aus der CDU-Bundes­tagsfraktion, Hubert Hüppe, eine ähnliche Anfrage bereits 2005 im Bundestag stellte und über ähnliche Verwerfungen stolperte wie ich.

Ich frage Sie deshalb an dieser Stelle: Wie bitte begegnen Sie Ihrem Kollegen Hüppe? Wie bitte begegnen Sie dem CDU-Kreis, der hinter ihm steht und genau die gleiche Diskussion führt? Wie bitte begegnen Sie allen Demokratinnen und Demokraten, die ein Recht darauf haben, die Regierung zu kontrollieren, und die ein Recht darauf haben, von der Regierung belastbare Zahlen zu erhalten, um dieser Aufgabe gerecht zu werden?

(Beifall von der AfD – Dr. Martin Vincentz [AfD] hebt bei den Wörtern „gerecht zu werden“ die Stimme. – Zuruf von der SPD: Wuff, wuff, wuff!)

Simone Wendland (CDU): Herr Dr. Vincentz, die Präsidentin hat es eben schon einmal gesagt: Wir brauchen in diesem Plenum nicht zu schreien. – Meine Oma sagte immer: Wer schreit, hat unrecht. Man könnte auch sagen: Das ist undemokratisch.

Wenn wir über dieses Thema sprechen, tun wir das in den Ausschüssen; darum wird der Antrag auch überwiesen. Wenn es aber nur nach mir ginge und wir jetzt entscheiden könnten, wüsste ich, was ich täte: Ich würde Ihren Antrag nämlich ablehnen, weil es bei Ihnen wirklich nur um die Zahlen geht.

(Zuruf von der AfD)

Dieses Thema können Sie inhaltlich nicht entkoppeln.

(Zurufe von der AfD)

Wenn ich aber abstimme, weiß ich schon, wie es ausgeht, denn: „Wir sind mehr“. – Danke.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Wendland. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der SPD Frau Abgeordnete Lück das Wort.

Bevor ich aber der Kollegin das Wort gebe, möchte ich Besucher unseres Parlaments herzlich willkommen heißen. Ich darf aus dem Fürstentum Liechtenstein den Regierungschef Adrian Hasler, Ihre Exzellenz Frau Botschafterin Frommelt-Gottschald und Herrn Generalsekretär Markus Biedermann herzlich begrüßen. Herzlich willkommen hier bei uns im Landesparlament!

(Allgemeiner Beifall)

Bitte schön, Frau Kollegin Lück, Sie haben das Wort.

Angela Lück (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Lesen dieses Antrags kamen mir gleich mehrere Fragen in den Sinn: Wieso interessiert sich eigentlich die sogenannte Alternative für Deutschland seit Neuestem für Schwangerschaftsabbrüche? Wieso stehen unter diesem Antrag eigentlich nur Männernamen? Wollten die Kolleginnen so einen fadenscheinigen Antrag nicht mit unterschreiben oder wurden sie erst gar nicht gefragt?

(Beifall von der SPD – Zuruf von der AfD)

Besonders pikant ist: Wieso fragt die sogenannte AfD in einer Kleinen Anfrage – Sie erwähnten sie bereits, Herr Dr. Vincentz –, die fast wortgleich mit diesem Antrag hier heute ist, explizit nach Schwangerschaftsabbrüchen von Asylbewerberinnen? Sollte da wieder einmal das übliche Thema gegeigt werden? – Nur, dass das diesmal wirklich nicht passt. Die Antwort darauf kann ich Ihnen auch gleich geben: In meinen Augen ist die AfD eine rückwärtsgewandte, marktradikale, frauen- und fremdenfeindliche und nicht zuletzt rassistische Partei,

(Beifall von der SPD – Zurufe von der AfD)

die versucht, ihre altbackenen und vergifteten Themen hier durch die Hintertür zu platzieren.

(Zuruf von Markus Wagner [AfD])

Um den genannten Antrag geht es natürlich nur vordergründig. Auch wenn Sie Ihr Petitum noch einmal deutlich gemacht haben, Herr Dr. Vincentz, war es nicht glaubwürdig. Es geht hier um mehr Transparenz und eine Verbesserung der Statistiken – wer es glaubt. Eigentlich zielt der Antrag darauf ab, eine überflüssige Diskussion über das Thema Schwangerschaftsabbrüche einzuleiten.

(Zuruf von der AfD: Ja, genau!)

Ziel ist es natürlich, die Rechte der betroffenen Frauen und ihre Selbstbestimmung einzuschränken. Was für ein platter und geistloser Versuch! Die Selbstbestimmung von Frauen ist ein hohes Gut, welches über lange Zeit für viele Frauen ein großes Thema war und wofür sie mutig gekämpft haben.

(Zuruf von Iris Dworeck-Danielowski [AfD])

Wir Frauen sind es ein für alle Mal leid, dass Männer über unsere Körper, unsere Gesundheit und unser Leben bestimmen und reden,

(Beifall von der SPD)

als seien wir nur stumme Objekte, die es zu verwalten gilt.

(Zuruf von der AfD: Darum geht es doch gar nicht!)

Wir schauen hier auf Jahrhunderte der Auseinandersetzung, die uns an den heutigen Punkt gebracht haben, an dem wir Frauen zwar auf dem Papier endlich gleiche Rechte haben, was aber immer noch nicht die Realität ist –

(Zuruf von der AfD: Oh! – Zuruf von der AfD: Ich weine gleich!)

selbst wenn die Möglichkeiten zur Abtreibung in unserem Lande, verständlicherweise sehr eingeschränkt und unter strengen Auflagen, gegeben sind. Dafür haben Generationen von Frauen und Politikerinnen gestritten, zuletzt nach der Wende, als es darum ging, die Regeln von Ost und West aneinander anzupassen. Aber dieses Fass, diesen Diskurs wollen und können wir nicht wieder aufmachen – schon gar nicht mit Ihnen.

Was Ihre Rechnung mit den Fallzahlen betrifft, Herr Dr. Vincentz: Sosehr Sie es auch bedauern mögen, NRW ist nun einmal das größte Bundesland, und da ist es kaum verwunderlich, dass bei uns die meisten Schwangerschaftsabbrüche stattfinden.

(Zuruf von Dr. Martin Vincentz [AfD])

Die Abweichungen in der Statistik, die Sie anprangern, werden in der Kleinen Anfrage erklärt. Das haben Sie in Ihrem Antrag wohlweislich nicht erwähnt. Wir werden es nicht zulassen, dass Frauen durch Abtreibungen wieder kriminalisiert werden. Wir werden es nicht zulassen, dass Frauen in eine ungewollte Schwangerschaft gezwungen werden, nur weil sie den Arzt nicht bezahlen können.

Es gibt hier keinen Skandal, und es gibt hier nichts zu besprechen. Der Antrag ist daher fachlich und politisch abzulehnen. Ich bedaure, dass dieser Antrag in den Arbeits- und Gesundheitsausschuss überwiesen werden soll. Er ist es eigentlich nicht wert, dass sich weitere Gremien dieses Parlaments mit ihm befassen. Ich beuge mich allerdings der Tradition des Hohen Hauses und werde dieser Überweisung zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Lück. Sie haben gesehen, dass es den Wunsch nach einer Kurzintervention gibt, angemeldet von Herrn Dr. Vincentz von der AfD-Fraktion – der jetzt auch das Wort erhält. Bitte schön.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Sehr geehrte Frau Kollegin! Dieses Thema ist – ich sagte es extra – ein sehr sensibles Thema, ich kann das gerne noch beliebig oft wiederholen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu geäußert und legt mit dem Untermaßgebot fest, dass gewisse Dinge eben nicht zu verhandeln sind. Wenn wir darüber sprechen, dann ist es vielleicht ein längst überfälliger und notwendiger gesellschaftlicher Dialog, in den wir da treten müssen.

Sich die Statistiken schönzurechnen, ist kein Weg, damit umzugehen. Ein richtiger Weg wäre es – wenn Sie davon überzeugt sind, dass eine gesellschaftliche Mehrheit dafür gibt, die dieses bestehende Recht unterstützt –, das anzusprechen und miteinander auszudiskutieren und dann auf demokratischem Wege festzulegen, dass diese Gesetze erneuert und den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden müssen.

Ein anderes: Sie führten aus, dass mir die Zahlen von der Landesregierung gegeben worden seien; es gebe unter Umständen Verschiebungseffekte zwischen den Jahren. Wie erklären Sie denn dann bitte schön, dass wir in den Jahren unter anderem ein Plus von 295 zu viel bezahlten Abtreibungen haben? Und: 2.423, 3.860, 2.132, 617 – alles mehr Abtreibungen in aufeinanderfolgenden Jahren, die bezahlt wurden, als laut Statistik durchgeführt wurden. Da gab es keine Jahresverschiebungen. Das sind Zahlen, die nicht erklärbar sind.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin Lück, Sie haben für 90 Sekunden die Gelegenheit, zu erwidern.

Angela Lück (SPD): Herr Dr. Vincentz, ich möchte da an den Redebeitrag der Kollegin Wendland von der CDU anschließen und Ihnen noch einmal deutlich machen: Jeder Schwangerschaftsabbruch hat eine große Geschichte, und es ist keine gute Geschichte für die betroffene Frau. Dies hier als Thema zu nehmen und lediglich auf den Kosten und den Statistiken herumzureiten, finde ich dem Thema nicht angemessen.

(Beifall von der SPD – Markus Wagner [AfD]: Urteil des Bundesverfassungsgerichts! – Zuruf von Dr. Martin Vincentz [AfD])

Weil Sie aber gesagt haben, Sie hätten eine wissenschaftliche Erkenntnis neu gewonnen – nachdem Sie die Antwort auf Ihre Anfrage bekommen haben, werden wir sicherlich im Ausschuss das Vergnügen haben, darüber weiter zu diskutieren.

(Beifall von der SPD – Zurufe von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Lück. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der FDP Frau Abgeordnete Schneider das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Susanne Schneider (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nur wenige Debatten haben die Bundesrepublik über Jahrzehnte so emotional bewegt wie die über die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. Der Konflikt zwischen der Notsituation der ungewollt schwangeren Frau, die aus ihrer eigenen Entscheidung heraus die Schwangerschaft nicht fortsetzen möchte, einerseits und dem Schutz des ungeborenen Lebens andererseits war dabei der Kernpunkt.

Diesen Konflikt können wir nicht lösen, sondern nur rechtlich eingrenzen. So wurde im Zusammenspiel zwischen dem Bundestag als Gesetzgeber und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis 1995 eine Regelung gefunden, die von der überwiegenden Mehrheit unserer Gesellschaft akzeptiert wird.

Demnach ist ein Abbruch einer Schwangerschaft grundsätzlich strafbar. Allerdings kann er straffrei sein, wenn bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden. Dazu zählen nach § 218a des Strafgesetzbuchs eine Beratung, die in der Konfliktlage der Schwangeren den Schutz des ungeborenen Lebens berücksichtigt, eine Frist von zwölf Wochen nach der Empfängnis sowie eine ärztliche Vornahme des Abbruchs.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, bei der AfD sehe ich aber deutliche Tendenzen, diese Regelung wieder infrage zu stellen. Sie setzen am Ende nicht auf die selbstbestimmte Entscheidung der ungewollt schwangeren Frau nach einer Beratung, sondern auf mehr Regulierung und Kontrolle.

Im vorliegenden Antrag verknüpfen Sie Ihre generelle Kritik an Abtreibungen mit der Forderung, die statistische Erfassung und Kostenübernahme strenger zu reglementieren.

Wir halten es jedoch nicht für sinnvoll, wenn eine Kostenübernahme daran gebunden sein soll, dass der Eingriff auch im jeweiligen Bundesland stattfindet. Warum sollte zum Beispiel eine Frau aus dem Kreis Steinfurt einen Schwangerschaftsabbruch nicht auch in Osnabrück durchführen lassen?

Wir erleben, dass viele Ärztinnen und Ärzte, die einen Abbruch durchführen, in den Ruhestand gehen. Dann wird es für die betroffenen Frauen künftig noch schwieriger, innerhalb der zulässigen Zeit einen Arzttermin zu erhalten. Da sollte der Weg in ein benachbartes Bundesland nicht ausgeschlossen werden.

Wer die hohen Zahlen der Kostenübernahmen bei Schwangerschaftsabbrüchen kritisiert, sollte aber auch mögliche Gründe beleuchten. Eine Frau hat Anspruch auf Leistungen bei einem rechtswidrigen, aber straffreien Schwangerschaftsabbruch, wenn ihr das Aufbringen der Mittel nicht zuzumuten ist. Diese Leistungen werden auf Antrag als Sachleistungen der Krankenkasse gewährt. Die entstandenen Kosten werden dann später von den Bundesländern erstattet.

Dabei ist das Persönlichkeitsrecht der Frau unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Schwangerschaft zu beachten. So sieht es das Schwangerschaftskonfliktgesetz des Bundes vor.

Der letztgenannte Punkt impliziert, dass in der Konfliktsituation der ungewollt schwangeren Frau eine möglichst unbürokratische Ausgestaltung des Verfahrens angezeigt ist. Eine umfangreiche Prüfung von Anträgen mit Nachweisen über sämtliche Einkünfte, vergleichbar mit einer Steuererklärung, würde dem widersprechen. Zudem ist der Zeitraum für Antragsprüfung und Erklärung der Kostenübernahme knapp bemessen, da diese vor dem Eingriff erfolgen muss.

Ein weiterer Aspekt ist die Trennung von Kostenträger und Leistungsstelle. Einerseits ist es praktikabel, dass die Krankenkasse Sachleistungen gewährt und so eine einfache Abrechnung mit Ärzten und Kliniken möglich ist. Andererseits dürfen Leistungen nur bei nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen zulasten der Versichertengemeinschaft erbracht werden.

Deshalb wurde das Verfahren einer Leistungsgewährung durch die Krankenkassen mit Kostenerstattung durch die Länder gewählt. Diese Trennung kann natürlich auch dazu führen, dass kein finanzieller Anreiz besteht, Anträge bei den Krankenkassen intensiv zu prüfen.

Es wäre aber ebenso wenig effizient, eigene Stellen der Länder zur Bearbeitung der Anträge und zur Prüfung der Kostenübernahme einzurichten. Ein einfaches und unbürokratisches Verfahren hat da aus unserer Sicht Priorität.

Wir können den Antrag im Ausschuss weiter diskutieren. Eine Verschärfung der Bedingungen für eine Kostenübernahme bei Schwangerschaftsabbrüchen wäre aber der falsche Weg für ungewollt schwangere Frauen in ihrer Konfliktsituation. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Schneider. Sie haben das Signal gesehen: Es gibt eine angemeldete Kurzintervention für die Fraktion der AfD vom Abgeordneten Dr. Vincentz, der jetzt das Wort für 90 Sekunden erhält. Bitte schön.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Werte Kollegin, nur um das noch einmal klarzurücken: Nicht die AfD verlangt den Schutz des ungeborenen Lebens, sondern es ist explizit das Bundesverfassungsgericht mit dem Untermaßgebot, was darauf abstellt, genau das zu tun, das mit einem Augenmerk darauf zu prüfen, das im Auge zu behalten und sich auch dafür stark zu machen. Das mache ich in diesem Fall als Oppositionspolitiker ganz deutlich.

Noch ein zweiter Punkt: Sie führten aus, weshalb die Zahlen, die vom Ministerium angegeben wurden, gegebenenfalls falsch sein könnten, indem Sie sagten, es könnte ja durchaus sein, dass es dort zu Bundeslandüberschreitungen kommt.

Die vom Statistischen Bundesamt erfassten Zahlen sind nach dem Wohnsitzland, nicht aber nach dem Abbruchsland aufgeschlüsselt. Dementsprechend ist Ihre Rechnung, die Sie vorgenommen haben, von vornherein absolut fehlerhaft. Es kann nach wie vor nicht sein, dass diese Zahlen zustande kommen, denn es wird nicht nach Abbruchsland, sondern nach Wohnsitzland der Patientinnen in diesem Fall aufgeschlüsselt. Damit sind diese Zahlen von vornherein nicht zu erklären.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Werter Herr Dr. Vincentz, ich glaube, den Kolleginnen aus dem Gleichstellungsausschuss ist die Rechtslage in unserem Land sehr wohl bekannt.

Ich möchte Sie aber auf eines hinweisen: Ich selbst habe drei wunderbare, kerngesunde Kinder, alle drei Wunschkinder. Dafür bin ich dem lieben Gott unglaublich dankbar.

(Zuruf von der AfD: Wie wir alle!)

Es ist aber nicht jede Frau in derselben Situation, und es macht sich bestimmt keine Frau in unserem Land die Entscheidung leicht, eine Schwangerschaft abzubrechen. Ich würde mich niemals, niemals hinstellen und nur über eine dieser Frauen urteilen. Wenn Sie sich hier als rechte Gutmenschen aufspielen und das tun möchten, überlasse ich Ihnen das.

(Dr. Martin Vincentz [AfD]: Überhaupt nicht! Mit keinem Wort!)

Für mich ist diese Debatte beendet.

(Beifall von der FDP, der CDU und der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Schneider. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Frau Kollegin Paul das Wort. Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch fällt sicherlich keine Frau leichtfertig. Es ist sicherlich ein langer Abwägungsprozess, den Frauen durchlaufen, bis sie zu der Entscheidung gelangen, wenn sie denn zu der Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch gelangen.

Häufig befinden sich diese Frauen in einer emotionalen Notlage. Allerdings muss ich feststellen, dass der Antrag der AfD in dieser Form jeden Blick und jede Empathie für die Situation der Frauen vermissen lässt.

Auch die Behauptung im Antrag, NRW wäre trauriger Spitzenreiter, ist leider unzutreffend. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass wir das größte Bundesland sind, sondern das hat auch etwas damit zu tun, dass, wenn man es auf die Zahl je 1.000 Geborener herunterrechnet, NRW unter dem Bundesdurchschnitt liegt, nämlich auf Platz 13 – was auch immer das jetzt für die betroffenen Frauen bringen soll, dass wir das jetzt ausgerechnet haben.

Auch die Behauptung, medizinische Beratung und Information sei Agitation, wie Sie das in Ihrem Antrag schreiben, finde ich schlicht infam.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das Bild, dass die AfD in den Debatten um Schwangerschaftskonflikt, Schwangerschaftsabbrüche, § 219a, dem Recht, das die Frauen auf Information haben, immer wieder zeichnet, dass demnächst Leuchtreklamen für Schwangerschaftsabbrüche werben könnten oder dass es Gutscheinhefte gebe, ist schlicht sachlich falsch.

Herr Dr. Vincentz, das sollten Sie als Mediziner eigentlich sehr viel besser wissen. Sie sollten wissen, dass man grundsätzlich für medizinische Leistungen in diesem Land aus gutem Grund nicht werben darf.

(Beifall von Horst Becker [GRÜNE])

Man darf, damit sich die Menschen informiert entscheiden können, darüber informieren, aber man darf eben nicht dafür werben, ganz generell und völlig unabhängig vom § 219a. Das, was Sie hier unterstellen, beschränkt das Recht von Frauen, sich zu informieren, und es beschränkt das Recht von Frauen, selbstbestimmt diese Entscheidung treffen zu können.

Insgesamt ist der Fokus Ihres Antrags im Ganzen sehr weit weg von dem, was eigentlich die politische Debatte im Moment in diesem Land ist. Worum geht es Ihnen? – Ich kann es nur vermuten, aus dem Antrag kann ich es kaum herauslesen. Aber mir scheint, dass Sie das Selbstbestimmungsrecht von Frauen einschränken wollen, dass Sie das in diesem Bereich infrage stellen wollen oder zumindest – und das finde ich eigentlich noch infamer – das Selbstbestimmungsrecht von Frauen mit niedrigem Einkommen und Leistungsbezieherinnen einschränken wollen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Aber keine Frau, und das wollen wir hier sehr deutlich machen, darf aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse gezwungen werden, ein Kind auszutragen, oder gar gezwungen sein, einen Abbruch unter gesundheitlich und medizinisch problematischen Bedingungen vornehmen zu lassen. Kollegin Wendland hat das ja auch schon angedeutet. Die Zeit der Engelmacherinnen ist in diesem Land Gott sei Dank vorbei.

(Beifall von der SPD – Helmut Seifen [AfD]: Darum geht es doch gar nicht!)

– Dann hätten Sie ja mal in den Antrag hineinschreiben können, worum es Ihnen eigentlich geht.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich will Ihnen sagen, worüber wir hier eigentlich debattieren sollten, während Sie in irgendeiner Art und Weise Nebelkerzen werfen und auch schon wieder mit sachlich falschen Argumenten kommen. Wir müssen einmal darüber sprechen, dass es dringend notwendig ist, den § 219a zu streichen, und zwar nicht, weil § 219a „Agitation“ wäre, nein. Vielmehr ist es richtig, dass wir diesen Paragrafen streichen, damit sachliche Information möglich wird und damit Ärztinnen und Ärzte in diesem Land endlich Rechtssicherheit gewinnen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es kann doch nicht sein, dass die Information über die eigene Arbeit, die wichtig ist, damit Frauen eine selbstbestimmte Entscheidung treffen können, dazu führt, dass Ärztinnen und Ärzte Gefahr laufen, verklagt und sogar verurteilt zu werden, für nichts weiter als für die Information, dass sie einen Abbruch vornehmen, was übrigens in diesem Land für Ärztinnen und Ärzte sogar nicht nur straffrei, sondern explizit erlaubt ist.

Nach Schwangerschaftskonfliktgesetz – und das ist der nächste Punkt, über den wir uns hier wirklich unterhalten müssten, wenn wir auch wirklich eine sachlich fundierte Debatte führen wollen – ist dieses Land auch verpflichtet, ausreichend medizinische Versorgung bereitzustellen. Aber auch das wird konterkariert durch einen § 219a, der die Rechtsunsicherheit für Ärztinnen und Ärzte mit sich bringt.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Welcher Arzt oder welche Ärztin möchte denn sowieso einen solchen Eingriff vornehmen? – Das ist mit Sicherheit auch für Ärztinnen und Ärzte kein einfacher Eingriff. Aber dann auch noch ständig bedroht zu sein, kriminalisiert zu werden, macht es sicherlich nicht einfacher. Darüber müssen wir sprechen. Frauen haben ein Recht auf Information, und Medizinerinnen und Mediziner haben ein Recht darauf, dass der Staat Rechtssicherheit für die von ihnen angebotenen Leistungen anbietet. Deshalb muss § 219a gestrichen werden.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Die Sicherstellung der Versorgung habe ich gerade schon angesprochen, und das ist ein Punkt, über den wir dringend diskutieren müssen, damit wir nicht irgendwann wieder in die Situation der Engelmacherinnen kommen; denn vielleicht wissen Sie das ja: Die Situation, was die Versorgung angeht, ist in diesem Land auch keine ganz einfache. Auch daran müssen wir arbeiten, darüber müssen wir eine fachliche Diskussion führen, aber nicht mit den Nebelkerzen, die Sie hier werfen.

Dann unterstellen Sie auch noch, es gäbe keine vernünftige Beratungsstruktur in diesem Land. Werfen Sie doch einmal einen Blick in das Ausführungsgesetz zum Schwangerschaftskonfliktgesetz. Wenn Sie irgendwann die Systematik, die dahinter steht, verstanden haben – das war jetzt kein polemischer Angriff, sondern die Systematik ist in der Tat sehr kompliziert –, dann werden Sie feststellen, dass wir nicht nur eine flächendeckende Beratungsstruktur in diesem Land haben, sondern eine Beratungsstruktur, die genau für das, was Sie in Ihrem Antrag einfordern, verantwortlich ist.

Das heißt, das, was Sie einfordern, inklusive der Evaluation, ist bereits im Ausführungsgesetz zum Schwangerschaftskonfliktgesetz des Landes geregelt. Da sie ja Leistungsempfänger des Staates sind, müssen Sie Berichte abliefern und darlegen, was sie dafür getan haben. Dieses Ausführungsgesetz sei Ihnen sehr zur Lektüre empfohlen. Das, was Sie hier einfordern, gibt es doch längst. Die Art und Weise, wie Sie das hier einfordern, diffamiert die gute Arbeit, die die Frauen und Männer in den Beratungsstellen machen.

Wir können das in den Ausschüssen weiter diskutieren, aber es ist weit ab von der notwendigen Debatte.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Als nächster Redner hat der fraktionslose Abgeordnete Pretzell das Wort. Bitte schön.

Marcus Pretzell (fraktionslos): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat 1993 relativ eindeutig erklärt, dass es um die Sicherung des Schutzes des Kindes geht und dass sehr wohl das zu evaluieren ist, was die neue Gesetzeslage damals in der Folge mit sich bringt.

Das heißt, die Frage der Statistik, zu der Sie das hier degradieren wollen, ist – jedenfalls nach dem Bundesverfassungsgericht – sehr wohl relevant, weil sich hinter der Statistik 100.000 Einzelschicksale verbergen, und zwar jedes Jahr.

Wir haben jetzt von vier Fraktionen hier immer wieder die Begriffe „Selbstbestimmung der Frau“, „Entscheidung der Frau“ gehört. Immer wieder kreist es genau um die Frau, die selbstbestimmt eine Entscheidung trifft. Ausgerechnet aus der ehemals Christdemokratischen Union sind hier Stichworte gefallen wie „Zwang, das Kind auszutragen“, „höchstpersönliche Frage“, Frau Wendland.

Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren, tatsächlich um die Selbstbestimmtheit der Frau geht, wenn es Ihnen tatsächlich darum geht, die Frau in einer emotional schwierigen Lage – auch das ist ein Zitat von vorhin – zu unterstützen, dann stellen wir fest, dass es eine Dunkelziffer von mindestens 100 % gibt, die seit Langem immer wieder benannt worden ist. Das ergibt sich genau aus den Zahlen, die wir hier vorliegen haben.

Meine Damen und Herren, jetzt passen Sie gut auf: In rund 50 % der Fälle von Abtreibungen – auch das ist bekannt – entscheiden Frauen eben gerade nicht alleine und schon gar nicht selbstbestimmt.

(Beifall von der AfD)

In rund 50 % der Fälle – meine Damen und Herren, das ist bekannt – stehen Frauen unter externem Druck. Ich rede von Arbeitgebern, von Vätern und von anderen, die externen Druck auf Frauen, auf Mütter, ausüben, die gerade deshalb zu keiner freien Entscheidung mehr kommen.

Meine Damen und Herren von SPD, Grünen, CDU und FDP, wenn es Ihnen tatsächlich um die Selbstbestimmtheit der Frau geht, dann erwarte ich Sie an dieser Stelle an der Seite der blauen Partei. Dann erwarte ich Sie an unserer Seite, wenn wir sagen: Dieser externe Druck muss wenigstens aufhören. Wir müssen diejenigen unter Strafandrohung stellen, die externen Druck auf Frauen in einer solchen emotionalen Ausnahmesituation ausüben. Wer als Vater, als Arbeitgeber oder als sonstiger Dritter Druck auf eine Frau ausübt, damit diese eine Abtreibung durchführt, muss bestraft werden.

Meine Damen und Herren, wir könnten in diesem Land die Hälfte aller Abtreibungen vermutlich allein damit verhindern. Wir würden insbesondere einen Beitrag zu dem leisten, was uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat. Sie wären gut beraten, sich an dieser Stelle an die Seite der Frauen, an die Seite der Verfassung und an die Seite der ungeborenen Kinder zu stellen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der AfD, Alexander Langguth [fraktionslos] und Frank Neppe [fraktionslos])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Das war der fraktionslose Abgeordnete Pretzell. – Als nächster Redner hat für die Landesregierung Herr Minister Dr. Stamp das Wort. Bitte schön, Herr Minister.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der AfD ist im Nachgang zur Kleinen Anfrage 843 mehrfach umfassend von der Landesregierung über das Thema „Schwangerschaftsabbrüche“ informiert worden. Ich gehe also davon aus, dass die Faktenlage der Fraktion der AfD bekannt ist, und sehe daher auch keine Veranlassung, sie jetzt zum wiederholten Male darzustellen.

Eine Richtigstellung ist mir aber wichtig. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche ist bundesweit in den letzten 20 Jahren kontinuierlich deutlich gesunken. Nordrhein-Westfalen ist auch nicht der sogenannte Spitzenreiter, sondern neun Länder haben höhere Zahlen zu verzeichnen als unser Bundesland.

Grundsätzlich möchte ich Folgendes sagen: Ich bekenne mich klar zu dem breiten gesellschaftlichen Konsens, der mit dem Schwangerschaftskonfliktgesetz in den 1990er-Jahren parteiübergreifend unter Abwägung des Selbstbestimmungsrechts der Frau und des Schutzes des ungeborenen Lebens erzielt wurde.

Ansonsten ist aus meiner Sicht zu diesem Thema alles Notwendige gesagt. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächster Redner hat noch einmal für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Dr. Vincentz das Wort. Bitte schön.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich halte fest: Das Bundesverfassungsgericht hat uns die Aufgabe der Kontrolle dieser Gesetze gegeben. Zur Aufgabe der Kontrolle gehört natürlich auch, dass man als Oppositionspartei die Zahlen der Regierung prüft. Das gehört dazu. Wenn Gesetze kontrolliert werden, geschieht das auch nicht aufgrund von Emotionen, wie wir es jetzt gehört haben. Sie spielen zwar eine Rolle. Jeder Einzelfall hat seine Geschichte. Aber Zahlen prüft man nicht mit Emotionen. Zahlen prüft man mathematisch. Das ist geschehen.

Ich habe von keiner der Parteien, inklusive der Regierung, eine Antwort auf die im Antrag formulierten Fragen gehört. Ich habe Ihnen haarklein und dezidiert auseinandergerechnet, warum die Dinge, mit denen Sie jetzt wieder um die Ecke gekommen sind, alle nicht stimmen können. Ich habe Ihnen haarklein mathematisch auseinandergerechnet, warum das, was die Regierung dort sagt, nicht richtig ist.

Erstens. In jedem Jahr gibt es mehr bezahlte Abbrüche, als in der Statistik aufgeführt werden. Das sind keine Jahresverschiebungen. Sie sagen, das könne unter Umständen mit Abrechnungsfehlern zu tun haben. Nein, es ist einfacher Dreisatz. Rechnen Sie es nach.

Zweitens. Es werden pro Abtreibung genau die Kosten erstattet, die für eine Abtreibung anfallen. Da ist kein Fall in zwei Fälle zerpflückt worden. Das stimmt einfach nicht. Das ist nicht wahr.

Drittens. In die Statistik sind die Zahlen der Fälle aufgenommen worden, in denen NRWlerinnen eine Abtreibung vorgenommen haben. Nicht aufgenommen worden sind Fälle von Frauen aus anderen Bundesländern. Das heißt, auch die behaupteten Verschiebungseffekte treffen einfach nicht zu.

Sie kommen der Pflicht nicht nach, die Opposition über die Zahlen zu informieren, damit wir unsere Aufgabe machen können. Wie wollen Sie die Demokratie verteidigen, wenn Sie so mit uns umgehen?

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war der Abgeordnete Vincentz von der Fraktion der AfD. – Ich frage in die Runde, ob es noch weitere Wortmeldungen gibt. – Das ist nicht der Fall. Dann sind wir am Schluss der Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Überweisungsempfehlung des Ältestenrats, der uns nahelegt, den Antrag Drucksache 17/3591 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend – sowie an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend und an den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen mitberatend zu überweisen. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Gibt es Gegenstimmen gegen diese Überweisungsempfehlung? – Möchte sich ein Kollege oder eine Kollegin enthalten? – Das ist nicht der Fall. Dann hoffe ich, Sie stimmen mit mir überein, dass das die einstimmige Annahme der Überweisungsempfehlung ist.

Wir kommen zu:

4  In Nordrhein-Westfalen ist kein Platz für die antisemitische BDS-Bewegung

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3577

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich, dass zu diesem Tagesordnungspunkt auch Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Verbände in Nordrhein-Westfalen auf der Besuchertribüne zugegen sind und die Debatte verfolgen.

Nun eröffne ich die Aussprache und erteile für die erste antragstellende Fraktion der CDU dem Abgeordneten Dr. Bergmann das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Dr. Günther Bergmann (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Binnen weniger Wochen, hätte ich fast gesagt, sprechen wir im Landtag schon wieder über das Thema „Antisemitismus“. Es ist eine verkehrte Welt, dass wir uns so häufig damit beschäftigen müssen. Aber es scheinen Dinge nicht mehr selbstverständlich zu sein, die über Jahrzehnte selbstverständlich waren.

Leider ist dieser Antrag auch aufgrund von Geschehnissen im Kulturausschuss notwendig, betrifft uns also auch parlamentarisch.

Es geht darum, fließende Grenzen zwischen Meinungsfreiheit und künstlerischer Freiheit auf der einen Seite und Antisemitismus – latent, subtil, perfide – auf der anderen Seite wieder deutlich zu ziehen.

Denn es gibt eine Bewegung, auch in Nordrhein-Westfalen, die sich unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit klar gegen Israel positioniert.

Dazu müssen wir vorab sagen: Gegen die Politik Israels kann man in vielen Punkten eine oppositionelle Meinung einnehmen. Man kann kritisieren, dass es bestimmte Dinge gibt. Wenn aber das Existenzrecht Israels direkt oder implizit angegriffen wird, dann muss ein Aufschrei von uns allen die Folge sein – und das ist dieser Antrag.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Ich will vorwegschicken – das ist ein Punkt, der mich immer wieder berührt, weil ich die Ignoranz in dieser Hinsicht auf vielen Seiten nicht verstehe –, dass es sich bei Israel um die einzige Demokratie – zumindest nach unserem westlichen Verständnis – in der ganzen Region handelt. Das wird in den Bewertungen dieses Staates von interessierter Seite immer schön vergessen.

Oliver Keymis hat es als Vorsitzender im Kulturausschuss sehr richtig formuliert und auch abgegrenzt: Es ist Konsens und muss Konsens bleiben – und Common Sense; das erwähnte er noch –, das Existenzrecht Israels nicht anzurühren.

Jüdisch, Juden und Israel – das alles darf nicht in einem Topf vermengt werden. Religion und Nationalität bewusst zu vermischen, ist ein No-Go. Das erinnert an unsere dunklen Zeiten in Deutschland. Es erinnert auch an die UdSSR, wo Menschen jüdischen Glaubens, wie Sie vielleicht noch erinnern, in ihrem Pass unter „Nationalität“ „jüdisch“ eintragen lassen mussten. Das war ein klarer Beweis für linken Antisemitismus.

Die BDS bezieht sich sehr häufig in Positionen nicht nur auf das Israel seit 1967, sondern sogar auf das Israel vor 1948. Somit stellt diese Bewegung ganz implizit und automatisch die Existenz des Staates Israel infrage – und quasi auch die von uns gewünschte Zweistaatenlösung. Ein No-Go!

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Für den Brief, den wir alle von dem sogenannten Institut für Palästinakunde bekommen haben, war ich sehr dankbar, weil sich dieser Verein aus meiner Sicht damit wunderbar selber entblößte. Selten hat man auf vier Seiten so eindimensional Anti-Israel-Argumente lesen können wie dort, ohne dass auch nur ansatzweise einmal zum Beispiel über den Terror der Hamas oder deren Kämpfe gegen die Fatah berichtet wurde.

Dass das Institut – es ist ein „e. V.“, wurde also vielleicht von nur sieben Leuten gegründet – auch auf der BDS-Seite in Bonn präsent ist, erklärt vieles. Ich kann in Richtung dieses Vereins nur sagen: Schweigen ist oftmals besser, als etwas zu unternehmen.

Die CDU unterstützt diesen Antrag, damit wir erneut hier aus dem Landtag ein klares und deutliches Zeichen gegen jede Art von Antisemitismus setzen – egal ob von intern oder von extern, von rechts oder von links.

Genau das forderte auch neulich wieder ein Vertreter der jüdischen Organisationen in unserem Land bei einer unserer Veranstaltungen.

Daraus erwächst auch ein Auftrag. Wir sind als Land Mehrheitsgesellschafter einer kulturell hochklassigen und bedeutenden Kulturveranstaltung, die in diesem Jahr ohne Not und scheinbar doch bewusst durch das Thema „Antisemitismus“ geschwächt wurde. Sie droht in den beiden kommenden Jahren immer wieder genau mit diesem Thema in Verbindung gebracht zu werden. Wenn wir – das sollte zumindest unser aller Ziel sein – ein weltweit viel beachtetes Kulturspektakel in NRW nicht gefährden wollen, sollten wir als öffentlicher Akteur stringent handeln und auch dort ein klares Zeichen gegen Antisemitismus setzen.

(Beifall von der CDU, der SPD, den GRÜNEN und der FDP)

Ich sage ganz offen: Das geht aus meiner Sicht nur mit personellen Konsequenzen. Auch das lässt sich aus dem Antrag ganz deutlich ableiten.

Ich bitte Sie daher, meine Damen und Herren, namens der CDU-Fraktion um Unterstützung für diesen gemeinsamen Antrag. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Bergmann. – Für die Fraktion der SPD hat nun Frau Abgeordnete Müller-Witt das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Elisabeth Müller-Witt (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag legen CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ein klares Bekenntnis zum Staat Israel ab. Dieser Antrag ist aber auch ein Statement – ein Statement, das unsere Verantwortung vor dem Hintergrund unserer Geschichte und unserer Vergangenheit zum Ausdruck bringt. Aus dieser Verantwortung heraus verbietet sich jede Form von Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung. Diese Verantwortung mündet letztlich in ein Bekenntnis zum nicht verhandelbaren Existenzrecht Israels. Darum geht es in diesem Antrag.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Das ist in diesem Parlament wahrhaftig nicht neu. Auch die NRW-Parlamentariergruppe Israel setzt sich hierfür nachdrücklich ein.

Es ist – das zeigen die Geschehnisse um die Ruhrtriennale – immer wieder notwendig und erforderlich, ein Bekenntnis zum Staat Israel zum Ausdruck zu bringen. Das bedeutet aber nicht, dass die Politik des Staates Israel kritiklos unterstützt wird. Nein, unter Freunden ist es zu erwarten, dass die jeweilige Politik reflektiert und auch kritisiert wird, wenn uns die Freundschaft wichtig und wertvoll ist.

Zu meinem großen Bedauern hat das Hin und Her im Vorfeld der Ruhrtriennale dem BDS eine Bühne geboten – Einladung, Ausladung, Einladung, Absage, aber auch die dann stattdessen veranstaltete Podiumsdiskussion. Diese große Öffentlichkeit für den BDS hätte es nicht geben dürfen, da der BDS sich nicht allein kritisch mit der Regierung des Staates Israels und seiner Politik auseinandersetzt. Nein, es ist der Boykottaufruf des BDS, der den Staat Israel generell und grundsätzlich in seiner Existenz infrage stellt. Es sind die Einschüchterungen von Künstlern, die in Israel auftreten wollen.

Um gleich möglichen Einwendungen vorzugreifen: Dieser Antrag ist kein Freifahrtschein für jegliche Ausprägung israelischer Politik. Der Antrag verliert bei aller Betonung des Existenzrechtes des Staates Israel nicht den schwierigen Nahostkonflikt aus den Augen. Deshalb betont er auch das Verständnis für die Lage der Palästinenser und den lang ersehnten Wunsch nach einer friedlichen Lösung.

Allerdings ist es zwingend erforderlich, dass zwischen Kritik an der Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung und einem unter dem Deckmantel einer allumfassenden Israel-Kritik verborgenen Antisemitismus differenziert wird. Denn trotz der zweifellos aufgeheizten und komplizierten, konfliktbeladenen Welt, in der die Menschen des Nahen Ostens seit Jahren leben, eint uns doch hoffentlich alle der Wunsch nach Frieden.

Frieden wird nicht durch Gewalt oder Boykott zustande kommen. Frieden kommt durch Versöhnung und Verständnis zustande. Solange es Bomben, Selbstmordattentate und den Rattenschwanz von Angriff, Verteidigung und Gegenangriff gibt, wird es nie zu einer friedlichen Koexistenz kommen.

Der Weg muss die Friedensarbeit und nicht der Boykott sein. Wer in Deutschland „Kauft nicht bei Juden!“ fordert, trifft auch uns ins Mark. Nie wieder dürfen Deutsche solche Parolen unterstützen, zulassen, dazu schweigen oder wegsehen.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Dr. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, beschreibt es mit folgenden Worten – Frau Präsidentin, ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis –:

„Sowohl in den Zielen als auch in den Methoden ist der BDS antisemitisch einzuordnen, weil durch den Boykott israelische Staatsbürger insgesamt in Geiselhaft genommen werden. Und bei den Methoden wird doch deutlich Anleihe genommen an der unseligen Rhetorik der Nazis ‚Kauft nicht bei Juden‘.“

Darum geht es – nicht um die vermeintlich perspektivisch ansetzenden Ideen oder Botschaften des BDS, sondern darum, dass zu häufig zu offensichtlich Perspektiven auf dem Boden einseitiger antisemitischer Haltung entwickelt werden.

Deshalb unterstützen wir die Landesregierung bei der Prävention, aber auch bei der Bekämpfung von Antisemitismus jeglicher Art. Wer Versöhnung will, muss Brücken bauen und darf nicht spalten.

Aus diesem Grund lehnen wir die BDS-Kampagne ab und sprechen uns dagegen aus, dass der Landtag oder andere Einrichtungen des Landes für Veranstaltungen des BDS Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Wir hoffen, dass die Kommunen des Landes diesem Beispiel folgen. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD, der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Witt. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Kollege Deutsch das Wort. Bitte schön.

Lorenz Deutsch (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist sehr erfreulich, dass der Landtag NRW eine so deutliche gemeinsame Haltung zur BDS-Bewegung zeigt. Diese Bewegung ist eben nicht einfach israelkritisch, wie manche ihrer Anhänger und Unterstützer der uninformierten Öffentlichkeit oft weismachen wollen. Der BDS ist israelfeindlich.

Ziel dieser Bewegung ist die Delegitimierung des Staates Israel als jüdischem Staat. Damit wird die Existenz Israels infrage gestellt. Israel ist als Heimstatt der Juden gegründet worden. Wer diesen Zusammenhang auflösen will, legt die Axt an die Grundlagen dieses Gemeinwesens an. Genau das tut der BDS.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Man muss diesen Befund auch nicht aufwendig recherchieren, und man kommt auch nicht zu zweideutigen Ergebnissen. Vorgestern noch – Herr Bergmann hat es bereits erwähnt – hat das Institut für Palästinakunde unseren Fraktionsmitgliedern und offensichtlich auch allen anderen Abgeordneten eine Verteidigungsschrift für die BDS-Bewegung zukommen lassen. Man hält dort nicht hinter dem Berg, sondern formuliert die eigene Haltung sehr offen. Das ist natürlich deren gutes Recht. Aber es ist auch unser gutes Recht, diese Haltung für das Land NRW und seine Institutionen abzulehnen.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Was erfährt man nun in diesem Schreiben zum Thema des Existenzrechts Israels? Es wird klar erklärt, so etwas gebe es gar nicht. Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin:

„Das vom Antrag [also unserem heutigen Antrag] postulierte [in Anführungszeichen] Existenzrecht Israels stellt eine grobe [fettgedruckt] Irreführung dar; denn es handelt sich dabei nicht um einen völkerrechtlichen Begriff, sondern um eine Wertung israelischer Politik, die sich als Recht ausgibt.“

Einen Satz weiter heißt es dann:

„Israels Existenz, die Juden privilegiert und Palästinenser diskriminiert, basiert nicht auf dem Recht, sondern auf Gewalt.“

Wer sich das auf dem Anschreiben prangende Logo des Vereins anschaut, versteht auch gleich, dass das ernst gemeint ist. Abgebildet ist ein Palästina, dessen Grenzen dem historischen Palästina vor der britischen Besetzung entsprechen – von Israel keine Spur.

All das soll natürlich überhaupt nicht antijüdisch oder antisemitisch sein, was mit der folgenden atemberaubenden Argumentation begründet wird: Man habe gar nichts gegen Juden. Man habe nur etwas gegen den jüdischen Staat Israel. Nur weil das immer verwechselt werde, komme es zu dem Vorwurf, die BDS-Bewegung sei antisemitisch.

Das kommt historisch gestimmten Ohren in Deutschland irgendwie bekannt vor: Gegen Juden habe man ja gar nichts; nur bitte nicht bei uns! – So haben vor dem Beschluss zur sogenannten Endlösung auch führende Nazis argumentiert. Adolf Eichmann hat sich noch nach dem Krieg verteidigt, indem er sich selbst einen Zionisten nannte. Er habe die Juden, gegen die er persönlich auch nichts gehabt habe, aus Deutschland heraus in Richtung Madagaskar oder Israel transportieren wollen. Leider hätten die Befehle dann anders gelautet.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich will hier nicht jeden BDSler zum Nazi erklären. Aber jedem BDSler muss klar sein, in welchen argumentativen Formähnlichkeiten er sich bewegt – und es sind antisemitische Formen.

Wenn man Antisemiten fragt, ob sie antisemitisch sind, bekommt man sehr oft „Nein“ zu hören. Deshalb muss man sie an ihren Zielen und an ihren Handlungen messen.

Über die Ziele der BDS-Bewegung kann kein Zweifel bestehen: Man wendet sich – ich habe es schon ausgeführt – gegen die Existenz Israels.

Wie sieht es mit den Handlungen des BDS aus? Dort zeigt sich auch kein schönes Bild: Boykott, Deinvestition und Sanktion – das moderne „Kauft nicht bei Juden und nehmt ihnen ihre wirtschaftliche Grundlage!“

Diese Kampfstrategie gegen Israel ist übrigens – auch das muss uns klar sein – keine Erfindung der letzten 13 Jahre durch den BDS. Seit dem Beginn des Konflikts zwischen Israel auf der einen Seite und Palästinensern bzw. Arabern auf der anderen Seite ist der Versuch des wirtschaftlichen Boykotts eine scharfe Waffe. Noch in ihrem Gründungsjahr 1945 beschloss die Arabische Liga einen Boykott von zionistischen Gütern und Produkten. Diese Strategie wurde stetig verfolgt. Schließlich dekretierte die Arabische Liga 1954 das Unified Law on the Boycott of Israel als einheitliches Boykottregime aller arabischen Länder, das streng überwacht wurde.

An diese Tradition der aggressiven Israelfeindschaft schlossen die palästinensischen Gründungsorganisationen der BDS-Bewegung 2005, nach dem Scheitern des Friedensprozesses von Oslo, an – rhetorisch geschickt, indem man sich die Boykottbewegung gegen das südafrikanische Apartheidsystem zum Vorbild nahm. Deshalb die absurde, immer wiederkehrende Gleichstellung der einzigen rechtsstaatlichen Demokratie im Nahen Osten mit dem südafrikanischen Unterdrückungssystem.

Fazit: Die BDS-Bewegung ist nicht harmlos. Man kann sehr leicht herausfinden, wofür sie steht. Genau das hat ja – auch angesichts der verharmlosenden Normalisierungsversuche rund um die Ruhrtriennale – Empörung hier im Lande ausgelöst. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Deutsch. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Paul das Wort. Bitte schön.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Frage, wo legitime Kritik an der Politik des Staates Israel und seiner Regierung aufhört und wo Antisemitismus anfängt, ist nicht immer ganz leicht zu beantworten. Man muss daher wiederholt darüber reflektieren; man kann die Antwort nicht einmal finden und dann nicht erneut hinterfragen.

Leider scheint diese Reflektion bei der BDS-Bewegung aber zumindest zu kurz zu kommen: An vielen Stellen – Kollege Deutsch hat das gerade sehr detailliert ausgeführt – ist sehr klar bemerkbar, dass es in der Bewegung Israelkritik gibt, die so fundamental ist, dass sie das Existenzrecht Israels infrage stellt und in Teilen als antisemitisch bezeichnet werden muss.

Das darf nicht darüber hinwegtäuschen und ist auch nicht Ansatz dieses Antrages: Kritik an der Politik des Staates Israel und seiner Regierung sowie die Unterstützung berechtigter Anliegen palästinensischer Menschen sind selbstverständlich und sowohl in Deutschland als auch in Israel legitim. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.

Es stellt sich aber die Frage nach der Form. Aus meiner Sicht ist auf jeden Fall die Debatte bzw. der Dialog die angezeigtere Form als der Boykott, das Bedrohen von Künstlerinnen und Künstlern oder gar das Stürmen und Niederbrüllen von Veranstaltungen.

Es ist auch schon ausgeführt worden, dass die sehr bewusste Anlehnung an „Kauft nicht bei Juden“ oder der Ausschluss von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern deutlich machen, dass dort in Kauf genommen wird, in uns allen ganz, ganz düstere Erinnerungen wachzurufen. Das halte ich für kein adäquates Mittel der Auseinandersetzung mit der Politik Israels.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und der FDP)

Natürlich ist nicht jede Kritik, die geäußert wird, antisemitisch. Mit Sicherheit ist auch nicht jede Anhängerin und jeder Anhänger der BDS-Bewegung ein Antisemit oder gar ein Nazi – wie auch Sie, Herr Kollege Deutsch, schon gesagt haben.

Doch die Bewegung ist nicht homogen, und offensichtlich scheinen die notwendigen Reflektionen an vielen Stellen zu kurz zu kommen; vor allem kommt die Abgrenzung zu antisemitischen Äußerungen innerhalb dieser Bewegung oftmals zu kurz. Zu kurz kommt auch die Abgrenzung zu Kräften, die das Existenzrecht Israels klar infrage stellen – das ist hier ebenfalls schon sehr eindringlich ausgeführt worden.

Das Existenzrecht Israels kann und darf in diesem Land niemals mehr infrage gestellt werden. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen steht klar zum Existenzrecht Israels und drückt dies mit dem Antrag noch mal aus. Das ist für uns nicht relativierbar und nicht verhandelbar. Es schließt aber keinesfalls aus, dass wir auch die legitimen Interessen palästinensischer Menschen im Blick behalten und weiterhin, wie im Antrag ausgeführt, zu einer friedlichen Lösung im Nahen Osten und zu den Bestrebungen für eine Zweistaatenlösung stehen.

Wir stellen uns aber eben auch klar gegen jede Form von Antisemitismus. Das ist nicht nur, auch wenn sie schwer wiegt, eine historische Verantwortung, die wir in diesem Land haben, sondern auch Ausdruck unseres Umgangs mit Vielfalt und des Schutzes von Minderheiten, was der Lackmustest jeder freiheitlich-demokratischen Grundordnung und jeder freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ist.

(Beifall von den GRÜNEN und der FDP)

Deshalb ist es wichtig, dass wir heute in diesem Parlament bereits den zweiten Antrag, der ein ganz klares Zeichen aussendet, gemeinsam verabschieden: Der Landtag von Nordrhein-Westfalen steht für Vielfalt, für den Schutz von Minderheiten und ganz klar gegen jede Form von Diskriminierung – sei es Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Sexismus oder andere Menschenfeindlichkeiten. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Paul. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der AfD die Kollegin Walger-Demolsky das Wort. Bitte schön.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Paul, ich bin froh, dass bei den Grünen offensichtlich Überlegungen Früchte getragen haben. 2013 wurde von Ihrer Bundestagsfraktion ja noch eine Anfrage gestellt, in der man darüber nachdachte, israelische Waren zu kennzeichnen – so viel zu den Plänen zu Boykottaufrufen.

Wir werden der Beschlussfassung – ob es Ihnen gefällt oder nicht – selbstverständlich vollumfänglich zustimmen. Wir hätten auch den Antrag mit unterschrieben.

Wir sind aber dennoch irritiert: Dr. Bergmann, Sie sagen, es stünde darin – klar zu erkennen –, dass personelle Konsequenzen gefordert seien. – Ich habe noch mal nachgeguckt; ich habe es nicht gefunden.

Noch am Tag des ausgefallenen Konzertes diskutierte die Ministerin Frau Pfeiffer-Poensgen auf einem Podium in Bochum mit Befürwortern der BDS-Bewegung. Das fanden wir sehr suspekt. In ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage stand dann, dies sei ein Zeichen der Offenheit und Diskursfähigkeit. – Mit wem diskutiert Ihre Ministerin denn da? Ich bin erstaunt. Das war an dieser Stelle ein falsches Zeichen. Man hätte die Zeit besser für die Suche nach einer Nachfolge für Frau Carp nutzen sollen,

(Beifall von der AfD)

deren Ablösung prinzipiell auf der Sitzung, im Nachgang auch vor der Presse, von allen Fraktionen mehr oder weniger laut gefordert wurde. Aber nicht nur von den Fraktionen, beispielsweise auch von Herrn Horowitz, dem Vorsitzenden des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Nordrhein, wird mehr Konsequenz gefordert. Er hatte sicher auch auf mehr gehofft und schneller auf mehr gehofft als auf dieses Bekenntnis in dem Antrag.

Wir sind im Übrigen gespannt auf die Arbeit des Antisemitismusbeauftragten. Zu erwarten wäre zum Beispiel auch ein Überdenken der Starts und Landungen der Mahan Air in Düsseldorf, die schon von der Obama-Regierung als Airline eingestuft wurde, die Terroristen befördert. Es ist aus unserer Sicht auch unerträglich, dass wir es tolerieren, dass eine arabische Airline keine Buchung von Israelis annimmt – und das hier in Deutschland und auch in NRW.

Es gilt also, neben antisemitischen Taten Einzelner auch Diskriminierung durch ganze Gruppen wie dem BDS oder durch Unternehmen oder sogar ganze Staaten kräftig entgegenzutreten. Wir in NRW sind aufgefordert, zu handeln. Die Zeit der Bekenntnisse war lang und muss jetzt endlich durch Handeln abgelöst werden. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Walger-Demolsky. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 2005 haben palästinensische Organisationen die inzwischen international tätige Kampagne „Boykott, Divestment and Sanctions“ (BDS) initiiert, die durch Boykottmaßnahmen den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will.

Ziel des Boykotts ist es, Israel unter anderem zur Aufgabe der besetzten Gebiete sowie zur Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen zu bewegen. Mit ihren Boykottaufrufen knüpft die BDS-Kampagne an die Boykottbewegung gegenüber dem südafrikanischen Apartheid-Regime an und verbindet dies mit dem Vorwurf der Apartheid an den israelischen Staat. Viele BDS-Aktivisten lehnen auch das Existenzrecht Israels ab.

Die BDS-Kampagne versucht auch im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich, einen Boykott von Veranstaltungen in Israel, von durch Israel unterstützten Veranstaltungen durchzusetzen und sogar jede Form der Zusammenarbeit mit Israel zu verhindern. Auch international bekannte Künstler haben sich der BDS-Bewegung angeschlossen. Wir alle haben in diesem Sommer die öffentliche Aufregung um die Ruhrtriennale erlebt, die letztlich in der Unterstützung der BDS-Kampagne durch einzelne Künstler und Gruppen gründet und schließlich zur Absage der Teilnahme des Ministerpräsidenten geführt hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die BDS-Bewegung wird zu Recht als antisemitisch eingestuft, weil sie den Boykott „Kauft nicht bei Juden!“ auf den Staat Israel überträgt. Solche judenfeindlichen Boykottaufrufe gehen in einem nicht akzeptablen Maß über die Kritik an einer bestimmten Regierungspolitik hinaus und können am Ende eben nur als antisemitisch gelten. Gedeckt wird diese Einschätzung übrigens auch von den Erläuterungen der International Holocaust Remembrance Alliance zum 2016 gefassten Beschluss der Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Demnach können sich Erscheinungsformen von Antisemitismus auch gegen den Staat Israel richten, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird.

Der Antrag „In Nordrhein-Westfalen ist kein Platz für die antisemitische BDS-Bewegung“ verurteilt BDS deshalb völlig zu Recht nicht nur als antiisraelisch, sondern auch als antisemitisch. Die BDS-Bewegung findet durch die propalästinensischen Forderungen immer wieder öffentlichen Anklang, ohne dass ihr antisemitischer Charakter auch öffentlich immer sofort erkannt wird.

Selbstverständlich ist es bei uns möglich, israelische Politik zu kritisieren. Die eben zitierten Ausführungen der International Holocaust Remembrance Alliance halten schließlich fest, dass Kritik an Israel, die mit der Kritik an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden kann, aber unter dem Stichwort „Israel-Kritik“ wird eine pauschale Ablehnung der gesamten Bevölkerung und des Staates verschleiert, die es so gegenüber keinem anderen Land gibt.

Auch halten wir ein Engagement für die Rechte der palästinensischen Bevölkerung für geboten. Aber wenn das Engagement für palästinensische Anliegen in Antisemitismus umschlägt oder – noch schlimmer – Antisemitismus nur kaschiert, so sind wir gefordert, diesem Antisemitismus entschlossen entgegenzutreten. Insofern ist die mit dem vorliegenden Antrag verbundene öffentliche Distanzierung von der antisemitischen BDS-Bewegung und ihren Methoden nachdrücklich zu begrüßen.

Nordrhein-Westfalen befindet sich mit dieser Distanzierung von BDS übrigens in guter Gesellschaft. International haben Staaten wie Frankreich, Großbritannien, Kanada und zahlreiche Bundesstaaten der USA Maßnahmen ergriffen – angefangen von Resolutionen über Richtlinien bis hin zu Gesetzen –, um die BDS-Bewegung einzudämmen. Überall auf der Welt, auch in Deutschland, haben sich Kommunen von der antisemitischen BDS-Bewegung distanziert.

Wir sind dankbar, dass in Nordrhein-Westfalen die größte jüdische Gemeinschaft der Bundesrepublik beheimatet ist. Vor diesem Hintergrund haben wir hier im Landtag bereits die Einsetzung eines Antisemitismusbeauftragten für das Land Nordrhein-Westfalen beraten. Der Antrag „In Nordrhein-Westfalen ist kein Platz für die antisemitische BDS-Bewegung“ setzt dieses Engagement gegen Antisemitismus in unserem Bundesland fort.

Dankbar bin ich daher dafür, dass mit dem Antrag auch eine Unterstützung der Landesregierung in der Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus und jeglichem Extremismus zum Ausdruck gebracht wird. Mit vielfältigen Programmen ist das Land Nordrhein-Westfalen in diesem Bereich tätig, und die Debatte über BDS unterstreicht leider die Notwendigkeit. Vor diesem Hintergrund danke ich ausdrücklich dafür, dass sich eine so große Mehrheit im Landtag darauf verständigt hat, bei diesem wichtigen Thema gemeinsam zu handeln. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und Markus Wagner [AfD])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp, der in Vertretung von Ministerpräsident Armin Laschet gesprochen hat. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Daher schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellenden Fraktionen von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/3577. Wer dafür stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind SPD, Grüne, CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Kollege Neppe. Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist das ein einstimmiger Beschluss. Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der AfD)

Ich rufe auf:

5  Erhöhte Gewerbesteuerumlage muss 2020 enden – Landesregierung muss Farbe bekennen!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/3595

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die SPD dem Kollegen Zimkeit das Wort.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Hessische Ministerpräsident hat vorgeschlagen, die Laufzeit der Gewerbesteuerumlage zu verlängern. Was so technisch klingt, ist der Vorschlag eines führenden CDU-Politikers, zugunsten der Landeskasse in die Kassen der kommunalen Gemeinschaft zu greifen.

Ich zitiere die Position der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände: Die kommunale Familie in Nordrhein-Westfalen ist zutiefst beunruhigt. Da eine öffentliche Positionierung der nordrhein-westfälischen Landesregierung bisher ausgeblieben ist, steht die Befürchtung im Raum, dass auch sie dem Drängen Hessens nachgeben und einer Weiterführung bzw. Neueinführung der Solidaritätspaktumlage zustimmen könnte. – Das ist die Befürchtung der kommunalen Familie.

Wir haben die Landesregierung im HFA gefragt, wie sie sich dazu positioniert, und eine klare Stellungnahme, dass sie nicht plant, in die Taschen der Kommunen von Nordrhein-Westfalen zu greifen, hat diese Landesregierung nicht abgegeben. Deswegen sehen wir die Befürchtungen, die die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände hat, nicht als grundlos an. Immerhin hat diese Landesregierung, Schwarz-Gelb in NRW, ja eine Tradition darin, Raubzüge durch die kommunalen Kassen zu führen. Das hat sie 2005 bis 2010 getan. Mit dem Nachtragshaushalt für das Jahr 2018, mit dem den Kommunen auch wieder Gelder vorenthalten werden, setzt sie diese Tradition nun fort.

(Beifall von Michael Hübner [SPD])

Deswegen ist diese Befürchtung berechtigt. Aus dem Grund halten wir eine Positionierung des Landtages, wenn die Landesregierung bisher eine Positionierung verweigert hat, für notwendig.

Die Frage, Herr Witzel, die sich stellt, ist ganz einfach, und ich bin gespannt, wie Sie sie gleich beantworten werden: Stellt sich der Landtag, stellen sich insbesondere die Fraktionen von CDU und FDP auf die Seite des Hessischen CDU-Ministerpräsidenten, der in die kommunalen Kassen greifen will, oder stellen sie sich auf die Seite der nordrhein-westfälischen Kommunen und lehnen dessen Vorschlag, wie wir es möchten haben, klar ab?

Die Positionierung der SPD ist da vollkommen eindeutig. Wir stehen an der Seite der kommunalen Familie in Nordrhein-Westfalen und hoffen sehr, dass dieser Landtag das auch tut. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Zimkeit. – Für die CDU spricht der Kollege Moritz.

Arne Moritz (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Antrag geht es ja weder um die Rechtfertigung der erhöhten Gewerbesteuerumlage noch um die unbestrittene Leistung der westdeutschen Kommunen für die neuen Bundesländer. Vielmehr geht es um das Vertrauensverhältnis zwischen Landesregierung und Kommunen, und allen von uns ist klar, dass die rund 400 Städte und Gemeinden Nordrhein-Westfalens die Basis unseres Landes sind. Geht es den Kommunen gut, dann geht es dem Land und den Bürgern ebenso gut.

Sowohl die Kommunal- als auch die Finanzpolitik dieser Landesregierung tragen dem Rechnung. Denn die Akzente des GFG 2018 in der Städtebauförderung oder die finanzielle Unterstützung der Kommunen zur Verbesserung der Schulinfrastruktur machen eines deutlich: Wir als NRW-Koalition schätzen die Leistungen der Kommunen und sind verlässlicher Partner der kommunalen Familie.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Sagen Sie auch noch etwas zum Thema?)

Nicht von ungefähr kommt es daher, dass immer mehr Kommunen die Haushaltssicherung verlassen können. Dass Städte und Gemeinden mit der Landesregierung konstruktiv zusammenarbeiten, ist keine Selbstverständlichkeit. Das haben wir in der letzten Legislaturperiode ganz deutlich erfahren. Denn nachdem die Landesregierung mit Versprechungen, für handlungsfähige Kommunen zu stehen oder die Kommunalfinanzen zu konsolidieren, wie ein Tiger gesprungen ist, ist sie als Bettvorleger gelandet, indem sie etwa die Kommunen bei der Flüchtlingsfrage komplett alleingelassen hat.

Auch wenn die SPD versucht, sich mit dem vorliegenden Antrag hier im Plenum als Anwalt der Kommunen zu präsentieren, bin ich mir sicher: Kämmerer und Bürgermeister werden nicht vergessen haben, wie sie damals ohne Unterstützung der rot-grünen Landesregierung im Regen stehen mussten und in welche Situation Sie die Kommunen gebracht haben.

(Beifall von der CDU und der FDP – Stefan Zimkeit [SPD]: Und jetzt mal zum Thema!)

Vertrauen war damals Fehlanzeige, und wir sind dabei, das zu ändern, und dazu gehört auch, dass wir den Vorstoß aus Hessen kritisch sehen. Die Rechtslage sieht so aus, dass die erhöhte Gewerbesteuerumlage ab 2020 automatisch entfällt, und wir gehen fest davon aus, dass diese bundesgesetzliche Regelung so bleiben wird, da insbesondere im Rahmen der Verhandlungen zu den Bund-Länder-Finanzbeziehungen auch keine Weiterführung beschlossen wurde.

Meine Damen und Herren, Kollege Weske hat mir bei meiner letzten Rede zum Pensionsfonds den Vorwurf gemacht, durch den Blick auf die Vergangenheit die Perspektive auf die Zukunft zu vernachlässigen.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Recht hat er!)

Herr Weske, keine Sorge: Die NRW-Koalition wird auch in Zukunft dafür sorgen, die Kommunen bei ihren Aufgaben zu unterstützen, und daran arbeiten, sie finanziell wieder sicher zu machen. So werden wir beispielsweise den Kommunalsoli abschaffen, die Altschuldenproblematik der Kommunen angehen und den kommunalen Finanzausgleich rechtssicher und transparent gestalten.

Ich weiß nicht, wie selbstsicher und wie langfristig Rot-Grün damals geplant hat. Ich sehe nur den Schuldenberg in Höhe von mehr als 50 Milliarden Euro, den Sie in Ihrer Regierungsverantwortung vor sich her getragen haben, und wenn das Auslaufen der Gewerbesteuerumlage Ihr Masterplan für den 50-Milliarden-Schuldenberg war, dann ist der Plan gründlich gescheitert.

Wenn Sie das Vertrauen zu den Kommunen wieder aufbauen wollen, dann lege ich Ihnen wärmstens ans Herz, den Kontakt zum Genossen Olaf Scholz aufzunehmen und sich bei ihm ebenso vehement für das Auslaufen der Gewerbesteuerumlage einzusetzen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und Ralf Witzel [FDP])

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die FDP hat der Kollege Witzel das Wort.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Sondervermögen Fonds „Deutsche Einheit“ und dem Solidarpakt I sowie Solidarpakt II haben die westdeutschen Flächenländer und ihre Kommunen neben dem Länderfinanzausgleich seit drei Jahrzehnten einen wirklich erheblichen Beitrag zum Ausbau Ost geleistet. Über die Reform des Länderfinanzausgleichs mit seinen Fehlanreizen und auch der besonderen Bevorzugung östlicher Bundesländer haben wir unlängst gesprochen und Korrekturen herbeigeführt.

In den letzten Jahren ist seitens finanzschwacher Kommunen in Nordrhein-Westfalen verstärkt die Frage gestellt worden, warum ein dreistelliger Milliardenbetrag nach Himmelsrichtungen von West nach Ost verteilt wird, obwohl mittlerweile etliche Regionen im Osten unserer Republik häufig über eine im Vergleich sehr viel modernere Infrastruktur verfügen.

In den letzten drei Jahrzehnten hat durch diese Unterstützung des Westens erfreulicherweise eine weitgehende Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland stattgefunden. Ich sage für die FDP-Landtagsfraktion: Das ist gut und richtig so. Das stellen wir nicht infrage, und dazu stehen wir auch. Die Instrumente haben ihren Zweck erfüllt.

In den Bereichen Wirtschaftsförderung, Verkehrswegebau, Wohnungsbau, Innovation, Altlastensanierung, Forschung und Entwicklung sind so im Laufe der Jahre zahlreiche Erfolge im Osten ganz unmittelbar sichtbar geworden.

Die öffentliche Haushaltslage von Ländern und Kommunen in den neuen Bundesländern stellt sich heute sogar oft besser dar als in den alten Geberregionen. 30 Jahre nach der deutschen Einheit ist es daher nun geboten, sowohl den Soli vollständig abzubauen, der die Steuerzahler belastet, als auch den Solidarpakt vereinbarungsgemäß zum Jahresende 2019 auslaufen zu lassen.

Planmäßig sollte damit auch die zusätzliche Komponente der erhöhten Gewerbesteuerumlage entfallen, die der kommunalen Finanzbeteiligung am aktuell laufenden Solidarpakt II dient. Nordrhein-westfälische Kommunen würden damit, wie vorgesehen, in der Summe in einer Größenordnung von fast 1 Milliarde Euro jährlich entlastet.

Vor diesem Hintergrund ist die Initiative der schwarz-grünen Landesregierung in Hessen vollkommen unverständlich, zum Nachteil der westdeutschen Kommunen die erhöhte Gewerbesteuerumlage fortsetzen zu wollen. Die NRW-Koalition hat diesen Vorstoß klar kritisiert. Der Finanzminister hat dazu unter anderem in der Landtagsvorlage 17/924 die Ablehnung der Landesregierung für derlei Vorhaben zu erkennen gegeben.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist doch wieder frei erfunden, Herr Witzel!)

Diese Positionsbeschreibung gilt seit den letzten Erörterungen im Haushalts- und Finanzausschuss fort. Da die erhöhte Gewerbesteuerumlage ohne neue gesetzgeberische Handlungen automatisch ausläuft, ist aktuell politisch nichts zu veranlassen.

Daher ist das Begehren im SPD-Antrag unverständlich und interessant zugleich. Da eine Fortschreibung der kommunalen Mehrbelastung eine entsprechende Willensbildung seitens der Bundesregierung mit voraussetzen würde, liegen der SPD als Regierungspartei im Bund hier offenbar neuere Erkenntnisse vor. Von diesen sollten Sie uns im Hohen Haus dann auch transparent berichten. Uns ist gegenwärtig keine Ländermehrheit bekannt, die eine erhöhte Gewerbesteuerumlage fortsetzen wollte.

Da wir offenbar im Interesse der nordrhein-westfälischen Kommunen dieselbe Zielsetzung verfolgen, sollten wir gemeinsam im Haushalts- und Finanzausschuss erörtern, welche realen Gefahren aus Sicht der SPD drohen, dass die Mehrbelastung bestehen bleiben könnte, und wie wir alle mit unseren Gestaltungsmöglichkeiten in Land und Bund mit der Situation umgehen. In ihren unterschiedlichen Rollen in Land und Bund können CDU, SPD und FDP diesbezüglich einen wichtigen Beitrag leisten. Unsere Verantwortung sollten wir wahrnehmen.

Herr Kollege Zimkeit, Sie müssen hier vortragen, was Ihnen von Plänen der Bundesregierung, an denen die SPD beteiligt ist, bekannt ist, sodass Sie das, was Sie hier beschreiben, für ein reales Szenario halten. Gegen den Bund kann das, was Sie hier befürchten, nicht entschieden werden. Welche Erkenntnisse oder Befürchtungen haben Sie dort von Planungen Ihres SPD-Bundesfinanzministers? Diese Fragen, glaube ich, müssen Sie in diesem Hause beantworten.

(Vereinzelt Beifall von der FDP)

Wir freuen uns in diesem Sinne auf die weitere Beratung im Fachausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Witzel. – Für die Grünen erteile ich Herrn Mostofizadeh das Wort.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Beitrag von Herrn Witzel will ich zu dem Kern zurückkommen, worum es eigentlich geht. Es stellt sich eine ganz banale Frage: Wird Nordrhein-Westfalen im Bundesrat dem Ansinnen von Hessen zustimmen, die Gewerbesteuerumlage über das Jahr 2019 hinaus fortzuführen? – Da könnte man schlichtweg mit Nein antworten und sagen: Wir würden diesen Antrag ablehnen, wenn er im Bundesrat zur Abstimmung kommt. – Das wäre ganz einfach, ganz banal, Ende der Durchsage. Dann hätten wir in diesem Parlament eine ziemliche Klarheit, wie es damit weitergeht.

(Beifall von den GRÜNEN und Stefan Zimkeit [SPD])

Stattdessen fängt Herr Witzel an, in die Psyche von Herrn Olaf Scholz hineinzubohren und zu fragen: Woher kommt denn dieser Antrag? Wieso musste der diese Koalition mit dieser schwierigen Frage belasten? – Herr Witzel, ich empfehle Ihnen einfach einen Blick in Ihren eigenen Koalitionsvertrag – es sei denn, auch darin sind wieder viele Tricksereien versteckt. Wenn ich den richtig lese, steht dort: Wir wollen echte 23 %. – Und da passt eine Gewerbesteuerumlagefortführung einfach nicht zum Thema. Sagen Sie es doch einfach! Wenn Sie es wollen, stimmen Sie dem Antrag der Sozialdemokraten zu. Wir haben Klarheit und brauchen nicht weiterdiskutieren, was die FDP und die CDU in den nächsten Monaten machen wollen.

In der Kleinen Anfrage, die eben erwähnt worden ist, steht nicht: „Wir lehnen das ab“, sondern: Wir sehen das äußerst kritisch.

Ich komme auf Herrn Moritz zurück.

(Zuruf von der SPD: Hat er da abgeschrieben!)

Wenn man hört, was Sie gesagt haben, kann man sich fragen, ob das „äußerst kritisch“ ist. Sie führen an, wir werden den Altschuldenfonds irgendwie bearbeiten. Wir haben den Kommunalsoli abgeschafft. – Sie haben den Kommunalsoli mitnichten abgeschafft, sondern Sie haben den Kommunalsoli so abgeschafft, dass die Kommunen Hagen, Breckerfeld und andere, die bereits in den Solidarpaktfonds eingezahlt haben, jetzt die Zeche dafür zahlen, dass die Stadt Monheim ihren Anteil von 91 Millionen nicht mehr zahlen muss.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

Wenn das tatsächlich die Logik ist, Herr Kollege Moritz, höre ich in diesem Parlament die Nachtigall sehr laut trapsen und muss sagen: Achtung, liebe Kommunen, hier droht die nächste Trickserei.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich habe heute im Vorfeld der Diskussion überlegt: Was willst du im Parlament groß sagen? FDP und CDU werden nach vorne gehen und sagen: SPD, dieses Antrags hätte es nicht bedurft.

Wir haben eine klare Haltung. Wir sind für die Ablehnung der Fortführung der erhöhten Gewerbesteuerumlage. Die ist im Übrigen 1969 von Franz Josef Strauß mit eingeführt worden. Dann hätten wir Klarheit in diesem Parlament, und dann muss man gar nicht weiter darüber reden. Stattdessen winden Sie sich, Sie plustern sich auf und erzählen: Wir sind doch solidarisch gewesen und 1 Milliarde Euro Entlastung.

Das ist übrigens auch falsch gerechnet. Der Finanzminister müsste gleich vielleicht mal die konkreten Zahlen darstellen. Aber es geht doch einzig und allein um das Bekenntnis dieser Koalition: Im Bundesrat werden wir gegen jede Initiative stimmen, die dazu führen könnte, die Gewerbesteuerumlage über das Jahr 2019 hinaus fortzuführen, egal ob der Antrag von Hessen, Baden-Württemberg, von den Ostländern oder woher auch immer kommt. Unabhängig vom Parteibuch werden wir dies ablehnen. – Klare Haltung, klare Ansage, klare Fortführung, klare Ansage des Finanzministers. Ende der Durchsage, und wir könnten weitermachen. Stattdessen Pirouette, Pirouette, schwafeln, schwafeln, schwafeln. Die Kommunen im Ruhrgebiet haben ganz viel Leistung gezeigt, die Infrastruktur ist kaputt – das ist alles nicht das Thema.

Sagen Sie ganz einfach: Wir wollen die Gewerbesteuerumlage über 2019 nicht fortführen. – Dann haben wir Klarheit. Die Kämmerer sind an der Stelle ein Stück beruhigt. Dann können wir uns den Fachthemen zuwenden, wo Herr Höhe gestern noch gesagt hat: Ach, das führt alles zu weit, Altschuldenfonds bekämpfen, den Stärkungspakt neu konzipieren und die weiteren Fragen der Kommunen bearbeiten.

Das tun Sie alles nicht. Sie holpern hier herum trotz Milliarden Steuermehreinnahmen. Das ist des Parlaments unwürdig. Ich denke, dass sich der Finanzminister hier hinstellen und sagen wird: Macht euch keine Sorgen. Nordrhein-Westfalen wird dem Antrag nicht zustimmen. – Wir werden alles dafür tun, dass die Kommunen 2020 mehr Geld in der Tasche haben. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Bevor die Landesregierung die Gelegenheit zum Wort erhält, hat zunächst für die AfD der Kollege Strotebeck das Wort.

Herbert Strotebeck (AfD): Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Die Stoßrichtung des vorliegenden Antrags unterstützen wir. Die Gewerbesteuerumlage soll 2020 mit der Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen entfallen, und unsere Städte und Gemeinden sollen damit nachhaltig entlastet werden.

So steht es auch im Gesetz zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung unter § 6: Umlage nach Maßgabe des Gewerbeeinkommensteuergesetzes. Der Landesvervielfältiger nach Satz 4 wird ab dem Jahr 2020 um 29 Prozentpunkte abgesenkt.

Bei der Errichtung des Fonds „Deutsche Einheit“ und beim gesamtdeutschen Finanzausgleich haben die westlichen Bundesländer bekanntermaßen starke Belastungen auf sich genommen. Dies geschah über die erhöhte Gewerbesteuerumlage. Die Benachteiligung westdeutscher Städte hat dabei teilweise die kommunale Schuldenlast enorm vergrößert.

Der hessische Ministerpräsident Bouffier schlug nun überraschend vor, die Erhöhung beizubehalten, aber auf 20 bis 22 Vervielfältigungspunkte abzusenken. Auf der Ablehnung dieses Vorschlags beruht der vorliegende Antrag. Leider ist es nicht nur der Hessische Ministerpräsident, der die erhöhte Gewerbesteuerumlage gerne weiterführen möchte, um seinen Landeshaushalt zu schonen, auch das grüne Finanzministerium von Ministerin Sitzmann in Baden-Württemberg findet Gefallen an der Idee. Dies haben Sie in Ihrem Antrag vergessen zu erwähnen.

Überhaupt hat derjenige, der diesen Antrag geschrieben hat, offensichtlich selbst nur wenig ernsthaftes Interesse an diesem Thema. Der ganze SPD-Antrag besteht aus elf Sätzen. Solch ein dürftiges Papier würde die AfD-Fraktion nicht einmal als Kleine Anfrage verfassen.

(Markus Wagner [AfD]: Und rückwärtsgewandt!)

– Und rückwärtsgewandt.

Egal, wie man zum Thema „erhöhte Gewerbesteuerumlage“ steht, in einen ernsten Antrag gehört das Anvertrauen und Aufzählen von Argumenten. Warum gehen Sie nicht auf das Papier und den Brief von Herrn Bouffier im Detail ein? Was ist mit den Argumenten des Deutschen Städtetages? Ein Antrag sollte dazu dienen, die anderen Parteien und indirekt die Bürger von einem eigenen Anliegen zu überzeugen. Wie wollen Sie dies mit einem solchen Sparflammenantrag erreichen?

Gern ergänzen wir von der AfD-Fraktion Ihren Antrag inhaltlich. Ein entscheidendes Argument haben Sie nämlich vergessen: Die Ideen aus Hessen sind möglicherweise verfassungswidrig, wie der Deutsche Städtetag hervorhebt, weil sie – Zitat – massiv in die bestehenden finanzpolitischen Grundsätze eingreifen und zudem über das Jahr 2020 hinaus eine Ost-West-Trennung zementieren würden.

Auch die nackten Zahlen verdeutlichen, welche große Bürde auf unseren Kommunen durch die erhöhte Abgabe lastet. So machte 2014 die erhöhte Gewerbesteuerumlage über 60 % der gesamten Gewerbesteuerumlage aus. Diese 60 % werden dann ab 2020, wenn das Gesetz in der aktuellen Fassung erhalten bleibt, unseren Städten und Gemeinden zugutekommen bzw. erhalten bleiben.

(Beifall von der AfD – Markus Wagner [AfD]: Sehr gut!)

Des Weiteren warnt der Deutsche Städtetag davor, dass bei einer Umsetzung der Pläne aus Hessen ein länderübergreifender Finanzausgleich zwischen Städten und Gemeinden eingeführt würde. Wenn Sie von der SPD wollen, dass die Landesregierung und die Parteien hier im Land Farbe bei der Gewerbesteuerumlage bekennen, warum stellen Sie den Antrag dann nicht zur direkten Abstimmung? Wir haben doch gerade von Herrn Moritz, von Herrn Witzel ziemlich klare Statements gehört, auch wenn Sie, Herr Mostofizadeh, es anders gesehen haben. Warum wollen Sie es erst noch in die Ausschüsse bringen? Welche Argumente über die hinaus, die Sie bereits vorgebracht haben, wollen Sie dort bringen?

Dennoch stimmen wir natürlich als AfD-Fraktion der Überweisung zu und bedanken uns. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Strotebeck. – Für die Landesregierung spricht nun der Finanzminister Lienenkämper.

Lutz Lienenkämper, Minister der Finanzen: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Landesregierung hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht und nutzt die Gelegenheit der heutigen Debatte, das ein weiteres Mal zu tun, dass sie den hessischen Diskussionsbeitrag zu einer verminderten Weiterführung der Gewerbesteuerumlage äußerst kritisch beurteilt. Mehr ist derzeit auch nicht notwendig. Denn es gibt aktuell im Bundesrat weder einen Entschließungsantrag noch eine Gesetzesinitiative aus Hessen.

Der Wegfall der erhöhten Gewerbesteuerumlage ab 2020 ist – wie Sie auch wissen – geltende Rechtslage. Deshalb kann ich auch nicht so richtig den Sinn Ihrer Forderung erkennen, sich auf Bundesebene für etwas einzusetzen, was ohnehin schon gilt.

Im Übrigen wissen Sie spätestens seit gestern, dass unsere mittelfristige Finanzplanung konsequenterweise ab 2020 keine entsprechenden Einnahmen aus der Umlage enthält. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister Lienenkämper. – Für die SPD hat noch einmal Herr Zimkeit ums Wort gebeten.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, Sie wollen es nicht hören, aber Sie müssen es sich anhören, nachdem Sie hier wieder jede klare Aussage verweigert und versucht haben, mit dem Werfen von Nebelkerzen vom Thema abzulenken.

Festzuhalten bleibt: Eine klare Aussage, wie sie unter anderem der Kollege Mostofizadeh von der Landesregierung und den Fraktionen gefordert hat, hat es nicht gegeben. „Äußerst kritisch“ heißt nicht: Wir lehnen das ab.

Sie wollen sich jetzt herauswinden, nach dem Motto: Die Entscheidung des Bundesrats liegt noch nicht vor. – Es handelt sich um ein Gebot der Höflichkeit, Herr Lienenkämper. Die Landesregierung hat einen Brief mit dem besagten Vorschlag des hessischen Ministerpräsidenten erhalten, und sie hat einen Brief der kommunalen Spitzenverbände bekommen, in dem die Sorgen dargestellt worden sind. Es ist ein Gebot der Höflichkeit und der politischen Vernunft, diese Briefe zu beantworten und sich klar zu positionieren.

Die Tatsache, dass Sie das nicht tun, heißt für mich, dass die Gefahr besteht, dass Sie diesen Weg mitgehen wollen. Sie weigern sich, klar und deutlich zu sagen: „Wir lehnen diese Initiative ab“, und das lässt befürchten, dass Sie wieder Ihren Raubzug durch die kommunalen Kassen beginnen wollen.

Bitte überlegen Sie noch einmal – im Gegensatz zu anderen freuen wir uns auf die Diskussion im Ausschuss –, ob Sie damit den Kommunen, die ein schnelles Signal brauchen, einen Gefallen tun. Mit dem Fehlen einer klaren Äußerung gestalten Sie die Haushaltsplanung für die NRW-Kommunen sehr schwierig. Deswegen kann ich nur noch einmal an Sie appellieren, das ernst zu nehmen, was Sie, Herr Moritz, hier in großem Duktus vorgetragen haben, nämlich wie toll Sie das mit den Kommunen machen.

Das haben die Kommunen selbst erlebt, als Sie die Krankenhausfinanzierung mal eben zu Lasten der Kommunen hochgefahren haben, und diese das aus der Zeitung erfahren haben. Das ist Ihr Umgang mit den Kommunen. Das zeigt, dass die Ängste der kommunalen Spitzenverbände berechtigt sind. Deshalb fordern wir Sie auf: Nehmen Sie diese Ängste ernst und positionieren Sie sich endlich!

(Beifall von der SPD und Zuruf von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Zimkeit. Bitte, bleiben Sie stehen, es gibt es eine Kurzintervention aus den Reihen der FDP, und der Kollege Witzel hat das Wort.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident! Herr Kollege Zimkeit, Sie haben gerade von den Koalitionsfraktionen klare Antworten auf vonseiten der SPD-Landtagsfraktion gestellte Fragen eingefordert. Ich möchte umgekehrt meine Bitte an Sie erneuern, auch die von uns gestellte Frage zu beantworten.

Sie haben ein Thema auf die politische Agenda gesetzt, das nach meiner rechtlichen Kenntnis eine Mitwirkung des Bundes und des Bundesfinanzministers sowie der Bundesregierung erfordert, wenn es so realisiert werden soll, wie es sich die schwarz-grüne Regierung in Hessen vorstellt, mit einer Verlängerung des Regimes des Solidarpakts in der Finanzierung.

Deshalb stelle ich Ihnen die Frage: Was ist Ihnen in dieser Hinsicht von Ihrem SPD-Bundes­finanz­minister bekannt? Gibt es seitens der Bundesregierung entsprechende Planungen, die uns bislang nicht bekannt sind, auf die wir uns als Landespolitiker in den Debatten der nächsten Wochen gegebenenfalls einstellen können?

Präsident André Kuper: Bitte, Kollege Zimkeit.

Stefan Zimkeit*) (SPD): Nein, auf der SPD-Seite der Bundesregierung gibt es keine entsprechenden Planungen. Wenn es aber eine hessische CDU-Initiative gibt, der die nordrhein-westfälische CDU nicht widerspricht und ihr nicht klar entgegentritt, machen wir uns natürlich Sorgen, dass das auch auf die Bundesebene kommen kann.

Der entscheidende Punkt ist doch: Es gibt eine Initiative aus Hessen. Dazu ist die Landesregierung gefragt worden, ob sie diese Initiative mitträgt. Hierzu verweigert die Landesregierung jede Antwort. Das macht die Kommunen ängstlich, nervös und betroffen. Deswegen erwarten wir – das werden Sie bald tun müssen – in der nächsten Ausschusssitzung ein Votum, wie Sie sich dazu stellen, ob Sie sich – ich wiederhole die Frage – an die Seite der hessischen CDU oder der nordrhein-westfälischen Kommunen stellen. Bisher sieht es so, als wollten Sie sich auf die Seite der hessischen CDU stehen.

(Zuruf von der CDU – Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Meine Damen und Herren, mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Somit haben wir den Schluss der Aussprache erreicht, und ich lasse abstimmen.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags in der Drucksache 17/3595 an den Haushalts- und Finanzausschuss – federführend – sowie an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen.

Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich ums Handzeichen. – Das sind SPD, GRÜNE, CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Kollege Neppe. Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Das ist dann einstimmig als Überweisungsempfehlung angenommen.

Ich rufe auf:

6  Studienerfolg einer vielfältigen Studierendenschaft sichern

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/3583

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn Matthi Bolte-Richter.

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Nordrhein-Westfalen ist ein Land der Vielfalt und ein Land des Aufstiegs durch Bildung. Beides haben wir letzte Woche beim Festakt zur Verabschiedung des deutschen Steinkohlebergbaus in vielen beeindruckenden Geschichten noch einmal geschildert bekommen.

Die Hochschulen im Ruhrgebiet haben dabei eine ganz besondere Rolle gespielt. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten vielen sogenannten Arbeiterkindern – gerade auch mit Migrationsgeschichte – eine Aufstiegsperspektive verschafft. Diese jungen Menschen haben hart gearbeitet – man könnte sagen: im Hörsaal malocht –, um ihren Familien eine neue Perspektive zu verschaffen.

Diversität leistet ihren Beitrag sowohl zur Bildungsgerechtigkeit als auch zur Exzellenz. Exzellente Wissenschaft braucht Diversität und Originalität, so beschreibt es die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Warum? Weil Diversität für Forschungsorganisationen wie auch für Hochschulen von großer Bedeutung ist. Das lässt sich noch erweitern, denn Hochschulen sind nicht nur ein Ort der Wissensgenerierung, der Wissensvermittlung, sie sind auch Orte der Aus- und Weiterbildung. Ganz besonders sind sie Impulsgeber für gesellschaftliche Weiterentwicklung, für gesellschaftlichen Fortschritt.

Gerade junge Menschen mit Migrationsgeschichte haben schon viele Unterstützungsangebote und Unterstützungsstrukturen an den Hochschulen. Wir haben in unserem Antrag einige gute Beispiele benannt. Wir zeigen aber auch auf, dass es noch Herausforderungen gibt.

Die Zahl der Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger mit Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren konstant gestiegen. Das ist gut, aber es könnten noch mehr werden, wenn wir die bereits vorhandenen guten Angebote neu und besser ausrichten, um frühzeitig das Interesse an einer akademischen Ausbildung zu wecken.

Auch die Zahl der Geflüchteten, die ein reguläres Studium aufnehmen, ist in der letzten Zeit gestiegen, und sie steigt konsequent weiter. Das zeigt den großen Willen dieser Menschen, den sie zum Aufstieg durch Bildung haben, aber das zeigt in besonderer Weise auch ihre Bereitschaft, ihren Willen und ihren Wunsch, sich in unsere Gesellschaft einzubringen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aus Respekt vor diesem Willen wollen wir Hürden abbauen, die es heute noch gibt.

Zur Diversität und zur Internationalisierung gehört auch, dass wir Ihre Ausländerstudiengebühren, meine Damen und Herren von der CDU und der FDP, als Irrweg betrachten. Vielfalt beschränkt sich nicht nur auf den kulturellen Hintergrund, obwohl sie in diesem Kontext oft diskutiert wird, sondern sie ist divers. Daher legen wir Ihnen heute ein umfangreiches Programm für eine bunte Uni vor.

Wir wollen Studierende mit Behinderung, mit chronischen Erkrankungen und mit psychischen Erkrankungen unterstützen. Barrierefreiheit fängt im Kopf an, heißt es immer so schön. Diesen Gedanken gilt es, mit Leben zu füllen. Es ist richtig, dass Barrierefreiheit nicht beim Hochschulbau enden darf, sondern dort anfangen muss.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir wollen auch Studierende mit Kindern fördern. Dazu gehört eine gute und ausreichende Kinderbetreuung, die so flexibel ist wie das Leben der Studierenden. Dafür ist es notwendig, dieses Thema noch stärker in den Köpfen der Menschen zu verankern und das Bewusstsein dafür zu stärken, damit der Wunsch nach Kindern und der nach einer wissenschaftlichen Karriere sich nicht mehr entgegenstehen, wie das heute noch viel zu oft der Fall ist.

Wir wollen die Zahl der Studienabbrüche reduzieren. Die Gründe für ein längeres Studium liegen in der Regel nicht bei mangelnder Disziplin – im Gegenteil: Gerade Studierende mit Finanzierungsproblemen zeigen einen besonderen Einsatz und arbeiten hart für die Chance, die ihnen ein Studium für ihr weiteres Leben bietet.

Besser wäre es natürlich, das Problem, das den Grund für die überwältigende Anzahl von Studienabbrüchen und von Verlängerungen der Studienzeiten darstellt, bei der Wurzel zu packen, indem der Bund endlich ein höheres, weniger bürokratisches, flexibleres, Bologna-konformes und familiengerechtes BAföG schafft. Was wir hingegen nicht brauchen, ist eine Stigmatisierung von Langzeitstudierenden und Sanktionen, wenn man nicht nach einer definierten Zeit eine vordefinierte Zahl von Credit Points erwirtschaftet hat.

Meine Damen und Herren, Hochschulen sind ein Ort des gesellschaftlichen Fortschritts, des kritischen Diskurses und des gelebten Miteinanders. Wir lassen uns diese Vielfalt nicht kaputtmachen – gerade in dieser Zeit. Wer für Vielfalt, für Demokratie und für Menschenwürde einsteht, kann sich unserer Unterstützung sicher sein.

Lassen Sie uns gerne heute und im Ausschuss darüber sprechen, wie unser Land und unsere Hochschulen Orte der Vielfalt bleiben. Auf die Beratung im Ausschuss freue ich mich. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Herzlichen Dank, Herr Bolte-Richter. – Für die CDU erteile ich nun dem Kollegen Tigges das Wort.

Raphael Tigges (CDU): Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den vorliegenden Grünenantrag gelesen habe, lieber Matthi Bolte-Richter, fragte ich mich, ob wir heute einen Landesparteitag der Grünen abhalten und Ihr Grundsatzprogramm zur Hochschulpolitik in NRW diskutieren und verabschieden sollen.

(Matthi Bolte-Richter [GRÜNE]: Das ist länger, keine Angst!)

Sie stellen hier einen siebenseitigen Globalantrag mit 19 Punkten zur Beschlussfassung, der von der Weiterentwicklung der Studieneingangsphasen über BAföG-Themen inklusive einer Bundesratsinitiative bis hin zur Einrichtung von Babywickelmöglichkeiten an Hochschulen reicht. Für mich sieht das so aus, als hätten Sie sich mit Ihrem Mitarbeiter hingesetzt und ein großes Brainstorming abgehalten, wobei Sie alles aufgeschrieben haben, was Ihnen zum Thema „Hochschule“ so einfällt.

Sollte das tatsächlich der Vorbereitung Ihres Grundsatzprogramms –

(Zuruf von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

dienen, wäre es etwas zu spät. Das hätten Sie dann besser im letzten Jahr zur Vorbereitung der Landtagswahl machen sollen,

(Heiterkeit von der CDU)

oder viel besser noch: Eigentlich hätten Sie das schon während Ihrer Regierungszeit in den letzten sieben Jahren machen sollen, dann hätten Sie die Hochschulsituation in diesem Land deutlich verbessern können. Jetzt ist das etwas zu spät.

(Beifall von der CDU)

Mein Großvater in der ostwestfälischen Heimat hat auf Plattdeutsch immer gesagt: „Nicht küen, mehr müen!“, was so viel heißt wie: „Nicht erzählen, sondern einfach machen“.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das ist genau der Ansatz der NRW-Koalition von CDU und FDP.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Wir kümmern uns seit Mai letzten Jahres konsequent um gute Rahmenbedingungen für die Studierenden, aber auch für die Lehrenden in unserem Bundesland. Allerdings verfolgen wir dabei einen etwas anderen Ansatz als Sie. Wie es in der grünen Politik oft der Fall ist, wollen Sie viel stärker reglementieren, und so heißt es an mehreren Stellen Ihres Antrags: „Die Hochschulen müssen …“, „Es muss sichergestellt werden …“ oder „Es muss ausgebaut werden …“. Zustimmen kann ich Ihnen da nur in den Punkten, wo Sie schreiben, dass wir die Hochschulen dabei unterstützen sollten, und genau das ist der Kern.

Mit dem damals unter schwarz-gelber Regierungsverantwortung verabschiedeten Hochschulfreiheitsgesetz hat das Land NRW gute Erfahrungen damit gemacht, den Hochschulen mehr Freiräume zu geben, und die Hochschulen haben sie im weitesten Sinne verantwortungsvoll und erfolgreich genutzt. Mit der Novellierung des Hochschulgesetzes, das zeitnah in dieses Parlament eingebracht werden wird, wollen wir genau das weiter stützen. Diese Novellierung wird die wichtigen Entwicklungen und Veränderungen der letzten Jahre aufgreifen und auf den Stand der Zeit bringen.

Die NRW-Koalition will unsere Hochschulen in ihrer Rolle als Taktgeber für Innovation, für Integration und für gesellschaftlichen Fortschritt weiter stärken. Das gewährleisten wir, indem wir – das haben wir gestern schon gehört – den Hochschulen gegenüber 2018 noch einmal 335 Millionen Euro mehr an Finanzmitteln zur Verfügung stellen möchten – 50 Millionen Euro im Übrigen für neue Programme zur Unterstützung der Digitalisierung an Hochschulen. Das sind klare Zeichen.

Bei der Verwendung der Mittel setzen wir auf die eigenverantwortliche Gestaltungskraft und auf die Expertise der Hochschulen, um mit ihnen gemeinsam und auf Augenhöhe den Herausforderungen dieser Gesellschaft – wie Sie sie in Ihrem Antrag lediglich beschreiben, aber keine Lösungen aufzeigen – zu begegnen.

Sie fordern in Ihrem Antrag, den Studienerfolg durch die verschiedensten Förderprogramme zu unterstützen. Dazu kann ich eigentlich nur sagen, dass es, wie Ihnen bekannt sein sollte, bereits viele Förderprogramme, Finanzierungsstrukturen und Beratungsangebote an den Hochschulen gibt, die auch genutzt werden. Ich nenne beispielsweise die Programme zur Integration von Flüchtlingen an Hochschulen oder zur Förderung des Studieneinstiegs von jungen Menschen aus bildungsfernen Familien. All das gibt es schon.

Ebenso ist es kein Geheimnis mehr, dass unsere Hochschulen erkannt haben, dass die Vereinbarkeit von Familie und einer wissenschaftlichen Karriere immer wichtiger wird. Das zeigen zum Beispiel die Dual-Career-Programme an den verschiedenen Hochschulen in diesem Land.

Ein Beispiel dafür, dass wir nicht stigmatisieren, sondern flexibilisieren wollen, ist der Antrag, den CDU und FDP jetzt eingebracht haben, womit Studierenden, die eine Firma gründen möchten, ermöglicht wird, ein Urlaubsemester zu nehmen.

(Zuruf von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

Diesen Antrag, Matthi Bolte-Richter, diskutieren wir jetzt schon im Wissenschaftsausschuss. Und da freue ich mich, wenn Sie das unterstützen, um damit ein Zeichen zu setzen.

Ein letzter Punkt: Dass insbesondere bei Hochschulsanierungen und Neubauten barrierefrei gebaut werden sollte, versteht sich heutzutage von selbst. Dazu brauchen wir keinen Antrag von Ihnen. Das sind nur einige beispielhaft angeführte Themen, denen wir uns bereits gemeinsam mit den Hochschulen widmen, um nicht nur die Hochschulen, sondern insgesamt unser schönes Bundesland sozial, divers, familienfreundlich, weltoffen und vielfältig weiterzuentwickeln. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelter Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Besten Dank, Herr Kollege. – Für die SPD spricht nun unser Abgeordnetenkollege Bell.

Dietmar Bell (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Vorab: Diversität ist ein wichtiges strategisches Entwicklungsziel unserer Hochschulen. Deswegen sind viele Punkte, die im Antrag der Grünenfraktion aufgelistet sind, aus unserer Sicht zielführend und zutreffend; das will ich so deutlich sagen.

Wenn man einen solch umfangreichen Antrag vorgelegt bekommt, muss allerdings die Frage erlaubt sein, welche Debatte man eigentlich befeuern will. Das wird man zum einen in die Debatte über das neue Hochschulgesetz einsortieren müssen und zum anderen in die Debatte über die Abschaffung des Landeshochschulentwicklungsplans, die mit dem neuen Hochschulgesetz über die Bühne gehen soll.

Ich würde jetzt gerne ein paar tröstende Worte für den Großvater von Herrn Tigges finden.

(Zuruf von der CDU: Der lässt sich von Ihnen nicht trösten!)

– Doch, sicher. Also, wenn der Eindruck entsteht, dass man nur redet und nicht macht, dann ist das ja ein schlechter Eindruck von Politik. Dem würde ich gerne ein Stück weit entgegenwirken, indem ich vortrage, was wir in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit den Hochschulen, Herr Tigges – als Landtag und als Ministerium – zum Beispiel bereits im Landeshochschulentwicklungsplan in Fragen der Diversität verabredet und vereinbart haben.

Dieser Landeshochschulentwicklungsplan ist – anders, als immer behauptet wird – kein Instrument einer zentralistischen Staatssteuerung, sondern eine freiwillige Verabredung zwischen den Hochschulen und dem Land bzw. uns als Landtag gewesen, der im Übrigen noch eine Laufzeit bis zum 31.12.2021 hat. Mit großer Freude erwarten wir Mitte nächsten Jahres den Zwischenbericht des Ministeriums über das, was vereinbart wurde. Darauf sind wir schon sehr gespannt.

Als eines der strategischen Entwicklungsziele ist seinerzeit Diversität vereinbart worden. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten aus diesem Landeshochschulentwicklungsplan. Das ist State of the Art, das ist das, was mit den Hochschulen schon vor über zwei Jahren verabredet worden ist:

„Individuelle, physische und psychische Verfasstheit, soziale Schicht, Ethnizität, religiöse Orientierung, sexuelle Identität, Alter und Geschlecht dürfen kein Studienhindernis sein. Leitbild ist dabei die Wertschätzung und Berücksichtigung der Vielfalt der Studierenden, ihrer Lebensumstände und Lebensentwürfe als Teil einer diversitätsgerechten Hochschulentwicklung. Die Hochschule soll ein Lernort für alle sein. Durch aktives Diversitätsmanagement werden die strukturellen Voraussetzungen für Studienerfolg und für individuelle Bildungskarrieren weiter verbessert.“

Dieses grundsätzliche, strategische Entwicklungsziel ist in Übereinstimmung mit den Hochschulen getroffen worden. Deswegen ist so manches, was in dem Antrag als Forderung beinhaltet ist, bereits State of the Art in Übereinstimmung mit den Hochschulen. Wir werden schauen, wo die Hochschulen bei der Evaluierung des Landeshochschulentwicklungsplans stehen. In den letzten sieben Jahren haben wir in diesem Bereich durchaus ein bisschen gearbeitet, auch an Fragestellungen, die genau diese Themen betreffen.

Im Hochschulentwicklungsplan steht unter den strategischen Zielen „Angebotsdifferenzierung“: Nicht zuletzt, um der Vielfalt der Studierenden noch besser gerecht zu werden, differenzieren die Hochschulen ihr Studienangebot organisatorisch und inhaltlich weiter aus, soweit dies ihren institutionellen Zielen entspricht und mit ihren kapazitativen Möglichkeiten vereinbar ist. Organisatorisch geht es dabei insbesondere um die Ermöglichung eines Teilzeitstudiums bzw. die mit dem Hochschulzukunftsgesetz ermöglichte Nutzung der individualisierten Regelstudienzeit. Das soll die persönlichen Belange von Studierenden in ihrer persönlich differenten Lage berücksichtigen.

Wir haben sehr weitgehend auch die Frage der Studieneingangsphasen vereinbart, um Studierenden mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen – ob sie aus der beruflichen Bildung kommen, ob sie aus studienfernen oder aus studiennahen Familien kommen – die Möglichkeit zu geben, Defizite aufzuarbeiten oder eine Orientierung vorzunehmen. Auch das ist in diesem Vertrag vereinbart.

Deswegen empfehle ich immer: Wenn man über bestimmte hochschulpolitische Fragen spricht, über Forderungen oder über das, was nicht gut gelaufen ist, erleichtert ein Blick auf die Realität an unseren Hochschulen die Debatte in diesem Haus. In diesem Sinne wünsche ich uns eine gehaltvolle Debatte im Ausschuss und freue mich auf die Auseinandersetzungen.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Kollege Bell. – Für die FDP erteile ich nun unserem Kollegen Körner das Wort.

Moritz Körner (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Das ist schon schön zu sehen, wie der eine ehemalige Koalitionspartner viele Forderungen in einem Antrag vorbringt und der andere ehemalige Koalitionspartner darstellt, dass ihr das alles schon im Hochschulgesetz und im Landeshochschulentwicklungsplan verwirklicht habt.

(Dietmar Bell [SPD]: Nicht alles!)

Vielleicht müsst ihr da noch mal gemeinsam in die Aufarbeitung eurer vermeintlichen Regierungserfolge gehen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Ich glaube, wir sind uns alle einig bei dem Ziel, das im Antrag steht: Bildungsaufstieg für alle. – Darin können wir hier im Hause einen Konsens finden.

Nordrhein-Westfalen ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Kollege Bolte hat an die Verabschiedung des Steinkohlebergbaus erinnert und an die Gründungen von Hochschulen und Universitäten hier in Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen der Bildungsexpansion wurde die alte, elitäre Uni abgeschafft, und die Universitäten wurden geöffnet für breite Schichten der Gesellschaft. Die Chance auf einen Bildungsaufstieg für jeden Einzelnen unterstützen wir Liberale immer.

Ich will an dieser Stelle aber ein bisschen Wasser in den Wein schütten. In dem Antrag wird wieder gefordert, die Talentscouts massiv zu stärken, die in den Schulen Werbung für ein Studium machen. Das ist bei dem einen oder anderen, der nicht aus einem akademischen Elternhaus kommt, sicher sinnvoll, weil wir damit Talente an die Hochschulen bekommen.

In Zeiten jedoch, in denen wir mittlerweile einen eklatanten Fachkräftemangel beklagen, in denen die Azubis in vielen Bereichen fehlen, müssen wir einfach sagen:

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wir brauchen in der Schule ein Programm, das insgesamt über Perspektiven in der beruflichen Ausbildung und in der akademischen Ausbildung informiert. Ich muss ganz klar sagen: Mir ist ein glücklicher Handwerker manchmal lieber als ein frustrierter Akademiker.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich will nicht auf alle 19 Punkte des Antrags eingehen; das können wir im Ausschuss detaillierter diskutieren. Einen Punkt möchte ich jedoch gesondert aufnehmen.

Kollege Bolte hat wieder von der Sanktionierung von Langzeitstudierenden gesprochen. Er meint damit unsere Studienverlaufspläne, die wir im Hochschulgesetz planen. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass keinerlei Sanktionen im Hochschulgesetz vorgesehen sind. Lieber Kollege Bolte, vielleicht schauen Sie sich einfach mal ein Beispiel an wie das „Studium Flexibel“ an der Hochschule Südwestfalen. Dort hat man ein anderes, etwas länger gestricktes Studium entwickelt, das mit besonderer Unterstützung und Tutorien abläuft.

So etwas können Studienverlaufspläne auch sein. Das kann gerade den Studierenden, die Sie, so glaube ich, mit diesem Antrag unterstützen wollen, helfen. Das kann eine Hilfestellung sein, und das sollten wir nicht verdammen.

(Beifall von der FDP)

Lassen Sie mich noch etwas sagen: Es ärgert mich, wieder einen Punkt in diesem Antrag zu finden, über den wir im Ausschuss schon debattiert haben, nämlich die Forderung nach einem landesseitigen Erlass für die Personengruppe mit Aufenthaltsgestattung, die dem Grunde nach BAföG-förderungsfähig in schulischer und akademischer Ausbildung ist.

Das haben wir im Ausschuss diskutiert. In der Sache sind wir uns – SPD und Grüne zumindest – einig: Es gibt den einstimmigen Beschluss der Integrationsministerkonferenz, dass auf Bundesebene eine entsprechende Regelung kommen muss. Es gibt dazu übrigens auch – darauf hat die Kollegin Beer im Ausschuss verwiesen – einen Antrag der FDP-Bundestagsfraktion.

Das oberste Gericht für diesen fachlichen Bereich, das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, hat am 19.02.2018 jedoch entschieden, dass eine regelhafte Annahme eines Härtefalls der Intention des Bundesgesetzgebers widerspricht und deswegen landesseitig nicht rechtens ist.

Ich muss ganz ehrlich sagen: Es ärgert mich, wenn ich von diesen beiden Fraktionen gestern in der Fragestunde etwas von der unglaublichen Bedeutung des Rechtsstaates zu hören bekomme und wie wichtig es sei, Gerichtsurteile zu berücksichtigen. Wir haben Ihnen dieses Gerichtsurteil schon mehrfach in Ausschusssitzungen vorgelegt, und Sie schreiben diesen Punkt immer wieder in Ihr Anträge. Das ist einfach unglaublich!

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich hoffe, dass Sie das im Rahmen der Ausschussberatung zurücknehmen.

Dann kommt immer das Beispiel – ich glaube, im Ausschuss war es der Kollege Bell –: Niedersachsen macht das ja so. – Ja, richtig, aber in Niedersachsen gibt es genau diesen Beschluss des Landessozialgerichtes nicht. Das ist doch der Unterschied!

Ich dachte, gerade Ihnen, den großen Verteidigern des Rechtsstaats, als die Sie sich gestern noch erklärt haben, müssten wir das nicht erklären. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die AfD spricht nun der Abgeordnete Kollege Seifen.

Helmut Seifen*) (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Antrag, Herr Bolte-Richter, reden Sie wieder von Vielfalt und geben vor, diese fördern zu wollen. Dem schloss sich Herr Bell an.

Betrachten wir aber genauer, welche Schlussfolgerungen Sie aus Ihrem Postulat ziehen, so meinen Sie eigentlich nicht Vielfalt, sondern Beliebigkeit. Der Unterschied ist von entscheidender Bedeutung, bereitet er doch im Fall Ihres Antrags politische Entscheidungen vor, welche die Vielfalt beseitigen und der Beliebigkeit Tür und Tor öffnen.

Im zweiten Absatz zitieren Sie die Düsseldorfer Hochschule mit den Worten:

„Eine moderne Hochschule muss dabei nicht nur zukunftsträchtige Strategien aus den Anforderungen der wachsenden studentischen Diversität ableiten, sondern auch ihre traditionellen Strukturen hinterfragen und gegebenenfalls verändern.“

Sie selbst konkretisieren dieses Postulat mit der Forderung, nun die Hochschulen für die Menschen zu öffnen, denen Sie dann den Stempel der Diskriminierung aufdrücken, also Menschen aus bildungsfernen Familien, mit Migrationshintergrund und jeden Geschlechts.

Aber, Herr Bolte-Richter, für diese Menschen sind die Hochschulen längst geöffnet. Sie erfinden hier Probleme, die es gar nicht gibt. Allerdings müssen diese Personengruppen natürlich, wie andere auch, die intellektuellen, motivationalen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, um an einer Hochschule studieren zu können.

Das nämlich ist Ihnen ein Dorn im Auge. Bei all Ihrem Gerede von Öffnung, Vielfalt und Diversität haben Sie doch nur ein Ziel: Sie wollen den Zugang zur Hochschule von möglichst allen Hürden befreien, die im Augenblick dafür sorgen, dass wenigstens noch halbwegs qualifizierte Personen ihr Studium aufnehmen können.

Sie wollen den Wunsch des Einzelnen zur Berechtigung eines Hochschulstudiums machen.

(Lachen von Sigrid Beer [GRÜNE])

Das meinen Sie doch damit, wenn Sie fordern – Zitat –: Hochschulen müssen die Breite der Gesellschaft widerspiegeln und Strukturen verändern. Nein, das ist nicht die Aufgabe der Hochschulen. Aufgabe der Hochschule ist die akademische Bildung junger Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer sozialen wie nationalen Herkunft.

(Beifall von der AfD)

Dazu gehört nicht die Öffnung der Universität für alle oder, wie Sie es gerade gesagt haben, Herr Bell: Alle sollen da hinein. – Nein, das gehört nicht dazu. Dazu gehört das Halten von wissenschaftlichen Standards, ein hoher intellektueller Anspruch und das redliche und intensive Streben nach Wahrheitssuche in seinem Fach. Um das leisten zu können, brauchen die Universitäten Studentinnen und Studenten, welche diese Voraussetzungen mitbringen und solches leisten können – gerne auch aus dem Ausland, woher auch immer.

Die Abbrecherquoten sind bereits viel zu hoch und weisen darauf hin, dass jetzt schon viele junge Leute an die Hochschulen strömen, welche die notwendige Eignung nicht vorweisen. Ihr Aufruf zur Beliebigkeit bei der Öffnung von Universität führt letztlich zur Zerstörung der Universität, auch wenn Sie das nicht wollen – ich unterstelle es Ihnen nicht –, und zur Fehlleitung junger Menschen auf ihrem Weg in das Berufsleben.

Vielfalt haben wir doch in Deutschland ganz anders organisiert. Wir haben sie so organisiert, dass die Bedürfnisse des akademischen Betriebs nach Leistung, der Berufswelt und der individuellen Bedürfnisse gleichermaßen Berücksichtigung finden. Wir bieten mit dem mehrgliedrigen Schulsystem verschiedene Wege in die Ausbildung und in das Studium an.

Herr Körner, ich kann Ihnen versichern, es wird mittlerweile intensiv in mehreren Jahrgangsstufen, in den Jahrgangsstufen 8, 9, 12 und 13 intensive Berufsvorbereitung, Studienvorbereitung durchgeführt. Das kann ich Ihnen versichern. Das ist inzwischen ganz professionell.

Auch Berufstätige haben noch die Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen, Stichwort „Fernuni Hagen“. Wir waren neulich mit dem Wissenschaftsausschuss da. Auch die soziale und die nationale Herkunft verhindern doch das Studium an einer Hochschule nicht. Alles andere ist doch eine Mär.

Die Hochschullandschaft ist vielfältig. Wir haben Universitäten, Gesamthochschulen, Fachhochschulen, Technische Hochschulen, private Hochschulen mit spezifischer Ausrichtung. Was wollen Sie eigentlich noch mehr an Vielfalt? – Ich will Ihnen sagen, was Sie an Vielfalt wollen: Sie wollen die Einebnung dieser Vielfalt und damit die Einfalt und die Nivellierung des akademischen Studiums.

(Beifall von der AfD)

Und dann kommt natürlich Ihre Forderung, Asylsuchenden ein Studium zu ermöglichen. Bei aller Wertschätzung für diesen Wunsch und bei aller Sympathie dafür, dass man jungen Menschen die Möglichkeit eröffnen will, sich fortzubilden, sich auszubilden, sich weiterzubilden: Zum einen steht die Qualifikation der meisten Asylsuchenden nicht eindeutig fest. Das müsste erst einmal Voraussetzung sein. Zum anderen müssen wir aufpassen, dass wir die Asylgesetzgebung damit nicht aushebeln, denn Sie wissen ganz genau, dass die Aufnahme einer Ausbildung oder eines Studiums eine Rückführung des Zuwanderers nach abgelehntem Asylbescheid zunächst nicht möglich ist.

Um Sie zu beruhigen: Es gibt übrigens Syrer, die hier in Deutschland studieren, und zwar ohne einen Asylantrag gestellt zu haben. Die sind ganz legal hier, eben wie andere ausländische Studenten auch.

(Beifall von der AfD)

Die Vielfalt unserer Bildungsangebote garantiert die Vielfalt und die Chancengerechtigkeit für jedermann. Wir lehnen Ihren Antrag ab, aber natürlich werden wir ihn im Ausschuss noch intensiv diskutieren. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Seifen. – Für die Landesregierung erteile ich nun Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen das Wort.

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Das grundsätzliche Anliegen des Antrags, nämlich gute Studienbedingungen für eine vielfältige Studierendenschaft, teilt die Landesregierung. Wie auch der vorliegende Antrag an vielen Stellen erkennen lässt, berücksichtigen die Hochschulen in der Gestaltung ihrer Angebote bereits jetzt viele Möglichkeiten, die Studierenden in dieser Vielfalt auch zu unterstützen.

So sind etwa in den letzten Jahren die Beratungsmöglichkeiten für Studieninteressenten und Studierende erweitert und differenziert worden. Beim Umgang mit der Vielfalt der Studierenden kommt es entscheidend darauf an, individuell und vor Ort auf die Bedürfnisse der Studierenden einzugehen. Nicht zuletzt die in dieser Form nicht absehbare Herausforderung durch die Beratung und Unterstützung studieninteressierter Flüchtlinge hat gezeigt, dass die Hochschulen hier sehr engagierte und sehr erfolgreiche Arbeit geleistet haben und weiterhin leisten. Diese Arbeit wird von der Landesregierung auf vielfältige Weise unterstützt.

Am wirksamsten sind Beratungsangebote im Übrigen dann, wenn sie von denen, die besonders davon profitieren können, auch genutzt werden. Deshalb wollen wir im Rahmen der Novellierung des Hochschulgesetzes Optionen schaffen, Angeboten der Fachstudienberatung eine größere Verbindlichkeit zu geben.

Ein wichtiger Hebel zur Verbesserung von Studienerfolg und Studienqualität, gerade für die sogenannten nicht traditionell Studierenden, ist die Digitalisierung. Digitale Lehr- und Lernangebote schaffen insbesondere in der Studieneingangsphase die Möglichkeit, auf unterschiedliche Wissensstände und Kompetenzniveaus einzugehen und so die Grundlagen für ein erfolgreiches Studium zu legen. Digitale Angebote bieten außerdem zeitliche und räumliche Flexibilität, was gerade für Studierende mit familiären Verpflichtungen und für Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen wertvoll ist und eine gute Option darstellt.

Studium und Lehre sind auch deshalb eine wichtige Säule der anstehenden landesweiten Digitalisierungsoffensive für die Hochschulen, für die wir im kommenden Jahr 50 Millionen Euro bereitstellen wollen. Das haben Sie alle im Haushaltsentwurf für das Jahr 2019 gesehen.

Gemeinsam mit den Hochschulen will die Landesregierung so die Möglichkeiten für das digitale Lehren und Lernen sukzessive ausweiten. Gute Studienbedingungen für eine vielfältige Studierendenschaft, wie sie der vorliegende Antrag fordert, bieten die Hochschulen in Nordrhein-Westfalen schon jetzt. Gemeinsam mit den Hochschulen wird das Land weiter an der Verbesserung dieser Bedingungen arbeiten. Des vorliegenden Antrags bedarf es dazu nicht. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende der Aussprache zum Tagesordnungspunkt 6.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 17/3583 steht nun zur Abstimmung, und zwar in Form einer Überweisung. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung an den Wissenschaftsausschuss – federführend – sowie an den Integrationsausschuss, den Ausschuss für Gleichstellung und Frauen und an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend vor. Abschließende Abstimmung erfolgt im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung. Wer folgt dem so? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag einstimmig so überwiesen.

Ich rufe auf:

Vertrauen in die Mediziner stärken – Qualität statt Quantität als Maßstab der Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse im Fachbereich Medizin

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3590

Die Aussprache ist eröffnet. An das Pult tritt Herr Dr. Vincentz für die Fraktion der AfD.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich denke, als guter Politiker ist es nicht nur wichtig, sich selbst zu kennen, sondern auch ein Stück weit den politischen Gegner. Von daher kann ich mir in etwa ausmalen, was Sie mir gleich wieder entgegnen werden. Daher stelle ich das als Allererstes vorweg: Ohne die vielen qualitativ hochwertigen auch ausländischen Ärzte ist die medizinische Versorgung in Deutschland schon lange nicht mehr gewährleistet. Ich finde, das kann man so schreiben.

(Beifall von der AfD)

Trotzdem versuche ich Ihnen jetzt parteiübergreifend zu erläutern, warum das, was ich Ihnen im Antrag dargelegt habe, vielleicht doch Sinn macht.

Am Eindrücklichsten ist mir aus meinem Medizinstudium vor allen Dingen eines in Erinnerung geblieben. Egal in welcher Fachabteilung, egal in welcher Klinik, egal bei welchem Arzt ich war, alle betonten immer eines: Das Allerwichtigste ist die Anamnese, das ärztliche Gespräch. – Alle betonten, dass wir mit den Patienten reden sollten, auch wenn das nicht immer bezahlt wird, aber wir sollten den Patienten zuhören, die richtigen Fragen stellen, auf die Zwischentöne achten, auf das, was der Patient formuliert und was er eben nicht sagt, sondern vielleicht mit seinem Gesicht ausdrückt. Wir sollten den Patienten reden lassen und ihm zuhören.

Noch relativ oft sind mir diese Worte durch den Kopf gegangen, später in meiner eigenen klinischen Tätigkeit, aber vor allen Dingen auch in der Zeit, in der ich ein Praktikum in Irland gemacht habe und selbst versuchte, mit dem Schulenglisch, das ich bis dahin erlangt hatte, diesen breiten irischen Akzent zu verstehen und mich dort irgendwie zurechtzufinden. Wenn man das Abitur abgeschlossen hat, entspricht dieses Schulenglisch etwa dem europäischen Referenzrahmen des Levels B2, also dem, was wir von ausländischen Ärzten verlangen.

Es ist eine recht ähnliche Situation. Ich war in Irland. Dort spricht man ein sehr spezielles Englisch. Ich war sehr oft damit beschäftigt, überhaupt zu verstehen, was man mir da sagt. Erst im zweiten Schritt habe ich mir über die Sprache hinaus überlegt, was mir der Patient eigentlich sagen möchte.

Eine ähnliche Situation treffen viele ausländische Ärzte hier vor. Wenn bei uns am Niederrhein platt gekallt wird, dann ist es für den einen oder anderen bestimmt auch schwierig, über die Sprachkenntnisse aus der Sprachschule hinaus überhaupt zu verstehen, um was es da im Einzelnen geht.

Ich war damals in der Inneren Medizin. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre in der Psychiatrie gewesen, dann hätte ich wahrscheinlich nichts mitbekommen und wäre vollkommen aufgeschmissen gewesen; denn der europäische Referenzrahmen für B2 heißt: Kann die Hauptinhalte komplexer Texte zu konkreten und abstrakten Themen verstehen, wird aber Sprachfeinheiten und angedeutete Inhalte im Gespräch nicht verstehen. – Das kann ich zumindest für meinen Teil so bestätigen. Ich denke, dass es vielen ausländischen Ärzten, die zu uns kommen, ähnlich gehen wird. So konstatieren Patientenschützer seit Längerem: Mangelnde Deutschkenntnisse von ausländischen Ärzten führen häufig zu Behandlungsfehlern.

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, schätzt, dass 20 % aller ärztlichen Behandlungsfehler auf Verständigungsschwierigkeiten zwischen Patienten und ausländischen Ärzten mit Deutschproblemen gründen.

Bei einer Dunkelziffer von 170.000 Behandlungsfehlern pro Jahr wären das bis zu 34.000 Fälle, die auf diese Problemstellung zurückzuführen sind. Marburger Bund, Patientenschützer und zuletzt auch der 121. Deutsche Ärztetag in Erfurt fordern deswegen die Politik nicht umsonst seit längerer Zeit zum entschlossenen Handeln auf, und zwar nachvollziehbar zu exakt den Schritten, die wir Ihnen hier anbieten.

Dr. Klaus Reinhardt, Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe formulierte es auf dem Ärztetag sehr klar: Wir dürfen nicht in politischer Korrektheit ersticken. Der Patientenschutz müsse an erster Stelle stehen.

(Beifall von der AfD)

So ist es. Niemand soll diskriminiert werden. Die flächendeckende Versorgung ist eben längst nicht mehr ohne unsere ausländischen Kollegen gesichert. Aber wir dürfen bei der Patientensicherheit deswegen kein Auge zudrücken. Wir müssen bestehende Lücken schließen, nicht zuletzt auch, um den Ruf der teilweise exzellenten ausländischen Mediziner zu retten. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Nun spricht für die CDU-Fraktion Herr Preuß.

Peter Preuß (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich anfangs gefragt: Was ist eigentlich die politische Botschaft dieses Antrags?

Auf der einen Seite, Herr Dr. Vincentz, haben Sie die Qualitätsaspekte in den Vordergrund gestellt. Das ergibt sich auch aus dem Antrag. Auf der anderen Seite kritisieren Sie aber die zumindest sprachlich schlechte Ausbildung der ausländischen Ärzte, die hier tätig sind oder eine Anerkennung anstreben. Oder ist es einfach nur die Überlegung: Was kann man an dem Anerkennungsverfahren verbessern?

Das sind verschiedene Dinge, die in dem Antrag zum Ausdruck kommen. Da es sich hier um eine Überweisung an den Ausschuss handelt, wird man sicherlich über viele Details des Anerkennungsverfahrens noch sprechen können. Deshalb will ich mich auf einige grundsätzliche Dinge beschränken, weil wir diese Details hier gar nicht debattieren können, meine ich, und sagen, dass das Ziel der NRW-Koalition die Verbesserung der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen ist, und zwar insbesondere durch eine Vereinfachung und Entbürokratisierung, selbstverständlich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben.

Im Jahr 2017 hat sich der Ärztetag für eine gute Integration ausländischer Ärztinnen und Ärzte ausgesprochen und dazu ausdrücklich auch eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren eingefordert.

Vereinfachung und Entbürokratisierung dürfen aber natürlich nicht zu Qualitätsverlusten oder dazu führen, dass Qualifikationen nicht ausreichend geprüft werden. In der Tat geht es hier um Patientensicherheit. Es geht ganz konkret um den Schutz der Patientinnen und Patienten. Deshalb ist die Erteilung der Approbation davon abhängig, dass die Qualifikationen der Ärztinnen und Ärzte aus Ländern außerhalb der EU, der EFTA oder der Schweiz überprüft werden. Das geschieht durch die Bezirksregierungen.

Aus der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage der AfD aus diesem Frühjahr lässt sich nachvollziehen, dass in Nordrhein-Westfalen im Nicht-EU-Ausland erworbene Abschlüsse nicht so einfach durchgewinkt werden. Der Regierungsbezirk Düsseldorf hat die höchste Zahl von Anerkennungsfällen in NRW. Dort haben im vergangenen Jahr 540 Anerkennungen stattgefunden. Davon wurden bis auf einen Fall alle geprüft. In den kleineren Regierungsbezirken Arnsberg und Detmold stellt sich das Verhältnis etwas anders dar. Aber man kann sagen, landesweit gab es in 2017 insgesamt 929 Anerkennungsfälle. Davon wurden 744 geprüft. Es wird also schon genau hingeschaut, um das einmal festzuhalten.

Grundsätzlich sind auch die Abläufe des Approbationsverfahrens und die Kriterien klar. Selbstverständlich – ich habe es eingangs gesagt – können wir über die Details sprechen, auch über den Datenaustausch im Hinblick auf Mehrfachanträge zur Anerkennung von Berufsabschlüssen; denn es geht natürlich nicht, dass ein Anerkennungstourismus in den einzelnen Bundesländern stattfindet. Das muss vermieden werden.

Es steht auch außer Frage, dass die Sprache der Schlüssel zu einem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis ist. Sie ist ebenso unverzichtbar für die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen und natürlich in dem Zusammenhang auch für die Dokumentation der medizinischen Versorgung.

Aus diesem Grunde hat auch die 87. Gesundheitsministerkonferenz im Sommer 2018 – übrigens ein Jahr früher, als in Ihrem Antrag erwähnt – Kriterien für die Überprüfung der Kenntnisse der deutschen Sprache definiert. Die Umsetzung ist in der Tat Sache der Länder. In NRW erfolgt die Fachsprachprüfung für die Bezirksregierungen durch die beiden Ärztekammern.

Ich will in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass es in Ihrem Antrag eine falsche Darstellung gibt. Die Ärztekammern sind nicht für die Approbationen zuständig, sondern für die Sprachprüfungen. Die Approbation erfolgt durch staatliche Behörden.

In Nordrhein-Westfalen werden die Approbationsverfahren und die Fachsprachprüfungen sehr ernst genommen, denn – das möchte ich abschließend betonen – alles steht und fällt mit der Qualität der medizinischen Versorgung. Diese gilt es auf dem gewohnt hohen Niveau zu halten. Sie ist die Richtschnur, an der wir alles andere ausrichten müssen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Alles andere werden wir im Ausschuss behandeln.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Preuß. – Und nun spricht für die SPD-Fraktion Herr Kollege Yüksel.

Serdar Yüksel (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber manchmal weiß ich wirklich nicht, was die AfD mit ihren Anträgen hier im Landtag will. Immer wieder fällt Ihre Partei dadurch auf, dass sie die Zuwanderung von bildungsfernen Menschen in unser Land befürchten und als Drohszenarium aufblähen.

Die AfD möchte – wie es Martin Schulz vor kurzem im Plenum des Bundestages richtigerweise auf den Punkt gebracht hat – die Migrantinnen und Migranten zum Zentrum aller Probleme machen. Das nimmt jetzt solch absurde Züge an, dass Sie ein Phänomen kritisieren, das eigentlich mehr Probleme löst als schafft. Immer wieder haben wir doch im Ausschuss den Ärztemangel vor allem auf dem Land problematisiert und festgestellt, vor welchen Herausforderungen wir zukünftig bei der gesundheitlichen Versorgung der Menschen stehen – und das erst recht, wenn man den demografischen Wandel in den Blick nimmt.

Wir profitieren ganz eindeutig von der Zuwanderung ausländischer Ärzte und sind dabei der größte Nutznießer der Krisen in Südeuropa sowie im Nahen und Mittleren Osten. Wir haben es jahrzehntelang versäumt, genug Ärzte für unser Gesundheitssystem auszubilden und die entsprechenden Kapazitäten zu schaffen. Diese Lücke schließen nun Ärzte aus dem Ausland. Sie helfen uns bei den Hausaufgaben, die wir zuvor nicht erledigt haben.

Wie oft haben wir von Ihrer Partei gehört, dass aus Syrien nicht nur syrische Ärzte zu uns kommen, sondern Menschen, die unserem Sozialstaat nur zur Last fallen würden. Da frage ich mich doch: Wieso verschweigen Sie uns in Ihrem Antrag dann, dass eine Kleine Anfrage von Ihnen an das Ministerium aus dem Februar dieses Jahres ergab, dass die meisten Ärzte, die zu uns kommen, aus Syrien zuwandern? Hat Ihnen das etwa nicht in das populistische Drohszenario gepasst?

Es geht aber noch weiter. Mit der dritten Frage wollten Sie wissen, wie viele Klageverfahren es von zugewanderten Ärzten bezüglich des Approbationsverfahrens gibt. Das Ministerium hat bezüglich Ihrer Frage aufgelistet, dass es in den letzten drei Jahren von allen zugewanderten Ärzten aus 80 verschiedenen Ländern lediglich 30 nicht zurückgenommene Klageverfahren gab, wovon die Hälfte für die Kläger auch noch positiv verlaufen ist. Klingt das danach, dass wir hier von einer Masse an unqualifizierten Ärzten überrannt werden? Im Gegenteil!

Statt Perspektiven zu schaffen, dass junge Ärzte einwandern und wir ihnen bei der Integration die Hand reichen können, damit wir unsere eigenen Probleme im Gesundheitssektor lösen können, wollen Sie diesen Menschen, bevor sie überhaupt helfen können, Steine in den Weg legen. Dabei ist es ja nicht so, dass hier jeder, der behauptet, ein Arzt zu sein, einfach auf Patienten losgelassen wird. Es gibt bereits – Peter Preuß hat das gerade gesagt – klare Fachsprachprüfungen für zugewanderte Ärzte.

In Ihrem Antrag kritisieren Sie jedoch, dass weder die Notwendigkeit noch der Inhalt einer Fachsprachprüfung reglementiert sei. Das ist schlichtweg falsch. Schon aus der Antwort des Ministeriums auf eine Kleine Anfrage der Kollegin Susanne Schneider vom 22.09.2015 geht hervor, dass nach § 3 Abs. 1 der Bundesärzteordnung keine Approbation erteilt werden kann, wenn die zu einer Ausübung der Berufstätigkeit erforderlichen Deutschkenntnisse nicht vorhanden sind. Werden diese Deutschkenntnisse nicht durch einen deutschen oder vergleichbaren Schulabschluss nachgewiesen, kommt es zum Fachsprachtest bei der zuständigen Ärztekammer.

Weiter erklärt das Ministerium, dass der Fachsprachtest als Einzelprüfung stattfindet und folgende Vorgaben umfasst: erstens ein ausführliches Arzt-Patienten-Gespräch, zweitens die Anfertigung von schriftlichen Informationen und drittens ein interkollegiales Fachgespräch. Sollte es darüber hinaus noch Zweifel an der fachlichen Eignung geben, muss der Kandidat zur Kenntnisprüfung.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Vincentz?

Serdar Yüksel (SPD): Bitte.

Vizepräsident Oliver Keymis: Bitte schön, Herr Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Vielen Dank für die Gestattung der Zwischenfrage, Herr Kollege. – Sie sagen, dass die Ärztekammern die Fachsprachprüfungen durchführen. Aber die Ärztekammern selbst fordern jetzt die Politik auf, zu handeln und dort klare Regeln zu schaffen. Sind Sie der Meinung, dass die Ärztekammern keine Ahnung von dem haben, was sie da machen?

Serdar Yüksel (SPD): Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass Sie mit Ihrem Antrag gezeigt haben, dass Sie keine Ahnung haben. Den Ärztekammern aber würde ich das mit Sicherheit nicht vorwerfen.

(Zuruf von der AfD: Sie fordern das doch!)

Zu dem Punkt werde ich noch kommen.

Dass die Vorgaben für das Prüfverfahren von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ausfallen, hängt auch mit unserem föderativen System zusammen. Anders als Sie wiederholt ausgeführt haben – das gilt auch für die falsche Feststellung in Ihrer Zwischenfrage –, sind nämlich nicht die Ärztekammern in letzter Instanz für die Approbation zuständig, sondern die Bezirksregierungen. Ihre Forderung nach einer Vereinheitlichung der Vorgaben ist, wenn überhaupt, ein Thema für die Bundesebene. Bezüglich der Fachsprachprüfung kann ich Ihnen aber mitteilen, dass es auf Bundesebene bereits eine Projektgruppe Fachsprachprüfungen gibt, in der die Ärztekammern in regem Austausch stehen und die Prüfungsvorgaben regelmäßig abgleichen.

Ich möchte hier auch gar nicht weiter ins Detail gehen, weil ich Ihren Antrag letztendlich, was seine Qualität angeht, für mangelhaft halte. Ihre Argumentationsgrundlagen sind unter anderem Äußerungen eines Arztes aus Niedersachsen, der von einem Patienten mitbekommen haben soll, dass es in einer Klinik in Niedersachsen zu sprachlichen Schwierigkeiten gekommen ist. Ehrlich, das sind doch keine validen Zahlen, auf denen man eine Argumentation aufbauen kann.

(Beifall von der SPD)

Ich weiß wirklich nicht, wer bei Ihnen die Anträge formuliert. Wenn aber der Maßstab für Anträge und Diskussionen im Landtag die Äußerungen von irgendjemandem aus irgendeinem Bundesland sein sollen – Entschuldigung –, dann macht sich das Parlament zum Stammtisch.

(Beifall von der SPD)

Vor diesem Hintergrund fällt es uns wirklich schwer, einer Überweisung in den Ausschuss zuzustimmen. Wir werden es nach parlamentarischem Brauch aber trotzdem tun – auch weil ich hoffe, dass sich dadurch die Qualität Ihrer Anträge vielleicht verbessert. Denn schließlich gilt, wie Sie selbst in dem Antrag behaupten: Qualität statt Quantität. – Danke sehr.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Yüksel. – Für die FDP-Fraktion hat nun Frau Kollegin Schneider das Wort.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Freien Demokraten setzen uns für eine Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften ein. Eine entscheidende Frage ist dabei die Feststellung der beruflichen Qualifikation durch die Anerkennung von Abschlüssen aus dem Ausland.

Die Menschen, die zu uns kommen, müssen in ihrem Beruf auch arbeiten können, und dazu ist in vielen Bereichen – wie im Gesundheitswesen – eine Anerkennung der Abschlüsse erforderlich. Es wäre doch nicht sinnvoll, wenn ausländische Ärztinnen und Ärzte bei uns als Taxifahrer oder Küchenhilfen arbeiten müssten.

Deshalb wollen wir einerseits möglichst schnelle und unbürokratische Verfahren zur Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen erreichen. Andererseits müssen wir sicherstellen, dass fachliche Standards und die hohe Ausbildungsqualität der deutschen Berufsbilder gewahrt bleiben.

Im Fokus stehen derzeit Berufsanerkennungsverfahren für ausländische Ärzte. Einerseits werden zum Beispiel von Krankenhausträgern lange Verfahrensdauern und hohe bürokratische Anforderungen moniert, andererseits werden auch aus der Ärzteschaft selbst fachliche und sprachliche Qualifikationen von Bewerbern angezweifelt.

Viele Kliniken sind auf das Engagement ausländischer Ärzte angewiesen, um ihre Stellen zu besetzen. Im Sinne der Patientinnen und Patienten dürfen wir aber keine Abstriche bei den Qualifikationen hinnehmen.

Für eine Berufsausübung in der Humanmedizin in Deutschland ist – wir haben es vorhin gehört – die Approbation notwendig. Dafür sind insbesondere die Gleichwertigkeit der absolvierten Ausbildung mit der Ausbildung in Deutschland sowie die für die Ausübung der Berufstätigkeit erforderlichen Kenntnisse der deutschen Sprache Voraussetzung.

Während Abschlüsse der Humanmedizin innerhalb der EU als gleichwertig anerkannt werden, muss bei anderen Abschlüssen die Gleichwertigkeit je nach Einzelfall überprüft und festgestellt werden. Zu prüfen ist dabei, ob wesentliche Unterschiede zum Beispiel hinsichtlich der Studiendauer oder der unterrichteten Fächer gegenüber einer inländischen Ausbildung bestehen, die auch nicht durch die bisherige Berufserfahrung ausgeglichen wurden.

Um dies zu bewerten, werden in der Regel Gutachten eingeholt. Diese werden für alle Bundesländer von der zentralen Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe erstellt. Gerade dort kommt es zu langen Bearbeitungszeiten. Deshalb sollten wir prüfen, ob wir die Arbeit der Gutachtenstelle optimieren können oder ob eine eigene Stelle in Nordrhein-Westfalen es besser erledigen könnte.

Ist die Gleichwertigkeit nicht feststellbar, können Ärzte in einer Prüfung nachweisen, dass sie über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Ausübung des ärztlichen Berufs erforderlich sind. Hinzu kommt die Fachsprachprüfung der jeweiligen Ärztekammer.

Im Jahr 2017 haben bei den Bezirksregierungen insgesamt 2.584 Approbationsverfahren stattgefunden. Es erfolgten insgesamt 1.455 Anerkennungen, davon 526 aufgrund automatischer Anerkennung für EU-Abschlüsse, 185 aufgrund festgestellter Gleichwertigkeit nach Begutachtung sowie 744 nach Kenntnisprüfung. Insgesamt spielt also die Kenntnisprüfung eine größere Rolle als eine Feststellung der Gleichwertigkeit nach Begutachtung der vorgelegten Dokumente. Eine Kenntnisprüfung ist als zentrale Prüfung durchaus mit dem Zweiten Staatsexamen vergleichbar.

Bei den Verfahren zeigen sich zum Beispiel hinsichtlich der Anerkennungsquoten aber auch deutliche Unterschiede zwischen den Bezirksregierungen. Wir sollten prüfen, inwiefern wir durch eine Bündelung der Entscheidungsprozesse eine einheitlichere Bearbeitungspraxis erreichen können.

Die NRW-Koalition setzt sich für eine Verbesserung der Anerkennungsverfahren ein. Dafür hätten wir den vorliegenden Antrag nicht gebraucht. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP, der CDU und Josef Neumann [SPD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Schneider. – Nun spricht Herr Mostofizadeh für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir ist es auch ähnlich so ergangen wie dem Kollegen Preuß: Was ist eigentlich die Stoßrichtung des Antrags?

(Helmut Seifen [AfD]: Qualität!)

Nach den erforderlich gewordenen Richtigstellungen fällt es mir schwer, das zu sortieren.

Ich will allerdings auf die Historie der Anerkennungsverfahren hinweisen. Im Jahr 2015 gab es ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren hier in Nordrhein-Westfalen, bei dem CDU und FDP etwas andere Töne angeschlagen haben. Da stand noch die Forderung im Raum, dass im Prinzip bei allen Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländern immer eine Kenntnisprüfung stattzufinden hat, also im Grunde ein Viertes Staatsexamen durchzuführen ist. Ich bin froh, dass Sie davon abgerückt sind. Ich glaube nicht, dass wir uns das leisten können.

Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen, dass ich unterstütze, was Kollege Yüksel von der Fraktion der SPD gesagt hat. Eigentlich müssten wir uns ein Stück weit schämen, dass wir so viele ausländische Ärztinnen und Ärzte benötigen, um in den Krankenhäusern den Dienst durchführen zu können. Es ist aber nun einmal so, wie es ist.

Das darf aber nicht dadurch konterkariert werden, dass wir denjenigen, die eine Anerkennung tatsächlich haben wollen, dieses Anerkennungsverfahren so sehr erschweren und es so stark bürokratisieren, dass zum einen diejenigen, die die Anerkennung haben wollen, davon abgehalten werden und zum anderen die Krankenhäuser ihre Fachstellen nicht besetzen können.

Wir sind deshalb sehr dafür, die Qualität abzuprüfen. Herr Kollege Vincentz, im Übrigen stellt sich die Frage der Sprachkenntnisse durchaus auch bei französischen, englischen oder aus anderen Ländern stammenden Ärzten.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Ja!)

Auch in diesen Fällen sind die Krankenhäuser gefordert, dafür zu sorgen, dass Sprachkenntnisse nachgeholt werden – und das tun sie auch. In die Leute, die hergeholt werden, muss investiert werden, und es muss für Sprachkenntnisse gesorgt werden.

Das wäre auch ein Ansatz, über den wir möglicherweise im Ausschuss reden sollten, weil es sich nicht nur auf Ärztinnen und Ärzte bezieht. Die Frage der Sprachkenntnisse ist beim Pflegepersonal von hoher Bedeutung, und auch dort wäre es sehr lohnenswert, wenn sich die Krankenhäuser bzw. die Gesellschaft sehr intensiv darum kümmern würden, dieses Potenzial und diese Art der Qualifikation deutlich zu stärken, um auch den Kundinnen und Kunden in den Krankenhäusern entgegenzukommen.

Was wir klar ablehnen, ist eine Bürokratisierung der Vorgänge.

Stigmatisierung und Generalverdacht bezüglich der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die dieses Verfahren durchlaufen, lehnen wir ebenfalls klar ab. Von vornherein zu glauben, sie würden nur betrügen und hinterziehen, das geben die Zahlen nicht her.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Ach, du Scheiße!)

– Lesen Sie einmal die Kleine Anfrage und achten Sie auf den Duktus, dann wissen Sie, was ich meine.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Reden wir über Anfragen oder Anträge?)

– Ich rede, worüber ich möchte, und das haben Sie bitte schön nicht zu beurteilen.

(Zuruf von der AfD: Also nicht zum Antrag?)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir glauben, dass wir ernsthaft über das Verfahren reden sollten. Die Stoßrichtung, die die CDU jetzt eingeschlagen hat, gefällt mir im Gegensatz zu der von vor drei Jahren sehr gut: Entbürokratisierung, klare Verfahren, Beschleunigung der Verfahren und frühe Rechtssicherheit.

Die Zahlen des Ministeriums haben deutlich gemacht, dass geprüft wird, und zwar auch die Aktenlage. Wenn es Bedenken gibt, wird nachgeprüft und Fachkenntnisse werden abgeprüft.

B2- oder C1-Festlegungen nützen nichts, da es bei diesen Unterschiede bezüglich der Kenntnisse gibt. Deshalb halte ich das in Nordrhein-Westfalen angewendete Verfahren insgesamt für gut. Was gut ist, kann aber noch besser werden – deshalb sind wir sehr gerne bereit, über Verbesserungen zu sprechen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Mostofizadeh. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Laumann.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will nicht als vierter oder fünfter Redner das Verfahren erklären, wie man in Nordrhein-Westfalen eine Anerkennung als Arzt bekommt, wenn man aus dem nichteuropäischen Ausland zugewandert ist.

Stattdessen möchte ich betonen, dass wir die fachliche Eignung der Ärzte nach bestem Wissen und Gewissen prüfen. Das bezieht sich sowohl auf die Echtheit der Abschlussdokumente als auch auf die Vergleichbarkeit des Studiums. Notfalls wird eine Kenntnisprüfung durchgeführt, um sicherzustellen, dass das Niveau eines Arztes, wie wir uns das in Deutschland bzw. Nordrhein-Westfalen vorstellen, erreicht wird.

Klar ist, dass ein Arzt sich mit seinen Patienten verständigen können muss. Deswegen ist das Sprachniveau C1 vorgeschrieben. Die Durchführung der Sprachprüfungen liegt ausschließlich in den Händen der Ärztekammern. Die beiden nordrhein-westfälischen Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe wenden dafür die gleichen Verfahren bzw. Kolloquien an.

Fraglos ein Problem ist der fehlende Abgleich zwischen den Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen abgelehnte Ärzte können sich also in einem anderen Bundesland für ein neues Verfahren einschreiben; diesbezüglich gibt es keinen Abgleich.

Mir wurde mitgeteilt, dass das wegen des Datenschutzes auch nicht so einfach ist. Wir wollen uns trotzdem für ein zentrales Abgleichregister aller Bundesländer einsetzen. Schließlich kann es nicht sein, dass man in einem Bundesland abgelehnt wird und dann in einem anderen Bundesland ein neues Verfahren durchläuft. Das bindet im Übrigen auch Kapazitäten, die zu längeren Wartezeiten führen.

Wahr ist, dass uns folgende Frage im Ministerium derzeit sehr beschäftigt: Wie können wir die Verfahren sicherer und effizienter machen? Es gibt Klagen darüber, dass die Verfahren sehr lange dauern würden und sehr bürokratisch seien, außerdem gebe es Auflagen, die nicht miteinander vergleichbar seien. Das höre ich sehr oft.

Deshalb werden wir in unserem Haus die Zuständigkeiten für diese Fragen durch Organisationsveränderungen stärker bündeln. Aus Sicht des Gesundheitsministeriums müssen wir natürlich beide Bereiche betrachten: sowohl die Anerkennung der Ärzte als auch die Anerkennung der Pflegefachkräfte.

Damit bin ich bei einem Punkt, der heute auch schon angesprochen wurde: Wir haben im Jahr 2017 in Nordrhein-Westfalen rund 1.400 Anträge auf Anerkennung einer ärztlichen Zulassung bekommen, im Pflegebereich sind die Zahlen etwas geringer. Sie können davon ausgehen, dass diese Zahlen angesichts der derzeitigen Situation steigen werden.

Deswegen brauchen wir ein Verfahren, durch das man auf fachlich verantwortbare Weise größere Mengen von Anträgen schleusen kann. So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Die Gutachterstelle, die wir in Bonn zusammen mit allen anderen Ländern eingerichtet haben, arbeitet langsam und bringt uns wenige Gutachten. Das ist im Übrigen einer der Gründe, warum es so lange dauert.

In den nächsten Wochen und Monaten werden wir im Ministerium entscheiden, ob wir eine andere Struktur brauchen, um diese Verfahren in Nordrhein-Westfalen autarker durchführen zu können. Schließlich sind wir ein großes Bundesland und die Zahlen sind dementsprechend hoch. Als Bundesländer haben wir in der Frage der Gesundheitsberufe den Hut auf und damit auch die Verantwortung inne.

Fakt ist: Wir sind sehr stark auf ausländische Ärzte und Pflegefachkräfte angewiesen. Zumindest bei den Ärzten ist der Grund dafür ein Versagen der Politik und des Hochschulsystems in unserem Land. Wir haben auf einen Studienplatz elf Bewerbungen. Seit zig Jahren bilden wir in Nordrhein-Westfalen jährlich 2000 Ärztinnen und Ärzte aus, obwohl wir wissen, dass sich diesbezüglich ganz viel verändert hat.

(Helmut Seifen [AfD]: Ja!)

Ein Beispiel dafür ist, dass drei Viertel der Medizinstudierenden Frauen sind, die eine etwas andere Lebensarbeitszeit haben als Männer. Darauf hat das System nicht reagiert.

Wir haben seit Jahren 450 Pensionierungen bei den Hausärzten jährlich, dem gegenüber stehen 200 Berufsanfänger. Auch darauf hat das System nicht reagiert.

Wir haben einiges eingeleitet: 300 neue Studierende in Bielefeld, mehr Geld und 100 neue Studierende in Witten/Herdecke sowie die Landarztquote – und was wir nicht alles sonst noch machen. Diese Dinge werden die Situation aber bestenfalls in zehn oder zwölf Jahren entschärfen.

Und das in einer Zeit, in der zwei Drittel der Ärzte in den ländlichen Regionen älter als 60 Jahre sind. Daran kann jeder ersehen, was auf uns zukommt.

Bezüglich der Frage, ob wir das mit der Anerkennung gut machen, habe ich eigentlich kein schlechtes Gewissen; ich bin mir sicher, dass wir es ziemlich gut machen. Wissen Sie, weswegen ich ein schlechtes Gewissen habe? Wegen der Länder, denen wir die Ärzte wegnehmen.

(Beifall von der AfD – Helmut Seifen [AfD]: So ist es!)

In der Regel sind das Länder, in denen die Arztdichte um ein Vielfaches geringer ist als in Deutschland bzw. Nordrhein-Westfalen.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: In Osteuropa!)

Das Versagen des Systems – man hat über Jahrzehnte nicht hingeschaut oder wollte nicht reagieren – rührt vielleicht auch daher, dass das Medizinstudium das teuerste Studium ist.

(Helmut Seifen [AfD]: Ganz genau!)

Diese Situation hat zu einem Verhalten gegenüber anderen Ländern geführt, dass ich als ungerecht empfinde – das sage ich Ihnen ganz offen.

Nur: Wir stehen jetzt in der Situation, die so ist, wie sie ist. Es gibt die Zuwanderung in das deutsche Gesundheitssystem, weil hier viele Ärzte besser leben können als in ihren Heimatländern. Das ist auch der Grund, warum diese Zuwanderung stattfindet. Die Frage ist aber, ob sie moralisch so verantwortbar ist, wie manche das darstellen. Da macht zumindest Karl-Josef Laumann ein ganz großes Fragezeichen. – Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Nun hat für die AfD-Fraktion Herr Dr. Vincentz noch einmal um das Wort gebeten. 1:16 Minuten stehen Ihnen noch zur Verfügung, Herr Dr. Vincentz. Bitte schön.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Hier muss man einmal ein großes Lob aussprechen. Ich bin wirklich sehr froh darüber, dass wir mit Minister Laumann und den beiden regierungstragenden Fraktionen jetzt eine Regierung haben, die diese Probleme immerhin sieht.

Dass es diese Probleme gibt, ist der Allgemeinheit bekannt – außer anscheinend den Grünen und der SPD. Da beschleicht mich doch ein bisschen der Verdacht, dass man hier Nebelkerzen werfen will, um von eigenen Verfehlungen abzulenken. Denn genau das, was Minister Laumann gerade ausgeführt hat, ist doch der Punkt. Über Jahre hinweg hat man diese Zustände zugelassen. Über Jahre hinweg hat man gerade zum Beispiel den südosteuropäischen Ländern ihre teuer ausgebildeten Ärzte weggenommen.

Herr Yüksel steht jetzt hier und behauptet auf der einen Seite, diese Verfehlungen gebe es gar nicht, aber sagt auf der anderen Seite, das werde auf Bundesebene längst geklärt. Das verstehe ich nicht. Ist die Bundesebene dann schon längst redundant unterwegs? Oder was wollen Sie uns mit dieser Gegensätzlichkeit darstellen? Für mich zeigt das nur eines: dass Sie schon lange in keinem Krankenhaus mehr gewesen sind und schon lange keinen Arztbrief mehr in der Hand gehalten haben. Sonst wüssten Sie um die Probleme in diesem Land.

Es ist ein bisschen traurig, von einer sonst stolzen früheren Arbeiterpartei hier diese Töne zu hören. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/3590 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend – sowie an den Wissenschaftsausschuss. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer stimmt dem zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag einstimmig so überwiesen.

Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, komme ich zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen, nämlich zu einer nichtförmlichen Rüge.

Das Präsidium rügt den Abgeordneten Josef Hovenjürgen. Das hat er geahnt. Denn er war die ganze Zeit da und ist jetzt gerade aus dem Saal gegangen.

(Heiterkeit)

Das ist natürlich hart. Aber wir rügen ihn auch, wenn er nicht da ist. Also geht es hier richtig rund.

Im Nachgang zu TOP 4 der gestrigen Sitzung müssen wir nämlich eine nichtförmliche Rüge aussprechen, die Herrn Josef Hovenjürgen von der CDU-Fraktion betrifft. Herr Hovenjürgen hat sich durch einen Zwischenruf während der Rede von Frau Ministerin Scharrenbach zu Tagesordnungspunkt 4 – Sie wissen alle noch, welcher das war: „Zweckentfremdung von Wohnraum in Gebieten mit erhöhtem Wohnbedarf bekämpfen. Das Wohnungsaufsichtsgesetz bedarfsgerecht fortentwickeln“ – unparlamentarisch verhalten, indem er gegenüber Herrn Horst Becker, MdL, eine unparlamentarische Äußerung getätigt hat. Das ist der Würde des Parlaments nicht angemessen.

(Horst Becker [GRÜNE]: Was hat er denn gesagt?)

– Ich werde die verwendete Äußerung hier nicht wiederholen.

Herr Kollege Hovenjürgen, auch wenn Sie gerade nicht im Raum sind, ermahne ich Sie und bitte Sie, derartige Äußerungen künftig zu unterlassen. Andernfalls – das ist eine klare Ansage – muss mit einer förmlichen Rüge gerechnet werden.

Wir kommen zu:

8  Gesetz zur Änderung des Abschiebungshaftvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/3558

erste Lesung

Die Aussprache ist eröffnet. Ans Pult tritt für die Landesregierung der dafür zuständige Minister, Herr Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben als Landesregierung versprochen, verstärkt Straftäter und Gefährder abzuschieben. Genau das tun wir auch. Deshalb brauchen wir in diesem Zusammenhang auch mehr Plätze in unserer Abschiebehaftanstalt in Büren und auch eine Änderung des Abschiebungshaftvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen, um die Sicherheit in der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige, der UfA, zu verbessern.

Meine Damen und Herren, wir reagieren damit auch auf die zunehmende Zahl an Ausreisepflichtigen insgesamt, verbesserte Rückführungsmöglichkeiten bei bisherigen Problemstaaten und die 2017 in der Bundesgesetzgebung neu geschaffene Möglichkeit, besonders gefährliche Ausreisepflichtige einfacher und länger in Abschiebehaft zu nehmen.

Nicht zuletzt haben aber auch praktische Erfahrungen mit dem derzeitigen Abschiebungshaftvollzugsgesetz gezeigt, dass insbesondere zur Sicherstellung der Sicherheit in der Einrichtung sowie zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Betriebs an einigen Stellen gesetzliche Anpassungen notwendig sind. Wir müssen also erhöhte Anforderungen an präventive Maßnahmen für mehr Sicherheit erfüllen.

Deshalb werden wir die Informationsübermittlung zwischen den Behörden zukünftig verbessern. Informationen etwa zu Vorstrafen, Drogenabhängigkeit oder bereits früher gezeigter Gewaltbereitschaft sollen von den zuständigen Behörden eingefordert werden können. Ein neues Zugangsverfahren soll eine bessere Erkenntnislage zu den Bedürfnissen und Problemen der Untergebrachten bringen. Alle neu aufgenommenen Personen werden deshalb zunächst bis zu einer Woche in einer Zugangsabteilung im Rahmen eines Aufnahmescreenings beobachtet.

Wir werden besondere Präventivmaßnahmen bei gefährlichen Personen ergreifen. Um gefährliche Personen sicher unterzubringen, sollen für diesen Personenkreis etwa die Kommunikation mit anderen Untergebrachten oder die Außenkommunikation durch Mobiltelefone und Internet eingeschränkt werden können.

Um hier möglichen Zwischenfragen vorzubeugen: Es wird dann ein Ersatztelefon zur Verfügung gestellt, auf das die SIM-Karte übertragen werden kann. Also wird denjenigen nicht grundsätzlich die Möglichkeit des Telefonierens vorenthalten. Es geht nur darum, dass mit Bildmaterial kein Schindluder getrieben wird.

Zudem sollen die zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung erforderlichen Verhaltenspflichten insgesamt besser durchgesetzt werden, indem auch die Möglichkeiten verbessert werden, auf Fehlverhalten angemessen reagieren zu können. Dazu wird auch dort die Kompetenz für das Personal erweitert.

Weiterhin hat sich gezeigt, dass bestehende gesetzliche Regelungen nicht praktikabel sind und deshalb angepasst werden müssen. Dies betrifft zum Beispiel die Durchsuchung von Hafträumen. Um Untersuchungsmethoden nicht offenlegen zu müssen, finden Durchsuchungen zukünftig nicht mehr in Anwesenheit der Betroffenen statt.

Im Übrigen: Nicht sinnvoll und auch nicht nötig ist der Eigenbesitz von Bargeld. Um die Gefahr des Missbrauchs etwa zum Drogenhandel so gering wie möglich zu halten, wird deshalb künftig der Eigenbesitz von Bargeld ausgeschlossen. Er ist auch nicht erforderlich, weil in der Einrichtung bargeldlos eingekauft werden kann.

Als wegen Missbrauchsgefahr nicht vertretbar hat sich auch der Besitz von eigenen Mobiltelefonen mit Kamerafunktion herausgestellt. Sowohl das Personal als auch die anderen Untergebrachten müssen vor unbefugtem Fotografieren oder Filmen geschützt werden.

Auch die externe Übermittlung von Fotos über Sicherheitsvorkehrungen in der Einrichtung muss unterbunden werden.

Meine Damen und Herren, der Bedarf an Haftplätzen nimmt ständig zu und erfordert einen weiteren Ausbau der Unterbringungskapazität. Die Aufnahmekapazität der Unterbringungseinrichtung wird deshalb auch durch mehr Möglichkeiten für eine vorübergehende Mehrfachbelegung etwa bei Unterbringungsengpässen variabler gestaltet.

Mehr Spielräume für einen effizienteren Personaleinsatz gibt es zudem bei der Anordnung von Ruhezeiten, die zukünftig flexibler ausgestaltet werden.

Außerdem wird der befristete Einsatz pensionierter Polizei- und Justizvollzugsbediensteter im Vollzugsdienst ermöglicht.

Ganz wichtig ist mir Folgendes – das ist der rechtsstaatliche Grundsatz, den es auch dauerhaft einzuhalten gilt und der für uns selbstverständlich weiter Maßstab bleiben wird; das ist europarechtlich auch so eingefordert –: Es wird selbstverständlich bei allen Anpassungen in der Praxis dabei bleiben, dass sich die Bedingungen im Abschiebungshaftvollzug deutlich vom Strafvollzug unterscheiden.

Ich freue mich auf die Beratungen und hoffe, dass wir hier gemeinsam ein gutes Gesetz auf den Weg bringen können. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Hoppe-Biermeyer.

Bernhard Hoppe-Biermeyer (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine von bundesweit fünf Unterbringungseinrichtungen für Ausreisepflichtige, kurz UfA, und zwar in Büren im Kreis Paderborn. Für die UfA hat der Landtag am 17. Dezember 2015 ein Gesetz über den Vollzug der Abschiebungshaft in Nordrhein-Westfalen erlassen.

Es gibt jetzt eine ganze Reihe von Gründen, warum dieses Gesetz schon nach so kurzer Zeit umfangreich geändert werden muss. Zu berücksichtigen sind bei der Anpassung unter anderem das Bundesgesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017 und die seit Ende Mai 2018 geltende EU-Datenschutz-Grundverordnung. In die Anpassung einfließen müssen aber auch die Erfahrungen, die in den letzten drei Jahren in Büren gesammelt wurden.

Ich habe die UfA ein halbes Dutzend Mal besucht. Völlig klar ist: Abschiebungshaft ist keine Strafhaft. Entsprechend viele Freiheiten bietet das aktuell geltende Abschiebungshaftvollzugsgesetz.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Der Anschlag vom Breitscheidplatz hatte massive Auswirkungen auf die Arbeit in der UfA in Büren. Bis dahin kam nach Büren, wer sich lediglich der Verpflichtung zur Ausreise entzogen hatte. Wer heute in Büren auf seine Ausreise wartet, hat meist zudem eine kriminelle Vergangenheit. Diese neue Situation bildet das aktuelle Abschiebungshaftvollzugsgesetz nicht ab.

Ziel des Gesetzentwurfes ist es deshalb, die UfA in Büren in ihren Möglichkeiten zu stärken. Ich mache das hier an einigen Beispielen klar.

Bisher erhält die UfA bei der Überstellung von Ausreisepflichtigen keine weiteren oder nur sehr wenige Informationen, zum Beispiel auch nicht dazu, ob die Person als Gefährder eingestuft wird. In Zukunft wird die UfA bei der Aufnahme der Ausreisepflichtigen über sicherheitsrelevante Aspekte informiert, zum Beispiel über strafrechtliche Verurteilungen oder über einen vorangegangenen Strafvollzug. Im Gegenzug werden die Polizeibehörden über die Haftentlassung von gefährlichen Personen unterrichtet.

Diese Informationen ermöglichen es der UfA, wenn von einem neu aufgenommenen Ausreisepflichtigen potenziell ein Risiko für andere untergebrachte Personen oder auch für das Personal in der UfA ausgeht, diesen zunächst bis zu eine Woche lang zu beobachten.

Der Gesetzentwurf sieht auch vor, dass Ausreisepflichtige bei Feststellung eines Gefahrenrisikos dauerhaft in einem besonders gesicherten Gewahrsamsbereich untergebracht werden können.

Neu geregelt wird ferner der Umgang mit Bargeld und Mobiltelefonen. Leider wurden in der Vergangenheit oft Drogen bei Ausreisepflichtigen gefunden. Um einen Drogenhandel in der UfA zu erschweren, sollen die Ausreisepflichtigen nicht mehr über Bargeld verfügen dürfen.

Geändert wird auch die Praxis bei der Durchsuchung der Hafträume. In der Vergangenheit waren die inhaftierten Personen bei der Durchsuchung dabei. Das hatte zur Folge, dass sich unter den Ausreisepflichtigen herumsprach, wo und wie gesucht wird. Um eine effektive Durchsuchung zu ermöglichen, wird die Durchsuchung künftig unter Ausschluss des betroffenen Untergebrachten durchgeführt.

Der Gesetzentwurf sieht außerdem vor, den Ausreisepflichtigen nicht mehr zu erlauben, Mobiltelefone mit Kamerafunktion zu nutzen, weil zuletzt verstärkt Fotos und Videos aus der UfA im Internet kursierten.

Wer nicht über ein Mobiltelefon ohne Kamerafunktion verfügt, dem wird von der UfA kostenlos ein solches Telefon zur Verfügung gestellt.

(Christian Dahm [SPD]: Das ist doch nicht neu!)

Damit werden die Personenrechte sowohl der Ausreisepflichtigen als auch der UfA-Bediensteten besser geschützt.

Sanktionen wie etwa Einschränkungen bei der Nutzung von Telefon und Internet oder auch beim Besuchsrecht sah das Gesetz bisher nicht vor. Der neue Entwurf bietet die Möglichkeit, Sanktionsmaßnahmen anzuordnen, etwa bei Verstößen gegen die Hausordnung.

Die Landesregierung legt heute einen Gesetzentwurf vor, der die erkannten Probleme nicht nur aufzeigt, sondern auch effektiv löst. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Hoppe-Biermeyer. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Frau Kollegin Stock.

Ellen Stock (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Hohe Haus hat in der vergangenen Wahlperiode – genauer gesagt: von September bis Dezember 2015 – intensiv, ausgewogen und mit Bedacht über die Einführung des Abschiebehaftvollzugsgesetzes diskutiert. Einbezogen in diesen intensiven Dialog wurden die kommunalen Spitzenverbände, die Ausländerbehörden und die Hilfsorganisationen. Damals war sich die FDP mit uns Sozialdemokraten darüber einig, dass eine Abschiebehaft immer nur die Ultima Ratio sein kann, das allerletzte Mittel, wenn gar nichts anderes mehr geht.

Ich erlaube mir, hier aus einer Plenarrede des damaligen Sprechers der FDP, Dirk Wedel, zu zitieren:

„Die FDP hält die aufgrund einer richterlichen Haftanordnung zur Sicherung der gerichtlich festgestellten Ausreisepflicht angeordnete Abschiebehaft an sich jedenfalls als Ultima Ratio – siehe § 62 Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – für erforderlich. Anders als für die CDU, die sehr strenge Vollzugsregeln fordert, stehen für die FDP beispielsweise der Grundsatz der Einzelunterbringung sowie die vorgesehenen Beschäftigungsmöglichkeiten außer Frage.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann ich nur fragen: Woher kommt der völlige Sinneswandel der Freien Demokraten, die hier auf einmal die strenge Law-and-Order-Linie ausgeben, die sie zuvor der CDU vorgeworfen haben? Wo sind die Bedenken geblieben, die es vorher noch gab?

Dazu kann ich Ihnen eine Antwort geben. In der UfA Büren lief es in der vergangenen Zeit wirklich nicht rund. Herr Minister Stamp musste mit allen Mitteln den Eindruck abwenden, er sei mit der Aufsicht über diese Einrichtung völlig überfordert. Denn im laufenden Jahr mehrten sich wiederholt die Eindrücke und Erkenntnisse, dass in der UfA die Lage eskaliert.

Ich selbst habe in mehreren Anfragen an die Landesregierung die Zustände und auch die Rechtmäßigkeit einiger Maßnahmen in Büren hinterfragt. In einer Antwort wurde mir konkret mitgeteilt, dass das derzeitige Abschiebehaftgesetz keine Sanktionsmaßnahmen vorsehe.

Trotzdem häufen sich Berichte über Unregelmäßigkeiten und Sanktionen. Nun bringt also die Landesregierung unter Federführung eines FDP-Ministers eine Gesetzesänderung ein, die viele dieser Zustände ändern oder auf den Boden von Gesetz und Recht stellen soll.

Einige der geplanten Änderungen finde ich durchaus nachvollziehbar: Der Ausbau der Einrichtung, die Erweiterung der Kapazität sowie mehr Personal sind mehr als notwendig.

Ob allerdings die nun anvisierte Mehrfachbelegung der Räume zielführend ist, sei einmal dahingestellt. Gerade der Grundsatz der Einzelunterbringung war der FDP noch in der vergangenen Legislaturperiode sehr wichtig.

Und ist die Übermittlung vollzugsrelevanter Informationen an die UfA, zum Beispiel, ob ein Untergebrachter als gefährlich oder gewalttätig einzuordnen ist, wirklich zielführend? Die Untergebrachten sind schließlich dort, um abgeschoben zu werden.

Eines dürfen wir bei aller Aufregung allerdings nicht aus dem Blick verlieren: Die Abschiebehaft ist keine Strafhaft. Abschiebehaft dient einzig der Sicherstellung der Rückführung und ist – das gilt auch heute noch – die Ultima Ratio. Sie soll sich deshalb in wesentlichen Elementen vom Strafvollzug unterscheiden.

Ob die innerhalb der Einrichtung weit reichenden Ordnungsmaßnahmen, die das neue Gesetz vorsieht, hilfreich und rechtmäßig sind, kann bezweifelt werden. Denn die Einschränkungen, die nun möglich gemacht werden sollen – sei es bei den Bewegungs- oder den Besuchsmöglichkeiten, bei der Nutzung von Mobiltelefonen oder beim Surfen im Internet –, erinnern doch stark an die Disziplinarmaßnahmen, wie wir sie aus der Justizvollzugsanstalt kennen.

Die Einrichtungsleitung erhält ungeahnt weit reichende Befugnisse zur Bestrafung der Untergebrachten, die eben keine Häftlinge sind.

Ich halte also fest: In der UfA Büren sind der Landesregierung die Zügel hoffnungslos aus der Hand geglitten. Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der einerseits die kritischen Zustände in der Einrichtung legitimieren soll und andererseits ein hilfloser Versuch ist, durch einen besseren Informationsfluss gefährliche Personen früher zu erkennen.

Auch wir wollen, dass in der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige des Landes sowohl die Beschäftigten als auch die Untergebrachten menschenwürdige, sichere Verhältnisse vorfinden. Ob das vorliegende Gesetz ausreicht, um die Ziele zu erreichen, sei einmal dahingestellt.

Wir müssen im Fachausschuss prüfen, ob es nicht nur ein Notpflästerchen ist, um die Unfähigkeit der Landesregierung zu verdecken, und wir müssen prüfen, ob alle vorgesehenen Änderungen so überhaupt zulässig sind. Vor diesem Hintergrund wird die weitere Fachdiskussion erfolgen.

Ich bin mir sicher, dass wir eine Anhörung von Expertinnen und Experten zu diesem Gesetzentwurf beantragen werden.

Der Überweisung stimmen wir selbstverständlich zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Stock. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Lenzen.

Stefan Lenzen (FDP): Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die NRW-Koalition steht für eine Politik, die in Fragen von Migration und Integration auf klare Regeln und mehr Verbindlichkeit setzt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass für uns ein Einwanderungsgesetz dazugehört, mit dem wir die Einwanderung von Fachkräften steuern und erleichtern möchten.

Ebenso gilt für uns weiterhin, politisch und anders Verfolgten sowie Opfern von Krieg, Bürgerkrieg und staatlicher Willkür Schutz zu bieten.

Genauso wollen wir den Menschen eine Perspektive in unserem Land geben, die bereits seit mehreren Jahren hier leben, sich gut integriert haben, einer Arbeit nachgehen oder sich selbständig gemacht haben.

Auf der anderen Seite gilt es aber – auch das ist wichtig – klarzustellen, dass Menschen, die nicht schutzbedürftig sind, die sich nicht in unsere Gesellschaft integrieren wollen, unser Land wieder verlassen müssen. Deshalb wollen wir die Ausreisepflicht für Menschen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, zügiger und konsequenter durchsetzen.

Daher ist dieser Gesetzentwurf nicht verwunderlich. Es ist ein konsequenter Schritt, diese Änderung auf den Weg zu bringen. Denn – Minister Stamp hat es schon ausgeführt – für uns hat die Rückführung von Straftätern und Gefährdern höchste Priorität.

(Beifall von der FDP)

Die Landesregierung hat auch in dieser Frage schon einiges auf den Weg gebracht, um die Verfahren effektiver zu gestalten, zum Beispiel die Einrichtung der Zentralen Ausländerbehörden. Aber ein genauso wichtiger Baustein ist, die entsprechende Abschiebungshaft auf den Weg zu bringen, gerade für die Personen, wo ein Untertauchen zu befürchten ist, wo wir also sonst gar keine Möglichkeit hätten, eine Abschiebung durchzuführen.

Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die praktischen Erfahrungen im bisherigen Abschiebungshaftvollzugsgesetz haben doch gezeigt, dass gesetzliche Anpassungen notwendig sind. Ich glaube, das geht schon in Richtung von Kollegin Stock.

Wer Vorfälle in der UfA Büren wie Angriffe auf Beschäftigte oder Entweichungen kritisiert und daraus irgendwelche Vorwürfe an die jetzige Regierung oder auch an unser Ministerium ableiten möchte, der sollte vielleicht erkennen, dass zur Wahrheit auch gehört, dass wir jetzt erst einmal in dieser Einrichtung wieder klare Regeln schaffen müssen. Denn bei diesen Fehlverhalten, bei denen es zum Beispiel keine Möglichkeit für spürbare Sanktionen gab, muss man doch mal fragen, warum es so gekommen ist.

Wir haben jetzt 2018. Ich gehe gleich gerne darauf ein, dass Sie sich auf einen Redner aus unserer Fraktion im Jahr 2015 bezogen haben. Ich muss kurz daran erinnern: Wer hat denn eigentlich die Sicherungsmaßnahmen abgebaut? Wer hat das ganze Thema vernachlässigt? Das war eine rot-grüne Landesregierung, die mehr darauf geachtet hatte, dass das Ganze eben keinen Haftcharakter hat. Aber jetzt muss man doch erkennen, dass Korrekturen unumgänglich sind. Denn welches Klientel haben wir jetzt in der UfA Büren und welches hatten wir 2015?

(Zuruf von Berivan Aymaz [GRÜNE])

Wir haben doch jetzt zum großen Teil auch Gewalttäter, Drogensüchtige und islamistische Gefährder. Das sind doch ganz andere Personenkreise, wo doch davon auszugehen ist, dass die sich nicht so ohne Probleme mal eben in das ganze Gefüge der jetzigen Situation entsprechend einbringen lassen und man nicht ohne Probleme nach den alten Standards vorgehen kann.

Genauso ist es wichtig, dass wir einen gesicherten Gewahrsamsbereich bekommen, gerade für die als gefährlich eingeschätzten Personen. Wir müssen Bewegungsfreiheit von Mobiltelefonen und den freien Zugang zum Internet da einschränken, wo es die Gefahrenabwehr erforderlich macht.

Minister Stamp hat es schon ausgeführt. Wir werden daneben auch den Informationsaustausch mit den Ausländerbehörden, mit der Polizei, mit dem Justizvollzug verbessern, gerade bei dem Thema der sicherheitsrelevanten Aspekte. Wir brauchen eine verbindliche Hausordnung, die bei einem erheblichen Fehlverhalten auch Sanktionen vorsieht.

Ich glaube, niemand kann bestreiten, dass es nun einmal diesen steigenden Bedarf bei den Abschiebehaftplätzen gibt. Dafür gibt es mehrere Gründe wie die zunehmende Zahl der Ausreisepflichtigen, verbesserte Möglichkeiten zur Rückführung nach Nordafrika, veränderte Maßstäbe bei den Gefährdern.

Da ist es konsequent, dass die NRW-Koalition frühzeitig mit dem Ausbau der Kapazitäten der UfA Büren begonnen hat. Wir haben auch schon mit dem Landeshaushaltsentwurf 2018 entsprechende Beschlüsse gefasst. So ist es auch richtig, dass wir angesichts der zusätzlichen Kapazitäten auch zusätzliches qualifiziertes Vollzugspersonal benötigen. Mit klaren Regelungen und Sanktionen können wir die Arbeit und die Sicherheit der Beschäftigten verbessern, entsprechend erhöhen und erleichtern. So wollen wir auch die Möglichkeit schaffen, dass Vollzugsbeamte aus Polizei und Justiz im Ruhestand für fünf Jahre in der Abschiebungshaft eingesetzt werden können.

Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Es ist manchmal etwas heuchlerisch, das zu kritisieren und eine Situation aus dem Jahr 2015 mit der im Jahre 2018 zu vergleichen. Wer bestreitet, die damalige Belegung der UfA Büren wäre mit der heutigen vergleichbar, der war wohl schon länger nicht mehr da.

So halte ich fest: Die NRW-Koalition handelt konsequent in der Sache. Wir greifen die Probleme auf und schaffen jetzt klare Regelungen für einen praktikablen und sicheren Vollzug. – Danke schön.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lenzen. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Aymaz.

Berivan Aymaz (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!

(Christian Loose [AfD]: Danke!)

Lieber Herr Lenzen, die Abschiebehaftanstalt Büren ist in den letzten Monaten tatsächlich mal wieder in die Schlagzeilen geraten. Mal waren es Ausbrüche, Fluchtversuche, dann Berichte über Randale und Gewalt und schließlich auch die traurige Meldung über den Suizid eines Insassen.

Ich persönlich war mehrmals vor Ort, habe mir ein genaues Bild von der Einrichtung gemacht – übrigens die größte bundesweit – und habe viele Gespräche mit der Leitung, dem Personal, aber auch mit den Insassen vor Ort geführt. Es sind ungefähr 140 Menschen dort untergebracht, ausschließlich Männer im Alter von 18 bis 35 Jahren. Sie kommen aus Algerien, Marokko, Tunesien, Afghanistan, Indien, aus den unterschiedlichsten Ländern. Diese Menschen, meine Damen und Herren, sind nicht in der Bürener Einrichtung, weil sie Straftäter sind, sie sind dort, weil sie kein Bleiberecht in Deutschland haben und ausreisepflichtig sind.

(Zuruf von Stefan Lenzen [FDP])

An die Kollegen von CDU und FDP: Ich finde es schon sehr traurig, dass man hier immer wieder darauf hinweisen muss, dass die Abschiebehaftanstalt keine Justizvollzugsanstalt im klassischen Sinne ist, sondern sie ist lediglich ein Zwangsinstrument zur Durchsetzung einer Verhaltenspflicht, in diesem Fall der Ausreisepflicht.

Diese Unterscheidung ist wichtig, die kommt nicht von Ungefähr. Denn der Europäische Gerichtshof hat klargemacht, dass Menschen in Abschiebehaft daher nicht annähernd wie Straftäter behandelt und auch untergebracht werden dürfen.

Lieber Herr Lenzen, hier noch einmal der Hinweis: Das ist der Grund, warum Rot-Grün seinerzeit ganz genau darauf geachtet hat, dass es eben keinen Haftcharakter hat.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

An dieses europäische Grundsatzurteil von 2014 müssen wir uns auch heute noch halten, also auch in Zeiten, in denen Menschen, die keine Bleibeperspektive haben, vielleicht von dem einen oder anderen schnell mal wie Kriminelle betrachtet werden.

Wir sehen aber auch, dass mit der neuen schwarz-gelben Landesregierung ein deutlicher Kurswechsel im Bereich der Abschiebungshaft im Gange ist. Der Ausbau der Haftplätze geht einher mit einer spürbaren Verschärfung der Unterbringungsbedingungen für die Insassen. Diese Verschärfungen sollen jetzt mit der Änderung des Gesetzes noch einmal zementiert werden.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich machen: Ja, es gibt auch Probleme in der Einrichtung, und diese dürfen keineswegs unter den Teppich gekehrt werden. Doch ich bezweifle, dass der vorliegende Gesetzentwurf der richtige Ansatz zur Lösung der Probleme in der Einrichtung ist.

Bezeichnend ist auch, dass bereits die Problembeschreibung eine Schieflage darlegt. Während zum Beispiel Frustration, Perspektivlosigkeit, psychische Erkrankungen, Drogenabhängigkeit, Traumata, langjährige Gewalterfahrung der Insassen kaum Berücksichtigung finden, steht die angeblich gestiegene Anzahl von sogenannten Gefährdern im Vordergrund. Das wurde auch mehrmals von den Vorrednern der CDU und der FDP, aber auch vom Herrn Minister noch einmal ganz klar in den Vordergrund gerückt. Mit dieser Feststellung soll nun auch die Verschärfung begründet werden.

Die Einrichtungsleitung soll mit einem neu eingeführten Zugangsverfahren das Recht bekommen, darüber zu entscheiden, wer als Gefährder eingestuft werden kann oder nicht, um dann die als Gefährder Eingestuften unter gesonderten Bedingungen unterbringen zu können. Unabhängig davon, dass allein schon dieser Begutachtungsprozess höchst problematisch ist und zahlreiche Fragen aufwirft, bezweifle ich, dass das mit dem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2017 vereinbar ist. Denn die Abschiebungshaft soll nun einmal ausschließlich der Sicherstellung der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht dienen und nicht der allgemeinen Gefahrenabwehr.

Ein weiterer, höchst problematischer Punkt im Gesetzentwurf ist das Vorhaben, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf bis zu 16 Stunden auszuweiten. Na ja, ob auch dieser Punkt den Maßgaben der EU-Richtlinien standhalten kann, ziehe ich in Zweifel, meine Damen und Herren.

Ja, vor diesem Hintergrund, aber auch wegen vielen, vielen anderen Fragen werden wir eine Anhörung beantragen, bei der wir genau hinschauen werden, ob international verankerte Menschenrechte sowie EU-Richtlinien hier eingehalten werden.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Berivan Aymaz (GRÜNE): Die geplanten Verschärfungen gehören daher intensiv auf den Prüfstand. Denn wie schnell ein Abrücken von rechtsstaatlichen Prinzipien bei dieser Landesregierung vonstattengehen kann, haben wir kürzlich leider alle bei der rechtswidrigen Abschiebung …

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Berivan Aymaz (GRÜNE): … des mutmaßlichen Gefährders erleben müssen. Daher bleiben wir wachsam, werden aber auch konstruktive Vorschläge für die Lösung der echten Probleme unterbreiten. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Aymaz. – Für die AfD-Fraktion spricht Frau Kollegin Walger-Demolsky.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist eigentlich nicht die Aufgabe der Opposition, die Regierung für einen Gesetzentwurf zu loben. Deswegen halte ich mich da ein bisschen zurück. Herr Lenzen hat das, glaube ich, ausreichend getan.

Aber ich denke, wir sollten doch das eine oder andere richtigstellen, was hier gesagt wurde. Viele Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Mitarbeiter vor Ort zu schützen, um Straftaten zu verhindern und um auch die, die dort in der Anstalt untergebracht sind, zu schützen – nämlich vor ihrem eigenen Handeln. Ich weiß nicht, wie lustig Sie es finden, wenn dort Untergebrachte zum Beispiel Rasierklingen in Körperöffnungen verstecken. Dagegen muss doch vorgegangen werden können. Deswegen muss es zum Beispiel unangemeldete Begutachtungen der Räume geben, so traurig ich das finde.

Sie sprechen davon, dass da nicht Straftäter untergebracht sind, sondern Menschen, die sich ausschließlich dem Vergehen der Nichtausreise schuldig gemacht haben. Ja, das war so gedacht. Die Frage ist, ob das heute noch so ist. Und die Frage, die sich mir dann stellt, ist: Wenn es zu großen Teilen heute nicht mehr so ist, weil Gerichte, um den Weg eines Strafprozesses zu umgehen, lieber den Weg der Ausreisebestimmung und der Festsetzung in der UfA gehen, ob dann diesem Gedanken, den man in Europa hatte, überhaupt noch Rechnung getragen wird.

Denn ich gehe davon aus, da sind tatsächlich Leute drin, die haben nichts gemacht – außer, dass sie nicht ausgereist sind. Aber da sind auch Leute drin, die sind eigentlich Straftäter. Und die sitzen jetzt da ganz schön zusammen. Die sind auch Straftäter, werden aber nicht mehr als solche behandelt, weil möglicherweise beim Gericht der Gedanke, die ausreisen zu lassen, der intensivere und vorgezogenere ist. Das ist nicht festgelegt, aber wir können nicht sicherstellen, dass Straftäter und Nichtstraftäter heute noch wirklich getrennt untergebracht werden. Sie können das verleugnen, ist egal, die Realitäten vor Ort sehen nun mal so aus.

Wie gesagt, ich habe noch eine oder zwei Fragen zu dem Gesetz. Die werde ich stellen, die brauche ich hier nicht zu stellen, die werde ich im Ausschuss stellen. Ansonsten halte ich die Maßnahmen bzw. die Veränderungen, die angedacht sind, die sicherlich auch mit der Leitung vor Ort abgestimmt wurden, für richtig.

Ich glaube, der Prozess hat sicherlich einige Monate gedauert, und es ist auch nicht so, dass er erst in dem Moment angefangen hat, als es Probleme gab. Denn dass es Veränderungen geben musste, das hören wir seit einem Jahr. Dann kamen die ersten Ausbruchsversuche bzw. sogar gelungene Ausbrüche. Dann kam der Selbstmord. Es ist also nicht so, dass darauf reagiert wurde. Dass etwas verändert werden musste, stand von vornherein fest. Und ganz witzig fand ich zum Beispiel solche Sachen wie: „Na, hätten wir mal die Gitter von den Fenstern so abgeschraubt, wie wir von der SPD das gefordert haben, dann hätten die Ausbrecher diese Gitter auch nicht benutzen können, um daran hochzuklettern.“ – Also, das ist doch absurd.

Ich bin gespannt auf die Anhörung. Ich bin sehr gespannt, wen Sie dazu einladen, und ich bin sehr sicher, dass die Regierungsparteien im Moment den richtigen Weg gehen. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Walger-Demolsky. – Für die Landesregierung spricht noch einmal Herr Minister Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt die Beratung im Parlament nicht unnötig aufhalten, aber ich glaube, das Gesetz ist von seiner Bedeutung her schon so wichtig, dass ich an dieser Stelle noch einige Sätze sagen möchte.

Es ist von Ihnen die Frage aufgeworfen worden, warum wir eine unterschiedliche Betrachtung zu 2015 haben. Herr Lenzen hat es angedeutet: Wir haben in diesen vergangenen drei Jahren eine veränderte Situation des Zuzugs nach Deutschland insgesamt gehabt. Wir wissen ja alle, dass wir zwischen 2015 und 2016 ganz große Mengen von Migranten in Deutschland aufgenommen haben. Damit hat sich natürlich auch die Situation in Büren verändert.

Darüber hinaus hat sich im Zusammenhang mit der Sicherheitslage – Stichwort: Breitscheidplatz, Anis Amri und der Diskussion damit – die Situation so entwickelt, dass der Bund die Möglichkeit geschaffen hat, neben der bisherigen Klientel für eine Abschiebehaft – das waren tatsächlich diejenigen, wie das Frau Aymaz gesagt hat, die sich einer Rückführung entzogen haben, die einer Ausreisepflicht nicht nachgekommen sind – jetzt auch gefährliche Personen, Gefährder mit hinzuzunehmen. Das macht nun eine Anpassung notwendig.

Frau Aymaz, Sie haben vorhin ausgeführt, dass dabei bitte eine Unterscheidung zwischen Abschiebe- und Strafhaft berücksichtigt werden muss. Ich weiß nicht, ob Sie mir vorhin zugehört haben. Das ist genau das, was ich ausdrücklich herausgearbeitet habe. Für uns ist selbstverständlich, dass das auch weiterhin der Fall sein wird.

Frau Stock, Sie haben Anregungen gemacht, weil Ihnen das Thema wichtig ist, und Sie haben auch eigene Vorschläge. Ich sage deswegen ganz bewusst, dass ich hoffe, dass wir gemeinsam ein gutes Gesetz gestalten können, und ich mich freue, wenn es konstruktive Anregungen gibt. Ich kann mir auch vorstellen, dass man das am Ende auch gemeinsam beschließen kann, zumindest mit Teilen des Hauses. Insofern bin ich gespannt, wie die Beratungen laufen werden.

Ich finde eine Anhörung bei einem solch wichtigen Gesetz angemessen. Ich wäre nur dankbar, wenn man dann ehrlich sagt, dass man entweder bereit ist, ein solches Abschiebehaftvollzugsgesetz entsprechend anzupassen, sich der Sache konkret zu stellen und Fachleute in dieser Richtung einzuladen, oder ob man eine Abschiebehaft eigentlich ablehnt – Frau Aymaz, jetzt hören Sie bitte zu – und dann nur Vertreter mit einem Open-Borders-Ansatz in eine solche Anhörung einlädt. Im letzten Fall werden wir an dieser Stelle in der Sache nicht weiterkommen.

Wir freuen uns über konstruktive Kritik und konstruktive Anregungen, und ich freue mich, dass wir dann ein gutes Gesetz auf den Weg bringen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Mit seinem zweiten Redebeitrag hat der Minister die Redezeit der Landesregierung um insgesamt 3 Minuten und 30 Sekunden überzogen. Gibt es den Wunsch der Fraktionen, noch zu sprechen? – Das ist nicht der Fall.

Ich schließe dann an dieser Stelle die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 8.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 17/3558 an den Integrationsausschuss federführend sowie zur Mitberatung an den Rechtsausschuss. Möchte jemand der Überweisung widersprechen? Möchte sich jemand enthalten? – Beides ist erkennbar nicht der Fall. Dann haben wir den Antrag jetzt so überwiesen.

Ich rufe auf:

9  Neue Technologien im Straßenbau am Beispiel der Niederlande

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/3592

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die antragstellende Fraktion der Abgeordnete Vogel das Wort.

Nic Peter Vogel (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir waren mit dem Verkehrsausschuss diesen Sommer mehrfach in deutschen und in niederländischen Städten – Stichwort: fahrradfreundliche Städte. Ich kann Ihnen sagen, die Holländer sind uns da meilenweit voraus.

Jetzt also Straßen aus recyceltem Plastik. Was sich anfangs noch anhört wie Science Fiction, gestaltet sich beim näheren Hinsehen eigentlich eher als Science. Viele Städte und viele Staaten haben ihren Fokus bereits auf die neuen Technologien „Straßen aus Plastik herzustellen“ gerichtet – von Kanada bis nach Schottland, die sehr gute Unternehmen haben, von Indien bis Australien oder aber auch die Niederlande.

Jetzt der Blick nach Holland, in die Stadt Rotterdam: Während ich hier gerade spreche, gibt es in der Stadt Rotterdam zwei Teststrecken, die komplett aus Plastik erstellt wurden. Im Augenblick geht es gerade in die heiße, in die finale Phase, nämlich in die Testphase.

Wir sind allerdings keine Lobbyisten und wollen das von allen Seiten beleuchten. Dementsprechend möchte ich Ihnen kurz skizzieren, welche Möglichkeiten und welche Herausforderungen es gibt.

Straßen aus Plastik sind natürlich sehr viel leichter, und dementsprechend haben wir ganz andere Transportwege, vor allen Dingen, wenn sie in den Werken schon als Module vorgefertigt werden können. Man spricht davon, dass das Material bis zu dreimal so lange haltbar sein kann wie herkömmlicher Asphalt. Das ist eine interessante Sache. Schlaglöcher würden der Vergangenheit angehören. Das Material soll Witterungsbedingungen absolut trotzen. Härteste Regenfälle sowie minus 40 Grad bis plus 80 Grad sollen ausgehalten werden.

Wenn wir jetzt auch noch von den hohlen Modulen sprechen, die teilweise schon implementiert werden – Sie müssen sich das wie eine Reihe leerer Streichholzschachteln, die aneinander gesetzt sind, vorstellen –, dann haben wir noch zusätzliche Möglichkeiten. In diesen Hohlräumen können nämlich Rohre oder gar Kabel verlegt werden – Stichwort: Digitalisierung. Dort, wo das immer noch benötigt wird, brauchen wir also nicht umständlich die Bürgersteige aufbuddeln, sondern können diese Kabel direkt unten verlegen.

Es ist sicherlich interessant, dass in diesen Hohlräumen viele Spielereien, aber auch viele ernst zu nehmende Sachen mit hineinspielen können. Man kann zum Beispiel Sensoren anbringen, um Verkehrsdatenmessungen zu machen, oder man kann sogenannte Nanogeneratoren installieren, um so die Energie ein wenig zurückzugewinnen – „Energy Harvesting“ ist hier das Stichwort. Es können auch kleine Spielereien wie beheizbare Straßen sein, was ich mir bei Autobahnen natürlich kaum vorstellen kann, aber vielleicht bei dem einen oder anderen nasskalten Weihnachtsmarkt.

Natürlich gibt es auch Herausforderungen, die ich Ihnen nicht unterschlagen möchte. Nach meinem Kenntnisstand sind die Oberflächen unbedingt noch vor einer zu großen UV-Strahlung zu schützen, die das Material porös machen könnte. Gleichzeitig brauchen wir allerdings einen gewissen Grip auf den Straßen. Die Brandgefahr ist sicherlich auch noch ein Thema. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich im Augenblick viele kluge Köpfe eben diese darüber zerbrechen.

Wenn es noch nicht smart genug ist, Plastikmüll zu recyceln, muss man auch dazu sagen: Nicht jeder Plastikmüll eignet sich dafür. Ich finde es aber schon sehr charmant, dass beispielsweise die Holländer mit der Crowdfunding-Organisation The Ocean Cleanup in Gesprächen sind. Das ist für uns im Landtag vielleicht nicht so erheblich, allerdings sollte man dieser tollen Organisation einmal seine Aufmerksamkeit widmen.

Zurück zu diesem Antrag. Warum sind denn so viele Länder daran interessiert, diese neuen Technologien zu promoten bzw. dort Monitoringstellen einzurichten, Teststrecken zur Verfügung zu stellen? – Das mag an ganz einfachen Grundsätzen liegen: Man möchte bei der ganzen Sache up to date sein. Man möchte diese neue Technik schnell implementieren, wenn sie den Break-Even-Point erreicht hat, das heißt, wenn es praktikabel und finanzierbar wird.

Machen wir uns doch mal ehrlich: Wenn wir uns hier manchmal Verkehrsinfrastrukturprojekte angucken, dann stellen wir fest, dass von der Idee über die Planung bis zu den Genehmigungen, dem Baubeginn und der Bauendfertigung manchmal 10, 15 Jahre vergehen. Ich frage mich also wirklich, ob wir noch die Zeit haben oder ob wir es unseren Verkehrsteilnehmern nicht mal schuldig sind, dass wir schöne Infrastrukturen bzw. Autobahnen ohne Staus implementieren können. Deswegen bin ich immer sehr scharf auf neue Techniken, die das Ganze beschleunigen können.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Nic Peter Vogel (AfD): Ich denke, Plastic roads sind einigermaßen unverdächtig, und deswegen habe ich diesen Antrag auch einigermaßen unkonkret gehalten. Ich bin Ihnen noch Zahlen schuldig, wie viel Geld wir in die Hand nehmen wollen, wie viel Manpower ich gerne investieren würde. Deshalb bitte ich um eine Überweisung in den Verkehrsausschuss. Da können wir das gemeinsam eruieren.

Bei Plastic roads bieten sich sehr viele Chancen, und wir haben sehr wenig zu verlieren. – Ich danke Ihnen für heute für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. – Für die CDU-Fraktion spricht Kollege Goeken.

Matthias Goeken (CDU): Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Straßen in Nordrhein-Westfalen, insbesondere die Bundesstraßen und Autobahnen, sind einer andauernden hohen Belastung ausgesetzt. Täglich befahren durchschnittlich mehr als 61.000 Lastwagen und Pkw die Autobahnen in unserem Land. Damit liegen wir 22 % über dem Bundesdurchschnitt. Somit wird ein Fünftel der gesamten Fahrleistung Deutschlands in Nordrhein-Westfalen erbracht.

Gerade aus diesem Grund ist es notwendig, dass die Straßen in Nordrhein-Westfalen aus verlässlichem und geprüftem Material gebaut werden und kein Material zum Einsatz kommt, welches noch nicht einmal über eine längere Zeit getestet wurde. Der Kollege der AfD sprach gerade von 30 Jahren Haltbarkeit.

(Nic Peter Vogel [AfD]: Dreifache!)

– Dreifache Haltbarkeit. Ich habe in meiner Kindheit mit Carrera-Bahnen gespielt und Teile dieser Plastikelemente zusammengebaut. Die waren auch hohl unten drunter.

Grundsätzlich begrüßen wir natürlich Innovationen und neue Anwendungen im Straßenbau. Einige Innovationen und Ideen werden bereits getestet. Hier möchte ich das Testgelände am Autobahnkreuz Köln-Ost an der A4 nennen. Dort wird der Einsatz von neuen Maschinen, Verfahren und Werkstoffen getestet.

Bei der Qualität, bei der Nachhaltigkeit und bei der Langlebigkeit dürfen wir keine Kompromisse machen. Und genau an diesem Punkt zeigt uns der AfD-Antrag wieder einmal, dass von den Abgeordneten der AfD – oder persönlich von Ihnen, Herr Vogel – nicht bis zum Ende gedacht wurde und Fakten verschwiegen wurden, einige haben Sie auch genannt. Denn Nachteile und Risiken des aus Kunststoff recycelten Straßenbelags wurden teilweise ausgeblendet. Das Pilotprojekt in den Niederlanden, das von der AfD als innovatives Beispiel angesprochen wird, befindet sich erst seit einigen Tagen in der Testphase.

(Nic Peter Vogel [AfD]: So sagte ich das!)

In diesem Moment startet gerade das erste Pilotprojekt: ein Fahrradweg in Zwolle, die Länge beträgt 30 m. Der zweite Testweg, den Sie angesprochen haben, wird im November eröffnet.

Nun wollen Sie von der AfD-Fraktion, dass wir in NRW ebenfalls Pilotprojekte beginnen. Halten Sie es nicht für sinnvoller und kostensparender, die Pilotprojektphase in den Niederlanden erst einmal abzuwarten und sich die Auswertung anzuschauen, bevor man mehrere Pilotprojekte gleichzeitig startet?

Einige wichtige Fragen sind noch nicht geklärt. Sie haben die Brandbeständigkeit der recycelten Kunststoffe angesprochen, minus 40 bis plus 80°C. Aber beim Brand eines Fahrzeuges entstehen Temperaturen von über 850°C, was ich als Feuerwehrmann selber erlebt habe. Dadurch kann es beim Verbrennen des Kunststoffes zur Entwicklung umweltschädlicher Dämpfe und Gase kommen.

Wie beständig ist der Werkstoff gegenüber UV-Strahlen? – Sie haben es angesprochen: Wir alle wissen, dass Kunststoffe durch UV-Strahlen porös und brüchig werden. Und welcher Plastikmüll kann bei der Verarbeitung genutzt werden und welcher nicht? Wie griffig ist die Oberfläche? – Sie haben es schon angesprochen: Gerade bei Radwegen, bei denen Brücken eingesetzt werden, sind diese besonders zu warten, weil es bei glatten Brücken aus Holz oder aus Kunststoffen schon oft zu Unfällen kam. Wie langlebig ist das Material bei starker Nutzung? – Auch darüber liegen keine Erkenntnisse vor. Wie sieht es mit Sicherheitsaspekten aus?

Wie Sie sehen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wirft das Thema noch sehr viele Fragen auf. Zudem ist der Recyclingprozess sehr aufwendig und auch nicht so einfach umzusetzen. Lassen Sie uns beobachten, was der Praxistest in den Niederlanden ergibt. Der Radweg in Zwolle wurde, wie Sie erwähnt haben, mit mehreren Sensoren, die die Temperatur, die Belastung und die Nutzung messen, ausgestattet. Wenn es bereits auf Fahrradwegen zu Schwierigkeiten kommen sollte, wissen wir, dass sich der recycelte Kunststoff für Autobahnen nicht eignet. Wenn sich doch alles positiv entwickelt und das Material den Praxistest besteht, können wir immer noch entscheiden, ob diese Variante auch eine Option für Nordrhein-Westfalen ist.

Wir sollten den Ergebnissen dieses Pilotprojektes nicht vorgreifen. Der AfD-Antrag sieht vor, das Projekt bereits jetzt als geeignete Maßnahme zur Steigerung der Recyclingquote von Kunststoffen und der Digitalisierung des Straßenverkehrs anzuerkennen. So steht es in Ihrem Antrag.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir möchten das Projekt weiterverfolgen und plädieren daher für eine Überweisung des Antrags an den Verkehrsausschuss. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Goeken. – Für die SPD-Fraktion spricht Kollege Dudas.

Gordan Dudas (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Im vorliegenden Antrag wird die Idee von Straßen aus recyceltem Plastik als Beitrag zur Lösung des Plastikproblems angesprochen – eine Technik, die in den Niederlanden erst noch getestet werden soll und bei der die Pilotprojekte erst jetzt begonnen wurden.

Dies wird mit dem vorliegenden Antrag und damit vor Beginn des Testlaufs im Pilotprojekt angepriesen und soll nach dem Willen der Antragsteller ohne Prüfung als Technik anerkannt werden.

Als weltoffenes Land – das hat uns in Deutschland und ganz besonders hier in Nordrhein-Westfalen stark gemacht – schätzen wir natürlich Innovationen aus allen Regionen. Gutes sollte man übernehmen, gerne auch aus fremden Ländern und Kulturen. Aber ich sage auch: Man sollte zumindest erst einmal abwarten, ob sich eine Technik wie die hier angesprochene überhaupt als praktikabel erweist.

Die Niederländer sind diesen Schritt gegangen und testen demnächst aus, ob sich diese Technik überhaupt bewährt.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Jetzt!)

Solange die Pilotprojekte nicht abgeschlossen sind, liegen auch keine Erfahrungswerte vor. Es ist also noch völlig unklar, inwieweit dieser Ansatz für Straßen‑ und Wegebau am Ende tatsächlich geeignet ist.

Außerdem ist die Verwendung von Kunststoffen beim Straßenbau sicher nicht die beste Lösung, um das Plastikproblem zu lösen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Dudas, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Frau Walger-Demolsky würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gordan Dudas (SPD): Nein. – Um dieses enorme Problem anzugehen, muss man aus ökologischer Sicht vielmehr die Vermeidung von Plastik in den Vordergrund stellen und somit den Eintrag von Kunststoffen in die Umwelt vermeiden. Dieser Plaste-und-Elaste-Antrag wirkt daher wie das Resultat des Genusses einer Fachlektüre in geselliger Verbindung mit einem guten Tropfen Genever.

Grundsätzlich gilt: Das ist ein spannendes Thema, das ohne jegliche Sorgfalt und in diesem Falle ohne Prüfung auf Praktikabilität auf die Tagesordnung gesetzt wurde. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP-Fraktion spricht der Abgeordnete Reuter.

Ulrich Reuter (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP versteht sich als liberale Kraft und als eine Partei, die dem Fortschritt zugetan ist. Insoweit sind wir für neue Technologien immer offen. Das gilt insbesondere für den Straßenbau, der im ganz besonderen Interesse der Landesregierung steht.

Als überzeugte Europäer schauen wir immer auch gerne über die Grenzen zu unseren Nachbarn, die manche Dinge vermeintlich besser machen. Die Niederlande sind – das steht für mich außer Frage – in vielen Bereichen des Verkehrs vorbildlich. Mein Kollege Thomas Nückel und ich haben unlängst an einer Radexkursion der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Städte nach Nimwegen teilgenommen und uns so ein praktisches Bild von den Standards und Entwicklungen des Radverkehrs in den Niederlanden gemacht. Solche Eindrücke sind gut und richtig.

Der vorliegende Antrag hat im Grunde genommen ein ähnliches Anliegen: Eine neue Technik im Straßenbau auf Basis recycelten Kunststoffs soll erprobt werden. Dazu ist jedoch anzumerken, dass die tatsächliche Praxistauglichkeit des Verfahrens noch gar nicht erwiesen ist. Es müssen also zunächst die Erfahrungen in den Niederlanden abgewartet werden.

(Zuruf von Gabriele Walger-Demolsky [AfD])

Darüber hinaus handelt es sich bei dem Test in den Niederlanden um zwei Radwege in Rotterdam. Ein Fahrradweg hat jedoch eine ganz andere Belastungssituation als eine Straße, auf der auch Lkws fahren. Daher muss auch insbesondere die Belastbarkeit dieser Technik unter massiven Verschleißbedingungen erst noch nachgewiesen werden.

Schließlich sind wir der Meinung, dass die Auseinandersetzung mit neuen, in der Testphase befindlichen Techniken eine klare Aufgabe der operativ tätigen Unternehmen und Verwaltungen im Land einschließlich Straßen.NRW ist.

Mit der Forschungsgesellschaft für Straßen‑ und Verkehrswesen und der Bundesanstalt für Straßenwesen haben wir zudem zwei Institutionen, die laufend neue Verfahren und Produkte beobachten und bewerten. Sie bedürfen dabei nicht der Hilfestellung des Parlaments.

Abschließend möchte ich noch anmerken, dass Sie bei den Ausführungen zu den Vorteilen der neuen Technik eine technische Überlegenheit suggerieren, die an noch keiner Stelle bewiesen ist.

Aus vorgenannten Gründen sehen wir keine Notwendigkeit für den Antrag. Gleichwohl stimmen wir der Überweisung in den Fachausschuss zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Reuter. Sie haben es vielleicht gemerkt: Es gibt eine Kurzintervention. Frau Kollegin Walger-Demolsky von der AfD-Fraktion hat sie angemeldet.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Das klang jetzt in der Rede so: Die Niederlande probieren etwas aus, schauen wir mal und warten zunächst ab.

Das hört sich fast so an, als würden wir die Niederlande als Versuchslabor für unsere eigene Zukunft benutzen. Ich bin der Meinung: Ein großes Bundesland wie NRW sollte selbst Tests durchführen und nicht das abwarten, was die Niederländer so erforschen.

Man muss das ja nicht gleich mit einer Bundesstraße machen, aber man könnte zum Beispiel den RS1 dafür vorsehen. Das wäre eine Anregung, die Sie vielleicht mit in den Ausschuss nehmen können. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Ulrich Reuter (FDP): Vielen Dank. Die Anregung nehmen wir sicherlich gerne mit in den Ausschuss. Man muss aber fairerweise gestehen, dass die Initiative in den Niederlanden auf eine private Initiative zurückgeht. Dort wird nicht von staatlicher Seite getestet, sondern es handelt sich dabei um einen Unternehmer.

Den Unternehmen steht es natürlich auch in NRW frei, diese Dinge zu testen, wenn sie für solche Varianten Marktmöglichkeiten sehen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Reuter. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Remmel.

Johannes Remmel (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will es kurz machen: Offensichtlich hat es die AfD-Fraktion mit den Straßenbelägen. Ich glaube, das ist schon Ihr zweiter Antrag. Der erste bezog sich auf den Asphalt, und jetzt kommt das Plastik hinterher.

Ich finde das zwar alles durchaus interessant, aber ich meine, dass dies Fragen sind, die wir im Fachausschuss besprechen sollten, begleitet von fachlichen Stellungnahmen beispielsweise des Landesbetriebes.

Wenn ich richtig nachgelesen habe, gibt es in den Niederlanden mittlerweile eine 30 Meter lange Teststrecke als Radweg. Über was also sollten wir uns hier im Plenum unterhalten? Diese Sache gehört in den Fachausschuss. Das ist eine Anregung, zu der man eine fachliche Stellungnahme bekommen sollte, dann ist es aber auch gut. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Remmel. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Wüst.

Hendrik Wüst, Minister für Verkehr: Vielen herzlichen Dank für das Wort. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Niemand wird dümmer, wenn er über den Tellerrand oder über die Grenze schaut. Insbesondere in den Niederlanden kann man im Bereich Mobilität in der Tat manch Innovatives entdecken. Wir sind dafür immer sehr offen, besonders wenn es um mehr Effizienz im Straßenbau geht, vor allem auch dann, wenn man das mit Umweltschutz, Klimaschutz und vernünftigen Recyclingprojekten verbinden kann.

Das muss man dann aber auch richtig anfassen. Einfach mal Hohlkammerelemente für Straßenbau verwenden und dann mal sehen, was passiert, ist nicht unsere Art, mit diesen Dingen umzugehen. In der Kurzintervention hieß es dann: Macht es doch beim Radschnellweg. – Da fahren die Leute auf ihrem Pedelec mit 25 km/h. Ich möchte, dass unsere Fahrradwege belastbar und sicher sind. Wenn die Leute über den Lenker gehen, kann da Schlimmes passieren.

Bei aller Offenheit für solche Lösungen – in Deutschland machen wir es anders. Es gibt die Bundesanstalt für Straßenwesen, es gibt die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, in der alle Länder mit ihren Fachleuten vertreten sind. Das hat nichts mit Politik zu tun. Dort sitzen Ingenieure, die davon mehr verstehen als die allermeisten von uns, jedenfalls mehr als ich. Die machen sich über solche Sachen Gedanken.

NRW ist dort federführend eingebunden. Die Direktorin unseres Landesbetriebs ist die Vorsitzende der Forschungsgesellschaft. Wir sind ganz nah dran an den Themen und schauen uns alles sehr genau an. Wir sind oft in den Niederlanden und stehen auf allen Ebenen im regen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen.

Mit Stand heute muss man feststellen: Niemand kann bislang die Tauglichkeit von Plastik für Straßen und Radwege genauer beurteilen. Wir stehen noch am Anfang, das ist vielfach gesagt worden. Niemand weiß genau, ob das wirtschaftlicher ist. Wie das am Ende mit der Umweltbilanz aussieht, kann man ebenfalls noch nicht sagen.

Deswegen ist es aus meiner Sicht richtig, was Herr Remmel gerade ausgeführt hat: Es ist noch nicht an der Zeit, solche Debatten zu führen. Im Ausschuss können wir uns gern mit ein paar Experten darüber austauschen. Dann legen wir das auf Wiedervorlage und befassen uns damit, wenn alle ein wenig schlauer sind. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit kann ich die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 9 schließen.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache an den Verkehrsausschuss. Die abschließende Abstimmung soll dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen oder sich enthalten? – Beides ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag so überwiesen.

Ich rufe auf:

10 Laienreanimation an Schulen in Nordrhein-Westfalen weiterentwickeln

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3576

Als erste Rednerin hat für die antragstellende Fraktion der CDU Frau Katharina Gebauer das Wort.

Katharina Gebauer (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der plötzliche Herztod ist mit über 130.000 betroffenen Menschen pro Jahr eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Mehr als 50.000 Menschen erleiden deutschlandweit jedes Jahr außerhalb eines Krankenhauses einen plötzlichen Herzstillstand. Obwohl jeder helfen könnte, tun es die wenigsten.

Daher ist die aktuelle Bilanz erschreckend. Nur ca. 37 % der Bundesbürger helfen im Ernstfall. Im europäischen Vergleich ist dies mehr als alarmierend. Die Niederlande und die skandinavischen Länder liegen hier bei über 65 %.

Gerade bei einem Herzstillstand ist es unerlässlich, schnell zu handeln. Bereits drei Minuten nach einem Herzstillstand wird das Gehirn nicht mehr genügend mit Sauerstoff versorgt. Es treten unwiderrufliche Schäden auf. Ein Beginn der Wiederbelebung durch Laien verbessert die Überlebensrate um das Zwei- bis Dreifache; denn bereits mit einer einfachen Herzdruckmassage kann der Restsauerstoff im Blut zirkulieren und so bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes die Überlebenswahrscheinlichkeit entscheidend erhöhen.

Die Zeit des Therapieintervalls, also die Zeit, die der Rettungsdienst bis zum Eintreffen beim Patienten braucht, wird entscheidend verkürzt. Andere Länder zeigen uns, dass Kurzschulungen in Schulen und Büros die Laienreanimationsrate auf mehr als 70 % steigern.

Bereits bei den Beratungen zum Landeshaushalt 2018 haben wir als Nordrhein-Westfalen-Koalition dafür gesorgt, dass zusätzliche Mittel in Höhe von 100.000 Euro für Projekte zur Unterrichtung in der Wiederbelebung von Menschen zur Verfügung gestellt worden sind. Diesen Weg möchten wir weitergehen. Daher sprechen wir uns heute dafür aus, dass auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse das Modelprojekt „Laienreanimation an Schulen“ auf weitere Schulen ausgedehnt werden soll.

Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales prüft, in welchem Umfang die zusätzliche Anschaffung von Übungspuppen aus den bereits zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln ermöglicht werden kann. Wir sprechen uns darüber hinaus dafür aus, Kooperationen mit geeigneten Partnern auf dem Gebiet der Laienreanimation wie beispielsweise dem Deutschen Roten Kreuz, der Johanniter-Unfall-Hilfe oder dem Malteser Hilfsdienst und anderen einzugehen. Dabei soll auch geprüft werden, ob in dem bestehenden Finanzrahmen Aufwandsentschädigungen für die Durchführung von Schulungen möglich sind.

Verehrte Damen und Herren, bereits im Jahr 2014 hat die Kultusministerkonferenz der Länder empfohlen, Reanimation deutschlandweit zu einem festen Bestandteil des Schulunterrichts zu machen und alle Schüler ab der 7. Klasse regelmäßig zwei Stunden pro Jahr darin auszubilden.

Als Nordrhein-Westfalen-Koalition haben wir in unserem Koalitionsvertrag festgelegt, dass Reanimation künftig an allen Schulen des Landes gelehrt werden soll. Daher ist es uns wichtig, dass uns nach dem Auslaufen des Modellprojekts im Jahre 2020 ein Konzept vorgelegt wird, das uns Vorschläge liefert, wie wir das Thema dauerhaft in den Schulalltag integrieren können. – Ich bedanke mich hier für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion, ebenfalls antragstellende Fraktion, spricht jetzt Frau Kollegin Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Woche ist eine ganz besondere Woche: Es ist die Woche der Wiederbelebung. Zahlreiche Aktionen in Kliniken, auf Plätzen und in öffentlichen Gebäuden werben dafür, als Ersthelfer Leben zu retten.

Ich bedanke mich auch im Namen meiner FDP-Landtagsfraktion bei den Rettungsdiensten, die dies unterstützen und ermöglichen, aber auch bei Menschen wie Jens Schilling, der mit seiner Kampagne „Laienreanimation kann jeder!“ genau dazu animiert, und der heute für den Deutschen Rat für Wiederbelebung mit Mitarbeitern der Uniklinik Köln hier im Hause informiert.

Auf die Reanimation durch Laien kommt es im Ernstfall an. Jedes Jahr erleiden mindestens 50.000 Menschen außerhalb von Kliniken einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Dabei überleben aber nur rund 10 % der Betroffenen. In Nordrhein-Westfalen dauert es zwar durchschnittlich nur acht Minuten, bis ein Notarzt oder ein Rettungswagen eintrifft, aber bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand ist selbst das zu lange; denn das menschliche Gehirn wird bereits nach drei bis fünf Minuten ohne Sauerstoff irreversibel geschädigt. Das zeigt: Eine Wiederbelebung durch anwesende Laien kann in wichtigen Minuten über Leben und Tod entscheiden. Deshalb wollen wir Menschen ermutigen, im Ernstfall nicht zu zögern, sondern zu helfen.

In den letzten Jahren haben zwar immer mehr Laien bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand eine Reanimation aufgenommen; dennoch trauen sich immer noch zu wenige Menschen zu, im Notfall selbst einzugreifen. So liegt in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern die Quote der Ersthelfer, die eine Reanimation durchführen, bei 60 % bis 70 % und damit noch immer deutlich höher als in Deutschland.

Die Erfahrungen aus Dänemark haben gezeigt, dass diese Quote mit Hilfe breit angelegter Informationskampagnen und mit Wiederbelebungsunterricht in Schulen innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt werden konnte. Bei einer entsprechenden Steigerung in Deutschland könnten pro Jahr 10.000 Menschen mehr überleben.

Die FDP-Landtagsfraktion hat dieses Thema bereits vor knapp drei Jahren mit einem Antrag im Landtag in den Fokus gestellt. Nach dem Regierungswechsel hat die NRW-Koalition gehandelt. Wir haben bereits zum Schuljahresbeginn 2017/2018 ein landesweites Modellprojekt „Laienreanimation an Schulen in Nordrhein-Westfalen“ gestartet. Rund 120 Schulen nehmen inzwischen am Projekt teil. Dabei sollen Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7 sowie Lehrkräfte Wiederbelebungskompetenz in Theorie und Praxis erwerben. Auf Initiative der Fraktionen von Christdemokraten und FDP wurden 2018 zusätzliche Mittel in Höhe von 100.000 Euro zur Verfügung gestellt.

Diese positiven Ansätze wollen wir fortführen. Wir wollen mit den verfügbaren Geldern weitere Übungspuppen anschaffen und so eine Ausweitung des Modellprojektes auf weitere Schulen unterstützen.

(Beifall von der FDP)

Wir wollen weitere Partner insbesondere zur Schulung von Lehrkräften einbeziehen. Dabei gilt es auch zu überlegen, wie wir die Durchführung von Schulungen adäquat honorieren können. Wir wollen auf Grundlage der Erkenntnis aus dem Modellprojekt zudem ein Konzept entwickeln, mit dem wir die Unterrichtung in der Wiederbelebung an möglichst allen Schulen in Nordrhein-Westfalen umsetzen können; denn für den, der es in jungen Jahren richtig lernt, wird es selbstverständlich, zu helfen.

Wiederbeleben ist, so sagt meine elfjährige Tochter, kinderleicht. Sie brauchen dazu lediglich Mut. Wenn ein Mensch vor Ihnen umfällt und Sie feststellen, dass er keinen Puls mehr hat, rufen Sie die 112 oder lassen Sie diese rufen. Danach legen Sie einen Handballen auf das Brustbein des Patienten, legen den anderen Handballen darüber und drücken mit durchgestreckten Armen das Brustbein ungefähr 5 cm nach unten. Hören Sie damit nicht auf, wenn ein scheußliches Geräusch entsteht. Wenn es knackt, dann ist eine Rippe gebrochen. Die heilt wieder. Aufhören sollten Sie erst, wenn der eingetroffene Rettungsdienst Sie dazu auffordert oder – im absoluten Idealfall – wenn der Patient Sie anspricht.

Das Ganze sollten Sie ungefähr 100- bis 120-mal in der Minute durchführen. Wenn Sie nun überlegen: „Wie schnell ist 100- bis 120-mal in der Minute denn?“, müssen Sie jetzt nicht rechnen. Singen Sie einfach gedanklich das alte Lied „Staying Alive“ von den Bee Gees. Staying Alive – Genau das wollen wir, nämlich dass der Patient am Leben bleibt. Wenn Sie eher progressivere Töne bevorzugen, können Sie auch zum Beat von „Highway to Hell“ reanimieren. Mit Blick auf die älteren Kollegen hier im Plenarsaal: Der „Radetzkymarsch“ hat denselben Beat.

(Michael Hübner [SPD]: Gibt es da was von Heino? Vielleicht gibt es was von Heino! Wir können die Heimatministerin mal fragen!)

Egal, was Sie tun, egal, welche Musik Sie bevorzugen: Sie können nur eines falsch machen – und das ist, nichts zu tun.

Ich wünsche mir jetzt, dass Sie alle die entsprechende Melodie im Ohr haben und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Schneider, insbesondere für die ganz lebenspraktischen Beispiele und die Hinweise, wie wir helfen können. – Die nächste Wortmeldung stammt von der Kollegin Spanier-Oppermann von der SPD-Fraktion.

Ina Spanier-Oppermann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Es sagt sich so leicht: Die Gesundheit ist das höchste Gut, das wir haben. – Deshalb ist es immer wieder wichtig, in der Woche der Wiederbelebung mit derartigen Anträgen an genau dieses Thema zu erinnern.

Vorab auch vonseiten der SPD-Fraktion: Der Antrag ist wichtig und richtig. Jede und jeder von uns kann nämlich in diese Lage geraten. Man wird Zeuge eines Unfalls oder eines körperlichen Zusammenbruchs einer nahestehenden Person. Man muss helfen. Jede und jeder von uns kann selbst in die Lage geraten. Man wird in einen Unfall verwickelt oder erleidet selbst einen körperlichen Zusammenbruch. Auch einem selbst muss dann geholfen werden.

Wie wir bereits in beiden Wortbeiträgen hörten, ist der plötzliche Herztod eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland. Laut Antragsteller und den aktuellen Daten erleiden bis zu 50.000 Menschen jährlich außerhalb eines Krankenhauses einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Andere Schätzungen belaufen sich auf eine weit höhere Zahl.

Was bedeutet das für uns? Deutschland braucht mehr Ersthelferinnen und Ersthelfer. Jeder von uns kann helfen; denn in der Regel sind medizinische Laien zuerst vor Ort.

Angehörige oder Passanten können Lebensretter sein und helfen. Doch die wenigsten tun das. Im Ernstfall helfen vielleicht, wie wir gerade gehört haben, 15 % bis 30 % der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Viele sehen in ihrer Hilflosigkeit zu, wie ein Mensch einen plötzlichen Herztod erleidet.

Ich glaube, wir alle haben noch die Bilder aus der Stadt Essen vor uns, wie ein älterer Herr sterbend im Vorraum der Sparkasse liegt, und niemand hilft ihm. Gerade bei einem Herzstillstand ist die erste Hilfe unerlässlich, denn jede Sekunde zählt. Die Hilfe muss schnell sein und auch bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes anhalten. Doch wir wissen auch, dass viele Helferinnen und Helfer im Ernstfall überfordert oder einfach unsicher sind. Sie sind ungeübt und haben Angst.

Wir alle, die wir hier sitzen, haben sicherlich bereits als Schülerinnen bzw. Schüler gelernt: In Notfallsituationen kannst du nichts Falsches tun. Nichts zu tun, ist das Falsche. Deshalb ist es wichtig, dass wir früh ansetzen und schon Schülerinnen und Schüler mit Notfallsituationen vertraut machen. Sie sollen Routine gewinnen und Unsicherheiten verlieren. Besonders in jungen Jahren verinnerlichen die Schülerinnen und Schüler die Handlungsabläufe im Notfall – so wie wir das heute unten im Foyer noch einmal bestätigt bekommen haben – schneller und gewiss auch auf spielerische Weise.

Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler als erste Zielgruppe angesprochen werden. Ebenso aber sollten Studierende, Arbeitgeber, Arbeitnehmer und alle Verkehrsteilnehmer verpflichtend an Schulungen teilnehmen. Jeder von Ihnen, der heute noch einmal diesen Test gemacht und vorhin die Ausführungen meiner Kollegin Schneider gehört hat, weiß, in welchen Abständen wir die Druckmassage durchführen müssen und dass eine Mund-zu-Mund-Beatmung nicht mehr State of the Art ist. Er wird wissen, wie wichtig eine Nachschulung und Auffrischung ist. Kernelement ist, dass diese Ersthelferinnen und Ersthelfer lernen, wie man richtig reanimiert.

Weitere Fragen lauten: Wann und wie rufe ich einen Rettungswagen? Wie helfe ich einem Motorradfahrer? Wie bringe ich eine Person in die stabile Seitenlage? Das alles sind wichtige Fragen. Deshalb ist der Antrag wichtig und richtig. Die SPD-Fraktion stimmt diesem Antrag zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD, der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Spanier-Oppermann. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt könnte ich natürlich auch wie die drei Vorrednerinnen die wesentlichen Punkte von der Homepage der Deutschen Herzstiftung vortragen. Das will ich an dieser Stelle nicht tun. Ich will ausdrücklich dafür werben – wir werden dem Antrag auch zustimmen –, dass man sich dieses Sachverhaltes sehr ernsthaft annimmt.

Zwei Punkte des Antrages sind mir aufgefallen: Die „Laienreanimation“ bezieht sich hoffentlich auf die Helfenden und nicht auf diejenigen, denen geholfen werden soll. Die Lehrerinnen und Lehrer in der Schule wollen wir, wenn sie in Not geraten, hoffentlich auch reanimieren. Das ist das Mindeste, das wir erwarten können.

Frau Spanier-Oppermann hat noch einmal den Zugang zur Hilfe angesprochen. Im Hinblick auf diesen Punkt herrscht ein wenig Verunsicherung in der Bevölkerung. Dabei geht es darum, wie reanimiert wird. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen: Die Atemspende ist bei erwachsenen Menschen in der Regel nicht zwingend. Wer sich davor ekelt und das nicht tun will, sollte das lieber lassen.

In der Situation ist das Pumpen von Blut das Wichtigste. Das Blut ist in aller Regel in den ersten zehn Minuten nach einem Stillstand – zumindest in den ersten fünf Minuten – so sehr mit Sauerstoff angereichert, dass das Pumpen ins Gehirn viel wichtiger ist als eine halbherzig durchgeführte Mund-zu-Mund-Beatmung.

Das sage ich vor folgendem Hintergrund: Es gibt Studien, die besagen, dass sich manche davor ekeln, dass sie Scham oder auch Furcht empfinden. Beispielsweise wird Frauen – das ergibt sich aus einer amerikanischen Studie – seltener geholfen als Männern, weil man sich bei Männern offensichtlich traut, härter zuzupacken.

Da kann ich Sie alle beruhigen. Nehmen Sie das ernst, was Frau Schneider gesagt hat: Drücken Sie ordentlich auf das Brustbein; das müssen Sie machen. Wichtig ist, dass das kontinuierlich bis zum Eintreffen derjenigen geschieht, die Defibrillatoren oder andere Geräte zum Helfen dabei haben.

Allerdings frage ich mich schon, Herr Minister, wenn ich den Beschlusstext lese: Was wären Sie für ein Minister, wenn Sie noch dieser Aufforderung bedürften? Bei allem Respekt – wir kennen uns schon eine Weile – frage ich mich, warum Sie noch aufgefordert werden sollten, noch einmal zu überlegen, ob das, was Sie machen, richtig ist, und ob Sie es weiterentwickeln sollten. Was Sie angeht – das gilt auch für alle anderen Ministerinnen und Minister, aber für Sie persönlich ganz besonders –, so glaube ich, dass Sie das geschafft hätten, ohne dass dieser Antrag gestellt worden wäre.

(Beifall von den GRÜNEN)

Selbstverständlich werden wir diesem Antrag zustimmen. Mir ist aber noch eines wichtig, damit es nicht im Ungefähren bleibt: Wenn wir das ernst meinen und nicht nur zur Resolution verkommen lassen wollen, dann heißt das auch, dass sich in jeder öffentlichen Institution – auch in jedem Kindergarten und in jeder Kindertagesstätte – gerade die Führungsleute informieren und das mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besprechen sollten.

Das sollte dann immer wieder kontinuierlich erneuert werden, genauso wie wir das hier im Landtag mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern machen. Das regt auch die Verwaltung hier im Landtag immer wieder an. Dann kann das zur Erfolgsgeschichte werden.

Ich hoffe, dass auf diese Weise eine ganze Menge Leute gerettet werden können. Immerhin könnten – die Zahlen sind eben genannt worden – dadurch bis zu 5.000 Menschen dauerhaft überleben. Dabei geht es nicht nur um diejenigen, die so schwer geschädigt sind, dass eine Überlebenswahrscheinlichkeit nur noch für wenige Tage gegeben ist. Nach Angaben der Deutschen Herzstiftung könnten 5.000 Menschen dauerhaft überleben. Dafür Geld, Zeit und auch ein bisschen Mut zu investieren, ist aller Ehren wert. Deswegen stimmen wir zu.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Mostofizadeh. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Time is brain“ – das ist der entscheidende Satz in der Notfallmedizin. Es zählt jede Sekunde zwischen einem Herzkreislaufstillstand und dem Beginn einer suffizienten Reanimation. Denn schon nach wenigen Minuten ist das Gehirn irreversibel geschädigt und der Mensch unter Umständen für immer schwer beeinträchtigt.

Umso wichtiger ist es, dass möglichst viele Bürger in der Laienreanimation geschult sind – zum einen, weil es erst einmal eine Überwindung darstellt, mit einer Reanimation zu beginnen und es sich selbst zuzutrauen, zum anderen, weil eine gute Reanimation immer wieder geübt werden muss. Ein einmaliger Kurs, zum Beispiel zum Führerschein, reicht da wirklich nicht aus.

Viele europäische Länder – das klang vorhin schon an – machen es vor. Nebenbei erwähnt ist das einer der großen Vorteile, wenn wir von einem Europa der Vaterländer sprechen. Dann kann man sich in anderen Ländern gute Konzepte anschauen, die vielleicht andere Zugänge zu Themen haben – im Gegensatz dazu, wenn alles aus Brüssel geregelt wird. Aber das nur nebenbei.

Kurzum: Hätten CDU und FDP diesen Antrag nicht gestellt – ein ähnlicher Entwurf lag überraschenderweise für Oktober bereits auf meinem Schreibtisch. Vielleicht ist es besser so, dass Sie ihn stellen, denn wir wissen, wie es funktioniert: Unter Umständen wäre er sogar abgelehnt worden. Auch von unserer Seite gibt es daher volle Zustimmung.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Laumann.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei den Kenntnissen der Bevölkerung zum Thema „plötzlicher Herzstillstand und Reanimation“ gibt es Wissenslücken. Das haben alle meine Vorredner gesagt. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir diese Wissenslücken beseitigen können und wie wir möglichst viele Menschen mit diesem Programm erreichen.

Aus Sicht unseres Ministeriums ist schlicht und ergreifend das Packende, dass wir uns dem Programm „Laienreanimation an Schulen“, das im Schulministerium entwickelt worden ist, anschließen wollen. Der Beitritt zu diesem Programm ist in Vorbereitung. Das Geld dafür ist zurzeit bei den Bezirksregierungen geparkt, und ich denke, dass die Bewilligungsbescheide bald herausgehen werden.

Wir haben auch eine Betriebskrankenkasse unseres Landes als Partner gewonnen, verschiedene Facharztpraxen sind mit an Bord, und mit diesem Geld soll im Grunde das von den Schulen benötigte Material angeschafft werden, damit sie das Programm in ihrem Unterricht auch durchführen können.

Der Vorteil an der Schule ist, dass wir so sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrer erreichen und über Schülerinnen, Schüler und Lehrer vielleicht auch an die Eltern herankommen. Für die nächste Zeit erscheint mir diese Vorgehensweise sehr praktisch, und dann müssen wir natürlich darüber nachdenken, wie wir dieses Programm auf immer größere Lebenskreise ausdehnen können. Wir haben im Ministerium schon klare Vorstellungen davon, wie wir die 100.000 Euro ausgeben und wofür sie letztendlich verwendet werden.

Liebe Frau Schneider, Sie haben ja über Lieder gesprochen, die man singen soll. Da hat jeder seinen eigenen Geschmack, aber bei Todesangst und mit dem Tod vor Augen fände ich das Lied „Maria hilf“ auch ganz nett.

(Heiterkeit von der CDU und der FDP)

In diesem Sinne: Alles Gute, und schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP und Alexander Langguth [fraktionslos])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor, sodass wir am Schluss der Aussprache angelangt sind.

Wir können zur Abstimmung kommen. Die antragstellenden Fraktionen der CDU und der FDP haben direkte Abstimmung beantragt, sodass ich nun um Ihr Votum zum Inhalt des Antrags Drucksache 17/3576 bitte. Wer dem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Abgeordneten der Fraktionen der CDU, der FDP, der SPD, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der AfD sowie der fraktionslose Abgeordnete Langguth. Gibt es Enthaltungen? – Gegenstimmen? – Das ist nicht der Fall. Damit stelle ich die einstimmige Zustimmung des Hohen Hauses zu diesem Antrag fest.

Ich rufe auf:

11 Kita- und OGS-Gebühren sowie weitere finanzielle Belastungen der Familien in NRW

Große Anfrage 4
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/2017

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 17/3201 – Neudruck

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die fragende Fraktion dem Abgeordneten Dr. Maelzer das Wort. Bitte schön, lieber Kollege.

Dr. Dennis Maelzer (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD-Fraktion hat aufgezeigt: In Nordrhein-Westfalen bestimmt der Wohnort über die Höhe der Kita-Gebühren und nicht das Einkommen.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Ja!)

Die Abschaffung der landeseinheitlichen Beiträge durch Armin Laschet hat zu einem unübersichtlichen Flickenteppich geführt. 186 Jugendämter haben 186 verschiedene Gebührenmodelle. Eltern mit demselben Einkommen zahlen extrem unterschiedliche Beiträge. Wer das Pech hat, in einer ärmeren Stadt zu wohnen, zahlt drauf.

Eine Familie mit einem mittleren Einkommen von 43.000 Euro aus Lage muss für den Kitaplatz mehr als 4.000 Euro hinblättern. Zieht dieselbe Familie nach Wermelskirchen, spart sie 3.200 Euro im Jahr. In Köln müssen Familien ab 12.700 Euro Jahreseinkommen Kita-Gebühren zahlen, in Düsseldorf ist die Kita ab drei Jahren kostenfrei.

Das ist eine gewaltige soziale Schieflage, die wir zumindest im letzten Kitajahr beseitigt haben; denn unter Hannelore Kraft hat Nordrhein-Westfalen insoweit die Kita-Gebühren abgeschafft.

(Beifall von der SPD)

Wer die etwa 400 Seiten lange Antwort der Landesregierung gelesen hat, kann nur zu dem Schluss kommen: Diesen Weg müssen wir weitergehen. Wir haben diesem Landtag mit der Sockelfinanzierung bereits Vorschläge für mehr Qualität und einen deutlich besseren Personalschlüssel in der Kita vorgelegt. Wir wissen: Das wird das Land eine Milliardensumme kosten.

Ich will gar nicht verhehlen, dass auch die Abschaffung der Elternbeiträge mit Kosten verbunden ist. Aktuell nehmen die Kommunen über die Kita-Maut etwa 600 Millionen Euro ein. Fällt sie weg, muss das Land davon jeden Cent ersetzen – das ist gar keine Frage.

Die Spielräume dafür sind jetzt aber so günstig wie nie. Schon 2016 konnte Nordrhein-Westfalen unter Finanzminister Norbert Walter-Borjans Schulden abbauen. Inzwischen sprudeln die Steuereinnahmen wie nie zuvor. Im kommenden Jahr werden sie um etwa 6 Milliarden Euro höher liegen als 2016.

Hannelore Kraft hat für Nordrhein-Westfalen erfolgreich den Länderfinanzausgleich verhandelt. Das wird ab 2020 noch einmal 2 Milliarden Euro mehr bringen. Und als i-Tüpfelchen unterstützt der Bund mit dem Gute-Kita-Gesetz von Franziska Giffey zusätzlich.

(Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

Worauf müssen die Eltern in Nordrhein-Westfalen denn noch warten, damit auch CDU und FDP erklären, dass das Geld für die Abschaffung der Kitagebühren vorhanden ist? Muss es erst Geldscheine vom Himmel regnen?

(Beifall von der SPD)

Ich sage: Das Warten auf Schwarz-Gelb lohnt sich nicht; denn den Sankt-Nimmerleins-Tag wird niemand von uns erleben.

(Zuruf von der CDU)

Die Wahrheit ist, dass Sie die Abschaffung einfach nicht wollen; die Entlastung von Familien hat bei Ihnen keine Priorität. Obwohl – damit tue ich Ihnen unrecht; denn für ganz bestimmte Familien wollen Sie das Portemonnaie öffnen. Minister Lienenkämper hat gestern stolz auf eine Bundesratsinitiative hingewiesen, in der es um Steuererleichterungen bei den Betreuungskosten geht. Allerdings nur, wenn diese über 6.000 Euro liegen.

Ich nenne ein paar Beispiele dafür, wen das betrifft: in Frechen und Dortmund Eltern mit mehr als 150.000 Euro Haushaltseinkommen; in Kleve Eltern mit mehr als 140.000 Euro Haushaltseinkommen. Diese Familien haben für Sie also Priorität. In meiner Heimatstadt Detmold – mit immerhin 75.000 Einwohnern – hätten davon ganze 16 Familien etwas. Die übrigen 99 % der Familien gehen bei Schwarz-Gelb komplett leer aus.

(Beifall von der SPD)

Die FDP übernimmt das Familienministerium – und da ist sie wieder, die Partei der Besserverdienenden.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Sieben Jahre wart ihr an der Regierung – nichts habt ihr gemacht! – Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Das habt ihr hier auch verkauft!)

Wir Sozialdemokraten wollen Politik für alle Familien machen und nicht nur für die oberen Zehntausend. Darum sagen wir: Weg mit den Gebühren für frühkindliche Bildung! Das Geld ist vorhanden, und die SPD will es für Beitragsfreiheit und mehr Qualität in unseren Kitas einsetzen. Wir sind im Moment die einzige Partei im Landtag, die das so klar und eindeutig einfordert.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Mit diesem Alleinstellungsmerkmal können wir gut leben. Die Familien in diesem Land würden aber besser damit fahren, wenn es nicht ein Alleinstellungsmerkmal der SPD bliebe.

(Beifall von der SPD – Heiterkeit von Gabriele Walger-Demolsky [AfD])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Maelzer. – Für die Fraktion der CDU hat Frau Kollegin Voßeler das Wort. Bitte schön.

Margret Voßeler (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD zum Thema „Kita- und OGS-Gebühren“ umfasst 380 Seiten.

Insgesamt haben 175 der 186 nordrhein-westfälischen Jugendämter und – für den OGS-Bereich – 321 Städte und Gemeinden an der Umfrage teilgenommen. Für das Einreichen der Antworten und das Zusammenstellen der Daten bedanke ich mich im Namen der CDU-Landtagsfraktion bei allen beteiligten Verwaltungen.

(Beifall von der CDU)

In meinen Dank beziehe ich auch die anfragende Fraktion, die SPD, ein. – Warum? Zum einen, weil sie darauf aufmerksam macht, dass sie es in sieben Jahren Regierungsverantwortung nicht geschafft hat, das KiBiz zu reformieren, obwohl sie dies wieder und wieder angekündigt hat.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Zum anderen, weil sie zusätzlich darauf aufmerksam macht, dass sie sich jetzt, nachdem sie in die Opposition geschickt wurde, wieder für die finanzielle Belastung von jungen Familien interessiert.

Umso erfreulicher für die Eltern in Nordrhein-Westfalen, das jetzt eine Regierung am Werk ist,

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Die das überhaupt nicht interessiert!)

die mit Maß und Mitte die Themen angeht und realistische Zeitpläne und Ziele formuliert.

(Beifall von der CDU – Michael Hübner [SPD]: Wann soll es dann soweit sein, Frau Voßeler?)

Wir wissen, dass Elternbeiträge für viele Menschen im Land ein wichtiges Thema, ja sogar ein Ärgernis sind. Nach Jahren der Untätigkeit durch die Vorgängerregierung geht es jetzt nach dem ersten und zweiten Kita-Rettungspaket darum, im Rahmen der KiBiz-Reform, deren Inkrafttreten für das Kindergartenjahr 2021 geplant ist, die strukturelle Unterfinanzierung im Kitabereich zu beseitigen sowie Qualität und Flexibilität weiterzuentwickeln. Das sind die Prioritäten, und die sind und bleiben richtig.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Frau Kollegin …

Margret Voßeler (CDU): Keine Zwischenfragen!

(Heiterkeit von der CDU und der SPD – Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Ich wäre es noch nicht mal gewesen!)

Was die Elternbeiträge für frühkindliche Bildung angeht, gibt es ein klares Bekenntnis in der NRW-Koalition: Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass das letzte Kindergartenjahr vor der Einschulung beitragsfrei bleibt. Das sorgt für Bildungs- und Chancengerechtigkeit

(Beifall von Michael Hübner [SPD] – Michael Hübner [SPD]: Bravo! Großartig!)

und trägt zur finanziellen Entlastung von Familien bei. Ich betone, dass wir grundsätzlich eine allgemeine Beitragsfreiheit für die Eltern für alle Kitajahre in NRW anstreben.

(Michael Hübner [SPD]: Wann ist es dann soweit?)

Das darf aber nicht zur dauerhaften Unterfinanzierung und zu Qualitätseinbußen führen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Michael Hübner [SPD]: Dann sagen Sie doch einfach mal, wann es soweit ist!)

Wir sehen daher der weiteren Gesetzgebung im Rahmen des Gute-KiTa-Gesetzes auf Bundesebene gespannt entgegen,

(Michael Hübner [SPD]: Das ist jetzt im Kabinett!)

wollen aber – wie unsere Kolleginnen und Kollegen der CDU-Bundestagsfraktion bereits gesagt haben – mit den zu erwartenden Bundesmitteln zunächst in die Qualität der Einrichtungen investieren.

(Beifall von der CDU und der FDP – Michael Hübner [SPD]: Wie wäre es denn, wenn Sie mal Landesgeld in die Hand nehmen würden?)

Wir sollten den Menschen nicht mithilfe des Bundes umgehende Beitragsfreiheit für alle versprechen

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Nein, Sie sollen Geld einsetzen!)

und dann die Qualitätsentwicklung entgegen dem Willen insbesondere der Eltern und auch der Experten auf der Strecke lassen.

Was die Zahlen der Jugendämter angeht, wird deutlich, dass die Elternbeiträge von Kommune zu Kommune zum Teil stark voneinander abweichen. Der Durchschnittselternbeitrag liegt in NRW bei 198,30 Euro pro Monat, im Jahr also 2.379,60 Euro – das ist viel Geld, gar keine Frage. Bezogen auf das zugrunde liegende fiktive Haushaltsmonatsbruttoeinkommen von 3.587,50 Euro entspräche dies einer Belastung von 5,5 %.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich finde ich es nicht gerecht, wenn eine Familie, die in Lage im Kreis Lippe lebt, nahezu fünfmal so viel für einen Betreuungsplatz zahlen muss, wie sie es unter den gleichen Bedingungen in Wermelskirchen tun müsste. Die Gründe für die Entscheidung der Kommune vermag ich von hier aus nicht zu beurteilen.

(Heiterkeit von Regina Kopp-Herr [SPD] und Dr. Dennis Maelzer [SPD])

Dafür fehlen mir die lokalen Hintergründe, die oft sehr unterschiedlich sind.

(Michael Hübner [SPD]: Vielleicht hat die Kommune nicht so viel Geld!)

Wir erinnern uns: Zum 1. August 2006 haben wir die Erhebung und Festsetzung der Elternbeiträge kommunalisiert. Seitdem gestalten die Jugendämter die Elternbeiträge im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung. Rechnerisch wurde dabei davon ausgegangen, dass ein Anteil von 19 % an den Betriebskosten durch Elternbeiträge erwirtschaftet werden kann. Diese Quote wird nur von einer Handvoll Kommunen tatsächlich erreicht.

Um die strukturelle Unterfinanzierung der Kitas zu beenden, arbeitet die Landesregierung gemeinsam mit den Trägern und kommunalen Spitzenverbänden an einer umfassenden Reform des Kinderbildungsgesetzes.

Zentrales Ziel ist es, eine dauerhaft auskömmliche Finanzierung zu erreichen, die ab dem Kindergartenjahr 2021 erfolgen soll. Außerdem arbeiten wir an einer vereinfachten Strukturierung des Finanzierungssystems und wollen Qualität und Öffnungszeiten der Kinderbetreuung verbessern.

Wir wollen ein Mehr an frühkindlicher Bildung, Qualität und Flexibilität. Die Landesregierung plant nach Abschluss der Verhandlungen mit allen Beteiligten, im kommenden Jahr den Entwurf für die große Reform des KiBiz vorzulegen. – Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Voßeler. – Für die Fraktion der FDP hat nun Herr Abgeordneter Hafke das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin der SPD sehr dankbar, dass sie diese Große Anfrage gestellt hat. Das gibt uns die Gelegenheit, noch einmal über ihr unseriöses Wahlversprechen hier ausführlich zu sprechen und vielleicht einige ihrer falschen Behauptungen geradezurücken.

Ich finde es schon bemerkenswert, dass die SPD hier Forderungen in den Raum stellt – Herr Kutschaty gestern noch einmal –, die eine Beitragsfreiheit auslösen würden, wobei eine Gegenfinanzierung von einer Milliarde Euro fällig wäre.

Sie haben es mitbekommen, der Haushalt wurde gestern eingebracht. Da frage ich mich schon, wo die SPD diese eine Milliarde Euro gegenfinanzieren möchte. Ich glaube, das Wichtigste, was wir im Moment zu tun haben – das sind auch die Hausaufgaben, die Sie uns hinterlassen haben, weil Sie dort sieben Jahre lang nicht tätig geworden sind –,

(Josef Hovenjürgen [CDU]: So ist das!)

ist, erst mal für ein gutes KiBiz in Nordrhein-Westfalen zu sorgen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, wenn Sie mit Trägern, mit Erziehern, mit Eltern im vernünftigen Dialog wären, dann wüssten Sie, was für sie entscheidend ist: Da geht es in erster Linie um ausreichend Plätze, da geht es um Qualität, da geht es um einen sicheren Kitabetrieb, da geht es um Leitungsfreistellungen,

(Michael Hübner [SPD]: Aber auch um die Gebühren!)

da geht es um Sprachförderung und Inklusion. Und wenn das erledigt ist und wir dann finanzielle Mittel haben, dann können wir über eine Beitragsfreistellung sprechen.

(Zuruf von Michael Hübner [SPD])

CDU und FDP haben sich genau auf diesen Kurs verständigt, weil es in allererster Linie darum geht, dass die Eltern einen qualitativ hochwertigen Platz für ihre Kleinsten haben.

(Beifall von der FDP)

Das sollte auch das Interesse der Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen sein. Meine Damen und Herren, ich will auch mit dem Gerücht aufräumen, das Sie in der letzten Legislaturperiode immer wieder rauf und runter vertont haben, mit der Beitragsfreiheit würden insbesondere kleinere und mittlere Einkommen entlastet.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Das sagt auch die Große Anfrage!)

Diese Antwort der Landesregierung belegt noch einmal ganz deutlich, dass insbesondere höhere Einkommen strukturell mehr belastet werden, beispielsweise in Viersen, Leverkusen, Goch,

(Michael Hübner [SPD]: Völliger Unsinn!)

Gelsenkirchen, Gummersbach oder in der von Herrn Kutschaty gestern angeführten Stadt, in Coesfeld.

(Michael Hübner [SPD]: Gucken Sie rein!)

– Lesen Sie einfach die Statistik, dann sehen Sie es auch.

(Zuruf von Dr. Dennis Maelzer [SPD])

Jetzt möchte ich einmal sagen, wo die SPD einen wertvollen Beitrag hätte leisten können, auch hier aus Nordrhein-Westfalen heraus. Wenn wir ernsthaft hier ein gutes Kinderbildungsgesetz, dauerhaft finanziert, plus irgendwann eine Beitragsfreiheit auf den Weg bringen wollen, dann brauchen wir den Bund an der Seite.

Jetzt bringt die Bundesfamilienministerin ein gutes Kita-Gesetz auf den Weg, in dem eine Befristung der finanziellen Mittel dahintersteht. Können Sie uns mal erklären, wie man sauber eine Finanzplanung, langfristig ausgerichtet, aufstellen will, wenn dieses Gesetz befristet ist? Dazu habe ich von Ihnen bislang keine Aussage gehört.

Ein zweiter Punkt, die Frage …

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege Hafke, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Abgeordneten Dr. Maelzer. Wollen Sie die zulassen?

Marcel Hafke (FDP): Die kann er gerne stellen.

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Bitte schön, Herr Kollege Dr. Maelzer.

Dr. Dennis Maelzer (SPD): Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. Ich wollte die Zwischenfrage stellen, weil Sie sehr stark darauf abgehoben haben, dass eine Beitragsfreiheit Besserverdienende entlasten würde. Wie erklären Sie sich denn Ihre Bundesratsinitiative, die ausschließlich darauf abzielt, Besserverdienende zu entlasten, durch die bei mittleren und niedrigeren Einkommen kein Cent ankommen soll?

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrter Kollege, wissen Sie, wir würden sehr gerne die Beitragsfreiheit für alle Eltern hier in Nordrhein-Westfalen einführen. Das wäre auch möglich, wenn Sie in den letzten sieben Jahren ein vernünftiges Kinderbildungsgesetz hier auf den Weg gebracht hätten.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dann hätten wir nicht die Problematik, die wir jetzt vorgefunden haben.

(Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Abgedroschen!)

Wir haben jetzt die Situation: Um ein gutes Kinderbildungsgesetz auf den Weg zu bringen, werden wir wahrscheinlich irgendetwas zwischen 800 Millionen und 1,2 Milliarden Euro brauchen, um die Qualität zu erfüllen. Jetzt frage ich Sie: Welchen Beitrag haben Sie in den letzten Jahren dazu aufgebracht, damit genau das funktioniert? Ich habe gerade versucht, Ihnen zu erklären,

(Zuruf von Dr. Dennis Maelzer [SPD])

Herr Kollege Maelzer, dass es vielleicht klüger gewesen wäre, statt hier so einen Popanz aufzuführen, dass Sie Ihre Parteistrukturen genutzt hätten, in Berlin ausreichend Mittel aufzubringen, damit die Länder genügend Geld haben, einerseits die Qualität zu verbessern und andererseits ausreichend Plätze auf den Weg zu bringen und dann auch die Beitragsfreiheit. Das wäre ein wertvoller Beitrag gewesen.

Ich will Ihnen mal eine Berechnung zu Ihrem angeblich guten Kita-Gesetz Ihrer Familienministerin im Bund vortragen. Es fehlen in Deutschland 300.000 Plätze in Kindertageseinrichtungen. Die 5,5 Milliarden Euro würden nicht mal ausreichen, den Betrieb dieser 300.000 Plätze zu sichern. Da können Sie sehen, dass das, wie Sie es selber genannt haben, ein klitzekleines i-Tüpfelchen obendrauf ist.

Das heißt – ich wiederhole noch einmal, was wir in mehreren Plenardebatten hier gesagt haben –: Das Zentrale und das Wichtigste ist für die Eltern, für die Träger und für die Erzieherinnen Planungssicherheit, eine gute Qualität. Da ist Minister Stamp auf einem guten Weg und wird in den nächsten Wochen und Monaten hier die Ergebnisse vorstellen können. Wenn dann finanzielle Mittel vorhanden sind, wenn die Qualität auf einem guten Stand ist, dann können wir darüber sprechen. Alles andere wäre unseriös und auch nicht vernünftig, und es geht auch vollkommen an den Bedarfen der Eltern vorbei. So sieht die Realität aus. Ich bitte Sie, das endlich anzuerkennen und an den entsprechenden Stellschrauben mitzuarbeiten.

Meine Damen und Herren, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf die weitere Debatte.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Kollegin Paul das Wort.

(Zuruf von Minister Dr. Joachim Stamp)

Josefine Paul (GRÜNE): Der Minister freut sich schon, schön. Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie freuen sich schon. Ich erspare Ihnen auch die ganze Litanei von „Wer hätte es machen können?“, „Wie hätte er es machen können?“ usw. usf. Wir warten den konkreten Entwurf ab, den Sie vorlegen.

Nichtsdestotrotz will ich doch noch einmal auf die Frage der Beitragsfreiheit und der Ausgestaltung der Beiträge in Nordrhein-Westfalen eingehen, denn darum geht es ja in der Großen Anfrage. Diese Große Anfrage hat bestätigt, was wir ohnehin alle wissen. Die sehr detaillierte Zahlengrundlage ist auch gut, um da wirklich noch einmal durchzuschauen: Wie groß ist die soziale Schieflage in diesem Land eigentlich, was die Gebührenlandschaft angeht? Denn die – Kollege Maelzer hat es beschrieben – ist ein Flickenteppich.

Man kann in NRW leider nicht von einer sozialen Staffelung sprechen, sondern es gibt hier nur eine geografische Staffelung. Es ist bereits darauf hingewiesen worden: In Köln muss man bereits ab einem Familienjahreseinkommen von 12.700 Euro Beiträge bezahlen, in meiner Heimatstadt in Münster ist man erst ab 37.000 Euro beitragspflichtig.

Ich finde es auch einigermaßen erstaunlich, dass Familien, die in Duisburg oder Düsseldorf leben, auch berichten, dass sie vor einer schwierigen Entscheidung stehen, dass sie sich nämlich überlegen müssen, wo sie leben möchten, wo sie mit ihrer Familie mit ihrem Jahreseinkommen besser zurande kommen. Ist das vielleicht in Duisburg, wo die Mieten günstiger sind, dafür aber die Kitabeiträge höher, oder ist das in Düsseldorf, wo die Mieten höher sind, dafür aber die Kitabeiträge niedriger und ab dem dritten Jahr ohnedies Beitragsfreiheit herrscht?

(Ralf Witzel [FDP]: Das ist Marktwirtschaft! – Gegenruf von Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Das ist doch zynisch!)

Die Abschaffung – darauf ist ja auch bereits eingegangen worden – der einheitlichen Beitragstabelle durch Minister Laschet damals hat zu dieser sozialen Schieflage geführt. Sie, Herr Minister Stamp, haben jetzt die Chance mit dem Gesetz, das Sie uns hoffentlich demnächst vorlegen werden, diese soziale Schieflage tatsächlich zu beenden. Denn ich glaube, dass die Eltern – anders als Marcel Hafke das sagt – nicht in allererster Linie und nur – vielleicht in allererster Linie, so weit würde ich mit Ihnen mitgehen, aber eben nicht nur – darauf warten, dass die Qualität notwendigerweise verbessert wird, dass die Arbeitsbedingungen notwendigerweise verbessert werden, sondern sie warten auch darauf, dass dieser Flickenteppich in etwas überführt wird, worauf sich auch Eltern verlassen können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dementsprechend sage ich: Teil eines solchen Kita-Gesetzes muss auch die landeseinheitliche Beitragstabelle als ein Einstieg bzw. die Weiterentwicklung der Beitragsfreiheit sein. Denn vorhin wurde ja aus den Reihen immer gerufen: Was haben Sie denn eigentlich die letzten Jahre gemacht? – Frau Voßeler hat es ja noch einmal bestätigt. Sie haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass Sie die Beitragsfreiheit für das letzte Kitajahr, die Rot-Grün eingeführt hat, fortführen werden. Das heißt, wir befinden uns auf einem Weg. Beschreiten Sie diesen Weg konsequent weiter! Denn nur das ist doch ein wirklich sinnvoller Beitrag zur dringend notwendigen Erleichterung für Familien mit niedrigen Einkommen.

Die Steuererleichterung für Besserverdienende wurde ja gerade schon angesprochen, aber auch die Mitnahmeeffekte beim Baukindergeld – das, bitte schön, sind doch keine adäquaten Antworten auf die dringend notwendige Entlastung von Familien mit niedrigen Einkommen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Also kann die Antwort doch nur sein, dass wir dringend zurückkehren müssen zur landeseinheitlichen Beitragstabelle als einem weiteren Schritt, um irgendwann – in der Perspektive scheinen ja sogar Marcel Hafke und Dennis Maelzer einig zu sein – in ferner Zukunft die Beitragsfreiheit zu haben. Ja, ich weiß nicht, ob ihr euch jemals einig werdet. Aber zumindest ist die Perspektive klar. Die Perspektive muss doch heißen, dass Bildung – auch die Kita ist eine Institution frühkindlicher Bildung – in diesem Land kostenfrei ist.

Nichtdestotrotz, meine Damen und Herren, sind die Anforderungen an ein neues Kita-Gesetz ja nicht nur auf die Frage von Beitragsfreiheit oder die Beitragsausgestaltung fokussiert, sondern es geht neben dieser landeseinheitlichen Beitragstabelle, für die ich mich ausspreche, doch auch darum, die Qualität nachhaltig zu verbessern, einen Fachkraft-Kind-Schlüssel anzulegen auf Basis einer tatsächlichen Personalbemessung für die realen Aufgaben in Kitas. Fragen wie die Leitungsfreistellung sind angesprochen worden und Fragen von mittelbarer und unmittelbarer pädagogischer Zeit. Aber auch die Abwesenheiten aufgrund von Krankheit, Urlaub, Fortbildung usw. müssen endlich in die Personalbemessung mit eingepreist werden, damit der Fachkraft-Kind-Schlüssel nicht auf dem Papier steht, aber in den Kitas irgendwie nie stattfindet.

Es geht doch am Ende des Tages darum, dass wir eine Finanzierung bekommen, die auskömmlich ist, die verlässlich ist, die vor allem aber auch nachhaltig ist. Denn woher kommt denn die jetzt viel diskutierte KiBiz-Lücke? Dann wird immer hin- und hergeschoben, wessen KiBiz-Lücke das jetzt ist. Die kommt vor allem daher, dass die Bemessungsgrundlage für das KiBiz noch nie nachhaltig gewesen ist. Es ist also dringende Aufgabe eines neuen Kita-Gesetzes, hier auch für Nachhaltigkeit zu sorgen. Denn nur das sichert auch die notwendigen Qualitätsverbesserungen im System und die gute Arbeit in unseren Kitas. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die Fraktion der AfD hat Frau Abgeordnete Dworeck-Danielowski das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Diese Große Anfrage der SPD ist tatsächlich groß, zumindest wenn man sich den Umfang der Antwort anschaut, einen ganzen Leitz-Ordner voll mit Tabellen, voll mit statistischen Daten der knapp 200 Jugendämter und 396 Kommunen, allerdings leider auch nicht viel mehr, weder in der Fragestellung noch in der Antwort.

Zum Beispiel bleibt uns die CDU/FDP-Landes­regierung nach wie vor die Antwort darauf schuldig oder zumindest das Statement, ob sie die Erhebung der Elternbeiträge immer noch für richtig hält, so wie damals 2006, als sie die Grundlage dafür geschaffen hat. Falls ja, warum verteidigen Sie das nicht in irgendeiner Form auch in einer Antwort auf eine Große Anfrage, wie das sonst ja doch eher üblich ist seitens einer Landesregierung?

Gleichzeitig frage ich mich: Was will die SPD mit diesem Wust an Zahlen bewirken? – Natürlich das, worum es immer geht. Sie will einen weiteren Beleg dafür schaffen, wie ungerecht doch alles ist.

Ja, in der Tat, es ist nicht für alle gleich, und manchmal ist es ungerecht. Vor allem der eigene Wohnort entscheidet darüber, wie sehr die Ganztagsbetreuung meiner Kinder den eigenen Geldbeutel schröpft. Je nach Einkommensgruppe und nach Kommune kann das auch noch prozentual ungleich sein. Sicher kann man darüber sprechen, ob das gerecht ist und ob es überhaupt Sinn macht, Einkommen von bis zu 20.000 Euro brutto im Jahr mit einem Kindergartenbeitrag zu belasten.

Wenn ich an meine eigene Biografie denke: Beispielsweise nach Abschluss meiner Ausbildung zur Steuerfachangestellten habe ich am Niederrhein gerade einmal 1.500 Euro brutto als Berufsanfängerin verdient. Stellen wir uns mal vor, ich wäre damals schwanger geworden, hätte das Kind bekommen, vielleicht auch noch alleinerziehend, dann hätte ich mit einem Jahresbrutto von 18.000 Euro dagestanden.

Ob ich dann noch im Monat 20 Euro für den Kindergarten berappen muss, um meinen Beruf auszuüben, um vielleicht das Gelernte nicht direkt zu vergessen und den Anschluss nicht zu versäumen, das ist dann schon nicht unentscheidend. Denn bei 1.500 Euro brutto sind mir damals 1.000 Euro netto geblieben – übrigens auch eine schreiende Ungerechtigkeit, dass bei so einem geringen Einkommen fast ein Drittel abgeführt werden muss. Wenn ich dann von diesen 1.000 Euro Miete, Strom etc. bezahlen muss, dann sind natürlich die 20 Euro für den Kindergarten ja oder nein schon nicht irrelevant, weil dann die Frage ist: Kann ich vielleicht mit meinem Kind auch mal in die Eisdiele gehen oder nicht?

Wenn man dann andere Mütter sieht, die vielleicht gar nicht berufstätig sind und von Transferleistungen leben und keinen Beitrag zahlen müssen, muss ich mich doch fragen: Entspricht das dem Grundsatz „Leistung muss sich wieder lohnen“? Oder wäre dieser jungen Mutter gegebenenfalls nicht eher damit geholfen, ihren Beruf kurzfristig mal für ein paar Jahre an den Nagel zu hängen, ihre schlecht bezahlte Tätigkeit, und selbst ihr Kind großzuziehen?

Selbst wenn man die unterschiedlichen Beiträge der unterschiedlichen Kommunen betrachtet, sind sie doch nicht aussagekräftig. Es wurde ja gerade auch schon einmal angedeutet: Sämtliche Beiträge und Abgaben sind in den Kommunen unterschiedlich. Das ist ja nicht nur der Kindergartenbeitrag. Es sind kommunale Steuern, die Verfügbarkeit von Betreuungsplätzen, die gesamte Infrastruktur, Abgaben für Wasser und Abfall sowie Mieten. Ja, es ist überall unterschiedlich. Und ja, wenn man es genau nimmt, ist es vielleicht ungerecht, wenn ich in der teureren Kommune lebe.

Auf jeden Fall stimmt, dass Familien in vielerlei Hinsicht überproportional belastet werden. Zum Beispiel treffen die künstlich erhöhten Strompreise durch die unsägliche Energiewende eine mehrköpfige Familie sehr viel härter als den Singlehaushalt. Und Familien haben das Nachsehen in der Altersvorsorge. Sie haben auch das Nachsehen auf dem Wohnungsmarkt. Zudem sind viele Verbrauchsgüter junger Eltern immer noch mit 19 % Umsatzsteuer belastet. Da hört man nie einen Aufschrei von der SPD, die sich gerade so glühend für die Familie starkmachen wollte.

Ja, Familien sind der Lastesel der Gesellschaft. Und ja, das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Das muss sich auch ändern.

(Beifall von der AfD)

Wir werden das eines Tages ändern.

(Beifall von der AfD – Michael Hübner [SPD]: Sie? – Zuruf von der SPD: Oh!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Dworeck-Danielowski. – Als nächster Redner hat für die Landesregierung Herr Minister Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben hier schon mehrfach debattiert, dass wir bei der Regierungsübernahme leider in dem Bereich frühkindlicher Bildung ein großes Chaos vorgefunden haben

(Beifall von der FDP)

und vor verschiedensten Herausforderungen stehen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.

Es ist klar, dass wir im Land unterschiedliche Elternbeiträge haben und dass es verschiedentlich Fälle gibt, die man, wie ich glaube, objektiv als ungerecht bezeichnen kann. Es ist eine der Herausforderungen, die wir haben, hier mittelfristig zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Sie wissen auch, dass wir langfristig das Ziel haben, im frühkindlichen Bereich generell auf Gebühren zu verzichten.

Wir haben aber ein völlig unterfinanziertes System vorgefunden. Wir haben mit der halben Kita-Milliarde für zwei Jahre die Trägervielfalt in NRW erhalten können. Von vielen ist uns bescheinigt worden, wie wichtig, richtig und notwendig dieser Schritt gewesen ist. Jetzt machen wir die Übergangsfinanzierung zur KiBiz-Reform.

Ich glaube, alles das sind große Herausforderungen, die zunächst Priorität haben. Wir haben gesagt, dass das Allerwichtigste ist, zunächst einmal das Angebot zu sichern und dauerhaft ausreichend zu finanzieren, damit es Planungssicherheit gibt. Wichtig ist auch, dabei die Qualität zu verbessern. An dieser Stelle geht es beispielsweise darum, die Sprachförderung zu intensivieren, das Betreuungsverhältnis zu optimieren und den Kitaleitungen mehr Spielräume zu ermöglichen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Das hat zunächst einmal Priorität. Wenn wir das geschafft haben und die KiBiz-Reform hier beschlossen haben, werden wir sehen, wie wir uns den weiteren Herausforderungen in diesem System stellen können.

Uns ist das Thema „frühkindliche Bildung“ wichtig. Es ist ein Schwerpunktthema dieser Landesregierung. Dementsprechend werden wir weiter verfahren.

Wir haben natürlich auch eine gewisse Verantwortung der Kommunen.

Wenn Sie sagen, es sei vor allem notwendig, eine Entlastung für niedrige Einkommen zu fordern, sage ich: Ja, natürlich gibt es an dieser Stelle auch Ungerechtigkeiten. Aber wir müssen auch sehen, dass das beitragsfreie Jahr, das Sie damals pauschal auf den Weg gebracht haben, in erster Linie Angehörige der Mittelschicht und Gutverdiener entlastet hat. Ich habe das selber erfahren. Ich bin ja auch als Abgeordneter Kindergartenvater gewesen. Es ist kaum eine Maßnahme derart in meinem Portemonnaie spürbar gewesen wie diese Maßnahme.

(Zuruf von der SPD: Jetzt stellen Sie sich das einmal bei einer Durchschnittsfamilie vor!)

Das beitragsfreie Jahr hat aber nicht wesentlich die Bildungschancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien gestärkt. Denn zunächst einmal ist es wichtig, dass wir es schaffen, für diese Kinder vor allem qualitativ etwas zu tun, damit die nicht so starke Familienbildung aufgefangen wird und die Kinder aus bildungsferneren Schichten in den Grundschulen die Chance haben, ihre Talente genauso zu entfalten, wie das bei Kindern aus bildungsbürgerlichen Familien der Fall ist. Dieser Herausforderung der Chancengerechtigkeit müssen wir uns zunächst stellen. Deswegen brauchen wir hier ein neues Fundament.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zur OGS sagen. Um die offene Ganztagsschule weiter zu stärken und weiterzuentwickeln, sind wir im Koalitionsvertrag klare Wege gegangen und haben Ziele festgelegt. Wir haben uns das Ziel gesetzt, den Ausbau der Plätze voranzutreiben, die Qualität zu stärken und die OGS flexibler zu gestalten.

Mit der Umsetzung haben wir bereits begonnen. Die Landesregierung hat alle durch die kommunalen Schulträger beantragten 315.600 Plätze bewilligt. Diese Zahl wird mit dem Ihnen vorliegenden Haushaltsentwurf auf 323.100 Plätze erneut aufgestockt. Uns ist wichtig, zu betonen: Alle durch die Kommunen beantragten Plätze wurden und werden genehmigt.

Zur Stärkung der Qualität wurden in diesem Jahr die Fördersätze des Landes um 3 % und einmalig zum 1. August 2018 um weitere 3 % erhöht. Auch für das nächste Jahr plant die Landesregierung eine Steigerung der Ansätze um 37,7 Millionen Euro. Das sind weitere 14 %. In nur zwei Jahren haben wir so die finanzielle Unterstützung für die Qualität in der OGS bereits um 20 % erhöht. Der Haushaltsansatz für die OGS steigt damit auf insgesamt über 540 Millionen Euro. Enthalten sind 3.049 Lehrerstellen.

Damit, meine Damen und Herren, erreichen wir sowohl bei den Platzzahlen als auch bei der finanziellen Unterstützung Höchstwerte.

Über weitere erforderliche Schritte führen wir derzeit intensive Gespräche mit allen Beteiligten.

Wir verstehen uns als Chancen-Ministerium und werden alles dafür tun, um für jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft die besten Chancen für ein gutes, erfolgreiches und selbstbestimmtes Leben in Nordrhein-Westfalen zu ermöglichen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Gleichwohl will ich darauf hinweisen, dass die Landesregierung ihre Redezeit um 1:09 Minuten überzogen hat, sodass seitens der Fraktionen noch Wortmeldungen möglich wären, wenn es gewünscht sein sollte. – Bei der Fraktion der SPD ist das der Fall. Dann hat Herr Kollege Dr. Maelzer für 1:09 Minuten das Wort. Bitte schön.

Dr. Dennis Maelzer*) (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – In der Tat hat der Beitrag des Ministers noch einige Fragen aufgeworfen, die sich ja vielleicht in der Debatte relativ zeitnah klären lassen.

Erstens. Auch von Ihnen fehlte jede Aussage dazu, warum es denn ausgerechnet der schwarz-gelben Koalition so wichtig ist, die Besserverdienenden in diesem Land bei den Betreuungskosten zu entlasten, während alle anderen keine Entlastung bekommen sollen. Es wäre doch schön, wenn Sie der Öffentlichkeit dafür einmal eine Begründung geben würden.

(Beifall von der SPD)

Der zweite Punkt bezieht sich darauf, dass die Medien breit über die SPD-Initiative für Beitragsfreiheit berichtet haben. Da heißt es aus Ihrem Ministerium, ob es eine landeseinheitliche Elterngeldtabelle gebe, bleibe den weiteren Verhandlungen vorbehalten. Herr Minister, ist es nicht so, dass Sie im Familienausschuss bereits ausgeschlossen haben, dass es wieder eine landeseinheitliche Elterngeldtabelle geben soll, und gesagt haben, das überfordere eine solche Reform? Wie kommt es zu solchen missverständlichen Äußerungen? Oder haben sich das Ministerium oder Sie als Person nach der Großen Anfrage doch eines Besseren besonnen?

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Dr. Maelzer. – Jetzt hat für die Landesregierung selbstverständlich Herr Minister Dr. Stamp das Wort. Ich frage jedoch vorsichtshalber in die Runde, ob es noch weitere Wortmeldungen gibt.

(Michael Hübner [SPD]: Das kommt darauf an, was er sagt!)

– Gut. – Dann hat Herr Minister Dr. Stamp für die Landesregierung das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin, vielen Dank. – Ich finde, das ist jetzt auch sinnvoll. Ich habe zwar die Redezeit schon überzogen. Aber wenn von Ihnen, Herr Maelzer, eine Frage gestellt wird, dann ist es auch schicklich, dass ich Ihnen antworte.

Ich habe das nicht kategorisch ausgeschlossen. Aber ich habe auch gesagt: Bei den Reformschritten, die wir machen, müssen wir auch sehen, dass wir – denn bei den verschiedenen Gesprächsteilnehmern gibt es, wie wir alle wissen, ganz unterschiedliche Interessen – nicht alles, was wir hier auch an Schwierigkeiten vorgefunden haben – ich habe das vorhin ausgeführt –, gleichzeitig lösen können.

Deswegen geht es an dieser Stelle um die Reihenfolge. Wir müssen zunächst sehen, dass wir die Auskömmlichkeit und die Qualität hinbekommen. Wenn wir dann in den Gesprächen so weit kommen sollten und es in der Legislaturperiode Spielräume geben sollte, werden wir auch diesen Punkt angehen.

Daher sehe ich an dieser Stelle keinen Widerspruch. Wir bleiben ja weiterhin im Austausch und werden es sicherlich im Ausschuss auch mit der üblichen Kontroverse beraten. – Danke.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Weitere Wortmeldungen sind mir nicht angezeigt worden, sodass wir am Schluss der Aussprache sind.

Wir können damit feststellen, dass die Große Anfrage 4 der Fraktion der SPD erledigt ist.

Ich rufe auf:

12 Milchkrisen wirksam mit neuen Instrumenten begegnen!

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/2548

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Umwelt, Landwirtschaft, Natur-
und Verbraucherschutz
Drucksache 17/3604

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Fraktion der CDU Frau Kollegin Winkelmann das Wort.

Bianca Winkelmann (CDU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Milchkühe in Nordrhein-Westfalen stagnierte im Jahr 2017 bei rund 418.000 Tieren. Gleichzeitig verringerte sich allerdings der Anteil der Milchkuhhalter in unserem Land um über 5 % auf 5.900 Betriebe. Gerade kleinere Familienbetriebe müssen vor einem immer weiter um sich greifenden Strukturwandel geschützt werden.

Es geht in der heutigen Diskussion einmal mehr um die Branche, die durch ihre tägliche unermüdliche Arbeit an sieben Tagen die Woche in 52 Wochen im Jahr dafür sorgt, dass wir alle mit gesunden Lebensmitteln versorgt werden.

Die Einführung der Milchquote auf EU-Ebene im Jahr 1984 sollte ein Instrument schaffen, die Milchproduktion in den Mitgliedsstaaten zu beschränken. Allerdings stellte diese Quote für die produzierenden Betriebe eine enorme Kostenbelastung dar.

Wir alle kennen den Verlauf: Nach langen Verhandlungen ist die Milchquote dann zum 1. April 2015 ausgelaufen. Seitdem agieren unsere Milchviehbetriebe im Land auf dem freien Markt. Dieses war von einer Mehrheit der Landwirte immer so gewünscht.

Frei handelbare Märkte sind natürlich immer auch Preisschwankungen ausgesetzt. Unsere Landwirte in Nordrhein-Westfalen wissen um diese Probleme und stellen sich den Herausforderungen.

Nun haben die Auswirkungen der letzten Milchkrise gezeigt, wie schnell Milch produzierende Betriebe in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten können. Zu Recht diskutieren daher die Branche und die Politik seit Jahren über Möglichkeiten, in Krisensituationen eingreifen zu können. Einen Königsweg haben alle Handelnden bis heute nicht gefunden.

Da sich der Markt weiterhin instabil zeigen wird, können wir uns hier heute sicherlich auch über ein dauerhaftes Kriseninstrument zur Verringerung der Milchanlieferung in Krisenzeiten unterhalten. Ob allerdings die unternehmerischen Entscheidungen der Milcherzeuger, so gut es geht, unterstützt werden sollten oder eine staatliche Reglementierung greifen sollte, ist die eigentliche Grundsatzfrage. Denn man muss sich als Partei, die diesen Antrag gestellt hat, die Frage stellen lassen: Kommt eine staatliche Regelung nicht wieder einer Quote nahe?

Der Ansatz der Minister auf der letzten Agrarministerkonferenz, die Milchmenge EU-weit in Krisensituationen temporär, obligatorisch und entschädigungslos zu reduzieren, ist ein Ansatz, der sicherlich diskutiert werden muss. Denn ein temporärer Eingriff bedeutet ja nichts anderes als ein vorübergehend, also nur eine gewisse Zeit, andauernder Eingriff in den Markt.

Keinesfalls sollte, darf und wird es dadurch zu einer Rückkehr zu staatlichen Markteingriffen auf Erzeugerebene kommen. Denn niemand – vor allem nicht die landwirtschaftlichen Betriebe, die Milchbauern in Nordrhein-Westfalen – will eine neue Milchquote.

Die NRW-Koalition setzt auf die Aktivitäten des Marktes. Wir wollen in die Lieferbeziehungen zwischen Molkereien und Lieferanten nicht eingreifen.

Wer den Markt aufmerksam beobachtet, dem wird auffallen, dass unter den Top Ten der deutschen Molkereien gerade diejenigen erfolgreich sind, die beispielsweise mit Eigenmarken den Markt bedienen.

Wenn wir über den Milchmarkt und seine möglichen Krisen sprechen, dürfen wir auch nie aus den Augen verlieren, dass wir diese Sparte des globalen Agrarmarktes immer EU-weit betrachten müssen. Denn dieser ist schon lange ein internationales Geschäft.

Aktuell entfallen 27 % des Weltmilchhandels – ich hatte gestern Abend fast schon erwartet, dass die Landfrauen in ihrer Umfrage darauf angespielt haben – auf die EU. Die Integration in den globalen Weltmilchmarkt schreitet also voran.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Märkte – und damit auch der Milchmarkt – sind wie eh und je in Bewegung. Geben wir dem Milchmarkt in Deutschland die Chance, sich selbst zu regulieren, und zwar mit so wenig staatlicher Regulierung wie möglich und so viel Unterstützung im Krisenfall wie nötig.

Im Agrarausschuss haben wir hierzu Anfang September dieses Jahres bereits ausführlich diskutiert. Alle Fraktionen – bis auf die antragstellende – votierten gegen diesen Antrag. Wir nehmen dieses Votum an und werden auch heute diesem Antrag nicht zustimmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Winkelmann. – Für die Fraktion der SPD hat nun Frau Kollegin Watermann-Krass das Wort. Bitte schön, Frau Abgeordnete.

Annette Watermann-Krass (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Die Diskussion um eine Milchpreisregulierung beschäftigt uns nun auch schon über Jahre – wie viele andere Themen, die wir heute auch schon hatten. 2015 ist die Milchquote ausgelaufen. Damals haben wir politisch gesagt: Was wird dann kommen? – Letztendlich ist der Preis auf 20 Cent heruntergegangen. Infolgedessen haben wir gerade hier in Deutschland einen enormen Strukturbruch gehabt.

Milch wurde in der Folge zu Milchpulver verarbeitet und eingelagert. Dieses Milchpulver wird bis heute nach und nach verkauft. Insgesamt liegt immer noch ein Milchpulverberg von 400.000 t in unseren Lagern. Deshalb bekommen unsere Milchbauern bundesweit aktuell nur gut 33 Cent. Wir wissen, dass die Herstellungskosten bei gut 41 Cent liegen. Unsere Bauern leben somit von der Substanz.

Hinzu kommt – das ist ja gerade in diesem Jahr sichtbar geworden – der extreme Sommer mit der Dürre. Die Futtergrundlage in den Betrieben fehlt. Die Vorräte sind bald aufgebraucht, und das Futter wird deutlich teurer werden.

In der Vergangenheit haben wir vieles miteinander besprochen. Was kann man machen? Auf der Bundesebene gab es Branchendialoge, freiwillige Beschränkungen, staatliche Zuschüsse, Steuerbefreiungen und Liquiditätshilfen. Das zeigt uns doch, dass wir es hier insgesamt mit einem strukturellen Problem zu tun haben.

Dieser Antrag der Grünen nimmt nun einige – wie ich finde, auch gute – Vorschläge wieder auf. Die Vorschläge sind aber nicht alle gut. Denn aufgrund eines Punktes lehnen wir diesen Antrag ab. Das ist die Mengenbegrenzung mit einer Marktbeobachtungsstelle auf EU-Ebene.

Was will die SPD? Wir wollen vor allen Dingen die Marktorientierung für die Milchviehhalter unterstützen. Dazu braucht es verbindliche Vertrags- und Lieferkonditionen, was Menge, Preis und Lieferzeiten angeht, sowie die Bündelung der Erzeugergemeinschaften, vor allen Dingen auch in NRW.

Auch die Superabgabe bei Überlieferung – FrieslandCampina hat uns das vorgemacht – ist eine gute Sache.

Vor diesem Hintergrund will die SPD vor allem die staatlich vorgeschriebene uneingeschränkte Andienpflicht der Erzeugerorganisationen abschaffen. Wir hatten dazu eine Bundesratsinitiative zur Agrarmarktstrukturverordnung auf den Weg gebracht. Leider ohne Unterstützung der Grünen haben wir das zum Erfolg gebracht.

Ein weiterer Schritt hierbei ist die Änderung des Art. 148 der Verordnung über eine gemeinsame Marktorganisation. Dort geht es um weitere Ausnahmeregelungen für die Landwirtschaft im Genossenschaftsrecht und im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Denn diese Regelungen müssen fallen. Sie haben die Marktriesen in diesem Bereich nämlich nicht verhindern können. Deshalb unterstützen wir von der SPD ausdrücklich – in dem Antrag vorgeführt – die Forderung, § 28 im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen zugunsten der Landwirte zu präzisieren.

Zum Schluss halte ich fest – das liegt mir ganz besonders am Herzen –: Die SPD will eine Qualitätsoffensive.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Ui!)

Wir brauchen mittel- und langfristig eine höhere Veredelung und eine bessere Wertschöpfung der Milch. Die anderen Länder machen uns das ja vor, ob es nun die Schweiz, Italien oder Frankreich ist. Wir können es uns dort ansehen. Auch einige Molkereien bei uns, zum Beispiel Arla, haben das so genannte Weidemilchprogramm. Dies gilt es zu fördern. Dafür, Frau Ministerin, könnten wir sogenannte GAP-Mittel oder auch ELER-Mittel verwenden.

Andererseits müssen wir die Umstellung auf den ökologischen Landbau stärker fördern. Die Förderung muss so ausgerichtet sein, dass die Ökolandwirtschaft die Marktpotenziale, die ja vorhanden sind – der Preis für Ökomilch lag immer bei 40 Cent und mehr –, ausschöpfen kann.

Ganz zum Schluss: Zudem sollte ein Landes- oder Bundesprogramm zur Stärkung von regionalen Wirtschaftskreisläufen initiiert werden. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Watermann-Krass. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Kollege Haupt das Wort. Bitte schön.

Stephan Haupt (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Rüße, ich hatte Ihnen im Ausschuss schon gesagt: Das Beste an Ihrem Antrag, was mich auch hoffnungsvoll gestimmt hat, war die Überschrift.

Aber leider hält der Antrag nicht, was die Überschrift „Milchkrisen wirksam mit neuen Instrumenten begegnen!“ verspricht. So fordern Sie in Ihrem Antrag unter anderem Festsetzungen von Preisen und Lieferzeiträumen für den Milchmarkt. Mit anderen Worten: Die Politik soll Erzeugern und Abnehmern vorschreiben, was sie in die Verträge zu schreiben haben – sozusagen eine Milchquote light.

Ich bin davon ausgegangen, dass staatliche Eingriffe in den Milchmarkt der Vergangenheit angehören und keinesfalls zu den neuen Instrumenten zählen. Die Milchquote wurde auch aus guten Gründen abgeschafft – also nicht etwa, weil sie so erfolgreich gewesen wäre. Niemand will sie, in welcher Form auch immer, zurückhaben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Was über Jahrzehnte hinweg in der Vergangenheit nicht funktioniert hat, wird auch zukünftig nicht funktionieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einmal einen Blick auf die Vorbilder im Milchmarkt werfen. Ein Blick in unsere Nachbarstaaten zeigt, dass insbesondere Regionalität und Qualität die Unternehmen in die Lage versetzen, schwierige Zeiten abzufedern. Diesen innerhalb der Milchbranche eingeschlagenen Weg begrüßen wir ausdrücklich.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Die Milchbranche hat sich auch bereits auf einen guten Weg gemacht, die Vertragsbeziehungen anzupassen, damit eine Krise überwunden werden kann. Die Erzeuger von Molkereiprodukten haben längst erkannt, dass sie ihre Lieferbeziehungen modernisieren müssen, um weiterhin wettbewerbsfähig zu sein. Landwirte, Erzeuger und Molkereien sind Ökonomen. Begriffe wie Supply-Chain-Management sind genauso in ihre Unternehmensphilosophie aufzunehmen wie die Herstellung und Verarbeitung der Milch an sich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst die Milcherzeugergemeinschaft fordert offene Märkte und wendet sich gegen staatlich verordnete Eingriffe, die in Summe zu restriktiv sind. Die FDP setzt sich daher gerne für die Milchbauern und Erzeuger ein – jedoch nicht mit einem rückwärtsgewandten Instrument, das diese selbst gar nicht wollen. Wir lehnen den Antrag deshalb ab.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Haupt. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Herr Kollege Rüße das Wort.

Norwich Rüße*) (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! „Die Milch macht’s!“ Dieser Slogan ist uns allen noch gut bekannt. Wenn man sich diesen Slogan aber mit Blick auf die Erlöse am Milchmarkt für die Bäuerinnen und Bauern ansieht, muss man sagen: Dieser Slogan macht’s schon lange nicht mehr.

Die Milchpreise sind im letzten Jahrzehnt immer wieder auf einen extremen Tiefstand abgesunken. Wie eben schon angedeutet wurde, gingen sie bis zur 20-Cent-Grenze herunter. Wir hatten in den letzten zehn Jahren mehrfach Krisen – 2008, 2009 und zuletzt 2016 –, die in der Tat tiefe Einschnitte bedeutet haben.

Ich will auch noch einmal den Bogen zu den Dürrehilfen spannen, die jetzt in der Debatte standen. Da ging es auch um 3 Milliarden Euro. Sie können sich gerne selbst die Mühe machen und es ausrechen: Dieselbe Summe haben die Milchbäuerinnen und Milchbauern in der Krise 2016 verloren.

Klar ist, dass viele Betriebe das nicht aushalten. Ich will es einmal so sagen: Die Betriebe hatten die Liquiditätsdarlehen aus dem Jahr 2008/2009, die wir ihnen über die Rentenbank gewährt haben, noch gar nicht zurückgezahlt, als sie 2016 von der nächsten Krise getroffen wurden.

Die Vollkosten der Erzeugung liegen bekanntlich bei ungefähr 40 Cent. Insofern läuft, wie man sieht, am Milchmarkt einiges schief. Das wollen wir mit unserem Antrag thematisieren. Wir sind der Meinung, dass es einer gewissen Steuerung und einer gewissen Hilfe seitens des Staates bedarf, um die extremen Preistäler, die wir haben, abzufedern.

Wir haben auch das Problem – das will ich in Bezug auf Nordrhein-Westfalen sagen –, dass wir überlegen müssen, was der Strukturwandel bedeutet. Wir können ihn zwar hinnehmen und sagen: Ja, es ist halt so. – Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass die Milchproduktion dann immer weiter in die Gunstgebiete abwandert – der Kreis Kleve ist das beste Beispiel dafür – mit all den Problemen, die das auch mit Blick auf die Nährstoffeinträge bedeutet.

Können wir dann auch auf Dauer die Verbraucherwünsche mit Milch von Milchviehbetrieben, die ihre Kühe auf die Weide bringen, bedienen? Das ist die Erwartung, die die Verbraucher draußen eigentlich haben. Daher ist die Problemlage etwas breiter.

Die Frage, die sich stellt und die wir mit unserem Antrag aufgeworfen haben, lautet: Was kann man tun? – Diesbezüglich will ich auf den Kollegen von der FDP eingehen. Herr Haupt, Sie haben eben lang und breit erklärt, wir wollten zurück zur Quote. Ich glaube, Sie haben die EU-weit geführte Debatte überhaupt nicht verstanden. Darum geht es an dieser Stelle nicht. Schauen Sie sich noch einmal genau an, was denn da gewünscht wird. Im Prinzip wird gewünscht, das, was wir jetzt in der Milchkrise – kurzfristig überlegt und am Ende auch aktionistisch umgesetzt – getan haben, planvoll zu installieren, um dieses Instrument in der nächsten Krise wissend einsetzen zu können, ohne erst lange nachdenken zu müssen: Was machen wir jetzt? Welchen Weg gehen wir?

Planvoll auf Krisen vorbereitet zu sein, um nicht aktionistisch handeln zu müssen, ist immer der richtige Weg, glaube ich.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, seitens des Staates Preise und Mengen festzulegen. Das hat auch überhaupt niemand behauptet. Ich weiß nicht, ob Sie einmal eine Milchgeldabrechnung gesehen haben. Der Bauer sieht am Ende auf der Abrechnung seiner Molkerei, welchen Preis er bekommen hat. Wir möchten – und die Gesetzeslage gibt das her –, dass die Lieferverträge anders konstruiert sind und die Molkereien vorher sagen: Für diese Menge werden wir diesen Milchpreis zahlen können. – So muss man Lieferverträge gestalten, damit die Landwirte wissen, was sie zu erwarten haben. Darum geht es.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich habe mich schon sehr darüber gewundert – das sage ich gerade mit Blick in Richtung der SPD, aber auch mit Blick auf die CDU –, dass Sie sich im Ausschuss diesem Antrag verweigert haben. Das kann ich nicht nachvollziehen. Denn in anderen Bundesländern wurden sehr ähnliche Anträge mit breiter Mehrheit beschlossen. In den Landtagen von Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern haben unsere Kollegen und Kolleginnen letztendlich genau denselben Antrag beschlossen. Ich verstehe nicht, warum Sie in Nordrhein-Westfalen milchpolitisch eine völlig andere Auffassung haben als Ihre Kollegen und Kolleginnen in Bayern. Das ist für mich nicht nachvollziehbar.

Wir wollen hier ein Signal setzen, damit im Krisenfall wirksame und berechenbare Instrumente greifen und wir nicht wieder aus der Hüfte heraus etwas machen müssen. Der Verbändedialog, der jetzt ansteht, ist ein erster Schritt. Ich glaube, am Ende werden sich die Molkereien durchsetzen, es wird anders laufen. Aus meiner Sicht hat sich das große Heilsversprechen Weltmarkt für die Bauern als Bumerang erwiesen. Der Preis ist dauerhaft niedrig geblieben, am Weltmarkt sind eben nicht die hohen Erlöse zu erzielen.

Wer das alles sehenden Auges zulässt – und das haben Sie anscheinend vor –, wer nicht einschreiten will, wer kein Sicherheitsnetz einbauen will, wie es zum Beispiel Bayern will, der ist schlecht auf die nächste Milchkrise vorbereitet und der wird den nächsten Strukturbruch in der Milchviehhaltung mit zu verantworten haben. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Rüße. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD Herr Abgeordneter Dr. Blex das Wort.

Dr. Christian Blex (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist ganz klar zu viel Milch auf dem Markt. Die chronische Milchüberproduktion drückt den Preis für Milch, woraufhin die Milchbauern noch mehr Milch produzieren, um die Einnahmeausfälle zu kompensieren.

Was sie in den Vorjahren an Reserven angehäuft haben, wird unlängst von den Banken belastet. Sie müssen jeden Abend aufs Neue die Zahlen wälzen und stehen vor der Aufgabe ihres Familienbetriebes. Auf die EU ist hierbei kein Verlass. Trotz hoher EU-Interventionsbestände ist der Markt für Kuhmilch allein in den letzten zehn Jahren dreimal eingebrochen.

Alle bisherigen politischen Maßnahmen, den Milchmarkt zu stabilisieren, sind krachend gescheitert. Folgerichtig wurde die Milchquotierung nach 30 schmerz­lichen Jahren zum 1. April 2015 abgeschafft. Erfrischender Weise erkennen die Grünen in dem vorliegenden Antrag einmal das EU-Versagen an, nur leider wollen sie nicht aus den Fehlern lernen. Es gibt da einige wirklich überlegenswerte Punkte – das muss man ausdrücklich einmal sagen, Herr Rüße, das hätte ich gar nicht gedacht. Allerdings wollen Sie ein ganzes Bündel an neuen EU-Kontroll­maß­nahmen beschließen und die Zukunft der Milchbranche erneut stärker in die Hände von EU-Bürokraten legen.

Das kann man nun wirklich nicht verstehen. Die EU hat gezeigt, dass sie es nicht kann. Und Sie wollen mehr EU. Die Forderung nach einem Frühwarnsystem und nach einem mehrstufigen Mengenreduktionssystem sind nur geistige Ausdünstungen planwirtschaftlicher Politik.

Klar ist, dass Trockenheit und Hitze in den Sommermonaten zu einer Teuerung der Futtermittel geführt haben. Doch dieser Mehrpreis für die Rohmilcherzeugung wird nicht zwangsläufig entschädigt. Laut dem Milch Marker Index lagen die Milcherzeugungskosten im April 2018 bei 42,7 Cent pro Kilogramm. Demgegenüber stand ein Milchauszahlungspreis von 33,43 Cent pro Kilogramm. Da muss man kein promovierter Diplom-Mathematiker sein, um zu erkennen, dass das auf Dauer so nicht wirtschaftlich geht.

Es ist unstrittig, dass die Milchbauern selbst kalkulieren müssen. Wenn aber ein Milchbetrieb seine Rohmilch an die Molkerei verkauft und erst Monate später erfährt, welchen Rohmilchpreis er dafür erhält, dann kann er seine Hausaufgaben natürlich nicht vernünftig machen. Da, Herr Rüße, gebe ich Ihnen recht.

Eine Abhilfe kann sein – und ich sage: kann sein –, den Artikel der gemeinsamen Marktorganisation zur Regelung der Lieferbeziehungen national anzuwenden.

Und jetzt eine Kritik an die Laschet-Partei.

(Lachen von Josef Hovenjürgen [CDU] – Zuruf von Bernd Krückel [CDU])

Man kann das nicht kritisieren, wie Herr Dr. Nolten das im Ausschuss gemacht hat, und gleichzeitig die Ohren für die Existenznöte der Milchbauern komplett auf taub stellen.

Fakt ist, dass in der letzten Agrarministerkonferenz über die Lieferbeziehungen im Milchsektor lange gesprochen wurde. In dem Beschlussprotokoll wird die hohe Anzahl an EU-Interventionsbeständen kritisiert, werden die erheblichen Verzögerungen bei der Anpassung des Rohmilchangebots erkannt und wird die Molkereiwirtschaft zu mehr Transparenz und zu mehr Modernisierungen der Lieferbeziehungen aufgefordert.

An dieser Stelle auch eine Klarstellung für Sie als ehemalige konservative Partei zur Erinnerung.

(Lachen von Josef Hovenjürgen [CDU])

Der Wesenszug der konservativen Politik ist die Erhaltung der bestehenden Ordnung und nicht das, was Sie machen, die Erhaltung der bestehenden Politik.

Wenn von heute auf morgen vorbildliche und moderne Familienbetriebe aufgeben, einzig weil sie pseudokonservative Politiker im Stich lassen, dann wird die einzig wirtschaftliche Antwort die Massentötung von Milchkühen und das Höfesterben sein.

Meine Damen und Herren auch von der Laschet-Partei: Konservative Politik ist kein Selbstzweck. Den Antrag der Grünen müssen wir aus den oben genannten Gründen in Gänze ablehnen.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Blex. – Und nun spricht für die Landesregierung Frau Ministerin Heinen-Esser.

Ursula Heinen-Esser, Ministerin für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag wurde bereits im Mai gestellt. Damals war der Marktverlauf noch durch steigende Milchmengen und sinkende Preise geprägt. Zwischenzeitlich hat es aber gute Erlösmöglichkeiten für Milchfett gegeben, und die Erzeuger haben die Milchmenge zurückgenommen.

Zugegeben, dieser Rückgang wurde durch die Sommerhitze noch verstärkt. Aktuell sprechen die Marktexperten aber jeweils von einem festen Milchmarkt, und es sind weiter steigende Preise zu erwarten.

Bei dieser Entwicklung stellt sich jetzt die Frage, wann, wo und wie wir steuernd in den Markt hätten eingreifen sollen. Ich bin davon überzeugt, dass es der beste Weg ist, wenn sich die Marktbeteiligten selbst auf die sich stetig wechselnden Marktgegebenheiten einstellen. In den Kreis derer, die bereits bei jeder Marktbewegung die nächste Milchkrise heraufbeschwören, möchten wir uns nicht einreihen. Hier ist es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass Marktschwankungen für einen freien Markt typisch sind und die Abschaffung der Milchquote – das hat meine Kollegin Bianca Winkelmann eben gesagt – von den meisten Marktteilnehmern auch wirklich gewollt war.

Es kann daher nicht das Ziel sein, von staatlicher Seite wieder derart in den Markt einzugreifen, dass Marktschwankungen vermieden werden. Da der Milchmarkt nämlich ein globaler Markt ist, wird uns das nämlich auch nicht gelingen.

Wir unterstützen aber ausdrücklich alle Maßnahmen mit der Zielrichtung, dass die Milchbranche selbst notwendige und geeignete Anpassungen vornimmt, damit unsere Erzeuger mit Preisschwankungen und Krisen besser umgehen können. Die Politik hat bereits in mehreren Schritten verschiedene unterstützende Maßnahmen eingeleitet. Sie reichen von deutlichen Verbesserungen der Marktstellung der Milch­erzeuger bis zu umfangreichen finanziellen Krisenhilfen. Eine geforderte Mengenreduktion in mehreren Stufen wird jedoch von uns abgelehnt. Ein solches Modell hätte quasi den Charakter einer neuen Milchquote mit allen negativen Folgen.

Unser Hauptaugenmerk liegt daher auf den Lieferbeziehungen zwischen Milcherzeugern und Molkereien. Es geht darum, diese zu modernisieren. Leider war aber die Bereitschaft der Molkereien bisher nicht so, mit Anpassung der Verträge und Lieferordnungen zur Mengenplanung beizutragen.

Sollten diese Chancen nicht noch besser genutzt werden, setzen wir uns für eine nationale Umsetzung von Art. 148 der Gemeinsamen Marktorganisation ein. Möglich ist es dann, konkrete Angaben zu Preis, Menge, Laufzeit und der Relation von Preisen zu Mengen vorzuschreiben.

An dieser Stelle möchte ich aber betonen: Es geht darum, Bestandteile von Verträgen festzulegen, die zwischen den Parteien aber frei verhandelbar sein sollen. Die Vertragsfreiheit soll gewahrt bleiben. In diesem Rahmen ist von den Molkereien über die Andienungspflicht zu entscheiden.

Mein Appell richtet sich daher an alle Wirtschaftsbeteiligten, bei der Anpassung der Lieferbeziehungen noch aktiver zu werden, um zur Entschärfung absoluter Tiefpreisphasen beizutragen.

Es darf auch nicht vergessen werden, dass bereits von einzelnen Molkereien Vertragsmodelle mit Wirkung auf die Produktionsmengen oder Preissicherungselemente entwickelt wurden. Sie zeigen beispielhaft, dass es entsprechende Möglichkeiten gibt. Diese werden von der Landesregierung ausdrücklich befürwortet.

Nach der Sommerpause hat sich die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner genau zu diesen Punkten mit der Milchwirtschaft getroffen. Wir haben nächste Woche Agrarministerkonferenz in Bad Sassendorf und werden dort auch einen Bericht der Bundesregierung erhalten, wie das aktuelle Bild der Molkereiaktivitäten ist.

Von diesem Bild, was die Molkereien tatsächlich machen, wie die Beziehungen sind, werden wir die nationale Umsetzung von Art. 148 der Gemeinsamen Marktorganisation abhängig machen.

Der Staat muss nicht regelnd eingreifen, wenn die Modernisierung der Lieferbeziehungen durch die Wirtschaft selbst erfolgt. Ich finde, dass es gute Gründe gibt, neue staatliche Milchmengenregelungen abzulehnen. Deshalb werbe ich um Unterstützung für den Ansatz, dass sich Molkereien und Milcherzeuger besser auf den Markt einstellen.

Ich bin jetzt vier Monate im Amt. Ich habe in dieser Zeit eine ganze Menge Gespräche mit Molkereien geführt. Ich denke, es gibt gute Beispiele, es müssen aber noch wesentlich mehr werden. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin Heinen-Esser. – Weitere Wortmeldungen haben wir nicht.

Also wird jetzt abgestimmt, und zwar so wie vorgeschlagen. Der Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, Natur und Verbraucherschutz empfiehlt in Drucksache 17/3604, den Antrag Drucksache 17/2548 abzulehnen. Wer stimmt diesem Ablehnungsvorschlag zu? – Nein, um Gottes willen! Das war die Sonne, die hier so hereinscheint.

Wir kommen natürlich zur Abstimmung über den Antrag selbst und nicht über die Beschlussempfehlung.  Wer stimmt für diesen Antrag? – Selbstverständlich die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, was zu erwarten war.

(Zuruf: Eine Stimme von der SPD!)

– Es war eine Stimme von der SPD dabei.

(Michael Hübner [SPD]: Nein, nein!)

– Nein. Das sehen wir nicht mehr.

(Heiterkeit)

Es bleibt dabei: Die grüne Fraktion hat für Ihren Antrag abgestimmt, wie zu erwarten war. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – CDU und FDP, das ist schon mal sicher. Die AfD war angekündigt. Die SPD dann auch? – So. Herr Langguth auch? – Auch gesehen. Gibt es Enthaltungen? – Enthaltungen gibt es nicht. Damit ist dieses Ergebnis relativ eindeutig: Der Antrag ist abgelehnt.

Ich rufe auf:

13 „Nicht beantwortete Kleine Anfragen“

Große Anfrage 6
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/2791

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 17/3563

Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Tritschler das Wort, der nun ans Pult tritt. – Bitte schön.

Sven Werner Tritschler (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebes Mitglied der Landesregierung! Haben Sie vielen Dank für die Antwort auf unsere Große Anfrage.

Wir haben sie uns in den vergangenen Tagen angeschaut und natürlich insbesondere die Vorbemerkung mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Das war durchaus aufschlussreich.

So erklärt die Landesregierung zum Beispiel, dass ja auch die Entgegnung, man könne nicht antworten, quasi eine Antwort sei.

Wir haben auch gelernt, dass die Landesregierung – so heißt es, Zitat – gerne beantworte. – Das war uns bisher neu und auch nicht aufgefallen.

Und wir haben gelernt, dass NRW in der Ferienzeit nicht so richtig regiert wird oder, wie Sie es ausdrücken, dass in den Ferien viele Wissensträger abwesend sind. Meine Damen und Herren, darauf hätten wir tatsächlich auch selbst kommen können,

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP – Josef Hovenjürgen [CDU]: Ja!)

nachdem wir gesehen haben, wie sich die Landesregierung in den letzten Monaten geschlagen hat.

(Beifall von der AfD)

Am Kern des Problems, das wir aufgeworfen haben, geht die Antwort aber leider vorbei: Das Fragerecht ist – höchstrichterlich immer wieder bestätigt – Ausdruck des Demokratieprinzips und in Grundgesetz und Landesverfassung garantiert.

Gemessen daran ist die gegenwärtige Praxis der Landesregierung, die ja nach eigenem Bekunden von sogenannten demokratischen Parteien getragen wird, nachlässig, schlampig, um nicht zu sagen: höchst missbräuchlich.

(Beifall von der AfD)

Darauf wollten wir mit unserer Großen Anfrage aufmerksam machen, ohne gleich die Gerichte bemühen zu müssen – leider offensichtlich ohne Erfolg.

Die Missstände halten leider bis heute an. Innenminister Reul verweigert uns beispielsweise unter fadenscheinigen Gründen eine Antwort auf die Frage nach gefährlichen und verrufenen Orten im Land – eine Frage, die in anderen Bundesländern übrigens anstandslos beantwortet wird.

Herr Reul ist es übrigens auch, der ganze acht Wochen braucht, um die vier verfassungsfeindlichen Organisationen zu nennen, die die Kölner Oberbürgermeisterin in einer städtischen Liegenschaft beherbergt, aber sicher hat das nichts damit zu tun, dass seine Partei diese Praxis deckt.

Ich muss allerdings dazu sagen, dass Herr Reul hier keineswegs eine Ausnahme ist, sondern beispielhaft genannt wird.

Nun ist es ja kein Novum, dass Regierungen das Fragerecht der Abgeordneten eher restriktiv handhaben. Davon zeugen Dutzende von Gerichtsurteilen. In der Theorie wehrt sich dann eine Opposition dagegen, parteibuchunabhängig – leider nur in der Theorie.

Traurig dagegen ist das Bild, das die beiden anderen Oppositionsparteien hier abgeben. Die Grünen geben auf Pressenachfrage immerhin zu, dass sie ähnliche Erfahrungen machen, wohingegen die Konkursmasse der Sozialdemokratie der Presse mitteilen lässt, sie wolle dazu nichts sagen, schließlich sei das ja eine Initiative der AfD.

Meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, wenn Sie aber das Geschäft der Regierung betreiben, anstatt Ihrer Aufgabe als Opposition gerecht zu werden, dann vergehen Sie sich an einem Fundament unserer Demokratie.

(Beifall von der AfD – Zuruf von der AfD: Die wollen doch wieder mitregieren!)

Weil historische Analogien hier im Haus gerade so in sind, möchte ich daraufhin weisen, dass es dies in der Geschichte schon einmal gegeben hat. „Blockparteien“ nannte man das, und die haben übrigens auch immer von sich behauptet, sie seien demokratisch. Da hilft es auch nicht, wenn der Kollege Klocke hier mit fast tränenerstickter Stimme bedauert, dass die böse Frau Ministerin ihm Fragen stellt. Wenn Frau Paul hier heute Vormittag lang und breit über wehrhafte Demokratie referiert,

(Josefine Paul [GRÜNE]: Hätten Sie mal zugehört!)

hilft es auch nicht, wenn Sie gebetsmühlenhaft Ihre vermeintlich demokratische Gesinnung vor sich hertragen und auf die ach so tolle Würde des Hauses verweisen.

(Sarah Philipp [SPD]: Ja, Sie haben keine!)

Sie sind alle, Regierung wie Linksopposition, keine besonders lupenreinen Demokraten, um es einmal parlamentarisch auszudrücken.

Wenn Herr Löttgen hier gestern Carlo Schmid mit den Worten – zur Erinnerung – zitiert:

„Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.“,

dann hat er völlig recht, aber er verkennt eines: Herr Schmid meinte sicher nicht, dass ein politisches Kartell, dass ein Löttgen, ein Kutschaty, ein Klocke und sonst wer entscheiden dürfen, wer Demokrat ist und wer nicht, und dass sie es sind, die darüber zu befinden haben, für wen Verfassung und Grundgesetz gelten und für wen nicht.

(Beifall von der AfD)

Das ist Größenwahn, das ist, als ob man zwei Wölfe und ein Schaf über das Frühstück abstimmen lässt. Das hat mit Demokratie so wenig zu tun, wie leider die große Mehrheit dieses Hauses.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Für die CDU-Fraktion hat das Wort nun Herr Kerkhoff.

Matthias Kerkhoff (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns jetzt um viertel nach fünf zu Tagesordnungspunkt 13 in der Diskussion zu einer Großen Anfrage mit diesen Dingen hier beschäftigen, ist natürlich völlig in Ordnung. Aber, Herr Tritschler, wenn man Ihnen zuhört und Stichworte wie „Blockparteien“, „missbräuchlich“ und „Schaden für die Demokratie“ vernimmt, möchte ich Sie fragen: Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner

(Beifall von der CDU und der FDP )

bei den Themen, über die wir hier an dieser Stelle sprechen? Ich fordere Sie ausdrücklich auf, wenn Sie der Meinung sind, dass Ihr verfassungsmäßig bestehendes Recht auf Beantwortung dieser Fragen nicht eingehalten wird, das juristisch klären zu lassen. Wir sind hier das Parlament und tauschen uns darüber aus. Wenn Sie jedoch der Meinung sind, dass Sie hier nicht zu Ihrem Recht kommen, bitte ich Sie wirklich, das rechtlich überprüfen zu lassen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Politisch gehe ich davon aus, dass es, so lange es das Instrument der Kleinen Anfragen gibt, auch darüber diskutiert wird, ob sie schnell genug beantwortet werden, ob der Gehalt der Antworten den Erwartungen des Fragestellers entspricht. Ebenso gilt, dass für die Abgeordneten die Betrachtung der Bedeutung des Instruments „Kleine Anfrage“ einem Wandel unterliegt. Dieser Wandel hat seine Ursachen im Wahlergebnis, den daraus folgende Regierungsbildungen sowie der Rolle, die Abgeordnete dann auch als Mitglied von Regierungs- oder Oppositionsfraktionen wahrnehmen. Aber ganz gleich, ob man als Regierungs- oder Oppositionsfraktion für sich selbst der Kleinen Anfrage eine hohe oder niedrige Bedeutung beimisst, so gilt doch für uns alle als selbstbewusste Parlamentarier, dass wir selbstredend die Erwartung haben, dass die Landesregierung Fragen beantwortet und dem Informationsbedürfnis der Abgeordneten nachkommt. Ich stelle fest, dass diese Landesregierung das tut.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Jetzt dürfen Sie aber eins nicht verwechseln: Das Recht auf eine Antwort, die man hören will, ist damit nicht verbunden. Es ist damit auch nicht das Recht auf eine Antwort verbunden, die in die eigene politische Erzählung passt. Deshalb bin ich mir sicher, dass diese Landesregierung auch weiterhin das Recht der Abgeordneten auf Beantwortung ihrer Fragen ernst nimmt. In welchem verfassungsrechtlichen Rahmen dies geschieht, hat die Landesregierung nachvollziehbar in ihrer Vorbemerkung zur Beantwortung Ihrer Großen Anfrage dargestellt. Sie hat zutreffend herausgearbeitet, ob und wie Kleine Anfragen zu beantworten sind, und darauf hingewiesen, dass diese Antwortpflicht nicht schrankenlos besteht.

Von daher gehe ich davon aus, dass, wenn Ihnen Antworten, die Sie bekommen, nicht gefallen, wenn sie nicht in Ihre eigene politische Erzählung passen, dann natürlich nachfragen können. Ansonsten stehen Ihnen selbstverständlich andere Wege offen, das zu klären. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kerkhoff. – Für die SPD-Fraktion spricht Frau Philipp.

Sarah Philipp (SPD): Ganz herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Tritschler, Sie haben mit Ihrem völlig deplatzierten, aber standardisierten und von daher bekannten Redebeitrag dazu beigetragen, dass Sie von Ihrem eigenen Kernthema, von Ihrer eigenen Initiative abgelenkt haben. Das ist schon sehr bemerkenswert; denn um Kleine Anfragen ging es jetzt in Ihrem Redebeitrag leider nicht. Aber ich will Ihnen gerne helfen, zum eigentlichen Anlass der Debatte zurückzukommen.

Es ist ja schon außergewöhnlich, dass wir hier heute im Plenum über Kleine Anfragen reden. Es ist unstrittig, dass gerade für uns als Oppositionsparteien oder -fraktionen dieses Instrument sehr wichtig ist, um von der Regierung Informationen zu erhalten, um sich damit auseinandersetzen zu können.

Das Ganze ist in der Landesverfassung geregelt und wird von der Geschäftsordnung dieses Hohen Hauses präzisiert. Es wird darin natürlich auch geregelt, wie viele Fragen eine Kleine Anfrage enthalten darf, wie viel Zeit die Landesregierung für eine Beantwortung hat. Bei der Auslegung der Norm – Kollege Kerkhoff hat schon darauf hingewiesen – und bezüglich der damit verbundenen Form, Art und Weise der Beantwortung gibt es im Parlament, insbesondere zwischen den Oppositionsfraktionen und der Regierung, immer wieder – ich nenne es mal so – unterschiedliche Interpretationsansätze, wie das Ganze ausgestaltet ist. Das liegt aber auch ein wenig in der Natur der Sache der Gewaltenteilung.

Deswegen haben wir als SPD-Fraktion, weil uns das Thema wichtig ist – da haben Sie, Herr Tritschler, offensichtlich nicht richtig aufgepasst oder es nicht mitbekommen –, es immer wieder im Ältestenrat auf die Tagesordnung setzen lassen. Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen haben das auch getan. Wir haben das Ganze angesprochen und beraten.

Wenn es um eine fristgerechte Beantwortung, die Art und Weise und den Inhalt der Antworten durch die Landesregierung ging, ist das Ganze bislang mit durchschnittlichem Erfolg angesprochen worden, sagen wir mal. Von daher sehen wir da, was die Beantwortung angeht, grundsätzlich noch Handlungsbedarf Richtung Landesregierung.

Deswegen will ich auch noch mal ein paar Anmerkungen zu dieser Großen Anfrage darlegen. Die Landesregierung stellt zwar nicht grundsätzlich das Fragerecht des Parlaments infrage – natürlich nicht, das kann sie auch gar nicht, das wäre auch mehr als schräg –, sie stellt aber auch sehr ausführlich dar – das war dann doch bemerkenswert –, welche Einschränkungen bei der Auskunftspflicht der Landesregierung zu beachten sind. Ich habe mich als Parlamentarierin ein bisschen gewundert, wie viele „Ob“ und „Wie“ in der Antwort enthalten gewesen sind, die aus ihrer Sicht den Rahmen der Antwortpflicht begrenzen. Ich glaube, darüber kann man sicherlich reden.

Ich will deswegen heute auch noch mal die Landesregierung ermuntern, sich damit auseinanderzusetzen, dass die Kleinen Anfragen der Oppositionsfraktionen fristgerecht, aber eben auch inhaltlich in einer angemessenen Art und Weise beantwortet werden. Es ist eben nicht in unserem Interesse, dass wir dazu gezwungen sind, das Thema ständig auf die Tagesordnung des Ältestenrates zu setzen. Wir wollen uns nicht ständig damit auseinandersetzen, sondern wir wollen, dass unser Instrument als Oppositionsfraktion dann eben auch angemessen begleitet wird und eine angemessene Berücksichtigung findet.

Im Sinne der Zusammenarbeit der Staatsgewalten möchte ich deswegen noch mal appellieren: Schauen Sie sich unsere Kleinen Anfragen genau an. Nehmen Sie sich in einem gewissen Rahmen die Zeit, die Sie brauchen, und stellen Sie sicher, dass diese Anfragen angemessen beantwortet werden. Das kann die Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung sicherlich nur verbessern und erleichtern. Deswegen noch mal der Appell Richtung Landesregierung! – Ganz herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Philipp. – Herr Höne spricht für die FDP-Fraktion.

Henning Höne (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! In der Tat sind Auseinandersetzungen über die Beantwortung von Kleinen Anfragen, Großen Anfragen, Mündlichen Anfragen, Berichtsanfragen und was es sonst noch so alles an Instrumenten gibt, die unsere Geschäftsordnung oder auch Geschäftsordnungen anderer Parlamente vorsehen, sicherlich so alt wie der Parlamentarismus und diese Fragerechte selbst.

Ich sage auch ganz deutlich, selbstbewusste Parlamentarier tun gut daran, immer ein Auge darauf zu haben, wie genau geantwortet wird und wie die Prozesse und Strukturen dahinter sind.

Nun ist es so, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich diesem Haus jetzt schon in einer zweiten Legislaturperiode angehören darf, in der vergangene Legislaturperiode in einer Oppositionsfraktion, seit Mai 2017 in einer regierungstragenden Fraktion. Ich erlaube mir darum vor diesem Hintergrund die Feststellung, dass ich nicht erkennen kann, dass sich seit Mai 2017 bei den Abläufen, Fristen oder ähnlichen Dingen wesentliche Veränderungen eingestellt haben.

Zweiter Punkt: Wichtig ist eine objektive Betrachtung des Sachverhalts. Das führt zu einer zweiten Feststellung: Nur weil eine Anfrage nicht so beantwortet wurde wie gewünscht, nur weil eine Anfrage nicht so beantwortet wurde wie erhofft oder wie es für die eigene politische Agenda jetzt eigentlich gut wäre, wurde eine Anfrage noch lange nicht falsch oder unvollständig beantwortet; denn – das hat der Kollege Kerkhoff eben schon angesprochen – es gibt die verschiedenen Fragerechte, es gibt ein Recht auf Antwort und auf Informationen. Es gibt aber kein Recht auf eine spezielle Version dieser Antwort, so wie sie am besten in die eigene politische Agenda passt.

Die dritte Feststellung, meine Damen und Herren, ist eine juristische. Darauf hat die Landesregierung auch hingewiesen. Die Antwortpflicht der Exekutive gegenüber der Legislativen ist eben nicht schrankenlos. Ist die Landesregierung oder die Exekutive – in welchem Parlament auch immer – eigentlich verantwortlich? Ist sie zuständig? Ist eigentlich eine Beantwortung innerhalb der üblichen Fristen realistisch?

Wenn man sich die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage anschaut, dann stellt man fest, dass es nun nicht so ist, dass das seitens der Landesregierung hier einfach so aus der Hüfte heraus nach dem Motto eingeschätzt wurde „Wir machen uns das so, wie es für uns ganz praktisch ist“, sondern wir bewegen uns hier in einem Bereich, der durch verschiedenste Urteile relativ klar definiert und strukturiert ist und in der Vergangenheit weiterentwickelt wurde. Genau daran orientiert sich auch diese Landesregierung.

Diese hat in der Großen Anfrage die entsprechenden Anfragen abermals kritisch überprüft, ist ja auch individuell darauf eingegangen und hat diese Fragen im verfassungsrechtlichen Sinne entsprechend beantwortet.

Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich eine vierte Feststellung, vielleicht auch eher eine Empfehlung aussprechen: Neben Kleinen und Großen Anfragen gibt es noch andere Möglichkeiten der Informationsbeschaffung, auch für Parlamentarier. – Vielen Dank.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Höne. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Die AfD-Fraktion hat ihre Redezeit ja für die Vergabe von Haltungsnoten genutzt. Das kann sie so tun, das ist aber debattentechnisch ungefähr genauso ergiebig wie die Große Anfrage, die sie hier gestellt hat. Es steht Ihnen selbstverständlich auch zu, das so zu tun. Es ist eben nur die Frage, ob das der Weg ist, wie man mit diesen Dingen umgeht.

Sie haben ja auch Haltungsnoten dafür vergeben, wie Sie die Arbeit der Opposition bewerten. Da kommen wir offensichtlich zu unterschiedlichen Schlüssen; denn auch wir haben angemerkt, dass auch wir bei der fristgerechten Beantwortung von Kleinen Antworten durchaus noch Luft nach oben sehen. Aber diese Tatsache, die Sie wissen könnten, weil auch Sie im Ältestenrat vertreten sind, passt offensichtlich nicht in Ihre Erzählung, die Sie hier wieder vorbringen wollten. Das nehmen wir dann mal so hin.

Es ist selbstverständlich Ihr parlamentarisches Recht, dass Sie diese Große Anfrage so stellen können.

Ich muss allerdings feststellen, dass sie in allererster Linie dem Schaufenster dient und dazu, Ihre Erzählung weiterzuführen. Ich hätte mir gewünscht, dass die dort gebundene Zeit und die erhebliche Arbeitskraft, die zur Beantwortung Großer Anfragen nötig sind, doch besser in eine fristgerechte Beantwortung Kleiner Anfragen geflossen wären. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Paul. – Für die Landesregierung hat nun in Vertretung des Ministerpräsidenten Armin Laschet Herr Minister Wüst das Wort.

Hendrik Wüst, Minister für Verkehr: Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der AfD hat mit der Großen Anfrage 6 die Antwort der Landesregierung auf insgesamt 100 Kleine Anfragen abermals aufgerufen. Der Betreff der Großen Anfrage lautet: „Nicht beantwortete Kleine Anfragen“. Diese Aussage ist schlicht unzutreffend bzw., um es mit den Worten Ihres Idols zu sagen, Fake News.

Die Landesregierung hat alle Kleinen Anfragen beantwortet. Sie hat die Vorlage der Großen Anfrage gleichwohl genutzt, um die Antworten auf die Kleinen Anfragen einer abermaligen kritischen Prüfung zu unterziehen. Das gebietet der Respekt vor dem Parlament.

Das Ergebnis der Prüfung lautet, dass die Antworten auf die Kleinen Anfragen verfassungskonform erfolgt sind. Soweit in Einzelfällen im Rahmen der Großen Anfrage Bedarf bestand, nachzusteuern – etwa weil inzwischen andere Erkenntnisse vorlagen, die bei der Antwort zuvor nicht berücksichtigt werden konnten –, ist die Landesregierung dem nachgekommen. 83 % der Antworten blieben jedoch unverändert.

Damit könnte die Stellungnahme seitens der Landesregierung hier enden. Lassen Sie mich als jemand, der bereits in der vierten Wahlperiode hier im Landtag ist, für die Landesregierung die Gelegenheit nutzen, einige allgemeine Erwägungen in die Debatte einzubringen, die manchem hier bekannt sind, offensichtlich aber nicht allen.

Voranzustellen ist selbstverständlich, dass das parlamentarische Fragerecht des Abgeordneten unverrückbar zu den essenziellen Werkzeugen des Parlaments gehört, um eine Regierung überhaupt effektiv kontrollieren zu können. Aus guten Gründen hat die Kommission zur Verfassungsreform in der letzten Wahlperiode vorgeschlagen, Artikel 30 Abs. 3 zu ändern und dieses Fragerecht auch in der Verfassung zu verankern. Dem wurde nachgekommen.

Zur Wahrheit zählt allerdings auch, dass das Fragerecht des Parlaments – wie meine Vorredner teilweise schon ausgeführt haben – eben nicht uneingeschränkt gilt. Auch dies bestätigt die Antwort auf die Große Anfrage nachdrücklich.

Die Grenzen des Fragerechts bzw. der Antwortpflicht einer Regierung sind durch eine inzwischen ausdifferenzierte Rechtsprechung des Verfassungsgerichts definiert. Daher, Frau Kollegin Philipp, kommen die „Obs“ und „Wies“. Die von Ihnen genannten Einschränkungen stammen nicht irgendwie von der neuen Landesregierung, sondern aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Die Landesregierung beachtet diese Schranken. Sie gelten unbeschadet der Tatsache, ob die Frage in einer Großen oder Kleinen Anfrage gestellt wird bzw. dazu mündlich oder schriftlich vorgetragen wird.

Die maßgeblichen Grundsätze sind in der Vorbemerkung der Antwort auf die Große Anfrage noch einmal niedergelegt. Insofern mag die eine oder andere Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage hinter den Erwartungshaltungen der Fragesteller zurückgeblieben sein. Festzuhalten ist aber, dass sich die Regierung mit ihrem Antwortverhalten auf dem Boden der Verfassung und – ich glaube, auch das kann ich sagen – ebenso in der Tradition der Vorgängerregierungen bewegt.

Exemplarisch möchte ich noch einige Themen separat ansprechen. Die Landesregierung kann nur zu solchen Sachverhalten Auskunft geben, für die sie selbst zuständig ist bzw. für die sie verantwortlich ist. Zuweilen stehen auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte einer Beantwortung entgegen. Aber auch der Faktor Zeit – das kann ich aus praktischer Erfahrung jetzt besser sagen als vielleicht noch zuzeiten der Opposition – spielt eine entscheidende Rolle, wie die Antwort auf die Große Anfrage ebenfalls eindrucksvoll verdeutlicht.

Die Landesregierung hat zu beachten, dass die Geschäftsordnung des Landtags eine Frist zur Beantwortung einer Kleinen bzw. einer Großen Anfrage vorsieht. Fakt ist, dass die Landesregierung – auch da in guter Tradition mit ihren Vorgängerinnen – bei allen Schwierigkeiten im Einzelfall bestrebt ist, diese Fristen ordentlich zu wahren. Zudem nutzen wir alle Möglichkeiten der Digitalisierung, um sogar noch wenige Tage einzusparen.

Festzuhalten bleibt aber, dass die Landesregierung nur diejenigen Informationen mitteilen kann, die sie in dem eben beschriebenen engen Zeitfenster erheben, in einer Antwort zusammenfassen und regierungsintern abstimmen kann. Auch dieser Aspekt sollte in einer fairen Auseinandersetzung nicht unberücksichtigt bleiben.

Das Hohe Haus mag darüber befinden, welche Schlüsse aus der Großen Anfrage jenseits der Beantwortung der Einzelfragen zu ziehen sind. Die Vorbemerkung zu der Antwort beinhaltet die eine oder andere statistische Angabe zu dem Antwortverhalten der Landesregierung. Es bleibt Ihnen allen überlassen, ob Sie daraus etwas machen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Wüst. – Da mir keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, schließe ich die Aussprache und stelle fest, dass damit die Beratung der Großen Anfrage 6 der Fraktion der AfD stattgefunden hat.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 14:

14 Leistungen deutschstämmiger Zugewanderter, der Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler wertschätzen – unsere und ihre Geschichte lebendig halten

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3526

Ich eröffne die Aussprache und für die antragstellende Fraktion der CDU hat nun Herr Kollege Scholz das Wort.

Rüdiger Scholz (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist erst wenige Tage her, dass sich der 1. September 1939 gejährt hat. Das war der Tag, an dem vom deutschen Boden der schrecklichste Krieg der Geschichte ausging. An dessen Ende hatten rund 50 Millionen Menschen ihr Leben verloren, und 6 Millionen jüdische Bürger waren Opfer systematischer Ermordung geworden.

Am Ende dieses Krieges schlug das Grauen auf Deutschland zurück. Besonders hart traf es dabei die Bevölkerung in den damaligen deutschen Ostgebieten. 12 Millionen Menschen mussten zwangsweise ihre angestammte Heimat verlassen. Viele von ihnen wurden Opfer von Plünderungen, Vergewaltigungen und anderen Gewalttaten. Über 2 Millionen Menschen fanden dabei den Tod.

Wenn die Überlebenden nach einer langen Odyssee dann den Westen erreichten, mussten sie feststellen, dass sie nicht immer willkommen waren. Trotzdem packten sie an, schufen sich ein neues Zuhause und beteiligten sich am Wiederaufbau Deutschlands. Flüchtlinge und Vertriebene haben einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftswunder auch in Nordrhein-Westfalen geleistet. Dafür gebührt ihnen noch heute unser Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ebenfalls vor wenigen Tagen jährte sich zum 70. Mal der Tag, an dem in Bonn der Parlamentarische Rat seine Arbeit aufnahm.

Bereits damals haben sich herausragende Persönlichkeiten aus dem Vertriebenenbereich an der Schaffung der Grundlage für ein demokratisches Deutschland beteiligt. Ich erinnere beispielhaft an den Sozialdemokraten Willibald Mücke aus Buchenhöh in Oberschlesien. Auf ihn geht die in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz enthaltene Wendung zurück, dass niemand wegen seiner Heimat und Herkunft benachteiligt werden darf.

Sein oberschlesischer Landsmann und späterer Vizekanzler Hans-Christoph Seebohm aus Emanuelssegen entwickelte schon damals gedanklich – aufbauend auf den Ideen des Föderalismus – den verfassungsrechtlichen Auftrag zur Errichtung eines europäischen Staatenbundes. Nicht Grenzverschiebung sah er als Ziel, sondern deren Aufhebung.

Sie sowie Paul Löbe, Gerhard Kroll und andere haben ihren Beitrag für ein demokratisches Deutschland geleistet. Trotz – oder gerade wegen – der Gräuel und Schrecken der Flucht und Vertreibung waren es die Vertriebenen, die mit ihrer Charta der Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 die Grundlage für die Verständigung und Versöhnung der Völker in Europa gelegt haben, indem sie auf Rache und Vergeltung verzichtet und erklärt haben, am Aufbau eines friedlichen und geeinten Europas mitwirken zu wollen.

Nach dem Zusammenbruch der Systeme im Osten Europas kamen viele deutsche Aussiedler und Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den Staaten Mittelosteuropas in die Heimat ihrer Vorfahren. Sie sind heute überdurchschnittlich gut integriert.

Dass das Thema „Flucht und Vertreibung“ immer noch gegenwärtig ist, zeigt die von der großen Koalition im Jahr 2015 beschlossene Entschädigung für zivile deutsche Zwangsarbeiter. War man anfangs von weniger als 20.000 noch lebenden betroffenen Personen ausgegangen, haben bis Ende vergangenen Jahres rund 45.000 Betroffene einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Für Hunderttausende kam diese symbolische Anerkennung für ihr erlittenes Leid in Höhe von 2.500 Euro zu spät. Leider hat es 70 Jahre gedauert, bis man sich zu dieser Entschädigung durchgerungen hat.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kürzlich die besondere Verantwortung der Politik gegenüber den heimatvertriebenen und heimatverbliebenen Deutschen hervorgehoben. Der Auftrag gemäß § 96 Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz bleibt daher weiterhin eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Koalitionsvertrag der NRW-Koalition wird deshalb der Beitrag, den die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler für den Aufbau unseres Landes geleistet haben, besonders gewürdigt.

Daraus ergeben sich folgende Aufgaben:

Erstens. Wir brauchen eine angemessene und lebendige Erinnerungskultur. In einer Zeit, in der die Erlebnisgeneration abtritt, muss das Wissen über Flucht, Vertreibung und das kulturelle Erbe der ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete auch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Immerhin hat das Wirken der Menschen aus dem ehemaligen deutschen Osten über Jahrhunderte auch Spuren in Nordrhein-Westfalen hinterlassen. Das wohl bekannteste Werk ist die Fertigstellung des Kölner Doms nach den Plänen des oberschlesischen Architekten Ernst Friedrich Zwirner.

Erinnerungskultur kann aber nur durch eine stärkere Behandlung der Thematik in der Schule und in der außerschulischen Bildungsarbeit gelingen. Dazu müssen Flucht und Vertreibung in der Lehrerfortbildung und in Unterrichtsmaterialien eine entsprechende Berücksichtigung finden. Auch können Zeitzeugen, solange sie noch leben, von dem damaligen Geschehen berichten. Verbunden werden kann das mit Fahrten zu Gedenkstätten, zum Beispiel zu ehemaligen NKWD-Lagern, in denen viele Zwangsarbeiter ihr Leben verloren.

Zweitens. Wir müssen Vertriebene und Aussiedler als Brücken nach Europa stärker nutzen. Heimatvertriebene, Heimatverbliebene und Aussiedler stellen durch ihre weitgehende Zweisprachigkeit sprachliche und menschliche Brücken zu unseren Nachbarn in Ost- und Südosteuropa dar.

Daher sollte auch der Kontakt zu den Heimatverbliebenen unter Einbindung der Heimatvertriebenen, der Aussiedler und Spätaussiedler gestärkt werden. Bei Besuchen der Landesregierung in den Herkunftsländern sollten folgerichtig auch Vertreter unserer Partner-Landsmannschaften der Oberschlesier und der Siebenbürger Sachsen als Experten für ihre Herkunftsgebiete eingebunden werden.

Drittens. Wir müssen die Eingliederung der Spätaussiedler weiter fördern und soziale Problemlagen abwenden. Wichtigster Punkt hierbei ist, dass wir die Möglichkeiten zur Anerkennung für die im Ausland erworbenen Schul- und Berufsabschlüsse weiter verbessern. Die Zahl der Menschen, die unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten, ist zu hoch. Dadurch entsteht Frustration.

Schließlich müssen wir uns um das Thema „Altersarmut“ kümmern. Auch wenn wir als Land hierbei keine Gesetzgebungskompetenz haben, sollten wir uns dafür stark machen, dass die deutlichen Nachteile für Spätaussiedler in der Rentenversicherung abgebaut werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, die Thematik der Vertriebenen und Aussiedler ist nach Jahrzehnten der Vernachlässigung wieder in der Mitte der Politik angekommen. Mit Heiko Hendriks hat am 1. Februar dieses Jahres der Beauftragte für die Belange von deutschen Heimatvertriebenen, Spätaussiedlern und Aussiedlern der Landesregierung seine Tätigkeit aufgenommen. Mit ihm haben die Landsmannschaften, Verbände und Vereine einen zentralen Ansprechpartner und eine starke Stimme.

Die NRW-Koalition nimmt sich nun auch der Themen der Zukunft an. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.

(Beifall von der CDU, der FDP und der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Scholz. – Für die antragstellende Fraktion der FDP spricht nun Herr Deutsch.

Lorenz Deutsch (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vertriebene, Flüchtlinge sowie später die Aussiedler und Spätaussiedler – viele dieser heute unter uns lebenden Menschen haben auch in Nordrhein-Westfalen eine Heimat gefunden. Sie verdienen unsere Aufmerksamkeit. Unser Antrag beinhaltet zwei wesentliche Aspekte.

Beim ersten Aspekt geht es um die Gruppe der Vertriebenen und Flüchtlinge, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre angestammte Heimat in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und den deutschen Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa verlassen mussten. Sie fanden ihre neue Heimat in der jungen Bundesrepublik; sie leisteten ihren Beitrag zum Wiederaufbau. Ihre regionale Kultur pflegen sie zum Teil bis heute.

Für uns als NRW-Koalition ist es Aufgabe, die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Aussiedlung aufrechtzuerhalten. Dies soll durch historische Aufklärung – nicht nur in der Schule, sondern auch in anderen Bildungseinrichtungen wie Museen, Archiven und Gedenkstätten – geschehen. Wir haben solche Kulturinstitutionen in NRW: das Gerhart-Hauptmann-Haus oder das Westpreußische Landesmuseum und das Oberschlesische Landesmuseum. Die Geschichte von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung möchten wir stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken, als es bisher der Fall war.

Der zweite Aspekt betrifft die Aussiedler und Spätaussiedler, die deutlich nach Kriegsende in die Bundesrepublik einwanderten. Studien bestätigen, dass die Integration dieser gesellschaftlichen Gruppe erfolgreich war. Sie selbst fühlen sich gut integriert. Die Menschen sind mit ihrer Lebenssituation in Deutschland zufriedener als andere Zuwanderungsgruppen, zudem sind sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut integriert.

Dennoch gibt es weiterhin viele Probleme, die wir als NRW-Koalition lösen wollen. Dabei geht es immer wieder auch um allgemeine Themen, die sowieso auf unsere Agenda gehören, zum Beispiel die Anerkennung von Berufs- und Hochschulabschlüssen. Dies stellt ein grundsätzliches Problem dar, das wir in NRW zu lösen haben. Auch im Rentenrecht gibt es Dinge zu verbessern, und das wollen wir mit einer Bundesratsinitiative anstoßen.

Wir als FDP-Fraktion begrüßen die Initiative hin zu einer gleichberechtigten Teilhabe und Integration dieser speziellen Einwanderungsgruppe.

Mit der Ernennung des Beauftragten für die Belange der deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler haben wir einen zentralen Ansprechpartner geschaffen, der eine wichtige Koordinierungsfunktion wahrnimmt.

Er soll Zentrum der Kommunikation zwischen Verbänden, Vereinen, Landsmannschaften, Politik, Gesellschaft und Regierung sein. Seine Arbeit und seine Bemühungen gilt es zu unterstützen. Wir wünschen ihm dabei viel Erfolg. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP, der CDU und Roger Beckamp [AfD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Deutsch. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Herr Neumann.

Josef Neumann (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Millionen Menschen wurden infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von den Nationalsozialisten entfesselten Zweiten Weltkriegs in den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen.

Viele von ihnen mussten ihre Heimat verlassen und haben das schweren Herzens getan. Es gab auch viele, die ihre Heimat nicht verlassen durften und daran gehindert wurden. Zwangsumgesiedelt, verbannt, in Sibirien oder sonstwo vergessen, haben sie jahrzehntelang jenes Leid ertragen müssen, das Nazideutschland über Europa gebracht hat.

Unterschiedliche Menschen sind als Flüchtlinge, Vertriebene, Aussiedler oder Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Einige kamen direkt nach dem Krieg in ein zerstörtes Westdeutschland oder – daran erinnere ich ausdrücklich – in ein zerstörtes Ostdeutschland.

Obwohl sie die deutsche Sprache sprachen und die gleiche Kultur hatten, mussten viele von ihnen erleben, wie schwer es ist, an einem Ort anzukommen, an dem man nicht willkommen ist.

Es gab wenig zu verteilen und die damaligen Verteilungskämpfe führten dazu, dass insbesondere die Gruppe, die direkt nach dem Krieg hierher kam, Dinge erleben musste, die wir in ähnlicher Form aus der aktuellen Debatte kennen – als Beispiel seien die Angriffe auf Flüchtlinge genannt.

Eine weitere Gruppe bestand aus denjenigen, die zunächst in ihrer Heimat bleiben mussten und im Laufe der Jahre versuchten, den Eisernen Vorhang zu überwinden; vielen ist das nach mehreren Anläufen gelungen. Einige haben wegen ihrer Anträge auf Aus- bzw. Übersiedlung Gefängnisstrafen oder andere restriktive Maßnahmen durchlitten.

Die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler haben vor allem von der Ostpolitik Brandts sowie der Versöhnungspolitik Kohls und anderer profitiert. Sie kamen nicht nur aus Ländern wie Polen, der Tschechei und Rumänien, sondern insbesondere auch aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.

Vieles haben wir erfolgreich geschafft, aber machen wir uns nichts vor: Vieles funktioniert nicht. Wer den Fall „Lisa“ und die Reaktionen eines Teils der Russlanddeutschen darauf kennt, weiß, wovon ich spreche.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat in den letzten Jahren einiges zur Aufklärung und zur Bildungsarbeit auf den Weg gebracht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die klare Positionierung des nordrhein-westfälischen Landesbeirats für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen. Ich erinnere außerdem an das im Auftrag der Landesregierung herausgegebene Buch über Russlanddeutsche und russlanddeutsche Kultur, das heute an vielen Schulen verwendet wird. Das sollte weiterhin ermöglicht werden, um es möglichst vielen Schülern nahezubringen.

Das Gerhart-Hauptmann-Haus ist das Zentrum für diese Kultur in Nordrhein-Westfalen – es ist aber auch das Zentrum, wenn es um Verständigung geht. Wenn wir in dieser Debatte über diese Personengruppe sprechen, muss Dialog, Verständigung und Versöhnung das zentrale Thema sein.

(Beifall von Carina Gödecke [SPD])

Wir müssen die Gelegenheit nutzen, dieses Thema mit dem der aktuellen Flüchtlingsbewegung zu vernetzen. Ich glaube, es führt zu nichts, über dieses Thema zu sprechen, ohne es mit der aktuellen Debatte über Migration und Flucht zu verbinden.

Teilhabe am Arbeitsmarkt, in der Bildung und bei den Aufstiegsmöglichkeiten ist für diese Gruppen noch immer nicht geregelt. Insofern ist es wichtig, diese Ansätze zu fördern und zu unterstützen.

In der Erinnerungskultur müssen wir – bedingt durch die Tatsache, dass viele dieser Menschen irgendwann nicht mehr da sein werden – neue Methoden anwenden. Man kann nicht immer nur mit dem Finger auf die anderen zeigen, man muss vor allem die Dialogfähigkeit herausstellen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir es in Nordrhein-Westfalen weiterhin schaffen werden, bei diesem Thema einen Grundkonsens zu erzielen. Dafür muss es uns gelingen, diesen Menschen mit einer modernen Erinnerungsarbeit und einer in die Zukunft gerichteten Teilhabepolitik zu helfen.

Dazu gehört nicht nur die Rentendebatte für Aussiedlerrinnen und Aussiedler, sondern auch die Klärung der Fragen zu Renten für jüdische Kontingentflüchtlinge. Letzteres muss gleichermaßen berücksichtigt werden.

(Beifall von Carina Gödecke [SPD])

Ich denke, dass wir im Ausschuss über all diese Themen diskutieren werden; wir freuen uns auf die Debatte. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Neumann. – Und nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Aymaz.

Berivan Aymaz (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! In Nordrhein-Westfalen leben 18 Millionen Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Religion und Identität zusammen. Unsere Gesellschaft ist geprägt von Menschen, die unterschiedliche Migrationserfahrungen mitbringen. Sie verfügen über transnationale Kompetenzen, sprechen mehrere Sprachen und agieren zwischen mehreren Ländern.

Unabhängig davon, wo diese Menschen oder ihre Vorfahren herkommen, ist es meiner Meinung nach völlig selbstverständlich, ihre Leistungen wertzuschätzen und ihre vielfältigen Erinnerungen und Geschichten als Bestandteil unserer gemeinsamen Geschichte und Erinnerungskultur anzuerkennen. – Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir zu.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Aymaz. – Für die AfD-Fraktion spricht nun Herr Beckamp.

Roger Beckamp*) (AfD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einhellige Zustimmung – auch wir finden den Antrag gut. Wir finden die Tendenz gut, wir finden die Zielrichtung gut. Wir danken Ihnen insbesondere, dass Sie nicht den verwaschenen Begriff „Migranten“ für die Deutschen, die vertrieben wurden und geflohen sind, benutzt haben.

Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied, den Frau Aymaz nicht versteht oder nicht verstehen will: Hier sind Deutsche aus den Ostgebieten sowie aus Ost- und Südosteuropa zu Deutschen gekommen – mit gleichem Hintergrund, was die Geschichte, die Bildungshintergründe und die Kultur anbelangt. Das ist ein entscheidender Unterschied im Vergleich zur Migration, die seit den 60er-Jahren und insbesondere seit 2015 besteht. Aber das möchten Sie ständig verwischen, und das ist der Fehler.

Die deutschstämmigen Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler verdienen wesentlich mehr Wertschätzung, als das bisher der Fall war. Insofern sind die Punkte, die Sie anführen, berechtigt, gerade auch der Abbau rechtlicher Hürden bei Rentenversicherung, Qualifikationen usw.

Wir wissen das schon länger, in der Tat. Wissen Sie woher? – Weil ganz viele Russlanddeutsche mit uns sprechen, und insbesondere ganz viele Russlanddeutsche uns wählen. Insofern sei uns die Frage erlaubt, ob der Anlass für den Antrag vielleicht auch auf aktuelle Wählerumfragen zurückzuführen ist und daher eine gewisse hektische Betriebsamkeit bei Ihnen ausgebrochen ist.

(Beifall von der AfD)

Aber – und das ist ganz wichtig – gerade die Russlanddeutschen, von denen alleine in NRW über 600.000 leben, haben auch gesagt, dass sie insbesondere deshalb aus Kasachstan zu uns gekommen sind, weil sie nicht in einem muslimischen Land leben wollten. Was sie hier erleben, ist aber genau das.

Sie sind angekommen in der alten Heimat und erleben diese alte Heimat immer mehr als etwas, was ihnen fremd wird. Sie alle hier in dem wertvollen demokratischen Spektrum haben das verursacht. So treiben Sie die Menschen immer mehr von sich weg. Es wird auch so weitergehen; denn mit Merkel und Laschet wird es keine Änderung geben.

Wir stimmen dem Antrag zu. Wir haben aber noch drei Hinweise. Vielleicht, Herr Scholz, greifen Sie sie auf, vielleicht auch nicht.

Erster Punkt. Ich weiß nicht, was Sie am 28. August dieses Jahres gemacht haben. Erinnern Sie sich an den Tag? Das ist ein besonderes Datum; denn da hat Stalin den Erlass unterschrieben, die Wolga-Republik aufzulösen und Hunderttausende Deutsche nach Sibirien zu verschleppen. Hunderttausende sind dort umgekommen.

Wir haben zusammen mit Russlanddeutschen versucht, diesen Tag angemessen zu begehen. Es gibt aber in Nordrhein-Westfalen keine Gedenkstätte, jedenfalls keine für Russlanddeutsche. Es gibt zahlreiche Gedenkstätten für Vertriebene, und das ist gut so. Insofern unser Hinweis: Vielleicht wäre es sinnvoll, dass in NRW auch mal ein zentrales Mahnmal für die Russlanddeutschen aufgestellt wird.

Zweiter Punkt. Wir schlagen einen Gedenktag vor, wie er auch in Hessen, Bayern und Sachsen begangen wird, nämlich am 2. September: der Tag der Heimat. Das stünde auch NRW gut zu Gesicht. Das ist nur ein Hinweis; nehmen Sie ihn auf! Sie können das gerne auch als eigene Idee verkaufen.

Dritter Punkt. Letztlich stünde es NRW sehr gut zu Gesicht – bei aller „Willkommenskultur“, die Sie ständig vor sich hertragen –, auch eine Willkommenskultur für die eigenen Leute zu pflegen. Da sitzen noch Hunderttausende Deutsche in Russland und Kasachstan, die sicherlich gerne in die alte Heimat kommen würden. Das wäre eine Willkommenskultur für die Heimatverbliebenen – wie Sie, Herr Scholz, das so nett genannt haben –, die unser Land wirklich braucht. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Beckamp. – Nun spricht für die Landesregierung Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen.

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! CDU und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, dass der Beitrag, den die Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler sowie die Menschen mit Einwanderungsgeschichte für die gute Entwicklung unseres Landes geleistet haben, besonders gewürdigt werden soll, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach wachgehalten werden soll und dass der Gruppe der deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, der Aussiedler und Spätaussiedler wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.

Im Koalitionsvertrag ist auch davon die Rede, dass es für diese Personengruppen einen klaren Ansprechpartner im Ministerium geben soll. Die Landesregierung hat deshalb – das wurde eben schon erwähnt – Heiko Hendriks im Januar 2018 zu ihrem Beauftragten bestellt. Herr Hendriks ist außerdem Vorsitzender des Landesbeirats für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen.

Der Beauftragte hat inzwischen eine ganze Reihe von Gesprächen mit Institutionen und Organisationen der Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler geführt. Dies wird er kontinuierlich fortsetzen. Er fungiert bereits jetzt als Schnittstelle zwischen der Landesregierung, den Landsmannschaften und den Verbänden. Er pflegt außerdem Kontakte mit Institutionen und Organisationen auch auf der Bundesebene und in anderen Bundesländern. Ich freue mich, dass die Koalitionsfraktionen die Arbeit des Beauftragten in ihrem Antrag bereits positiv würdigen.

Der Landesbeirat hat sich übrigens noch im Februar dieses Jahres konstituiert. Er wird Ende Oktober bereits zu seiner dritten Sitzung zusammentreffen und im November seine Gründung vor 70 Jahren in einer festlichen Veranstaltung würdigen.

Die Landesregierung arbeitet kontinuierlich daran, die Aufgaben und Ziele aus dem Koalitionsvertrag anzugehen und umzusetzen. Die im Antrag der Koalitionsfraktionen benannten Themen sind überwiegend bereits Gegenstand der laufenden Arbeit der Landesregierung. Gern möchte ich heute grundsätzlich die Bedeutung dieser Themen noch einmal betonen.

Ziel der Landesregierung ist es, die Beiträge, die die deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spät­aussiedler für die gute Entwicklung geleistet haben, insbesondere beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und beim sogenannten Wirtschaftswunder in den 50er- und 60er-Jahren, besonders zu würdigen und zugleich die Erinnerung an Flucht und Vertreibung wachzuhalten. Dies erfordert heutzutage neue Herangehensweisen.

Neben den traditionellen Gruppen und Organisationen müssen wir stärker die junge Generation in den Blick nehmen, die mit diesen Themen nicht mehr so vertraut ist wie die Älteren. Da die Zahl der Deutschen, die Flucht und Vertreibung noch selbst erlebt haben, immer kleiner wird, müssen auch neue Konzepte und Formate für die Erinnerungsarbeit entwickelt werden. Dabei kommt es darauf an, erlittenes Unrecht auf allen Seiten anzuerkennen und zugleich die historischen Bezüge zu berücksichtigen.

Wichtig ist, dass die Erinnerungsarbeit in einen europäischen und im Hinblick auf aktuelle internationale Ausprägungen von Flucht und Vertreibung in einen weltweiten Kontext gestellt wird.

In diesem Sinne wurde im vergangenen Jahr auch die hierfür maßgebliche Förderrichtlinie neu gefasst und damit die alte Richtlinie, die immerhin noch aus dem Jahr 1993 stammte, abgelöst. Der Prozess der Erarbeitung dieser neuen Richtlinie war offen und transparent angelegt. Die Organisationen der Vertriebenen und Spätaussiedler wurden einbezogen. Das wollen wir auch bei der Umsetzung weiterer Vorhaben so handhaben.

Die Einzelheiten zu den im Antrag angesprochenen Themen werden wir sicher in den Ausschussberatungen noch ausführlich erörtern. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Es liegen mir keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Daher schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/3526 an den Ausschuss für Kultur und Medien – federführend – sowie an den Hauptausschuss und an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer dieser Überweisungsempfehlung folgen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die SPD, die Grünen, die CDU, die FDP und die AfD. Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Damit ist der Antrag einstimmig überwiesen.

Ich rufe auf:

15 Nordrhein-Westfalen in Europa III: Grenzüberschreitende Mobilität ausbauen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/3017

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Europa und Internationales
Drucksache 17/3605

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Krauß für die CDU-Fraktion das Wort.

Oliver Krauß (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag von CDU und FDP steht in der konsequenten Folge unserer bisherigen Beschlussfassungen zu diesen Themen, nämlich die grenzüberschreitende Kooperation mit den Niederlanden und Belgien zu intensivieren, den europäischen Zusammenhalt zu fördern und die strukturellen Verknüpfungen auszubauen. Das war unser Beschluss am 16. November des letzten Jahres im Plenum. Am 17. Januar diesen Jahres haben wir außerdem beschlossen, in den Bereichen Arbeitsmarkt und Hochschulen enger zusammenzurücken und strukturelle Verknüpfungen auszubauen.

Als über den jetzt vorliegenden Antrag im Verkehrsausschuss und im Europaausschuss diskutiert wurde, konnte man leider den Eindruck gewinnen, dass der eine oder andere die akuten Verkehrsprobleme, aber auch die konkreten Ziele des vorliegenden Antrags nicht so ganz mitbekommen hat. Die sind nicht so ganz angekommen bei den Menschen, die bei uns im Ausschuss diskutiert haben.

Wer in unserem Antrag aber allen Ernstes eine Stellungnahme zur möglichen Einführung einer Pkw-Maut vermisst, dem sei hier noch einmal die Intention unserer Initiative ans Herz gelegt: Meine Damen und Herren, über 45.000 Menschen aus NRW arbeiten in den Niederlanden, in Belgien und in Luxemburg. Deren Mobilität abseits des eigenen Autos nehmen wir in den Blick. Die Wechselbeziehungen von grenzüberschreitender Mobilität und Teilnahme, von Beschäftigung, von Generationengerechtigkeit, von Lernen und grundsätzlicher Chancenhaftigkeit spricht unsere Initiative an.

Bei den Anhörungen des Fachausschusses im Februar wurden die Unebenheiten in der Bezahlbarkeit von Bus- und Bahnverbindungen problematisiert. Der DGB-Bezirk Nordrhein-Westfalen argumentiert in seiner Stellungnahme:

„Wir brauchen eine Harmonisierung der Tarif- und Ticket-Systeme der Verkehrsverbünde auf beiden Seiten der Grenze, damit grenzüberschreitende Mobilität auch bezahlbar und problemlos möglich ist und nicht durch Ticketkäufe für eine Person auf beiden Seiten der Grenze erschwert wird.“

Uns liegen ebenfalls starke Stellungnahmen von der Landesrektorenkonferenz der Fachhochschulen, vom Zweckverband der Region Aachen, der Bundesagentur für Arbeit, der IHK und der Euregio vor. Gefordert werden abgestimmte Taktungen, grenzüberschreitende Ticketsysteme und Echtzeitinformationen für Reisende.

Daher wollen wir endlich die Komplexität der unterschiedlichen Tarif- und Vertriebssysteme vereinfachen, und zwar durch eine Chipkarte, die die grenzüberschreitende Mobilität im öffentlichen Personennahverkehr spürbar erleichtert. Grundlage ist das entsprechende Pilotprojekt in der Region Aachen und Limburg. Eine weitergehende Expansion in dem Dreiländerraum ist geplant, mit Geldern zum Beispiel auch für die Elektrifizierung einer grenzüberschreitenden Buslinie. Perspektivisch können wir die Erkenntnisse einer grenzüberschreitenden Chipkarte auch für die Einführung eines landesweiten E-Tickets nutzen.

Hinzu kommt die ambitionierte Entwicklung unserer Infrastruktur. Unsere Partner von der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens haben im Februar mitgeteilt: Im Schienenverkehr ist Ostbelgien an einer verbesserten Anbindung an NRW über die bestehenden Gleisverbindungen zwischen Hergenrath und Aachen sowie zwischen Eupen und Stolberg interessiert.

Unser Antrag nennt als Beispiele die Bahnverbindungen Rotterdam–Aachen–Köln, die Trasse Eindhoven–Düsseldorf, den zweigleisigen Ausbau von Kaldenkirchen bis Dülken, die Schnellverbindung Maastricht–Aachen bis Heerlen und die Strecke von Venlo nach Mönchengladbach.

Es bleibt dabei: Starke wirtschaftliche Beziehungen und wachsende Güterverkehre erfordern leistungsfähige Hinterlandanbindungen bei Schiene und Binnenwasserstraßen. Auch der Eiserne Rhein, meine Damen und Herren von der Opposition, ist weiterhin in der politischen Diskussion.

Am 14. Juni hat der Landtag die Überlastung der nordrhein-westfälischen Infrastruktur thematisiert und den Antrag „Neustart in der Verkehrspolitik – gemeinsam die Zukunft der Mobilität gestalten“ angenommen mit dem Willen, die Potenziale der Digitalisierung für Mobilität und Verkehr zu erschließen: eine intelligente Infrastruktur, vernetzte Mobilitätsangebote, innovative Verkehrskonzepte auch vor Ort, Ride-, Bike- und Carsharing. Es gibt nun endlich frische Initiativen für eine ganzheitliche Betrachtung von Mobilität, um übergreifend über die isolierten Verkehrsträger hinweg zu besseren Ergebnissen zu kommen, auf Straße und Schiene, zu Wasser und in der Luft.

Dieses neue Bündnis für Mobilität, meine Damen und Herren, auf Basis des Koalitionsvertrages, das ist wesentlicher Teil dieses Antrages mit einer engeren Kooperation im Kreis der Euregio-Akteure, der GROS-Initiative, in der Benelux-Union, mit den IHKs, mit den Instituten und den zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wir haben den Willen, die vielen guten Initiativen weiter zu verknüpfen, zu systematisieren und auf einer verstetigten Datenbasis zu einem Mobilitätskonzept zu kommen.

In diesem Sinne wäre es schön, wenn auch die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Grünen und besonders die von der SPD ihre Ausschussvoten doch noch einmal überdenken. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Börner.

Frank Börner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist grenzüberschreitende Mobilität wichtig für unser Bundesland. Gerade deshalb hätte in diesem Antrag auch etwas zur Pkw-Maut stehen müssen. Herrn Krauß ist es dann doch noch eingefallen. Die Pkw-Maut ist eines der sinnlosesten Projekte des ehemaligen Bundesverkehrsministers Dobrindt. Sie wird zu einem großen Entwicklungshemmnis für grenzüberschreitende Verkehre. Daher sollte sich die schwarz-gelbe Landesregierung für ihre Abschaffung einsetzen. Herr Laschet als Ministerpräsident ist bislang in diesem Punkt nicht aktiv geworden.

Vielleicht noch ein zweites Beispiel: Der Eiserne Rhein – Herrn Krauß ist auch noch eingefallen, das nachzuschieben – bekommt mit dem Antrag eine Beerdigung erster Klasse: seit einem Jahr Stillstand. Im Antrag ist, wie angeführt, nichts zum Eisernen Rhein zu lesen.

Ministerpräsident Laschet hat 2017 auf eine stärkere Rolle NRWs in Berlin und den Benelux-Ländern hingewiesen und den Eisernen Rhein propagiert. Was bleibt, ist ein Sturm im Wasserglas.

Natürlich macht es Sinn, sich neue Ziele zu setzen. Aber schauen Sie sich doch bitte einmal die Situation in NRW und die anfällige Infrastruktur für den Güterverkehr an! Bei Güterverkehr und Wasserstraßen reicht es nicht, den Rhein zu loben. Er lebt vor allem durch die Bedienung durch das westdeutsche Kanalsystem.

Der Zustand der Kanäle ist aber katastrophal. Die Landesregierung muss gegenüber dem Bund und der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auf eine effektive Sanierung unserer Kanäle hinwirken. Ganze Industrien drohen abgehängt zu werden: die Chemie im nördlichen Ruhrgebiet, die Versorgung der Kohlekraftwerke mit Importkohle. Hier verschlief die Landesregierung die Interessenvertretung für NRW – und das seit über einem Jahr.

Ein weiteres Beispiel: Immer mehr Mitarbeiter der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung NRW arbeiten für norddeutsche Kanalprojekte statt für NRW-Projekte. Hier muss die Landesregierung dringend gegensteuern. Sie haben sich im Wahlkampf und auch in den ersten Aufschlägen als neue Regierung Ziele gesetzt, den Logistikstandort NRW zu stärken. Nach mehr als einem Jahr in der Regierung sind aus diesen Zielen keine konkreten Projekte geworden. Was soll denn nun umgesetzt werden?

Mit diesem Antrag kommen neue Ziele hinzu. Wann werden daraus konkrete Pläne? Was sagen Sie den Chemieunternehmen im nördlichen Ruhrgebiet, wenn Binnenschiffe sie nicht mehr erreichen können? Wie sollen Schleusen repariert werden, wenn unsere Ingenieure nach Norddeutschland verliehen werden?

Wie steht es um die Zukunftssicherheit unseres Schienenverkehrs?

Was gibt es Neues von dem Ziel, Staus auf Autobahnen zu reduzieren? In den Staus stehen nicht nur unsere Pendler, sondern auch unsere Güterverkehre täglich. Warum wechseln Güterverkehre nicht von der Straße aufs Wasser oder auf die Schiene? Ist das Angebot weiterhin so unattraktiv? In mehr als einem Jahr mit neuer Landesregierung hat sich hier nichts verbessert, sondern eher durch Untätigkeit verschlechtert.

Wann werden aus Wahlkampfsprüchen, wann werden aus Zielen konkrete Pläne?

Wir lehnen diesen Antrag ab. Er ist eine reine Mogelpackung. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und Glück auf!

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Danke, Herr Kollege Börner. – Ich möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen noch einmal an Sie appellieren – der Lärmpegel ist derzeit im Saal sehr hoch –, dem Redner oder der Rednerin jeweils die entsprechende Aufmerksamkeit zu geben. – Bitte, Kollege Nückel.

Thomas Nückel (FDP): Sehr geehrter Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Vorredner, ich habe Dank zu sagen. Denn das war eigentlich eine sehr charmante Art auszudrücken, dass Sie eigentlich den Antrag von CDU und FDP gut finden, aber sozusagen an das Schicksal der Opposition gebunden sind, ein Haar in der Suppe finden zu müssen. Sie haben leider nicht einmal Babylöckchen gefunden und kommen jetzt mit Themen, die eigentlich nichts mit dem Thema des Antrags zu tun haben. Sie bringen also selber, was Sie dem Antrag vorwerfen: Eigentlich war auch Ihre oppositionelle Darstellung eine Mogelpackung.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Nachdem Sie kein Haar in der Suppe gefunden haben, wollen Sie sie versalzen, indem Sie noch den zähen Esel, der den Namen „Maut“ trägt, in den Antrag aufnehmen wollen. Da die Maut nicht angesprochen worden ist, können Sie den sinnvollen, konkreten Zielen nicht zustimmen. Das ist irgendwie nicht nachvollziehbar. Aber ich glaube, das war bei Ihnen auch zwischen den Zeilen zu erkennen.

Wir können doch nicht einfach alles so lassen, wie es ist, nur, weil von der Bundesregierung eine wie auch immer geartete Maut eingeführt wird. Mit Ihrer Mitgliedschaft in der Großen Koalition machen Sie sich eigentlich auch diese Maut zu eigen. Ich bin froh, dass Sie bei den Themen, die Sie angesprochen haben, obwohl sie nichts mit dem Antrag zu tun haben, nicht noch die Trockenlegung der Grenzflüsse fordern. Nutzen wir also lieber die Brücken und Chancen, die erreichbar sind.

Wir kümmern uns in dem Antrag um die pragmatischen Dinge, die den Bürgern ganz konkret helfen. Wo ist Europa besser manifestierbar und erfahrbar als in der Frage der grenzüberschreitenden Mobilität?

Wir Freien Demokraten sind für die Nutzung der Chancen, und es gibt viele Chancen in der grenzüberschreitenden Mobilität. 6 Millionen Menschen leben an der 500 km langen Grenze zu den Niederlanden und Belgien. 45.000 Bürger aus Nordrhein-Westfalen arbeiten in Belgien und in den Niederlanden. Umgekehrt kommen auch zahlreiche Nachbarn zu uns nach Nordrhein-Westfalen, um hier zu arbeiten.

Die grenzüberschreitende Mobilität ist also schon ein wichtiges Thema und darf nicht mit irgendwelchen Ausflüchten, wie ich es mal nennen will, überdeckt werden.

Das vorhandene Potenzial wird in der Tat noch nicht optimal genutzt. Hier gibt es Handlungsbedarf. Deswegen auch die Initiative. Kollege Krauß hat gerade die Frage der Fahrkarten und Ticketsysteme und auch beispielhaft einige Verbindungen angesprochen.

Aber gerade das Ticketsystem fällt Bahnbenutzern oft unangenehm auf. Angenommen, mein Kollege Vorredner und ich wollten zum Urlaub nach Groningen fahren. Wir können zwar in Deutschland wunderbar eine Fahrkarte bei der Deutschen Bahn kaufen, auf der auch ein schönes Computersignet drauf ist, und problemlos in die Niederlande reinfahren, aber wir kommen leider am Bahnhof von Groningen nicht raus, weil unsere Karten dort nicht lesbar sind. Da muss man sich immer einen Bahnmitarbeiter der Niederländer suchen, der einen mit rausschleust. Das machen die auch immer. Aber da sieht man, wo das nicht kompatible Ticketsystem auch für die Bürger fühlbar wird.

Beim Güterverkehr muss in der Tat einiges passieren. Wir möchten Hindernisse abbauen. Hier gehören insbesondere auch die Hinterlandverbindungen zu den ZARA-Häfen auf den Prüfstand.

Wir möchten mit unserem Antrag nicht mit der Gießkanne vorgehen, sondern anhand einer Bedarfsermittlung und Analyse im Dialog mit den Beteiligten sinnvolle Verbesserungen auf den Weg und die Schiene bringen. Ich glaube, mit der Verabschiedung sind wir auf einem guten Weg. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Kollege Nückel. – Für die Grünen hat Herr Remmel das Wort.

Johannes Remmel (GRÜNE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will es kurz und knapp und auch relativ schlicht machen. Denn die Argumente haben wir schon in mehreren Ausschusssitzungen ausgetauscht und vorgetragen.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Ich hatte bis zum Schluss gehofft, dass Sie auch noch um unsere Stimmen werben und die notwendigen Ergänzungen in dem Antrag vornehmen. Kurz habe ich überlegt, nachdem ich es zweimal sachlich vorgetragen habe, heute hier vorzusingen, um Sie vielleicht doch noch zu überzeugen. Aber ich will es lassen und Ihnen das ersparen.

Nur noch kurz erwähnt: In der Tat, man kann über grenzüberschreitende Mobilität nicht reden, zumindest gegenüber Belgien und den Niederlanden, wenn man das Thema „Maut“ nicht in irgendeiner Weise einflechtet. Zum Zweiten besteht ein gewisses Ungleichgewicht im Antrag zwischen der Kooperation mit den Niederlanden und der Nichterwähnung einer Kooperation mit den belgischen Regionalregierungen. Da hätte ich mir noch eine entsprechende Ergänzung gewünscht.

Zu guter Letzt: Man kann auch über grenzüberschreitende Mobilität nicht reden, ohne die Frage zukünftiger Gestaltung individueller Mobilität zu diskutieren. Ich habe auch schon im Ausschuss darauf hingewiesen, dass insbesondere die Niederlande hier klare Entscheidungen getroffen haben. Wohin wir zumindest in einer gewissen Kooperation noch kommen müssen, ist mehr Förderung der CO2-armen Mobilität einschließlich Ausbau der Ladestationen. Da sind die Niederländer sehr viel weiter, und hier machte es auch Sinn, hier Kooperationen zu verstärken.

Also, es steht nichts Falsches in dem Antrag. Deshalb werden wir uns enthalten. Aber wir hätten uns gewünscht, das eine oder andere an Anregungen aus den Ausschussberatungen mit aufzunehmen. Sie haben sich dagegen entschieden. Schade!

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Remmel. – Für die AfD hat nun der Abgeordnete Tritschler das Wort.

Sven Werner Tritschler (AfD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss dem Kollegen Remmel recht geben. Wir haben das schon recht oft durchgekaut, und deswegen mache auch ich es kurz.

Meine Fraktion begrüßt den regionalen Ansatz für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, dem wir gegenüber dem zentralistischen Ansatz über Brüssel in jedem Fall den Vorrang geben. Wenn wir von Zusammenarbeit an der Grenze sprechen, dann meinen wir zuerst einmal den Schutz der Grenze. Das tut bekanntlich außer uns niemand hier im Haus. Deswegen fehlt dieser Aspekt auch völlig im Antrag.

Nichtsdestotrotz spricht aus unserer Sicht nichts dagegen, wenn Sie sich unter anderem um grenzüberschreitenden ÖPNV kümmern, vielleicht sogar mit einem Ticket. Vielleicht schaffen Sie es, wenn Sie das schon einmal über nationale Grenzen hinaus hinbekommen, dass man auch endlich in NRW mit einem Ticket fahren kann.

(Beifall von der AfD)

Die SPD hat dem Antrag im Ausschuss nicht zugestimmt, weil nichts zur Pkw-Maut drinsteht. Nicht nur mir hat sich die Logik dahinter nicht ganz erschlossen. Die Mehrheit unserer Nachbarländer verlangt Maut, und das scheint keine signifikanten Auswirkungen auf die Grenzregionen zu haben. Denen könnte es vielleicht sogar helfen, wenn die Mauteinnahmen wirklich in Infrastruktur fließen.

Wir jedenfalls sehen außer politischem Geplänkel keinen Grund, nicht diesem Antrag zuzustimmen, und werden das deshalb auch tun.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die Landesregierung erteile ich Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen in Vertretung für Minister Dr. Holthoff-Pförtner das Wort.

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ihnen liegt ein Antrag der Fraktionen von CDU und FDP zu diesem jetzt schon vielfach genannten Thema „grenzüberschreitende Mobilität“ vor.

Der Antrag steht in allen Punkten im Einklang mit den Zielen und dem Handeln der Landesregierung. Das gilt für allem für die bessere Vernetzung mit den großen Überseehäfen Rotterdam und Amsterdam sowie Zeebrugge und Antwerpen. Es liegt im besonderen Interesse Nordrhein-Westfalens, leistungsfähige Verbindungen zu diesen Häfen zu unterhalten und auszubauen. Die Seefrachtverkehre werden deutlich zunehmen, und Nordrhein-Westfalen wird im Zuge dessen als Ziel-, Quell- und Transitland weiter an Bedeutung gewinnen.

Auch der grenzüberschreitende öffentliche Nahverkehr ist uns ein Anliegen. Es wurde eben gesagt, mehr als 45.000 Menschen in NRW arbeiten in den Niederlanden, Belgien oder Luxemburg, und umgekehrt ist ein ähnlicher Austausch da. Die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Beneluxraum ist eng und vertrauensvoll. In den Grenzregionen existieren bereits seit rund zehn Jahren bewährte Dialog- und Kooperationsforen. In diesem Rahmen werden alle im Antrag genannten Mobilitätsfragen bearbeitet werden.

Dies gilt auch für die angesprochenen Bedarfsanalysen und Mobilitätskonzepte. Sie entsprechen den Zielen der Landesregierung, und es wird bereits daran gearbeitet. Insofern darf auch ich Sie ermuntern, diesen Antrag zu unterstützen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen.

Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss für Europa und Internationales empfiehlt in Drucksache 17/3605, den Antrag Drucksache 17/3017 anzunehmen. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Antrag selbst und nicht über die Beschlussempfehlung. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich ums Handzeichen. – Das sind CDU, FDP und AfD. Wer ist dagegen? – Das ist die SPD. Wer enthält sich? – Das sind die Grünen. Damit ist dieser Antrag Drucksache 17/3017 angenommen.

Damit, meine Damen und Herren, sind wir am Ende der Sitzung.

Das Plenum berufe ich wieder ein für Mittwoch, 10.10.2018, um 10 Uhr.

Ich wünsche allen noch einen schönen, angenehmen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 18:21 Uhr