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Landtag

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Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/19

17. Wahlperiode

18.01.2018

 

19. Sitzung

Düsseldorf, Donnerstag, 18. Januar 2018

Mitteilungen des Präsidenten. 5

Nichtförmliche Rüge  
des Abgeordneten Markus Wagner
betreffend TOP 2 der 18. Plenarsitzung
am 17. Januar 2018        5

1   Negative Entwicklung bei den Organspenderzahlen in Nordrhein-Westfalen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/1722. 5

Jochen Klenner (CDU) 5

Susanne Schneider (FDP) 6

Angela Lück (SPD) 8

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 9

Dr. Martin Vincentz (AfD) 10

Förmliche Rüge des  
Abgeordneten Markus Wagner 11

Minister Karl-Josef Laumann. 12

Christian Loose (AfD) 13

2   Sockelfinanzierung einführen: Für eine ehrliche, auskömmliche und qualitätsfördernde Finanzierung der frühkindlichen Bildung in NRW

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/1666. 14

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 14

Jens Kamieth (CDU) 15

Marcel Hafke (FDP) 17

Josefine Paul (GRÜNE) 19

Iris Dworeck-Danielowski (AfD) 20

Minister Dr. Joachim Stamp. 21

Raphael Tigges (CDU) 22

Frank Müller (SPD) 23

Josefine Paul (GRÜNE) 25

Minister Dr. Joachim Stamp. 26

Dr. Dennis Maelzer (SPD) 26

Marcel Hafke (FDP) 27

Ergebnis. 27

3   NRW muss Industrieland Nr. 1 in Deutschland bleiben – Industriepolitische Leitlinien weiterentwickeln: für mehr Wachstum und Beschäftigung

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/1659

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/1753. 28

Henning Rehbaum (CDU) 28

Dietmar Brockes (FDP) 29

Frank Sundermann (SPD) 30

Horst Becker (GRÜNE) 31

Herbert Strotebeck (AfD) 32

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 33

Horst Becker (GRÜNE) 34

Ergebnis. 35

4   Gefährdungen durch Altbergbau

Große Anfrage 1
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/554

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 17/1407. 35

Wibke Brems (GRÜNE) 35

Romina Plonsker (CDU) 37

René Schneider (SPD) 38

Jörn Freynick (FDP) 40

Christian Loose (AfD) 41

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 42

Josef Hovenjürgen (CDU) 43

Thomas Göddertz (SPD) 45

Wibke Brems (GRÜNE) 46

Roger Beckamp (AfD) 46

5   Rechtssicherheit durch pflichtgemäße Altersbestimmung bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern (UMA), die sich nicht zweifelsfrei ausweisen können und nicht eindeutig als minderjährig erkennbar sind

Antrag
der Fraktion der AfD

Drucksache 17/1657
. 47

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 47

Katharina Gebauer (CDU) 48

Ibrahim Yetim (SPD) 50

Stefan Lenzen (FDP) 51

Berivan Aymaz (GRÜNE) 53

Minister Dr. Joachim Stamp. 54

Heike Wermer (CDU) 55

Markus Wagner (AfD) 56

Ergebnis. 57

6   Gute Arbeitszeiten sichern – Schutzrechte der Beschäftigten stärken – Die Digitalisierung der Arbeitswelt gestalten!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/1665. 57

Josef Neumann (SPD) 57

Marco Schmitz (CDU) 58

Stefan Lenzen (FDP) 59

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 60

Dr. Martin Vincentz (AfD) 61

Minister Karl-Josef Laumann. 61

Ergebnis. 63

7   Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen für die Menschen greifbar und erlebbar machen

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/1662. 63

Dr. Stefan Nacke (CDU) 63

Prof. Dr. Rainer Bovermann (SPD) 64

Lorenz Deutsch (FDP) 65

Josefine Paul (GRÜNE) 66

Helmut Seifen (AfD) 67

Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. 68

Ergebnis. 69

8   Landesregierung darf Bürgen von syrischen Geflüchteten finanziell nicht im Regen stehen lassen – zügig einen Hilfsfonds auflegen!

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/1668. 69

Berivan Aymaz (GRÜNE) 69

Marc Blondin (CDU) 70

Ibrahim Yetim (SPD) 71

Stefan Lenzen (FDP) 71

Gabriele Walger-Demolsky (AfD) 72

Minister Dr. Joachim Stamp. 73

Ergebnis. 74

9   Zehnjähriges Jubiläum der Kooperation zwischen Nordrhein-Westfalen und der Benelux-Union – grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern vertiefen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/1660. 74

Dr. Marcus Optendrenk (CDU) 74

Thomas Nückel (FDP) 75

Rüdiger Weiß (SPD) 76

Johannes Remmel (GRÜNE) 77

Roger Beckamp (AfD) 77

Minister Dr. Stephan Holthoff-Pförtner 78

Ergebnis. 79

10 Ergebnisse des Diesel-Gipfels greifen zu kurz – wirksame Sofortmaßnahmen zur Luftreinhaltung umsetzen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/1669. 79

Ergebnis. 79


Entschuldigt waren:

Minister Lutz Lienenkämper      
(ab 17 Uhr)

Ministerin Christina Schulze Föcking

Karl Schultheis (SPD)

Barbara Steffens (GRÜNE)

Dr. Christian Blex (AfD)

Frank Neppe (fraktionslos)

 

 

Beginn: 10:04 Uhr

Präsident André Kuper: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie zu unserer heutigen, 19. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen herzlich willkommen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen oben auf der Zuschauertribüne, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien und den Zuschauern im Stream oder bei den TVs.

Für die heutige Sitzung haben sich sechs Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Im Nachgang zu Tagesordnungspunkt 2 der gestrigen Sitzung möchte ich noch eine nichtförmliche Rüge aussprechen, die Herrn Abgeordneten Markus Wagner von der AfD-Fraktion betrifft. Herr Wagner hat sich während seiner Rede zu Tagesordnungspunkt 2 „Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Fraktionsgesetzes“ unparlamentarisch verhalten, indem er einen Begriff aus der Fäkalsprache verwendet hat.

(Zuruf: Ui!)

Das ist der Würde des Parlaments nicht angemessen, und ich werde die Äußerung auch nicht wiederholen. – Herr Kollege, ich ermahne Sie und bitte Sie, derartige Äußerungen zukünftig zu unterlassen. Andernfalls müssen Sie mit einer förmlichen Rüge rechnen.

Meine Damen und Herren, wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1   Negative Entwicklung bei den Organspenderzahlen in Nordrhein-Westfalen

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/1722

Die Fraktionen von CDU und FDP haben mit Schreiben vom 15. Januar 2018 gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktion der CDU dem Kollegen Klenner das Wort. Bitte schön.

Jochen Klenner (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Menschen in Deutschland werden heute sterben; sie haben vergeblich auf ein lebensrettendes Organ gewartet. Das passiert jeden Tag: heute, gestern, morgen, übermorgen, wenn wir nicht handeln. 10.000 Patienten warten aktuell auf eine Organspende – oft jahrelang. Und die Zahl der Spender ist auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten gesunken: 797 – minus 60 – und in Nordrhein-Westfalen 146 – minus 16 Organspender im Vergleich zu Vorjahr.

Deshalb bin ich für diese Aktuelle Stunde dankbar. Denn sie will ein fraktionsübergreifendes Zeichen setzen.

(Beifall von der CDU, der FDP und Monika Düker [GRÜNE])

Auch die Deutsche Stiftung Organtransplantation – DSO – hat heute im Landtag einen Informationsstand aufgebaut. Sie werden es gesehen haben.

Ja, es ist in den vergangenen Jahren zu ruhig um das Thema „Organspende“ geworden. Dazu finden Sie auch im Landtagsarchiv nicht viel Konkretes. Deshalb müssen wir uns alle wieder stärker kümmern. Es gibt nicht die eine Patentlösung, die auf Knopfdruck die Zahl der Organspenden steigert, sondern verschiedene Stellschrauben:

Erstens. Die Zahl der möglichen Organspender: Die DSO hat viele Studien ausgewertet. Drei Viertel der Deutschen können sich sogar eine Organspende vorstellen. Aber deutlich weniger haben das auch mit einem Spenderausweis dokumentiert. Gründe: zu wenig Wissen, Unsicherheit, zu wenig Zeit – auch mangelndes Vertrauen?

Wie können wir dem entgegenwirken? – Druck? Da sind wir sehr skeptisch. Sie kennen die Vorschläge zum sogenannten Widerspruchsverfahren. Wer nicht spenden will, muss vorher Nein sagen.

Aber gegen Angst und Unwissenheit hilft kein Zwang. Zu einer bewussten Entscheidung dürfen wir nicht drängen. Es gibt in dieser Frage keine einfache, aber auch keine richtige oder falsche Antwort. Niemand muss ein schlechtes Gewissen haben, wenn ihm persönlich die Entscheidung schwerfällt. Eine Spende ist immer freiwillig. Und es heißt doch „Organspende“ und nicht „Organumlage“ oder „Organsoli“.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und den GRÜNEN)

Wir sollten deshalb ein Umfeld schaffen, in dem über Organspende gesprochen, nachgedacht und dann aus freien Stücken entschieden wird.

Das ist nicht einfach, denn Verdrängen ist menschlich, und über den Tod spricht niemand von uns gern. Das gilt selbst in der eigenen Familie: In neun von zehn Fällen müssen die Angehörigen über eine Organentnahme entscheiden, weil es vorher keine eindeutige Festlegung gab.

Deshalb können in der Schule, beim Erste-Hilfe-Kurs vor der Führerscheinprüfung, in den Gesprächen zur Patientenverfügung, vielleicht auch in der Geburtsklinik weitere Situationen sein, um über Organspende zu sprechen – immer dann, wenn es um Verantwortung für die Mitmenschen geht.

Die Aufklärung muss besser werden. Manche Menschen haben immer noch Angst, dass bei potenziellen Organspendern der Kampf ums Überleben schneller aufgegeben wird, obwohl es strengste Auflagen in der Hirndiagnostik gibt. Aber Vertrauen kann in Sekunden zerstört werden, und es dauert Jahre, es mühsam wieder aufzubauen.

Deshalb ist es gut, dass die Regeln für die Patientenregister nach dem Betrug bei Wartelisten 2012 verbessert worden sind. Wir brauchen positive Informationskampagnen – regelmäßig und nicht nur ein- oder zweimal im Jahr. Dabei können auch prominente Vorbilder helfen.

Aber das alles ist zu wenig; denn nicht allein mangelnde Spendenbereitschaft ist schuld, sondern auch die Krankenhäuser stehen in der Verantwortung. Sie spielen eine zentrale Rolle. Rund 1.200 Kliniken in Deutschland gehören zum System der Organspende. Mit dem damaligen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann haben wir 2007 in NRW für diese Häuser einen Beauftragten für Transplantation verankert. Das war ein wichtiger und richtiger Schritt.

Nun geht es aber darum, diese Rolle der Beauftragten weiter zu stärken, denn eine DSO-Studie zeigt auch: In weniger als 15 % der Hirntodfälle werden die Beauftragten wirklich eingebunden, und potenzielle Spender, für die wir vorher so gekämpft haben, werden dann nicht erkannt. Im Klinikalltag steht die Organspende nicht an vorderster Stelle.

Deshalb sollten wir uns zum Beispiel auch die Zahlen aus Bayern anschauen. Dort wurde im Jahr 2007 eine bessere Freistellung der Beauftragten veranlasst. Gegen den Bundestrend gab es dort einen Anstieg der Spenden um 18 %.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Entlastung, Freistellung, ja auch Wertschätzung und Anerkennung von der Klinikleitung schaffen Raum und Unterstützung für die zeitintensiven und auch schwierigen Gespräche mit Angehörigen und Kollegen.

Dazu gehört auch eine deutlichere Beschreibung der Aufgaben der Transplantationsbeauftragten. Wir werden uns sehr genau anschauen, wo die Arbeit der Beauftragten gut funktioniert, denn das gibt es. Wir werden aber auch sehr kritisch nachhaken, wenn diese Aufgaben vor Ort nicht ernst genommen werden, und dann auch sehr entschlossen handeln.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Denn die Krankenhäuser haben den gesetzlichen Auftrag, Organspenden umzusetzen. Auch hier gilt der Wille des Patienten, der sich bewusst für eine Spende entschieden hat. Bei dem hohen Anspruch in Deutschland an unser Gesundheitssystem können wir es uns einfach auf Dauer nicht leisten, dass 10.000 Menschen die Hilfe nicht bekommen, die medizinisch möglich wäre.

Meine Damen und Herren, Organspender sind Lebensretter. Ja, drei Menschen in Deutschland werden heute sterben, weil sie vergeblich auf die lebensrettende Organspende gewartet haben. Aber mindestens drei Menschen in Deutschland werden heute auch ein neues Leben geschenkt bekommen, denn sie haben rechtzeitig ihre lebensrettende Organspende erhalten. Diese Zahlen wollen wir steigern. Für diese Hoffnung, für jeden Einzelnen, lassen Sie uns gemeinsam kämpfen.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Klenner. – Für die FDP hat die Kollegin Schneider das Wort.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Haben Sie schon einmal überlegt, Ihr Herz zu verschenken mit allem, was dazugehört? Das geht ganz einfach: Besorgen Sie sich bei Ihrem Hausarzt, bei Ihrer Krankenkasse oder bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation – DSO – einen Ausweis, füllen Sie ihn aus, und tragen Sie ihn immer bei sich, denn jeder Organspender kann mit seinen Organen vielfach helfen.

Zwei Nieren, Herz, Lunge, Leber und die Bauchspeicheldrüse können übertragen werden und so unterschiedliche Krankheiten heilen wie die chronische Niereninsuffizienz, angeborene Fehlbildungen des Herzens, Schädigungen des Herzmuskels, die COPD, die Lungenfibrose, Leberzirrhose und vieles mehr. Ein Organspender, von dem alle Organe transplantiert werden, schenkt durchschnittlich 56 neue Lebensjahre.

Doch die Zahlen der Unterversorgung mit Organen sind ernüchternd: 10.000 Patienten warten. Viele warten vergebens.

Dabei ist NRW Schlusslicht bei der Organspende; wir haben es gerade gehört. Die Zahl der Spender ist rückläufig. Wir profitieren vor allem von anderen Ländern im Verbund von Eurotransplant. Während bei uns in Nordrhein-Westfalen auf eine Million Menschen nur rund acht Organspender kommen, sind es zum Beispiel im Nachbarland Belgien immerhin 28, außerhalb von Eurotransplant in Spanien sogar rund 43.

Wir müssen also nach den Gründen für den Rückgang bei der Organspende fragen. Neben der Angst vor Missbrauch kann Unsicherheit die Bereitschaft zur Organspende verhindern. Viele Menschen fragen sich: Bin ich denn wirklich tot, wenn die Organe entnommen werden? Wiederholt wird zudem die Definition des Hirntodes angezweifelt, wie zum Beispiel aktuell in dem Buch eines Düsseldorfer Werbers.

Ich möchte Ihnen deshalb hier und heute ganz eindeutig sagen: Eine Organspende setzt den irreversiblen Ausfall der gesamten Hirnfunktion voraus. Sowohl das Großhirn und das Kleinhirn wie auch der Hirnstamm sind unwiederbringlich und unumkehrbar zu Aktivitäten und Reaktionen unfähig. Das Gehirn als unser übergeordnetes Steuerungsorgan ist erloschen und eine Rückkehr ins Leben damit ausgeschlossen. Dies stellt nicht nur ein Arzt fest; das müssen mehrere Ärzte feststellen, die unabhängig voneinander arbeiten.

Zwar kann das Herz-Kreislauf-System einer hirntoten Person durch intensivmedizinische Maßnahmen für eine begrenzte Zeit künstlich aufrechterhalten werden, aber zum Beispiel eine Wiederaufnahme der Atmung ist nicht möglich. Ein hirntoter Mensch kann nicht auf seine Umwelt reagieren. Er kann auch keine Schmerzen empfinden.

Zweifel an der Hirntoddefinition sind deshalb unter Berücksichtigung dieser Tatsachen kaum nachvollziehbar. So war auch 2015 der Deutsche Ethikrat einstimmig der Auffassung, dass der Hirntod als Voraussetzung für eine postmortale Organspende zulässig ist.

Manche Menschen denken aber, dass sie als Organspender nicht infrage kommen, weil sie zum Beispiel zu alt oder krank seien. Entscheidend für die Organspende ist aber nicht, wie alt eine Person ist, sondern der allgemeine Gesundheitszustand und der Zustand der Organe. Eine Organentnahme ist nur bei bestimmten Infektionen oder bei Krebserkrankungen ausgeschlossen. So kann auch die funktionstüchtige Niere eines mit über 70 Jahren verstorbenen Menschen einem anderen Menschen ein wieder fast normales Leben schenken.

Oft kann eine Organentnahme aber auch nicht erfolgen, weil die Zustimmung nicht rechtzeitig geklärt werden kann. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wären zwar rund 80 % der Deutschen grundsätzlich zu einer Organ- und Gewebeentnahme nach dem Tod bereit. Allerdings besitzen nur etwa 32 % einen Organspendeausweis.

Die Entscheidung über eine Organspende liegt deshalb in der Regel bei den Angehörigen, wenn nicht der Verstorbene seine Bereitschaft vorab dokumentiert hat. Dies ist für viele Angehörige ausgesprochen belastend. Denn diese haben in dieser Situation, glauben Sie mir, ganz andere Sorgen.

Wir wollen deshalb, dass mehr Menschen selbst eine Entscheidung für die Organspende treffen und einen Spenderausweis bei sich tragen. Dazu brauchen wir eine umfangreiche Aufklärung über den Ablauf der Organspende und die möglicherweise bestehenden Bedenken. Hier sind alle Akteure gefordert: die Ärzteschaft, die Deutsche Stiftung Organtransplantation, Krankenhäuser, Krankenkassen, Medien und auch die Politik.

Aber was kann die Politik nun dazu beitragen, dass die Zahl der Organspenden wieder ansteigt? Das Land hat in seinem Krankenhausgestaltungsgesetz – wir haben es gehört – einen Transplantationsbeauftragten verpflichtend vorgeschrieben. Es gilt aber auch die strukturellen Abläufe so zu verbessern, dass mehr potenzielle Spender bereits vor einem Abbruch der intensivmedizinischen Maßnahmen erkannt werden.

(Minister Karl-Josef Laumann: So ist es!)

Ich freue mich, dass Minister Laumann hier die Initiative ergreift und die ärztlichen Leitungen aller Kliniken mit Neurochirurgie in Nordrhein-Westfalen kurzfristig zu einem Gesprächstermin eingeladen hat.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wir sollten überlegen, ob wir wie in Bayern konkrete Regelungen zur Freistellung, Vergütung und Ausstattung der Transplantationsbeauftragten einführen.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat 2012 unter dem damaligen liberalen Gesundheitsminister die Verpflichtung eingeführt, dass alle Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren regelmäßig von ihren Krankenkassen per Post angeschrieben und über die Organspende informiert und zum Ausfüllen eines Organspendeausweises aufgefordert werden. Dies lässt natürlich die Möglichkeit offen, auf dem Ausweis der Organspende zu widersprechen.

Dieses Verfahren sollten wir weiterentwickeln. So gibt es bereits den Prototyp einer Onlineanwendung zum Organspendeausweis. Wir brauchen aber dazu die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen, um die entsprechenden Daten sicher auf einem zentralen Server speichern zu können. Eine solche App zur Organspende könnte viele Menschen dazu bewegen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Auch eine neue Bundesregierung muss sich mit der Frage der Organspende beschäftigen. Für mich ist es enttäuschend, dass in dem Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD kein Wort zur Organspende zu finden ist.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wir haben hier ein wichtiges Thema. Ich möchte Sie alle hier im Raum, in diesem Hohen Hause ermuntern: Überlegen Sie noch einmal, wie schön es wäre, Ihr Herz zu verschenken. Besorgen Sie sich einen Organspendeausweis! – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Schneider. – Die Abgeordnete Lück von der SPD hat nun das Wort. Bitte schön.

Angela Lück (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema unserer Aktuellen Stunde ist zweifelsohne von höchster Dringlichkeit. Für viele Erkrankte ist ein Spenderorgan die einzige Chance auf Genesung. Trotzdem sind die Wartelisten lang und die Spenderorgane rar.

Ich habe viele Jahre lang im Herz- und Diabeteszentrum in Bad Oeynhausen gearbeitet. Dort werden jährlich die meisten Herzen bei uns in Deutschland transplantiert. Im letzten Jahr waren es aber nur noch 71 Herztransplantationen, die durchgeführt worden sind. Das war die geringste Zahl seit 2011.

Durchschnittlich muss ein Patient in Bad Oeynhausen rein rechnerisch 100 Tage auf ein Spenderherz warten. Diese Rechnung ist natürlich pure Statistik und geht nicht immer auf. Es kann durchaus auch Jahre dauern, bis ein passendes Herz gefunden ist.

Für die Betroffenen bedeutet das einen ungeheure Belastung, und nicht nur für sie. Auch ihre Familien machen eine enorme Leidenszeit mit. Neben der emotionalen Anspannung und der Zerreißprobe für die ganze Familie, wenn Vater, Mutter oder das Kind auf ständige stationäre medizinische Unterstützung angewiesen sind und ihr Leben an einem seidenen Faden hängt, spielen natürlich auch andere Faktoren eine große Rolle.

Die Kosten für die medizinischen Maßnahmen sind immens. Wenn im schlimmsten Fall ein Verdiener ausfällt, kann die ganze Familie finanziell ins Schlingern geraten. Auch deshalb ist es ungeheuer wichtig, bessere Transplantationsmöglichkeiten zu schaffen. Natürlich trifft dieser Sachverhalt nicht nur für Herzpatientinnen und -patienten zu, sondern auf sämtliche transplantierbaren Organe.

In Deutschland werden wir zu Beginn jedes Jahres aufs Neue mit der dramatischen Situation und den ernüchternden Spenderzahlen konfrontiert. In diesem Jahr ist es besonders gravierend. Wir haben den niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Es wird deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht.

Ein Blick nach Österreich zeigt uns, dass es dort viel besser um die Spenderzahlen bestellt ist. Das Land mit halb so vielen Einwohnern wie Nordrhein-Westfalen hatte in 2016 208 Organspender. In NRW waren es im selben Jahr nur 162 Organspender. Für diesen Unterschied gibt es sicherlich mehrere Gründe, aber einen ganz gravierenden: In Österreich ist jeder Mensch Organspender, gegebenenfalls auch Sie, wenn Sie dort im Urlaub sind, es sei denn, Sie haben vorher explizit erklärt, dass Sie kein Spender sein möchten. – Bei unseren Nachbarn in Österreich gibt es die sogenannte Widerspruchslösung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nachdem es in 2012 den Verdacht auf Manipulationen in Transplantationszentren gab, war das Image der Organspende in Deutschland stark angekratzt. Wir haben uns damals im Gesundheitsausschuss ausführlich mit dem Thema befasst und bei einer auswärtigen Sitzung im Herz- und Diabeteszentrum bereits Anfang 2013 fraktionsübergreifend die Bad Oeynhausener Erklärung verabschiedet. Darin erklärten wir, dass wir im Rahmen unserer politischen Möglichkeiten die Unregelmäßigkeiten aufdecken und die Organspenden unterstützen wollten.

Die Unregelmäßigkeiten sind mittlerweile weitgehend geklärt. Was bleibt, ist die Notwendigkeit der Verbesserung des Systems. Dabei fallen mir drei mögliche Ansätze ein:

-    erstens die Änderung der rechtlichen Grundlage hin zu einer Widerspruchslösung,

-    zweitens die Änderung der öffentlichen Wahrnehmung durch noch mehr Öffentlichkeitsarbeit und positive Darstellung in den Medien,

-    drittens die Verbesserung des Entnahmesystems.

Lassen Sie mich zunächst mit dem letzten Punkt fortfahren. Wir haben in Deutschland ca. 1.300 Entnahmekrankenhäuser im Sinne des Transplantationsgesetzes. Die Koordination und Beratung der Organspende übernimmt die Deutsche Stiftung Organtransplantation. Die Entnahmekrankenhäuser sind per Gesetz zur Zusammenarbeit mit der DSO verpflichtet, um die vorhandenen Möglichkeiten zur Organspende wahrzunehmen.

Im Transplantationsgesetz ist festgelegt, dass Krankenhäuser mit Intensivstationen verpflichtet sind, Transplantationsbeauftragte zu benennen. Die Transplantationsbeauftragten tragen dafür Sorge, dass die Krankenhäuser ihrer Pflicht zur Meldung möglicher Organspendung an die Deutsche Stiftung Organtransplantation nachkommen.

Allerdings gibt es in manchen Entnahmekrankenhäusern Deutschlands recht selten den tatsächlichen Fall einer Organentnahme. Weil eine Organspende ein so seltenes Ereignis im Krankenhaus ist, erfordert es bei allen Beteiligten spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten. Sollte ein möglicher Spender übersehen und nicht an die DSO gemeldet werden, gibt es darauf auch keine Reaktionen.

Es ist aber wichtig, Ansprechpartner in der Klinik zu haben, die sich nicht nur fachlich mit der Organspende auskennen, sondern auch die richtigen Worte finden, beispielsweise um mit den Angehörigen zu reden. Es ist großes Fingerspitzengefühl notwendig, um die Angehörigen in dieser Situation auf eine Organspende anzusprechen und gleichzeitig deren Ausnahmesituation zu berücksichtigen.

Das zeigt uns auch, wie notwendig es ist, Personal entsprechend auszubilden, Krankenhäuser entsprechend auszustatten und dafür zu sorgen, dass Organspende enttabuisiert werden kann.

Zur Enttabuisierung muss auch – jetzt komme ich zu meinem zweiten Punkt – eine noch gezieltere Öffentlichkeitsarbeit beitragen. Diese muss sowohl in der Bevölkerung zusätzlich für Organspende werben als auch in den Fachkreisen eine höhere Aufmerksamkeit auf das Thema lenken.

Ich komme nun zum Schluss und damit zu meinem dritten Punkt. Die sicherste Methode, um die Organspendezahlen in Deutschland zu erhöhen, wäre eine grundlegende Änderung der rechtlichen Lage. In Ländern wie Österreich oder Spanien gibt es bereits ein Transplantationsrecht, das die Organspende als Selbstverständlichkeit und die Ablehnung als Sonderfall ansieht. Hier muss also ein expliziter Widerspruch gegen die Spende erfolgen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sitzen doch alle im selben Boot. Jeder von uns kann durch eine verschleppte Grippe seinen Herzmuskel so geschädigt haben, dass er schneller auf die Warteliste für ein Spenderherz kommt als man glauben mag. Deshalb ist es nicht ausreichend, hier heute eine Aktuelle Stunde durchzuführen.

Die Frage, die sich heute stellt, ist: Was macht diese Landesregierung, damit wir in Nordrhein-Westfalen mehr Organspender bekommen, um die Situation zu verbessern?

Herr Minister, ich freue mich auf Ihren Redebeitrag. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Lück. – Für die Grünen darf ich nun dem Abgeordneten Mostofizadeh das Wort erteilen.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Organspenden können Leben retten. So lautet auch die Überschrift des Bundesverbandes. Dem können wir uns nur anschließen. Ich kann nur alle Menschen dazu aufrufen, sich sehr intensiv mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

Ich stimme dem Kollegen Klenner, der hier im Parlament die erste Rede zu dieser Aktuellen Stunde gehalten hat, ausdrücklich in allen Punkten zu. Ich fand auch Ihre Rede sehr sachangemessen.

Wir von der Grünen-Fraktion können nur sagen: Wir stehen eindeutig hinter den Initiativen und Maßnahmen, die Herr Laumann im Hinblick auf die Krankenhausgesellschaft angesprochen hat. Das sollte uns in diesem Hause an keiner Stelle trennen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Ich halte dieses Thema – das will ich in aller Deutlichkeit sagen – für nicht geeignet, um parteipolitischen Streit auszutragen oder über Leistungsbilanzen und anderes zu debattieren. Wir Abgeordnete im Landtag von Nordrhein-Westfalen sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass Organspenden Leben retten können, und um Vertrauen werben.

Es war meine Heimatstadt Essen, in der es einen Skandal gegeben hat, was die Vergabe von Organen betrifft. Wir müssen also immer wieder deutlich machen, dass das nicht in Ordnung ist, dass das kriminell ist, aber dass die allermeisten Krankenhäuser mit hohem Einsatz dafür sorgen wollen, Leben zu retten. Leben kann auch gerettet werden – Kollege Klenner hat es richtig beschrieben –, wenn jemand stirbt, was tragisch genug ist, und es dann noch möglich ist, Organe zu entnehmen und zu spenden.

Trotzdem ist es eine ureigene persönliche Entscheidung, ob man seine Organe spenden will oder nicht. Insofern lehnen wir jede Verknüpfung – und deshalb war es auch richtig, zu sagen, dass es keine Umlage geben kann –, die Menschen persönlich unter Druck setzt, ab.

(Beifall von den GRÜNEN)

Allerdings – das will ich an dieser Stelle auch sehr deutlich sagen – bin ich der Meinung, dass sich jeder Mensch mit dem Thema auseinandersetzen sollte. Die frühere Gesundheitsministerin Steffens hat 2012 vorgeschlagen, dass die Menschen auf die Möglichkeit der Organspende hingewiesen werden sollten, wenn beispielsweise neue Ausweise ausgegeben werden. Die Krankenkassen weisen alle zwei Jahre auf die Möglichkeit der Organspende bzw. auch auf eine differenzierte Möglichkeit der Organspende hin. Dann kann man den kleinen Organspenderausweis ausfüllen und gegebenenfalls mit einem Widerspruch versehen. Das ist das ureigene Recht jedes Menschen, aber man hat auch die Aufgabe, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es ist kein einfaches Thema. Auch wenn man ein Testament verfasst und über Dinge verfügt, mag das nicht einfach sein. Aber es ist etwas anderes, ob man sein Haus vererbt oder ob man darüber nachdenkt, im Todesfall einzelne Organe zu spenden.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch sagen – Herr Gesundheitsminister Laumann, ich hatte Sie schon gelobt; das möchte ich noch einmal aufnehmen –: Ich bin schon etwas erstaunt, dass wir dieses Thema im Rahmen einer Aktuellen Stunde diskutieren.

(Bodo Löttgen [CDU]: Wie sollen wir es denn anders machen?)

– Ja, das kann ich Ihnen sagen, Herr Kollege Löttgen.

(Bodo Löttgen [CDU]: Ja, dann machen Sie mal!)

Der Minister hat – ich meine, es stand im Dezember im „Ärzteblatt“ – auf der Tagung gesprochen. Er hat schon einen Monat vorher darauf hingewiesen, dass die Spenderzahl deutlich zurückgehen wird. Also, es ist kein überraschender, neuer Fakt, der in dieser Woche aufgeschlagen ist, dass die Zahlen sinken. Damit müssen wir uns fachlich auseinandersetzen. Das wird die Grünen-Fraktion zum Anlass nehmen, Herr Löttgen, um einen Bericht für die nächste Sitzung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales zu erbitten; das Schreiben wird der Vorsitzenden heute noch zugehen. Dann werden wir uns mit den einzelnen Fragen fachlich beschäftigen.

Denn es ist natürlich interessant, zu wissen, warum in Bayern die Tatsache, dass die Transplantationsbeauftragten offensichtlich mehr Zeit und mehr Möglichkeiten haben, in den Krankenhäusern zu agieren, auch zu mehr Spenden führt.

Eines ist nämlich erfreulich: Die aktive Anzahl der Spenden geht zwar zurück, aber die Anzahl der Spendewilligen ist gestiegen. Also, die Bereitschaft der Bevölkerung ist gegeben, und es ist unsere Pflicht und unsere Aufgabe, dann auch dafür zu sorgen, dass dem Wunsch der Spendewilligen entsprochen wird und im Ernstfall eine Spende erfolgen kann. Das sollte uns unser Einsatz wert sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen möchte; ich habe lange überlegt, ob ich darauf hinweisen soll. Gleich redet eine Fraktion, von der ich einen Tweet auf Twitter gelesen habe, der mir fast im Halse stecken geblieben ist.

(Andreas Keith [AfD]: Weshalb?)

Eine Mitarbeiterin der Bundestagsfraktion der AfD twittert, dass sie offensichtlich nicht bereit sei, eine Organspende abzugeben, weil diese irgendeinem „Nafri“ zufallen könnte. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist menschenverachtend und sollte nicht Stil dieses Hauses sein.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP – Andreas Keith [AfD]: Das ist doch dummes Geschwätz! – Zurufe von der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Ich darf als Nächstes Herrn Dr. Vincentz für die AfD das Wort erteilen.

(Erneut Zurufe von der CDU, der SPD und den GRÜNEN – Gegenrufe der AfD – Markus Wagner [AfD]: Zuhören! – Fortgesetzt Zurufe von der CDU, der SPD und den GRÜNEN – Markus Wagner [AfD]: Hier haben elf Leute Spenderausweise! Wie ist das bei Ihnen? – Anhaltende Unruhe – Glocke)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie um Aufmerksamkeit bitten, damit Herr Dr. Vincentz reden kann. – Bitte, Herr Dr. Vincentz, reden Sie.

(Zurufe von der CDU, der SPD und den GRÜNEN – Markus Wagner [AfD]: So Leute gibt es doch in jeder Partei! – Anhaltende Unruhe – Glocke)

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

(Zurufe von der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Vielleicht darf ich doch um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Ich glaube, auch das gehört zum guten Ton dieses Hauses …

(Erneut Zurufe von der CDU, der SPD und den GRÜNEN – Markus Wagner [AfD]: Kümmern Sie sich mal um die Geschichte Ihrer eigenen Partei! – Anhaltende Unruhe – Glocke)

Präsident André Kuper: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie alle bitten,

(Markus Wagner [AfD]: Kinderschänder haben Sie großgezogen! – Zurufe von der SPD und den GRÜNEN – Norwich Rüße [GRÜNE]: Herr Präsident, dazu muss man doch was sagen! – Berivan Aymaz [GRÜNE]: Hier wird eine Partei diffamiert! Das geht gar nicht! – Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Da vorne ist das Rednerpult! Da werden die Reden gehalten!)

Ihre Aufregung und Ihren Puls etwas herunterzufahren. Ich bitte Sie, dem Kollegen hier vorne das Wort zu gönnen.

(Erneut Zurufe von der SPD und den GRÜNEN: Das ist unglaublich! Es kann doch nicht sein, dass man solche Zwischenrufe hier macht! Das ist doch unverschämt! – Zuruf von der AfD: Das macht ihr doch die ganze Zeit! – Anhaltende Unruhe)

Werte Kolleginnen und Kollegen, bevor das in irgendeiner Form eskaliert, darf ich bitte alle zur Ruhe mäßigen. Lassen wir jetzt bitte an dieser Stelle den Kollegen Vincentz reden. Er hat Gelegenheit, das klarzustellen.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Vielen Dank. – Ich fange noch einmal an: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! 1954 wurde zum ersten Mal eine Organtransplantation vorgenommen. Damals war es eine Lebendspende zwischen Zwillingsbrüdern. Der Chefoperateur erhielt dafür 1990 zu Recht den Medizinnobelpreis. Der Medizin wurde plötzlich die Möglichkeit eröffnet, Menschen zu retten, die vorher mit großer Sicherheit verstorben wären.

Seit der ersten Transplantation haben sich die Medizin sowie die Rahmenbedingungen deutlich entwickelt. Mittlerweile werden Organe von Spendern entnommen und über ein europäisches System vergeben. Für die immer schon zu wenigen Organe können so optimal passende Patienten auf der Warteliste gefunden werden. Das ist effizient, raffiniert und hochsolidarisch, anders als im Falle des Euro. Hier wird tatsächlich ein Organ auf europäischer Basis an denjenigen vergeben, der es am nötigsten hat.

Allerdings ist dieses System auch anfällig, wie die Skandale des Jahres 2012 zeigten. Seitdem sinken die Organspenden drastisch. Auf eine Million Einwohner in Deutschland gab es zuletzt weniger als zehn Spender. NRW war, wie so häufig, wieder das traurige Schlusslicht.

Daher ist es unbedingt nötig, dass wir über das für uns alle wichtige Thema „Organspenden“ sprechen, auch wenn das Mittel der Aktuellen Stunde bei der seit Jahren bestehenden Notlage nur den Kopf schütteln lässt. Hier hätte ich mir einen gemeinsamen Antrag aller Parteien gewünscht, um eben nicht nur parteipolitische Aufmerksamkeit für das Thema zu generieren,

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

sondern tatsächlich gemeinsam praktikable Lösungen für das Problem der mangelnden Spenderzahlen zu finden.

(Beifall von der AfD)

Eingangs seiner Rede hat Herr Kollege Mostofizadeh einige wichtige Worte gesagt. Dies ist eben kein Thema für Feierreden, es ist kein Thema, das man parteipolitisch nutzen sollte, Herr Kollege. Es ist vielmehr ein Thema, das uns alle angeht. Hier geht es nicht um einige wenige Straßenkilometer, die einem – ich durfte es heute Morgen wieder feststellen – durchaus den Nerv rauben können, sondern es geht darum, dass in manchen Jahren tatsächlich alle acht Stunden ein Patient gestorben ist, weil er kein Organ bekommen hat. Es ist kein Thema, über das wir hier streiten sollten. Es ist kein Thema für Anfeindungen, wie wir es gerade wieder erlebt haben, sondern es ist ein Thema, zu dem wir uns zusammensetzen sollten.

(Beifall von der AfD – Zuruf von der CDU)

Gerade wir haben von Anfang an gezeigt – und man merkte, dass Sie uns erst einmal kritisch beäugt haben –, dass wir guten Anträgen und guten Vorschlägen immer offen gegenüberstehen und dem zustimmen, auch wenn sie von den Grünen stammen. Wenn ein Antrag gut gemacht ist, stimmen wir dem zu.

Ich mag nach wie vor immer wieder feststellen, dass man von vielen Leuten der linken Saalhälfte auf den Gängen nicht gegrüßt wird. Von mir aus, geschenkt! Für die Erziehung sind Ihre Mütter zuständig, nicht wir.

(Svenja Schulze und Eva-Maria Voigt-Küppers [SPD]: Die Väter auch! – Zuruf von der SPD: Was hat das jetzt mit dem Thema zu tun?)

Ich mag feststellen, dass Herr Höne hier Behauptungen aufstellt von wegen …

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Väter haben auch eine gewisse Verantwortung!)

Ich mag feststellen, dass hier Behauptungen aufgestellt werden, dass Herr Höcke zum Beispiel in unseren Bundesvorstand gewählt würde. Das ist schlichtweg falsch. Von mir aus! Aber vielleicht hätte ich damit rechnen können, dass die FDP für eine Gehaltserhöhung viele Dinge anstellen mag.

(Beifall von der AfD – Zuruf von Dr. Günther Bergmann [CDU])

Eine Sache sollte uns dann aber einen. Wenn es am heutigen Morgen um ein solch wichtiges Thema wie die Organspende geht, dann sollten wir uns vielleicht einmal über die Parteigrenzen hinweg zusammensetzen und darüber sprechen, ob wir nicht noch einiges verbessern können. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Vincentz. – Ich muss sagen, dass ich persönlich die eben erfolgte Eskalation der Worte, insbesondere bei dem wichtigen Thema der Organspende, bedauere.

Ich habe von hier aus nicht mitbekommen können, was der Anlass dieser Eskalation oder überhaupt der entstehenden Aufregung war. Aber wir haben gerade im Protokoll nachgeschaut, und es ist im Protokoll vermerkt. Daher muss ich Ihnen, Herr Wagner, an dieser Stelle eine deutliche Rüge erteilen,

(Markus Wagner [AfD]: Nein, Herr Präsident!)

weil die Wortwahl, die Sie verwendet haben, absolut nicht der Würde dieses Hauses entspricht.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN – Markus Wagner [AfD]: Ich habe die Historie dieser Partei nachgezeichnet! Das gehört zur Geschichte der Grünen! – Matthias Kerkhoff [CDU]: Benehmen Sie sich, dann passiert das nicht!)

Ich darf nun Herrn Minister Laumann das Wort erteilen. Bitte.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es zunächst einmal für richtig, dass wir heute über dieses Thema reden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Klar ist: Die veröffentlichten Spenderzahlen bei uns in Nordrhein-Westfalen machen deutlich, dass wir uns kümmern müssen. So kann es nicht weitergehen. Für die Transplantationsmedizin ist es fünf vor zwölf, bedenkt man, dass lediglich 146 Organentnahmen in dem Bundesland erfolgten, in dem es die meisten Krankenhäuser und Transplantationszentren gibt. Das ist unsolidarisch denjenigen gegenüber, die in diesen Verbund wesentlich mehr Energie einbringen als wir. Man kann nicht auf der einen Seite von der Transplantationsmedizin profitieren wollen und sich auf der anderen Seite nicht die Frage der Organentnahme stellen.

Das ganze Drumherumreden nutzt ja nichts. Die Identifizierung von möglichen Organspendern erfolgt in den Krankenhäusern. Alle Maßnahmen, die dazu beitragen, dass viele Menschen einen Organspenderausweis haben, sind gut. Das gilt auch für den Organspende-Informationstag. Es ist richtig, wenn Menschen selber für sich entscheiden und nicht andere in die Verlegenheit bringen, im Falle eines Falles entscheiden zu müssen, zumal es sein kann, dass sie nicht wissen, wie man selber darüber gedacht hat.

Meine persönliche Meinung ist seit vielen Jahren klar: Die Organspende ist in Wahrheit der größte Liebesbeweis des einzelnen Menschen für die Gesellschaft, für andere Menschen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich möchte es noch in etwas schönerer Sprache zum Ausdruck bringen. Ich habe einmal in einer Kirche einen Aufkleber gefunden, auf dem stand: Du kannst ganz sicher sein, im Himmel brauchst du deine Organe nicht.

Trotzdem werden wir nicht umhinkommen, dass in Kliniken entschieden werden muss, ob ein Patient, ein verstorbener Mensch ein geeigneter Organspender ist.

Schauen wir uns einmal die Kliniken in Nordrhein-Westfalen an, egal welchen Typus. Es gibt Kliniken, die sich sehr stark mit dem Thema beschäftigen. Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass es auch Kliniken gibt, in denen nicht ein einziger Kontakt zur DSO im Jahr zustande kommt. Dabei handelt es sich um vergleichbare Kliniken. Deswegen müssen die Krankenhäuser der Ansatzpunkt sein.

In meiner ersten Amtszeit haben wir in Nordrhein-Westfalen zusammen mit der DSO gute Beispiele aufgezeigt. Wir haben für diejenigen eine Feierstunde eingeführt, die sich besonders kümmern. Es ist immer gut, andere mit guten Beispielen dazu zu motivieren, dem nachzufolgen.

Bei dem Stand von 146 Organspenden in diesem Bundesland – die Zahlen in Deutschland können ja nicht besser sein, wenn wir in Nordrhein-Westfalen nicht besser werden, weil wir ja so groß sind – muss jetzt etwas passieren. Es ist fünf vor zwölf. Deswegen sollten wir ganz vorbehaltlos prüfen, ob wir die gesetzliche Stellung der Transplantationsbeauftragten in diesem System stärken müssen. Ich habe dazu noch keine abschließende Meinung, aber man muss sich das ansehen. Man muss sich auch angucken, welche Rechte die Zuständigen in den Kliniken haben.

Weiterhin werde ich, wie ich es zwischen 2005 und 2010 gemacht habe, nicht umhinkommen, mit denjenigen, die in den Kliniken die Verantwortung für Organspenden tragen, zu reden und dafür zu werben, sich erheblich stärker um dieses Thema zu kümmern.

In einem Transplantationscheck der DSO werden nicht nur Todesursachen analysiert, sondern es wird auch festgestellt, wie viele mögliche Spender nicht gemeldet worden sind. Die Zahl für Nordrhein-Westfalen lautet: 180 mögliche Spender wurden nicht gemeldet. Damit müssen wir uns gemeinsam mit unseren Krankenhäusern auseinandersetzen. Dabei spielen die Maximalversorger eine große Rolle, aber genauso auch die neurologischen Kliniken; jeder, der ein bisschen von Medizin versteht, weiß das. Wie gesagt, bei dem Engagement gibt es sehr große Unterschiede.

Für die Chefs der Krankenhäuser muss klar sein, dass die Frage der Transplantation und der Erkennung von möglichen Spendern zur Aufgabe eines Krankenhauses gehört. Diese Verpflichtung haben sie als eine über die gesetzlichen und privaten Krankenkassen finanzierte Institution für die Solidargemeinschaft der Versicherten wahrzunehmen. Ihnen muss deutlich sein, dass sie die Verantwortung nicht einfach beiseiteschieben können.

Wir müssen offen darüber reden, ob es in den Krankenhäusern Rahmenbedingungen gibt, die dazu führen, dass das so schwierig ist. Vielleicht wird auch zu wenig darüber geredet.

Wie reagiert man in einer solchen Situation, wenn man weiß, dass man das Intensivbett bis zur Entscheidung der Familie noch einen gewissen Zeitraum weiterbetreiben muss, wenn dann ein Unfallopfer hereinkommt? Dann steht man vor solchen Fragen.

Auch darüber müssen wir mit den Krankenhäusern reden. Denn – und das muss man ganz klar sagen – wenn die Zahlen noch schlechter werden, erfüllen wir die vertraglichen Voraussetzungen nicht mehr, um an der Verteilung, über die wir vorhin gesprochen haben, teilzunehmen. Da wurde vereinbart, dass man bestimmte Werte bringt.

Ich habe Verständnis dafür, dass andere Länder oder auch Bundesländer sagen, wenn Deutschland bzw. Nordrhein-Westfalen das nicht hinbekommt: Auch in unseren Transplantationszentren haben wir zu wenige Organe.

Deswegen ist für mich vollkommen klar, dass jeder in der Medizin und auch in der Gesellschaft wissen muss: Die Transplantationsmedizin ist ein Segen, aber dazu gehört auch die Organentnahme in einem medizinisch verlässlichen und menschlich würdigen Rahmen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sich dafür einzusetzen ist eine wichtige Sache. Ich meine auch, dass wir das nur gut machen können, wenn wir mit gutem Beispiel vorangehen, wenn sich der Landtag, egal welcher Partei, welcher Konfession wir angehören, einig ist in der Frage, dass das eine gewichtige gesellschaftliche Aufgabe ist, dass wir nach vernünftigen Wegen für die Umsetzung suchen müssen.

Zum Schluss noch ein Gedanke, der mir sehr wichtig ist –: Ich habe mich damals sehr mit dem Thema beschäftigt; wir werden die Dinge auch im Ministerium personell verstärken, um da mehr Power hineinzubringen –: Die Ärzte und Seelsorger, wer immer es macht, die zum Beispiel der Ehefrau, dem Ehemann die Nachricht überbringen müssen, dass der Partner verstorben ist, die dann noch ein Gespräch über das Thema „Organentnahme“ führen sollen, haben meine Hochachtung. Das gehört zu den schwierigsten Gesprächen, die man sich vorstellen kann.

Deswegen will ich auch sagen: All den vielen Menschen in unseren Krankenhäusern, die sich damit beschäftigen, bin ich sehr, sehr dankbar. Daher dürfen wir sie jetzt nicht unter Druck setzen, sondern wir müssen überzeugen und dafür sorgen, dass trotz aller wirtschaftlichen Anspannungen Freiräume im Gesundheitssystem bestehen, damit man sich in Ruhe um diese Frage kümmern kann. Dann kommen wir auch in der Sache weiter. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Für die AfD hat jetzt Herr Loose das Wort.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin noch so bewegt von den Worten von Herrn Minister Laumann. – Bereits zu Beginn der Jahrtausendwende haben wir das Thema der Organspende diskutiert. Es geht immer wieder um die gleichen Dinge: Widerspruchslösung, Zustimmungslösung.

Alle fünf bis zehn Jahre diskutieren wir das Thema neu. Eigentlich ist seitdem nichts passiert, außer mehr Aufklärung, mehr Aufklärung, mehr Aufklärung und mehr Aufklärung. Dementsprechend ist das Thema entweder nie aktuell oder eben immer, aber es eignet sich eigentlich nicht für eine Aktuelle Stunde. Man hätte es mit einem Bericht der Landesregierung im Ausschuss behandeln können. Man hätte auch einen Antrag einbringen können, wie wir zukünftig besser werden wollen. Vielleicht kommt da ja noch etwas von Ihnen. Ich hoffe, es kommt ein bisschen mehr als „mehr Aufklärung“.

Eigentlich wollte ich das Thema nicht ansprechen, aber da es hier von einigen parteipolitisch genutzt wird, möchte ich auf einen Punkt eingehen, der die Bürger immer wieder verunsichert, nämlich diesbezügliche Fake News. Das ehemalige grüne Bundestagsmitglied Harald Terpe hat 2012, als die Diskussion aufkam, noch einmal Öl ins Feuer gegossen, indem er behauptete, dass Privatpatienten bei den Organspenden bevorzugt behandelt würden.

(Minister Karl-Josef Laumann: Das stimmt nicht!)

Dabei stellte sich heraus, dass der Unterschied zu den Kassenpatienten marginal und die Sterbewahrscheinlichkeit der Privatpatienten in dem Zeitraum sogar größer war. Mit solchen bewusst oder unbewusst gestreuten Falschmeldungen werden immer wieder Nebelkerzen und Neiddebatten aufgebracht, die die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung reduzieren.

Das Ganze hat zwei wesentliche Effekte: Zum einen sind die Kosten für die Behandlung der Patienten während der Wartezeit um ein Vielfaches höher als die Kosten der Transplantation und der Nachsorge. Im Moment sind dies mehr als 2 Milliarden € pro Jahr. Zum anderen – noch viel wichtiger – starben in der letzten Zeit jedes Jahr etwa 1.000 Patienten, weil sie auf ein Organ warten mussten.

Wie wollen wir dem Ganzen nun begegnen? Mit neuen jahrelangen Diskussionen um noch mehr Aufklärung? Gehen wir jetzt eine Widerspruchslösung an, oder probieren wir einmal etwas Neues?

Sie haben in Ihrem Papier explizit darauf hingewiesen, dass Sie Diskussionen wünschen. Deshalb lassen Sie uns auch einmal über Alternativen sprechen; ob man die jetzt angeht oder nicht, ist eine andere Sache. Ich möchte einen von vielen möglichen Alternativvorschlägen zur Diskussion stellen.

In der Ökonomischen Theorie und in der Medizin werden immer wieder sogenannte Bonus-Anreiz-Modelle diskutiert. Bei solchen Modellen erhalten Personen bevorzugt ein Organ, die seit längerer Zeit selbst bereit sind, ein Organ zu spenden. Dazu kann sich jeder freiwillig in ein Register eintragen und auch – zum Beispiel mit einer Kündigungsfrist von sechs Monaten – wieder austragen lassen. Lediglich Notfallpatienten erhalten die Organe weiterhin zuerst.

Was ist der Vorteil dabei? – Im Todesfall brauchen die Ärzte nur noch in dieses Register zu schauen und müssen keine schwierigen Gespräche mit den Angehörigen führen. Sie können die Organe entnehmen, um Menschenleben zu retten.

Der Clou dabei ist, dass jeder Mensch einen Anreiz hat, sich in ein solches Register eintragen zu lassen, wenn er dadurch neben seiner moralischen Rendite der Spendenbereitschaft im Bedarfsfall auch noch bevorzugt wird. Das kann sogar dazu führen, dass sich so viele Menschen in ein solches Register eintragen lassen, dass der Mangel nach wenigen Jahren behoben wird, und wir Deutsche Leben in anderen Ländern retten können.

Letztlich liegt dem Bonus-Anreiz-Modell schlicht der Gedanke der Gegenseitigkeit und der Solidarität zugrunde. So wie man in der Krankenkasse seinen finanziellen Beitrag leistet, um anschließend als Mitglied der Solidargemeinschaft Leistungen daraus zu erhalten, kann eine solche Spendenbereitschaft auch ein Beitrag für die Solidargemeinschaft sein, und es kann gerecht sein, bevorzugt bei der Organvergabe berücksichtigt zu werden.

Lassen Sie uns bei diesem Thema allgemein über alle Grenzen diskutieren, neue Wege gehen und neu denken. Wir sind es den leidenden Menschen in Deutschland schuldig. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Ich habe jetzt keine weiteren Wortmeldungen mehr vorliegen. Daher sind wir am Schluss der Aussprache, und ich schließe die Aktuelle Stunde.

Wir kommen zu:

2   Sockelfinanzierung einführen: Für eine ehrliche, auskömmliche und qualitätsfördernde Finanzierung der frühkindlichen Bildung in NRW

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/1666

Ich eröffne die Aussprache und darf Herrn Dr. Maelzer das Wort erteilen.

Dr. Dennis Maelzer (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein neues Kitagesetz muss einen Qualitätsschub für die Betreuung, Bildung und Erziehung unserer Kinder bedeuten. Den Erzieherinnen und Erziehern muss es gute, feste und sichere Beschäftigung bieten. Ein neues Kitagesetz muss Eltern ein gehöriges Stück der Beitragslast von den Schultern nehmen. Den Trägern muss es wieder die Spielräume eröffnen, die pädagogischen Ansprüche auch umsetzen zu können, die sich mit ihrer Arbeit verbinden.

Das und nichts weniger muss der Anspruch an eine grundständige Reform der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen sein.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ehrlich, auskömmlich und qualitätsfördernd – das ist es, was die SPD mit ihrer Idee einer Sockelfinanzierung verbindet.

(Zurufe von Daniel Sieveke [CDU] und Henning Höne [FDP])

Dass wir mit unserem Antrag gleich in der ersten Plenarwoche des Jahres 2018 unsere Kernforderung eines neuen Finanzierungssystems einbringen, hat durchaus Symbolcharakter.

(Zurufe von Henning Rehbaum [CDU], Daniel Sieveke [CDU] und Henning Höne [FDP])

Zu Beginn des neuen Jahres formulieren wir den Neubeginn, den unsere Kitas jetzt dringend brauchen. Wenn man die Interviews liest, die Minister Stamp in der Weihnachtspause gegeben hat, dann wird noch einmal deutlicher, warum jetzt der richtige Zeitpunkt ist, eine Blaupause für eine Kitafinanzreform auf den Tisch zu legen.

Der „Rheinischen Post“ sagte der Minister noch am 28. Dezember:

„Ob wir 2019/20 schon so weit sind oder noch ein weiteres Jahr brauchen, werden wir sehen.“

Von konkreten Inhalten zudem keine Spur.

(Zurufe von Henning Rehbaum [CDU], Daniel Sieveke [CDU] und Henning Höne [FDP])

Sie können der Öffentlichkeit also weder vermitteln, wie der Fahrplan aussieht, geschweige denn, in welche Richtung die Fahrt gehen soll. Diese Unklarheit bestärkt uns darin, jetzt dem Parlament unser Konzept zur Beratung vorzulegen; denn es wird dringend Zeit, eine Reform der Kitafinanzierung in die Spur zu setzen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

In der Regierungszeit der SPD wurde eine neue U3-Pauschale eingeführt. Es gab mehr Geld für Familienzentren, Brennpunktkitas und Sprachförderung. Die Landesmittel für die Kitafinanzierung wurden mehr als verdoppelt, zuletzt auf über 2,5 Milliarden €. Auch unter der neuen Landesregierung hat es bereits eine Finanzspritze für die Einrichtungen gegeben. Aber alle Anstrengungen der vergangenen Jahre haben nicht dazu geführt, dass sich die Qualität und Auskömmlichkeit im Kinderbildungsgesetz nachhaltig verbessert hätten.

Wir müssen gemeinsam feststellen: Das KiBiz-System ist erkennbar an sein Ende gekommen. Das KiBiz ist nicht reformierbar, es muss ersetzt werden.

(Beifall von der SPD)

Wir müssen weg von der Finanzierung über Kindpauschalen. Wir bekennen uns zur gemeinsamen Verantwortung von Land, Trägern und Kommunen. Gemeinsam müssen sie für eine auskömmliche Grundlage und deren Fortschreibung sorgen.

Für die SPD ist aber klar: In Zukunft muss das Land noch einmal deutlich mehr Verantwortung übernehmen. Unser Reformmodell lautet: Sockelfinanzierung plus einrichtungsabhängige Zuschüsse.

Wir schlagen eine feste Einrichtungsfinanzierung im Umfang von mindestens 30 Stunden vor. Dieser Finanzierungssockel wird unabhängig von der Belegung gewährt. Er wird die gewöhnlichen Fixkosten abdecken, die in jeder Einrichtung anfallen, und sich an der Zahl der Regelplätze bemessen.

Damit haben die Träger Planungssicherheit für ihr Personal. Wir erwarten, dass sich dies in sicheren und festen Stellen widerspiegeln wird.

Das neue System wird die Qualität vorantreiben. Der Personalschlüssel, der im heutigen KiBiz als Höchstwert definiert ist, muss künftig das absolute Minimum darstellen. Anders als heute werden dabei Leitungsfreistellungen, Elterngespräche und Dokumentationszeiten angemessen berücksichtigt. Der Fachkraft-Kind-Schlüssel wird dadurch deutlich verbessert.

Das Land wird für den Finanzierungssockel den Löwenanteil übernehmen. Die Kommunen werden in ihren Finanzierungsanteilen entlastet, die Trägeranteile mindestens halbiert. Eltern werden sich an der Sockelfinanzierung nicht mehr beteiligen müssen.

Über den Sockel hinaus soll es weiterhin Zuschüsse geben, die sich an der Anzahl der betreuten Kinder orientieren. Für die SPD ist aber nach wie vor wichtig, dass Ungleiches auch ungleich behandelt wird.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Der Zuschuss muss deshalb einrichtungsabhängig sein und sich an einem Sozialindex orientieren. Auch hier wird das Land weiterhin seiner Verantwortung gerecht und sich – wie heute auch – mit 35 % beteiligen.

Meine Damen und Herren, die finanziellen Spielräume, damit das Land eine derart tiefgreifende Reform stemmen kann, wurden in der Regierungszeit von Hannelore Kraft erarbeitet. Nicht zuletzt ihr ist es zu verdanken, dass der Länderfinanzausgleich zusätzliches Geld für Nordrhein-Westfalen bringen wird.

Das ist wichtig. Denn eine Reform, wie wir sie uns vorstellen, wird kein Pappenstiel. Wir gehen davon aus, dass das Land mindestens 1 Milliarde € zusätzlich für unsere Kitas mobilisieren muss, und zwar, nachdem zunächst die Finanzierungslücke geschlossen wurde – eine Milliardensumme für die frühkindliche Bildung.

Wir sind davon überzeugt, dass dieses Geld gut angelegt ist – für unsere Kinder, für unsere Familien, für unsere Kitas. Das Fundament dafür haben wir heute vorgestellt.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Maelzer. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Kamieth.

Jens Kamieth (CDU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 1. August dieses Jahres feiert das Kinderbildungsgesetz Jubiläum. Es wird zehn Jahre alt. Das KiBiz ist in diesen zehn Jahren herangewachsen, vielleicht auch etwas gereift.

Aber ein ehrlicher Blick macht klar: Das KiBiz ist noch nicht aus seinen Kinderschuhen heraus. Es ist noch nicht aus den Kinderschuhen heraus, obwohl es seit seiner Verabschiedung im Zentrum der fachpolitischen Diskussion steht. Es ist noch nicht aus den Kinderschuhen heraus, obwohl es in verschiedenen Revisionsschritten verändert und weiterentwickelt wurde.

Wo liegt also das Problem? – Das Problem, meine Damen und Herren, liegt in der Finanzierungssystematik. Denn eine ganz grundsätzliche strukturelle Problematik des KiBiz wurde trotz aller Diskussionen und Veränderungen bis heute nicht behoben – nicht behoben, weil die ursprünglich gesetzlich vorgesehene jährliche Dynamisierung von 1,5 % nicht ausgereicht hat, um die Kosten, die mit gutem, qualifiziertem Personal nun einmal verbunden sind, abzufangen.

Da waren auch die Finanzierungsbausteine, die der Kollege Maelzer gerade aufgezählt hat, nicht geeignet. Im Gegenteil! Sie haben nicht nur nichts gebracht, sondern zu viel mehr Bürokratie für die Kindertagesstätten und ‑einrichtungen geführt.

(Daniel Sieveke [CDU]: Ja!)

Was dann passiert ist, haben die Familien und Kinder in Nordrhein-Westfalen unter Rot-Grün in den zurückliegenden Jahren schmerzlich zu spüren bekommen. Die finanziellen Spielräume der Kitaträger wurden immer enger. Aus dieser finanziellen Enge folgte vielerorts ein natürlich ungewollter, aber unvermeidbarer Abbau von Personal und Personalstunden. Diesem Abbau von Personal und Personalstunden folgte wiederum eine schleichende Reduzierung der Betreuungsqualität.

Diese Folge trat ein, obwohl die Erzieherinnen und Erzieher in Nordrhein-Westfalen oft bis an ihre Belastungsgrenze und darüber hinaus alles für unsere Kinder in den Tageseinrichtungen gegeben haben. Ihnen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kitas überall in unserem Land, gebührt Dank und Anerkennung für ihren herausragenden Einsatz.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das Problem in der Finanzierungssystematik und die gerade geschilderten Probleme waren auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, als Sie noch in Regierungsverantwortung standen, sehr wohl bekannt.

Auch die Erkenntnis, dass es einer strukturellen Reform bedarf, um das Problem zu lösen, war Ihnen eigentlich nicht entgangen. Im Koalitionsvertrag der Vorgängerregierung 2012 ist sehr wohl von der Notwendigkeit zu lesen, das Finanzierungssystem zu überprüfen und anzupassen. Es ist davon zu lesen, dass man den Revisionsprozess mit einem neuen Gesetz abschließen wolle.

Was von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, kam, war jedoch keine strukturelle Reform. Mit dem sogenannten Überbrückungsgesetz kam eine punktuelle Überbrückung. Nomen est omen!

Anders formuliert: Rot-Grün hat es nicht geschafft, die gesetzliche Grundlage für ein KiBiz zu beschließen, die eine ehrliche, auskömmliche und qualitätsfördernde Finanzierung der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen gewährleistet.

Am Rande bemerkt: Die Idee einer Sockelfinanzierung, mit der Sie hier vermeintlich auftrumpfen, stammt ja noch nicht einmal von der SPD.

(Zuruf von der SPD: Bitte?)

Sie schmücken sich mit fremden Federn. Die Idee der Sockelfinanzierung stammt von der AWO. Ihre glücklose Familienministerin, Christina Kampmann, hatte diese dann gekapert. Natürlich ist sie in der letzten Legislaturperiode damit durch das Land gezogen. Nur die Umsetzung hat bei dieser glücklosen Ministerin auch nicht klappen können.

(Zuruf von der SPD: Das ist aber sehr erbärmlich! – Weitere Zurufe)

Konnte sie nicht? Wollte sie nicht? Durfte sie nicht? Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren.

(Beifall von der CDU)

Es gab also kein Erkenntnis-, sondern schlichtweg ein Umsetzungsdefizit.

(Zuruf von der SPD: Frau Altenkamp sagt, dass Sie sie nicht weiter reinreißen sollen!)

Es gab ein Umsetzungsdefizit. Sie sind, um es einfach zu formulieren, an Ihren eigenen Ansprüchen gescheitert.

Deshalb wirken der Antrag der SPD und der Geist des antreiberischen Aktionismus, den dieser Antrag atmet, schlichtweg unglaubwürdig.

Für die NRW-Koalition ist klar, dass insbesondere qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung von ganz besonderer Bedeutung ist. Für uns gilt: Mit der Zukunft unserer Kinder entscheidet sich die Zukunft unseres Landes. Dem unglaubwürdigen Aktionismus des vorliegenden Antrags der SPD setzen wir daher ein glaubwürdiges, strukturiertes, zielorientiertes Handeln entgegen.

(Zuruf von der SPD: Das ist überhaupt kein Aktionismus!)

Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns.

(Beifall von der CDU)

Wir haben das Kita-Träger-Rettungspaket im Umfang von 0,5 Milliarden € angekündigt, wir haben das Kita-Träger-Rettungspaket beschlossen, und wir haben das Kita-Träger-Rettungspaket umgesetzt. Die 0,5 Milliarden € kommen in diesen Tagen bei den Jugendämtern an.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Jetzt erst?)

So, wie es CDU und FDP im Koalitionsvertrag verabredet haben, werden wir jetzt – im Gegensatz zur SPD – erstens eine auskömmliche und ehrliche Finanzierungsgrundlage für frühkindliche Bildung in Nordrhein-Westfalen schaffen.

Wir werden zweitens wieder mehr Qualität in das System bringen – Qualität, die unter Ihrer Verantwortung schmerzlich gelitten hat und nur unter höchsten Anstrengungen der Kitamitarbeiterinnen und ‑mitarbeiter gewährleistet werden konnte.

Drittens werden wir für bedarfsgerechte Flexibilität für die Mütter und Väter sorgen, um die Familien in NRW entlasten und unterstützen zu können.

Meine Damen und Herren, wir holen das KiBiz aus den Kinderschuhen heraus – glaubwürdig, strukturiert und zielorientiert.

Damit das gelingen kann, werden wir in einem engen gesellschaftlichen Schulterschluss den vertrauensvollen Austausch mit Praktikerinnen und Praktikern pflegen. Wir tun das schon jetzt, und wir werden das in den nächsten Wochen und Monaten noch verstärken. Das gilt insbesondere für unsere Partner auf der kommunalen Ebene, die ein besonderes Mitgestaltungsinteresse haben.

Wir werden durch einen offenen, konstruktiven Dialog den besten Weg für eine gute Finanzierung der frühkindlichen Bildung in Nordrhein-Westfalen finden.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Sie suchen also!)

Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, werden wir dies auch in ein erfolgreiches politisches Handeln umsetzen –

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Kein Plan!)

für ein auskömmlich finanziertes System, für mehr Qualität und für eine bedarfsgerechte Flexibilität für unsere Kinder und unsere Familien.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kamieth. – Für die FDP-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Hafke das Wort.

(Zuruf von Sarah Philipp [SPD] – Gegenruf von Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Nein, das tut er nicht! Er bleibt ganz sachlich!)

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD hat uns wieder einen Antrag aus der Rubrik „Sieben Jahre regiert, und nichts ist passiert“ eingereicht.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Heute mal eine Büttenrede!)

Ich freue mich darüber, dass wir wieder einmal, wie jede Plenarwoche, darüber diskutieren können, wie die Bilanz von Frau Kraft, Frau Kampmann und Frau Schäfer aussieht, und das immer wieder hier darstellen dürfen.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Es wäre schön, wenn Sie das mittelfristig darstellen würden!)

Herr Dr. Maelzer, Sie haben mit dem Antrag freundlicherweise das Regierungshandeln von SPD und Grünen in den letzten sieben Jahren auf den Punkt gebracht. Es geht nämlich um Symbolpolitik. So haben Sie das eben ausgeführt, und nicht anders kann man es beschreiben.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Wir sind im Gespräch!)

Sie haben es geschafft, sieben Jahre lang nur über Ankündigungen zu sprechen. Sie haben damals angekündigt, ein neues Kinderbildungsgesetz auf den Weg zu bringen. „KiBiz ist Mumpitz“, sagte Wolfgang Jörg.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Sehen Sie das anders?)

Und wie sieht die Hinterlassenschaft aus? – Wir haben mit 80 % der Träger, die defizitär arbeiten, eine katastrophale Situation in Nordrhein-Westfalen vorgefunden.

Ich hätte von einer Partei, die gerade abgewählt wurde,

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Sie können einmal anfangen, zu regieren!)

heute erwartet, dass sie einmal selbst Bilanz zieht und eingesteht, dass man bei der Kitareform gescheitert ist – das wäre eine mutige und ehrliche Analyse gewesen –, bevor man sich hier großkotzig hinstellt und solche Forderungen aufstellt.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Da wir diese Bilanz von Ihnen vorgefunden haben, mussten wir zuerst ein Kita-Rettungspaket auf den Weg bringen, damit die Kitas überhaupt erst einmal weiterarbeiten können.

Wir haben weiterhin vorgefunden, dass in dem Haus von Ministerin Kampmann nicht wirklich substanzielle Arbeit geleistet wurde

(Lachen von Wolfgang Jörg [SPD])

und wir jetzt erst Strukturen erarbeiten müssen, um das KiBiz auf den richtigen Weg zu bringen, damit es in Zukunft auch vernünftig ausgeführt werden kann.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Die Mitarbeiter durften gar nicht arbeiten!)

– Das Problem ist: Es lag nicht an den Mitarbeitern, sondern an der Ministerin, die blockiert hat, dass hier überhaupt Reformen auf den Weg gebracht wurden.

Hannelore Kraft, die bei dieser Debatte schon wieder nicht dabei ist, war nicht in der Lage, überhaupt ihr Wahlversprechen einzuhalten. Das ist doch das Problem, das wir in Nordrhein-Westfalen vorgefunden haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie waren noch nicht einmal in der Lage, dem Parlament Eckpunkte Ihrer Vorstellungen vorzulegen. Nun stellen Sie sich hierhin und fordern mal eben ein Reformprogramm, das Pi mal Daumen 1 Milliarde € kostet, ohne eine Gegenfinanzierung vorzulegen. Im Wahlkampf haben Sie darüber hinaus auch über Beitragsfreiheit philosophiert und diskutiert, die noch einmal 1 Milliarde € kostet.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Das Ding ist gut finanziert!)

2 Milliarden € zusätzliche Belastungen für den Landeshaushalt ohne eine Gegenfinanzierung, lieber Herr Dr. Maelzer!

Dann schaue ich mir das GroKo-Papier an. Darin steht, dass 3,5 Milliarden € vereinbart wurden, die jetzt an die Länder ausgezahlt werden sollen. Das sind nach dem Königsteiner Schlüssel für Nordrhein-Westfalen 740 Millionen €.

(Zuruf von Dr. Dennis Maelzer [SPD])

Nach Ihrer Auffassung, das ohne Gegenfinanzierungsvorschlag zu machen, müsste die SPD das GroKo-Papier ablehnen. Oder wie stehen Sie zu dem, was Sie jetzt in Berlin verhandelt haben? Das würde mich interessieren.

(Sarah Philipp [SPD]: Das hat er doch schon gesagt! – Regina Kopp-Herr [SPD]: Sie hätten es bei Jamaika anders machen können!)

Denn die Mittel, die aus Berlin kommen, sind nicht ausreichend, um Ihre Wünsche, die Sie hier vorgebracht haben, entsprechend zu finanzieren.

Meine Damen und Herren, in dem Papier, das die SPD uns vorgelegt hat, wird weiterhin viel gefordert. Das ist ja alles schön und gut. Ich will Ihnen jedoch noch sagen, was eigentlich die wichtigen Kernaufgaben sind, die wir überhaupt zu leisten haben.

Wir werden jetzt in allererster Linie mit den Kommunen über eine gute Auskömmlichkeit der Kitafinanzierung diskutieren und einen gemeinsamen Aufschlag mit den …

(Josefine Paul [GRÜNE]: Zack, zack!)

– Zack, zack? Das ist schon eine Dreistheit, die man gar nicht mehr in Worte fassen kann. Sieben Jahre ist nichts passiert; sieben Jahre wurde nur angekündigt. Wir sind noch nicht einmal ein halbes Jahr im Amt, und hier wird gesagt: Zack, zack.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Sie sind ein Vorzeigedemokrat, Herr Hafke!)

Wir probieren gerade, erst einmal das aufzuräumen, was Sie hier auf den Weg gebracht haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie haben sämtlichen Anspruch verspielt, hier überhaupt mit Ideen und Anträgen aufzuschlagen. Wir müssen jetzt erst einmal das aufräumen, was Sie gemacht haben. Es hat schon Monate gekostet, das Kita-Rettungspaket auf den Weg zu bringen.

Ich sage ganz ehrlich: Wir müssen jetzt mit den Kommunen einen gemeinsamen Weg finden. Denn das haben Sie nicht hinbekommen. Das ist der Fakt, den wir diskutieren müssen. Deswegen geht es in erster Linie darum, eine vernünftige Auskömmlichkeit mit den verschiedenen Beteiligten auf den Weg zu bringen.

Ein zweiter Schritt wird dann sein, die Qualitätsdebatten nach vorne zu bringen. Sie haben es in Ihrer Regierungszeit geschafft, zusätzliche Pauschalen und mehr Bürokratie einzuführen.

Wir haben hier die Situation, dass die Sprachförderung in Nordrhein-Westfalen ungleich verteilt ist, dass manche Kinder überhaupt nicht von der Sprachförderung profitieren, dass Erzieherinnen und Erzieher überlastet sind,

(Zuruf von Wolfgang Jörg [SPD])

dass die Gruppengrößen viel zu groß sind und dass die Öffnungszeiten in Nordrhein-Westfalen vollkommen am Bedarf der Eltern vorbeigehen. Es gibt 350 Einrichtungen, die nach 17 Uhr geöffnet haben.

Das sind Punkte, die wir jetzt Stück für Stück angehen müssen.

Ich hätte von einer Arbeiterpartei wie der SPD erwartet, dass sie sich einmal des Themas der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher angenommen hätte. Es ist ein Unding, dass man heutzutage, um diesen Beruf ausüben zu können, für die Ausbildung noch Geld mitbringen muss. Das ist ein Unding. Ich hätte von der SPD erwartet, dass sie das einmal bereinigt.

(Beifall von der FDP – Britta Altenkamp [SPD]: Ach ja, Herr Hafke!)

Wenn man die Lücke von 16.500 fehlenden Erziehern in Nordrhein-Westfalen schließen will, muss man diesen Ausbildungsberuf attraktiv und spannend machen, sodass sich junge Menschen auch dafür entscheiden.

(Britta Altenkamp [SPD]: Wer hat das denn verhindert?)

– Das haben Sie nicht auf den Weg gebracht. Deswegen müssen wir dieses Thema jetzt erst einmal angehen, um die Qualitätsdebatte vernünftig führen zu können und die Löcher, die Sie hinterlassen haben, zu schließen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, um es auf den Punkt zu bringen: Die SPD macht da weiter, wo sie aufgehört hat. Sie kündigt Luftschlösser an, ohne genau zu sagen, wie sie es umsetzen möchte.

Wir werden genau den anderen Weg gehen. Wir werden jetzt Stück für Stück und strukturell die Auskömmlichkeit auf den Weg bringen, die Qualität verbessern und dann über Vereinbarkeit von Familie und Beruf sprechen. Ich glaube, das ist das, was die Menschen im Land auch wollen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Kollegin Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das war jetzt wieder eine bemerkenswerte Geschichtsstunde. Wie nicht anders zu erwarten war, war nach vorne gerichtet von CDU und FDP mal wieder nicht besonders viel Konkretes zu hören.

Herr Kollege Hafke, ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie mir auf meinen Zwischenruf hin die Gelegenheit gegeben haben, noch einmal darauf einzugehen, dass Sie immer die Leier vortragen: Sie haben das in sieben Jahren nicht geschafft, und jetzt erwarten Sie von uns, dass wir es in sechs Monaten aufräumen.

(Ralf Witzel [FDP]: Genau!)

Nein, Sie sitzen da einem völligen Irrtum auf. Niemand hat von Ihnen erwartet – ich will gar nicht sagen, ob ich es Ihnen zutraue oder nicht –, dass Sie das in sechs Monaten schaffen. Das haben wir nun wirklich nicht erwartet. Aber – das gehört doch zu Ihrer Wahlkampfwahrheit auch dazu – wenn man sich selbst auf die Fahnen schreibt, dass man die weltbeste Bildung umsetzen will, muss man sich anschließend auch an diesen vollmundigen Versprechen messen lassen. Das ist doch die Wahrheit.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Jetzt scheint offensichtlich auch Ihnen klar geworden zu sein, dass die politische Realität vielleicht doch ein ganz klein bisschen komplexer ist als das, was auf ein FDP-Wahlplakat passt.

Weil wir gerade bei der Frage der Erwartung sind: Nein, niemand hat von Ihnen erwartet, dass Sie das schon irgendwie umgesetzt hätten. Aber wir erwarten sehr wohl einen konkreten Zeitplan.

In der Pressekonferenz des Ministerpräsidenten und des stellvertretenden Ministerpräsidenten am Montag war das Kitagesetz auch schon Thema. Die „Neue Westfälische“ titelte am nächsten Tag, dem 16. Januar 2018, die Kitareform sei der schwerste Brocken. – Da würden wir wahrscheinlich alle miteinander zustimmen.

Wie zu erwarten war, findet sich allerdings im Text des Artikels tragischerweise kein einziger Hinweis darauf, wie das denn konkret aussehen soll. Vielmehr bleibt alles bei den wolkigen Ankündigungen von zwei Schritten – es ist ja auch der Minister der Schrittigkeit; mal sind es vier Schritte; jetzt sind es zwei Schritte – für die Kitajahre 2019/2020 und 2020/2021 sowie dem Verweis auf die anstehenden schwierigen Verhandlungen mit den kommunalen Spitzenverbänden und den Trägern.

Herr Minister, wenn Sie keinen konkreten Zeitplan vorlegen – dafür wird es jetzt höchste Zeit; da erwarten wir tatsächlich mehr von Ihnen –, werden die Verhandlungen mit den kommunalen Spitzenverbänden in der Tat schwieriger werden. Schließlich haben die kommunalen Spitzenverbände Ihnen jetzt nochmals ins Stammbuch geschrieben, dass sie ein Jahr Vorlauf für die Umsetzung eines neuen Kitagesetzes brauchen.

Was heißt das konkret? Wenn das neue Kitagesetz zum Kitajahr 2019/2020 kommen soll, muss das Gesetz in diesem Sommer nicht eingebracht werden, Herr Minister; dann muss das Gesetz in diesem Sommer verabschiedet werden.

Folgendes möchte ich Ihnen auch noch einmal in aller Deutlichkeit sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU: Diesmal werden wir Ihnen nicht ein solches Gesetzgebungsverfahren wie beim Kita-Rettungspaket durchgehen lassen, das mit heißer Nadel gestrickt und relativ an parlamentarischen Gepflogenheiten vorbei war.

(Henning Höne [FDP]: Hätten wir das nicht machen sollen?)

Das werden wir Ihnen diesmal nicht durchgehen lassen. Wir erwarten von Ihnen, dass es ein ordentliches Verfahren gibt.

Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass im Grunde genommen – Sie wissen selber, wie lange ein Gesetzgebungsverfahren dauert – im März-Plenum, also im nächsten Plenum, ein konkreter Gesetzesvorschlag eingebracht werden müsste.

Herr Minister, dazu möchte ich jetzt einmal klare Aussagen hören – nicht immer diese wolkigen Erklärungen nach dem Motto „Da machen wir hier einen Schritt und da einen Schritt; wir sind in Gesprächen“, sondern einen Zeitplan. Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie mir jetzt einen Gesetzentwurf vorlegen. Ich erwarte aber, dass Sie mir sagen können, wann Sie denn vielleicht so weit sind, mir einen Gesetzentwurf vorzulegen.

(Marcel Hafke [FDP]: Gibt es auch inhaltliche Ideen von den Grünen?)

Sehr geehrte Damen und Herren, auch inhaltlich ist Zeit für etwas mehr als Ankündigen. Inhaltlich wäre es dann doch besser, mehr auf der Habenseite zu haben als nur die Behauptung: Wir machen auf jeden Fall alles besser als die rot-grüne Vorgängerregierung. – Dafür sind Sie schließlich gewählt worden. Ich erwarte, dass Sie dann auch konkret etwas tun, anstatt immer noch im Wahlkampfankündigungsmodus zu verbleiben.

Ich habe wohl zur Kenntnis genommen, dass es positive Signale in Richtung Sockelfinanzierung gibt. Ich nehme auch wahr, dass wir mittlerweile offenbar alle der Meinung sind, dass die Kindpauschalen ein entscheidender Grund für die finanzielle Schieflage der Kitas sind. Ich nehme wahr – auch wenn der Ministerpräsident mir jetzt quasi zuraunt, das sei Quatsch; denn so habe ich die Fachabgeordneten von FDP und CDU in verschiedenen Veranstaltungen verstanden –, dass auch Sie sich in Richtung Sockelfinanzierung und weg von den Kindpauschalen bewegen. Wenn das anders ist, korrigieren Sie mich bitte. Aber dann sind Sie auf dem Holzweg, glaube ich.

(Beifall von den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was muss eine verlässliche Finanzierung eigentlich leisten? Denn wir sind uns doch hoffentlich alle einig darüber, dass die beste Qualität für unsere Kinder im Mittelpunkt stehen muss. Schließlich ist qualitativ hochwertige Bildung der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit – Stichwort „Fachkraft-Kind-Relation“.

Wir wollen aber auch an dem Grundsatz „Ungleiches ungleich behandeln“ festhalten. Bedarfsgerechte Finanzierung von Kindertageseinrichtungen berücksichtigt, dass Kitas unterschiedliche Ressourcen brauchen. Das heißt: Ungleiche Mittelverteilung kann Kindern gleiche Chancen eröffnen. Ein Beispiel ist hier die plusKITA, die Sie ja auch fortführen.

Wir müssen auch darüber reden – Herr Hafke hat es angesprochen –, wie man eigentlich den Beruf der Erzieherin und des Erziehers attraktiver macht. Wir müssen darüber reden, dass unbefristete Vollzeitbeschäftigung oder vollzeitnahe Teilzeit das Standardmodell ist. Wir müssen darüber reden, dass Personalfinanzierung Zeit für die unmittelbare Arbeit mit dem Kind, aber auch die mittelbare pädagogische Arbeit einrechnen muss. Wir müssen über Leitungszeiten und Fortbildungszeiten sprechen.

Wir sind auch der Auffassung, dass wir im Verfahren noch über die Details sprechen können.

Bei der Frage der 30 Stunden haben wir als Grüne durchaus eine etwas andere Auffassung.

Bei der Frage der Sockelfinanzierung sind wir hier aber einer Meinung, glaube ich. Ich würde mich freuen, wenn sich auch CDU und FDP dieser Meinung anschließen würden. Die Sockelfinanzierung muss die Kindpauschalen ablösen.

Wir brauchen darüber hinausgehend individuelle Förderbedarfe. Wir wollen gute, gesunde und vor allem auskömmlich finanzierte Kitas.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die AfD spricht Kollegin Dworeck-Danielowski.

Iris Dworeck-Danielowski (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kennen Sie den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“? Für diejenigen, die ihn nicht kennen: Diese heitere Komödie ist wirklich empfehlenswert. Herr Hafke scheint – er hat es gerade angedeutet – diesen Film auch zu kennen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; aber man könnte das Gefühl haben, wir säßen hier allesamt in einer endlosen Wiederholungsschleife.

Bei jeder Plenarsitzung stellt die abgewählte Regierung Anträge, in denen sie der neuen Regierung empfiehlt, das zu tun, was sie selbst nicht zustande gebracht hat. Wir fragen uns ganz ehrlich und ohne jeden Spott: Wenn Sie sich schon so viele Gedanken zu einer konkreten Umgestaltung des KiBiz gemacht haben, warum haben Sie sie dann nicht auf den Weg gebracht?

Man könnte fast meinen, Sie hätten die Verantwortung gescheut, irgendetwas zu verändern. Jetzt ist es ja einfach. Denn beim Thema „frühkindliche Bildung“ – man könnte auch profan „Kindergartenarbeit“ sagen – kann man immer schön herausstellen: Armin Laschet ist der Urheber allen Übels.

Ich gebe zu: Das ist ein Gedanke, der durchaus Charme hat.

(Beifall von der AfD)

Aber die sieben Jahre Tatenlosigkeit in Folge fallen dabei leider unter den Tisch. Deshalb gilt: Auch wenn dieser Gedanke noch so verlockend ist, ist er falsch.

Es kommt einem eher so vor, als sei dieser oppositionelle Aktionismus insbesondere von der SPD ein Akt der Sühne – oder, um das aufzugreifen, was Herr Römer gestern in seiner Rede gesagt hat: Sie haben verstanden, dass Sie Fehler gemacht haben, und das arbeiten Sie jetzt auf.

Ihre Fehler müssen wir anscheinend alle gemeinsam hier aufarbeiten. Das Plenum als eine Art Gruppentherapie für eine siechende SPD! Das Mittel der Wahl zur Heilung ist die fortwährende Debatte dessen, was Sie hätten tun können und nicht getan haben.

Schon im ersten Abschnitt des Antrags kann man genau diese Herangehensweise erkennen. Denn darin steht – Zitat –: „das vom damaligen Familienminister Laschet eingeführte … Finanzierungssystem“. Da sitzt der Übeltäter. Einen Satz später heißt es – Zitat –: „Über die Jahre wurde die Lücke … immer größer …“ Sozusagen von Geisterhand! Wer hat denn in den Jahren der größer werdenden Lücke regiert? Aber gut; genau das sind wir gewohnt – Stichwort „Murmeltier“.

Ich komme nun zu Ihrem eigentlichen Antrag. Pauschalen führen also per se zu einer strukturellen Unterfinanzierung. Das wollen Sie uns in der Einleitung glauben machen. Da bin ich jetzt aber überrascht. Denn ist es nicht eher so, dass das Versäumnis der Anpassung von Pauschalen zur strukturellen Unterfinanzierung führt, aber nicht per se die Pauschale als solche?

Aber gut; weiter im Text! Dann fordert die SPD ein neues Finanzierungssystem mit den neuen Eigenschaften ehrlich, transparent und auskömmlich. – Das ist jetzt interessant. Da das derzeitige Finanzierungssystem augenscheinlich nicht auskömmlich ist, darf ich wohl schlussfolgern, dass es all die Jahre intransparent und unehrlich gewesen ist.

(Britta Altenkamp [SPD]: Das hat niemand von uns bestritten!)

– Aber Sie haben es offensichtlich in Ihrer Verantwortung sieben Jahre lang fortgeführt. Wenn man weiß, dass es intransparent und unehrlich ist, ist das eine stramme Leistung, muss ich sagen; aber gut.

(Beifall von der AfD)

Aber lassen wir einmal die Wortklauberei beiseite.

(Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

– Ich mache mir keine Sorgen, dass Sie größere Ahnung haben. Insofern ist das kein Thema.

Was schlägt uns die SPD jetzt vor? Sie schlagen uns das vor, was Sie uns eigentlich immer vorschlagen: mehr Geld, umgedrehte Subsidiarität und dazu noch eine teure Ausdehnung der Leistungen plus verteuernde Qualitätssteigerungen.

Konkret heißt das im Einzelnen aufgedröselt: Die Einrichtungen sollen eine neue Pauschale erhalten, nämlich die Sockelfinanzierung. So schlecht ist das mit den Pauschalen dann also doch nicht.

Weiter ist die Rede vom sozialraumabhängigen Zuschuss. Donnerwetter! Das klingt wirklich nach mehr Transparenz. Diese Grundfinanzierung setzt sich also auch wieder aus Pauschalen zusammen. Darüber hinaus soll es einen belegungs-, einrichtungs- und sozialraumabhängigen Zuschuss geben.

Welchen Anteil dann doch wieder die Eltern zahlen werden, geht auch nicht aus dem Antrag hervor. Das interessiert mich als Mutter natürlich besonders.

Hauptkostenträger soll nach dem Willen der SPD – und das ist in der Tat neu – in auf den Kopf gestellter Subsidiarität künftig das Land bzw. der Landeshaushalt werden und nicht mehr die Kommune sein.

An dieser Stelle muss ich ganz ehrlich sagen: Mit Blick auf meine eigene Kommune Köln beschämt es mich, dass allein die Sanierung der Oper so viel Geld verschlingen wird wie das gesamte Kita-Rettungsprogramm. Ob da mehr Geld vom Land hilft? Ich wage das, ehrlich gesagt, zu bezweifeln. In den Kommunen sitzen doch auch mündige Ratsherren und mündige Ratsfrauen, die eigenverantwortlich handeln. Dafür, wie sie die Gelder ausgeben, sind sie verantwortlich.

Zusätzlich ist von einem verbesserten Fachkraft-Kind-Schlüssel die Rede – natürlich ohne den kleinsten Hinweis darauf, woher diese Fachkräfte eigentlich kommen sollen.

Ich kann auch da nur wieder aus der Praxis berichten. Bei uns in den Kindergärten haben die Erzieherinnen unbefristete Arbeitsverhältnisse. Trotzdem herrscht eine Fluktuation, die weder für die Kindergartenleitung noch für die Kinder in irgendeiner Form schön ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diesen Antrag in unserem Ausschuss zu beraten haben. Vielleicht klärt sich dann auch die Frage, warum die SPD-Fraktion hier einen Antrag vorlegt, bei dem sie zugleich behauptet, dass ohnehin schon im Ministerium die Erwägungen vorgenommen und aufbereitet werden. – Danke.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Dr. Maelzer!

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Sie brauchen einfach zu sagen: Wir machen das so!)

Wir haben uns ein Stück weit darüber amüsiert, dass es auch in dieser Plenarwoche wieder einen Antrag gibt, der dokumentiert: Sie haben sieben Jahre lang nichts auf die Reihe bekommen, und die neue Landesregierung handelt.

(Beifall von der FDP)

Wir haben nicht nur in einem ersten Schritt mit dem Kita-Rettungspaket dafür gesorgt, dass die Kindergärten in Nordrhein-Westfalen nicht schließen müssen und die Träger uns die Kindergärten nicht vor die Füße werfen müssen, sondern haben uns in unserem Haus natürlich sofort darangesetzt, die KiBiz-Reform vorzubereiten und daran zu arbeiten.

Wir werden sie zügig umsetzen. Wir werden die Auskömmlichkeit herstellen. Wir werden die Qualität steigern. Wir werden auch an die Flexibilität herangehen. Das werden wir Schritt für Schritt und in Ruhe machen.

Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich frage mich, wie man erwarten kann, nachdem man es sieben Jahre lang nicht hinbekommen hat, dass es bereits nach einem halben Jahr umgesetzt sein soll.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Josefine Paul [GRÜNE])

Das ist doch ein Scherz. Wenn Sie mit den Trägern sprechen und sich auch einmal die öffentliche Berichterstattung angucken, dann weiß jeder, dass das, was Sie hier gerade vortragen, eher blamabel ist.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Da müssen Sie eine andere Zeitung abonnieren!)

Wenn ich im Glashaus gesessen und alle Fenster kaputtgeschmissen habe, dann sollte ich nicht noch mit einem Beleuchtungsgerät auf dieses kaputte Fenster zeigen.

In diesem Sinne: Wir stellen Ihnen zum richtigen Zeitpunkt eine qualitative Reform vor. Es wird nicht nur kosmetische Änderungen geben. Deswegen braucht es auch eine gründliche und präzise Vorbereitung.

Wir machen unsere Arbeit anständig, aber wir arbeiten. Das habe ich im Kabinett Kraft an dieser Stelle sieben Jahre lang vermisst, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Tigges.

Raphael Tigges (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Jens Kamieth schon ausgeführt hat, ist es doch sehr verwunderlich, dass die SPD-Fraktion nach dem Antrag aus November – Stichwort: Erhebung von Elternbedarfen – heute den Antrag zur Sockelfinanzierung für die Einrichtung der frühkindlichen Bildung hier vorlegt und mal wieder dieses überbordende Engagement an den Tag legt. Wenn Sie das in den letzten sieben Jahren so emsig angepackt hätten, wie Sie jetzt die Anträge schreiben, Herr Dr. Maelzer, dann könnten wir tatsächlich schon viel weiter sein.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir erkennen sehr wohl, dass die strukturelle Unterfinanzierung und die damit verbundenen Qualitätseinbußen behoben und ein auskömmliches Finanzierungssystem geschaffen werden müssen. Das ist völlig unstrittig und das erklärte Ziel für 2018. Das hat der stellvertretende Ministerpräsident und Minister doch sehr deutlich gesagt.

Lassen Sie mich aber auch klar sagen: Das Ziel ist eine gute Reform. Dabei gilt Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Wir werden bis dahin für die Träger Finanzierungssicherheit ermöglichen, wie wir es bereits mit der halben Milliarde Euro für die nächsten zwei Jahre im Nachtragshaushalt getan haben. Und damit haben wir erst einmal Ruhe geschaffen, einen Übergangszeitraum geschaffen, in dem wir Gelegenheit für Gespräche über die richtige Vorgehensweise haben.

Wir brauchen dazu auch kein von Ihnen entwickeltes Finanzierungsmodell, Herr Dr. Maelzer, sollte es das überhaupt jemals gegeben haben. Ich gehöre dem Haus ja noch nicht so lange an. Aber das, was ich mitbekommen habe, war, dass im Ministerium gar nichts vorlag, nicht einmal der Ansatz einer KiBiz-Reform.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Schön wäre es, wenn Sie eigene Ideen hätten!)

Wir führen derzeit viele Gespräche mit den tatsächlichen Experten und Betroffenen aus der Praxis. Dazu zählen die Träger der Einrichtungen, die Kommunen, aber auch die Erzieherinnen und Erzieher. Vor allen Dingen hören wir den Eltern zu, welche Bedarf dort bestehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen sagen: Die bisher getroffenen Maßnahmen sind auf diesen Ebenen auf sehr viel Zuspruch gestoßen.

Man muss an dieser Stelle auch noch einmal sehr deutlich machen, was ein neues KiBiz alles leisten muss – es klang in verschiedenen Beiträgen schon an – und was sich in den letzten zehn Jahren auch noch dazu entwickelt hat.

-    Die Personalbemessung muss nach der Gruppengröße und nach Fachkraft-Kind-Relation und nach dem Alter der Kinder viel besser ausgerichtet werden,

-    die Betreuungszeiten sollen für Eltern möglichst flexibel gehalten werden,

-    der Sozialraum sollte seine Berücksichtigung finden,

-    Kinder mit besonderem Förderbedarf, ob Inklusions- oder Integrationskinder, sollten optimal gefördert werden,

-    die Freistellung von Kitaleitungen für administrative Aufgaben, für Elternarbeit ist notwendig. Insgesamt, meinen Damen und Herren, muss wieder viel mehr Zeit für die eigentliche pädagogische Arbeit an den Kindern durch weniger Bürokratie ermöglicht werden.

-    Wir müssen natürlich auch – das klang vorhin auch schon einmal an – dafür Sorge tragen, dem Fachkräftemangel entgegenzutreten und, ohne die Träger zusätzlich zu belasten, mehr Ausbildung zu schaffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles macht deutlich, was es zu reformieren gilt. Vor allem zeigt es, was Erzieherinnen und Erzieher heute in den Kitas leisten müssen. Dafür sind wir ihnen in der Tat sehr dankbar.

Sie sprechen im Antrag von Sockelfinanzierung und speziellen Zuschüssen, die belegungs-, einrichtungs- und sozialraumabhängig sind. Hierbei müssen wir darauf achten, dass wir hinterher nicht Einrichtungen erster und zweiter Klasse in unserem Land haben, sondern wir müssen auch die kleineren Einrichtungen und vor allen Dingen auch die Betriebskindergärten im Blick behalten, die uns an der Stelle auch sehr am Herzen liegen.

In unseren Gesprächen diskutieren wir derzeit ergebnisoffen alle möglichen Optionen – auskömmlichere Kindpauschale möglicherweise, vielleicht auch die Sockelfinanzierung wie aber auch andere Modelle. Den Trägern – das haben wir aus den Gesprächen auch mitgenommen – ist es im Übrigen auch sehr wichtig, die Mittel ein Stück weit flexibler bewirtschaften zu können, um auf besondere Anforderungen reagieren zu können.

Den finanziellen Verfügungsrahmen dafür werden wir grundsätzlich und sehr gründlich ausloten, um nach Möglichkeit ein neues KiBiz ohne Neuverschuldung auf den Weg zu bringen. Das, meine Damen und Herren, sind wir auch unseren Kindern schuldig, die heute in den Einrichtungen betreut werden.

Bereits mit diesem Haushalt – das hat der Minister auch gerade gesagt – finanziert die Landesregierung die frühkindliche Bildung und Betreuung mit erheblichen und weiter ansteigenden Zuschüssen, die laufenden Kosten und fördert auch weiter den investiven Ausbau der Einrichtungen.

Es werden nicht nur die Kindpauschalen weiterhin dynamisiert, sondern wir stellen als Übergang bis zu einer auskömmlichen und nachhaltigen Finanzierungsstruktur auch die bereits erwähnte halbe Milliarde Euro zur Verfügung.

 Im Kindergartenjahr 2018/2019 stellen wir aber auch 150 zusätzliche Kontingente zum Ausbau neuer Familienzentren zur Verfügung, die auch in diesem ganzen Kontext eine wichtige Rolle spielen, und im Übrigen auch 25 Millionen € für Sprachförderung.

Meine Damen und Herren, an der grundsätzlichen gemeinschaftlichen finanziellen Verantwortung des Landes, der Kommunen und der Träger für unsere Einrichtungen möchten wir in der Tat festhalten. Gleichwohl diskutieren wir aber auch über Entlastungen, wo es eben möglich ist, damit es Spaß macht, Einrichtungen zu betreiben.

Nun komme ich zu einem Punkt, Herr Dr. Maelzer, im Antrag, den ich nicht verstanden habe. Sie sprechen von der Grund- und Sockelfinanzierung für die Fixkosten der Einrichtungen. Die soll das Land in einer Größenordnung von 70 % finanzieren, um Kommunen und Träger zu entlasten. Für den Teil der Sockelfinanzierung möchten Sie die Eltern beitragsfrei stellen.

Jedoch anders als im Wahlkampf noch von Ihnen gefordert, möchten Sie die Eltern aber doch nicht komplett beitragsfrei stellen und schlagen sogar mit Ihrem Antrag Elternbeiträge für die über die Sockelfinanzierung hinausgehen Beträge vor. Da scheinen Sie nun in der SPD eine Kehrtwende zu vollziehen, denn im Wahlkampf hatten Sie eine komplette Elternbeitragsfreiheit gefordert. Das müssen Sie vielleicht noch einmal Ihren Wählerinnen und Wählern erklären.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Für uns, für die CDU, und für die NRW-Koalition bleibt es dagegen klar, das dritte Kitajahr bleibt, auf lange Sicht gesehen, beitragsfrei. Bei guten Rahmenbedingungen streben wir eine allgemeine Elternbeitragsfreiheit für alle Kitajahre an.

Daher werden wir, wie gesagt, in der gebotenen Gründlichkeit die gesetzlichen Grundlagen für eine gute frühkindliche Bildung erarbeiten, sodass die Träger möglichst schnell Planungssicherheit bekommen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Tigges. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Müller. Es ist seine erste Rede vor dem Hohen Haus.

Frank Müller (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser heutiger Antrag bietet – mittlerweile muss man besser sagen: bot – der Koalition eine erneute Chance, uns und der Öffentlichkeit ihren Plan zu erklären, die frühe Bildung in Nordrhein-Westfalen auskömmlich und zukunftssicher zu gestalten. Dem Verlauf der bisherigen Debatte nach zu urteilen, wollen Sie diese Chance heute einmal mehr nicht nutzen.

Ich sage auch – Kollegin Paul hatte das schon getan – mit Blick auf die Auftaktpressekonferenz der Landesregierung: Dort war außer Allgemeinplätzen wenig zu hören. Auch Herr Kamieth spricht in wolkigen Worten von strukturiertem Handeln. Herr Hafke, Sie geben sich noch nicht mal Mühe und ergießen sich in Oppositionsbeschimpfungen. – Ich sage Ihnen: Wann wir hier welche Anträge stellen, entscheiden wir ganz allein.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Noch viel schlimmer ist, in der gestrigen Haushaltsdebatte erklärt uns der Ministerpräsident hier im Plenum, dass er sein KiBiz nach wie vor für ein gutes Gesetz hält. Da bleibt einem vor lauter Fassungslosigkeit das Lachen im Halse stecken, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von den GRÜNEN – Zuruf von Marcel Hafke [FDP])

Ich sage: Sie werden mit dem Versuch scheitern, eine weitere Revision eines Gesetzes vorzunehmen, das am Ende seiner Reformierbarkeit angekommen ist. Doch leider ist dieser Fehler bereits in Ihrem Koalitionsvertrag angelegt. Da schreiben Sie, dass Sie grundsätzlich an einem auf Pauschalen basierenden Finanzierungssystem festhalten wollen. Dabei ist ein Systemwechsel mehr als nötig.

Insbesondere die feste Einrichtungsfinanzierung für mindestens 30 Stunden würde zahlreiche Probleme lösen und für die Träger eine verlässliche und planbare Grundlage darstellen.

Auf viele Aspekte hat Dennis Maelzer bereits hingewiesen. Einige will ich noch ergänzen:

Gerade das Buchungszeitensystem führt immer wieder zu Konflikten zwischen allen Beteiligten vor Ort, weil der Anspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit und vor allen Dingen Finanzierbarkeit häufig auseinandergeht. Das kennen wir wohl aus den kommunalpolitischen Gremien alle noch gut genug. Manche Diskussionen über die tatsächlichen Bedarfe verfolgen häufig nicht sachliche, sondern eher finanzielle Gesichtspunkte.

Meine Damen und Herren, das System der Pauschalen erzeugt darüber hinaus weitere Ungerechtigkeiten im System. So ist der relative Anteil der festen Kosten oder, wenn Sie so wollen, der Sowiesokosten, also der Kosten, die ohnehin da sind, umso größer, je kleiner die Einrichtung ist.

Ich habe mal bei einem Träger nachgefragt und das nachrechnen lassen. Ganz praktisch heißt das: 16 % bei einer sechsgruppigen, 21 % bei einer dreigruppigen und 25 % bei einer eingruppigen Einrichtung, also ein Unterschied von 10 Prozentpunkten.

Das zeigt doch deutlich, wie notwendig die Abkehr von einem pauschalen System ist. Es kann am Ende des Tages nicht von der Größe einer Einrichtung abhängen, ob zum Beispiel in der eigenen Kitaküche frisch gekocht wird. Gegebenenfalls weitere Rettungspakete oder einfach mehr Geld werden das eigentliche Problem, insbesondere der Träger, nicht lösen. Es liegt schlicht am System.

Wenn aber durch eine Sockelfinanzierung ein erheblicher Anteil der Finanzierung von der Belegung abgekoppelt würde, bedeutet das nicht nur eine bessere Planbarkeit für die Träger, sondern auch eine verlässliche Perspektive für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und nicht zuletzt auch für Kinder und ihre Familien eine konstant hohe und sicherzustellende Qualität.

Besonders wichtig ist mir ein weiterer Punkt unseres Antrags. Sowohl bei den Kitagebühren als auch bei den Trägeranteilen darf eben nicht mehr länger der Kollege Zufall entscheiden. Hier müssen endlich gleiche Bedingungen für alle herrschen. Beides darf nicht länger Gegenstand des Wettbewerbs unter den Städten und Gemeinden sein. Deshalb brauchen wir einheitliche Trägeranteile sowie landeseinheitliche und sozial gerechte Gebührentabellen.

Herr Kollege Tigges, ich empfehle Ihnen noch mal, unser Wahlprogramm zu lesen. Nichts ist älter als ein Wahlprogramm von gestern; da gebe ich Ihnen vielleicht recht. Aber in unserem Wahlprogramm haben wir immer von 30 Stunden gesprochen, die freigestellt sind, und der darüber hinausgehende Bedarf soll über landeseinheitliche Gebühren finanziert werden. Wir sind da in unserem Handeln sehr konsistent. Die Konsistenz vermisse ich allerdings bei Ihnen.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, man braucht im Übrigen keine Glaskugel, um hier die Wortbeiträge vorherzusehen. So verlässlich und berechenbar sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen,

(Zuruf von der CDU)

aber nur in dieser Hinsicht. Das, was Sie als die beste Verteidigung verstehen, bezeichne ich als rückwärtsgewandt. Die immer gleichen Vorhalte wirken tatsächlich langsam langweilig. Der Versuch, die eigene Orientierungslosigkeit mit Beschimpfungen der anderen zu kaschieren, ist mehr als billig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Das, was hier passiert, ist auch ein bisschen verdrehte Welt. Man mag uns vorhalten, dass wir hier in aller Regelmäßigkeit mit Anträgen auflaufen. Aber wenigstens tun wir das und erzeugen eine Debatte.

Es wäre doch eigentlich umgekehrt richtig, wenn uns die Regierung doch mal sagen würde, wo sie hin will. Da erwarten wir nicht, Herr Minister Dr. Stamp, dass Sie uns heute erklären, was Sie umgesetzt haben und was Sie morgen und übermorgen umsetzen. Aber wir möchten schon ganz gerne erfahren, wann welche Schritte – vielleicht werden es zwei, drei, vier, fünf oder am Ende zehn, vielleicht auch irgendwann drei Schritte zurück, wer weiß das schon – erfolgen und was bei Ihnen handlungsleitend ist. – Dass Sie das Ganze noch amüsiert, Herr Dr. Stamp, finde ich sehr bedauerlich. Aber das müssen Sie mit sich allein ausmachen.

Das, was Sie hier aufbieten, reicht nicht für die inhaltliche Auseinandersetzung. Die Menschen erwarten etwas mehr, aber das ist Ihr Problem und nicht unseres. Die Uhren sind auf null gestellt – und das schon länger als sechs Monate. Wenn Sie wenigstens die Karten auf den Tisch legen und uns zumindest sagen würden, wie Ihr kongenialer Zeitplan aussieht, aber ganz offensichtlich scheinen Sie sich da selber nicht über den Weg zu trauen.

Wie sich doch die Zeiten und die Perspektiven mitunter ändern. In der Opposition kritisierte Kollege Hafke lautstark, dass die Landesregierung – das hat er gerade noch mal wiederholt – keinen Veröffentlichungstermin der Eckpunkte und keinen Termin für das angestrebte Inkrafttreten des Gesetzes angeben könne, und er stellte fest – ich zitiere –: Eine seriöse parlamentarische Beratung in dieser Legislaturperiode wird so unmöglich.

Mir scheint, Kollege Hafke, Sie haben ganz hellsichtige Talente, und ich kann Ihnen nur raten: Werden Sie doch einfach Ihrem eigenen Anspruch gerecht, und lassen Sie eine entsprechende Beratung Ihrer Handlungsleitlinien hier im Parlament zu!

Ganz offensichtlich sonnen Sie sich nur allzu gerne – und das in jeder Sitzung – in Ihrem sogenannten Trägerrettungsprogramm. Aber damit haben Sie sich letztlich nur Zeit erkauft, und diese Zeit läuft irgendwann ab. Sie alle kennen sicherlich die Geschichte des Ikarus, der der Sonne zu nahe kam und irgendwann vom Himmel fiel. Das kann man alles so machen; es wird Sie aber gewiss nicht über die nächsten Jahre tragen.

Albert Einstein hat sicherlich einen sehr klugen Ratschlag für Sie parat:

„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“

Vielleicht denken Sie einfach mal darüber nach. – Herzlichen Dank und Glück auf!

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Frau Kollegin Paul noch einmal das Wort.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dieser Debatte ist man wieder einmal ratloser als zuvor: Was will denn eigentlich die selbsternannte NRW-Koalition? Die einen oder anderen Abgeordneten der regierungstragenden Fraktionen gehen mal in Richtung Sockel und mal nicht bei öffentlichen Veranstaltungen, aber eigentlich tendenziell doch schon eher, Ministerpräsident Laschet findet sein KiBiz-Gesetz nach wie vor äußerst gelungen, und der zuständige Minister sagt mal wieder nichts Konkretes.

Stattdessen hören wir mal wieder die gleiche Leier, Herr Minister Dr. Stamp, von: Wie hätten wir das denn in sechs Monaten schon machen sollen, was Sie in sieben Jahren nicht hinbekommen haben? – Ich habe schon gewusst, dass Sie diesen Textbaustein bringen. Deswegen habe ich doch schon vorher in meiner Rede gesagt: Genau das haben wir Ihnen nie unterstellt, dass Sie das schaffen würden. Das hätten wir Ihnen auch gar nicht zugetraut.

(Heiterkeit von den GRÜNEN und der SPD)

Offensichtlich haben wir ja auch recht damit, dass Sie das nicht schaffen werden. Das wirft Ihnen aber auch niemand vor. Denn ich habe Ihnen vorhin ja auch schon gesagt: Das Einzige, was wir jetzt gerne mal hören würden, wäre ein vernünftiger Zeitplan. Auch da kommt ja nichts.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Sie arbeiten sich weiter nur an den letzten sieben Jahren ab.

(Monika Düker [GRÜNE]: Der Wahlkampf ist vorbei!)

Ich muss schon ganz ehrlich sagen, Herr Minister: Die Art und Weise, wie Sie vorhin mit dem inhaltlichen Ringen umgegangen sind, war schon einigermaßen bemerkenswert. Ich habe schon den Eindruck gewonnen, Sie wollten das ein bisschen ins Lächerliche ziehen. Ich finde, das wird der Debatte und der Ernsthaftigkeit frühkindlicher Bildung schlicht und ergreifend nicht gerecht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich muss Herrn Kollegen Müller recht geben: Sie sonnen sich immer in Ihrem Kita-Rettungspaket. Dieses Kita-Rettungspaket – das haben wir doch auch gesagt; deswegen haben wir es doch auch so passieren lassen – ist doch auch gut gewesen. Aber irgendwann wird Eigenlob nicht mehr ausreichen. Irgendwann werden Sie sich an diesem Eigenlob auch messen lassen müssen. Dann wird mehr Konkretes kommen müssen, als diese wolkigen Ankündigungen, die Sie hier wieder vorgetragen haben.

Ich will nun nicht für die SPD-Fraktion sprechen oder sie – in Anführungszeichen – in Schutz nehmen, warum wir das hier jedes Mal in jeder Plenarrunde diskutieren. Warum es aber sinnvoll und richtig ist, dass wir das jedes Mal diskutieren, ist doch offensichtlich: Wir müssen inhaltlich um die beste Ausrichtung frühkindlicher Bildung ringen. Es ist doch einmal mehr deutlich geworden, dass Sie in allererster Linie damit beschäftigt sind, sich noch wahlkampfrhetorisch an der alten Landesregierung abzuarbeiten, und selbst nichts Konkretes vorlegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Solange das nicht kommt, werden wir das in jeder Plenardebatte erneut diskutieren. Aber Sie haben sich ja noch einmal zu Wort gemeldet; vielleicht kommt ja jetzt etwas Substanzielles.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – In der Tat hat jetzt für die Landesregierung Herr Minister Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sage Ihnen das in aller Offenheit – vielleicht habe ich es vorhin nicht hart genug gesagt –: Sie sind bei dem Thema überhaupt nicht satisfaktionsfähig.

(Josefine Paul [GRÜNE]: Das ist einfach unverschämt! – Monika Düker [GRÜNE]: Sind wir hier in einer schlagenden Verbindung?)

Sie sind überhaupt nicht satisfaktionsfähig, nachdem Sie sieben Jahre lang versagt haben.

(Beifall von der CDU und der FDP – Josefine Paul [GRÜNE]: Das ist unglaublich!)

Sie erwarten auf der einen Seite von uns, dass wir eben nicht nur kosmetische Veränderungen machen, sondern dass wir das KiBiz völlig neu aufstellen, Schwachpunkte beseitigen, die Auskömmlichkeit herstellen, die Qualität sicherstellen und bei der Flexibilität etwas machen. Da sind wir uns in der Sache auch einig. Das ist alles das, was Sie sieben Jahre lang nicht hinbekommen haben. Sie verlangen eine wirkliche Veränderung und eine substanzielle Verbesserung. Und dann mosern Sie hier rum, dass das nach sechs Monaten noch nicht der Fall ist. Das kann doch nicht wirklich Ihr Ernst sein.

(Beifall von der CDU und der FDP – Widerspruch von der SPD)

Ich werde den Zeitplan vorstellen, wenn wir die Parameter so beieinander haben, dass wir das mit Substanz vorstellen können,

(Beifall von der CDU und der FDP)

und nicht, weil Herr Dr. Dennis Maelzer hier seine allmonatliche Show abzieht. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP – Josefine Paul [GRÜNE]: Beeindruckend! Das ist wirklich nur Wahlkampfrhetorik; nichts anderes! – Monika Düker [GRÜNE]: So einfach kann man es sich auch machen!)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Für die SPD-Fraktion hat Herr Dr. Maelzer jetzt das Wort.

Dr. Dennis Maelzer (SPD): Frau Präsidentin! Herr Dr. Stamp, der Angesprochene kommt gerne noch einmal nach vorne. Die Kollegen haben gesagt, es sei schon bemerkenswert. Ich finde, mittlerweile ist es eine unerträgliche Arroganz, die Sie hier als Minister an den Tag legen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Sich hier ans Redepult zu stellen mit einer Hand in der Tasche und Oppositionsbeschimpfung zu betreiben, ist eines Ministers unwürdig –

(Widerspruch von der FDP)

zumindest solange, wie ein Minister keinen eigenen Fahrplan und keine eigene Idee in diesem Landtag vorstellt, Herr Minister Stamp.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Widerspruch von Thomas Nückel [FDP])

Ja, wir geben doch selbstkritisch zu: Das Ringen mit allen Beteiligten, zu einem neuen Gesetz zu kommen, war zäher, als wir uns das vorgestellt haben.

(Zurufe)

Darum hat unter SPD und Grünen dieses Land jede Reform, die wir in den vergangenen Jahren gemacht haben, alleine finanziert, damit wir mehr Geld für die Qualität in unseren Kitas bekommen.

(Beifall von der SPD)

Aber es hat doch in dieser Zeit niemand CDU und FDP verboten, sich vielleicht doch mal ein paar eigene Gedanken zu machen, wie denn der Weg aussehen könnte.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Josefine Paul [GRÜNE]: So ist das! Aber dafür hatten Sie keine Zeit!)

Dann stellt sich Kollege Kamieth hin und sagt: Wir suchen jetzt den Dialog und den Weg. – Das heißt doch übersetzt: Sie haben überhaupt keinen Plan.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Josefine Paul [GRÜNE]: In der Opposition darf man mitarbeiten!)

Dann der Opposition vorzuwerfen, hier konstruktive Vorschläge zu machen, ist schon wirklich ein starkes Stück.

Es wäre doch wohltuend gewesen, wenn Sie mit einem Satz gesagt hätten, ob eine Sockelfinanzierung eine gute Idee ist oder ob das Mumpitz ist wie das KiBiz, das noch aus der Feder des jetzigen Ministerpräsidenten stammt. Wenigstens ein wenig konkret zu werden, sollte man Ihnen doch abverlangen.

Konkret werden andere. Sie haben kritisiert, Herr Kamieth, dass die AWO auf einer Linie mit der SPD ist. Das ist nun nicht so ungewöhnlich. Als die AWO das gesagt hat, war Britta Altenkamp Vorsitzende der AWO. Glauben Sie denn etwa, Britta Altenkamp ist schizophren, wenn Sie das vorträgt? Natürlich ist sie als AWO-Vorsitzende genauso überzeugt von den Konzepten, die sie als Parlamentarierin für richtig hält.

Als wir unsere Ideen am Montag noch einmal der Öffentlichkeit vorgestellt haben, hat beispielsweise auch die GEW gesagt, es ist der richtige Weg, den die SPD vorschlägt.

Wir schlagen Wege vor, Sie stochern planlos im Nebel. Das finde ich extrem schade. Am Ende wird es darauf hinauslaufen, dass dieses Konzept der SPD für unsere Kitas wegweisend sein wird.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Maelzer. – Für die FDP-Fraktion hat sich Herr Kollege Hafke noch einmal gemeldet. Er hat jetzt die Gelegenheit zu reden.

Marcel Hafke (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Maelzer, es ist schon eine Unverfrorenheit, sich in dieser Art und Weise hier hinzustellen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Als Ihre Regierung unter Hannelore Kraft ins Amt gekommen ist, hat sie Gesetzesbruch begangen.

(Zuruf von der CDU: So ist das!)

Im KiBiz stand eine Evaluation. Das hat man nicht gemacht, weil man behauptete, man wüsste, wo die Probleme im KiBiz lägen.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Ihr habt mit dem KiBiz das Gesetz gebrochen!)

Die Konsequenz war – hören Sie mal zu! –, dass man die Probleme im KiBiz nicht mehr gemeinsam mit den Kommunen lösen konnte, weil man mit lauter Arroganz hier Politik betrieben hat. Das war die Problemlage, die wir vorgefunden haben.

(Beifall von der FDP und der CDU – Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Diese Arroganz, die Sie hier sieben Jahre lang an den Tag gelegt haben, hat Sie eingeholt. Deshalb haben wir die Probleme, die wir heute vorgefunden haben.

Das machen wir anders. Wir lassen uns nicht von Ihnen durch die Manege treiben. Wir werden erst einmal sauber mit den Trägern und mit den Kommunen über eine vernünftige Kostenbeteiligung und eine vernünftige Ausfinanzierung verhandeln. Wenn das passiert ist, dann wird es einen Zeitplan geben.

(Dr. Dennis Maelzer [SPD]: Keine Idee, was Sie machen wollen!)

Alles andere ist unseriös und hat nichts mit vernünftiger Politik zu tun. Wir haben erlebt, was passiert, wenn man diese Luftschlösser aufbaut und sich mit großem Wahlkampfgetöse irgendwo hinstellt und nichts auf den Weg bringt. Wir sind es den Kindern in diesem Land schuldig, dass wir eine vernünftige und seriöse Politik machen.

(Frank Müller [SPD]: Wenn man nichts vorschlägt, muss man auch nichts halten!)

Meine Damen und Herren, ich finde es total daneben, dass sich die SPD hier in dieser Art und Weise aufspielt. Ich hätte es richtig gefunden, wenn Sie einmal selbst gesagt hätten: Wir haben es in diesen sieben Jahren nicht geschafft, wir haben Fehler gemacht, und das ging damals bei der Evaluation los. Wir werden jetzt gemeinsam mit CDU und FDP an guten Lösungen arbeiten, wie wir die Kommunen mit ins Boot bekommen, damit die Finanzierung klappt. – Das wäre seriöse Politik. Die vermisse ich aber bei Ihnen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Michael Hübner [SPD]: Das ist ja niedlich! Ein niedlicher Vorwurf! – Weitere Zurufe von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hafke. – Bei uns hier oben liegen jetzt keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schaue vorsichtshalber in die Runde, ob das so bleibt. – Das ist so. Dann schließe ich die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 2.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags in der Drucksache 17/1666 an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend. Die abschließende Abstimmung soll dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? – Das ist nicht der Fall. Enthaltungen? – Sehe ich auch nicht. Dann ist der Antrag in den Ausschuss überwiesen worden.

Ich rufe auf:

3   NRW muss Industrieland Nr. 1 in Deutschland bleiben – Industriepolitische Leitlinien weiterentwickeln: für mehr Wachstum und Beschäftigung

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/1659

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/1753

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die CDU-Fraktion Herr Kollege Rehbaum das Wort.

Henning Rehbaum (CDU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine prägende Erfahrung für mich war Mitte der 90er-Jahre meine Ausbildung als Industriekaufmann bei einem großen westfälischen Landmaschinenhersteller.

Da konnte ich staunen: Industriemechaniker, Werkzeugmechaniker, Lackierer, Schweißer, Produktionshelfer, unzählige Ingenieure, Hunderte Industriekaufleute, BWLer, Bürokaufleute, allein 150 Azubis, selbst eine Werksfeuerwehr gab es, insgesamt 2.000 Arbeitsplätze an einem Ort.

Die Beschreibung wäre unvollständig, wenn ich die Arbeitsplätze nicht erwähnen würde bei den Zulieferern, den Dienstleistern, dem örtlichen Handel, bei Transport und Verkehr. Unzählige Lkws lieferten täglich nicht nur Reifen aus Hannover, Motoren aus Mannheim oder Förderschnecken aus Ungarn, sondern auch Bleche aus dem Ruhrgebiet, Krananlagen aus dem Kreis Warendorf, Maschinenkomponenten aus dem Sauerland, Fahrersitze aus Lemgo. Bis in die Montagebahn lieferte der spezialisierte Handel aus Ostwestfalen Schrauben direkt in die Fächer.

Irgendwo wurde im Betrieb immer gebaut. Die Handwerker aus der Region, Stahlbauer, Maurer, Elektriker, Maler, waren nahezu täglich im Einsatz. Dazu wurden im laufenden Geschäft Werbeagenturen, Steuerberater, Betriebsärzte, IT-Dienstleister, Patentanwälte beschäftigt, die von und mit einem solchen Industrieunternehmen lebten, nicht zu vergessen die Beschäftigten der örtlichen Hotels, die von Geschäftspartnern und Schulungsgruppen aus aller Welt in Anspruch genommen wurden, Reinigungskräfte, Gärtner und die freundliche Verkäuferin im Brötchenwagen bei der allmorgendlichen Frühstückspause.

Warum schildere ich Ihnen all das? – Damit auch der Letzte hier im Hohen Hause versteht: Die Industrie mit ihren langen Wertschöpfungsketten ist ein exzellenter Jobmotor, den wir am Laufen halten müssen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Gerade in Ostwestfalen-Lippe, Südwestfalen und dem Münsterland, aber auch noch immer im Ruhrgebiet und im Rheinland finden wir diese starken Industrieunternehmen mit unzähligen Arbeitsplätzen in der Region. Den 10.000 Unternehmen und den 1,2 Millionen Beschäftigten in der nordrhein-westfälischen Industrie möchte ich heute einmal herzlich für ihren Einsatz für unser aller Wohlstand danken.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Diese Beschäftigten mit ihren Familien und auch die Unternehmen selbst, die vielen Hidden Champions in unserem Land, die so lange vom rot-grünen Kabinett Kraft vernachlässigt wurden, haben eine bessere Industriepolitik verdient.

Im Kabinett Kraft schien der Umweltminister schier unbegrenzten Einfluss zu haben, Wirtschaftspolitik zu verhindern. In der Zeit von 2010 bis 2015 ist die Industrie in Nordrhein-Westfalen um 5 % geschrumpft, während sie in Bayern um 8 % gewachsen ist. In der Zeit von 2010 bis 2016 gingen 3.800 ha Industrie- und Gewerbefläche in Nordrhein-Westfalen verloren.

Unter Rot-Grün musste sich die Industrie hinten anstellen. Und die schleichende Deindustrialisierung des Landes nahm ihren Lauf. Auch so erklärt sich die zu hohe Arbeitslosigkeit und Armutsquote in unserem Land.

Bei Rot-Grün saß der arme Wirtschaftsminister am Katzentisch. In der NRW-Koalition spielt Wirtschaftspolitik eine zentrale Rolle.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die Aufgaben und der Etat des Wirtschaftsministeriums wurden deutlich gestärkt.

Wir nehmen den Unternehmen Steine aus dem Rucksack. Wir starten Bundesratsinitiativen, zum Beispiel zusätzliche Ausschreibungsrunden

(Michael Hübner [SPD]: Wow!)

zur Stärkung der heimischen Windanlagenhersteller und ihrer Arbeitsplätze. Wir wollen eine bezahlbare, sichere und saubere Energieversorgung und gute Verkehrswege, Breitbandnetze und echten Bürokratieabbau.

Unser Ministerpräsident Armin Laschet schlägt sich in Berlin die Nächte um die Ohren,

(Dietmar Bell [SPD]: Hört, hört!)

um für beste Rahmenbedingungen für Industrie und ihre Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen zu kämpfen.

(Michael Hübner [SPD]: Er lacht selbst, Herr Rehbaum! Er lacht selbst!)

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vorbildlicher Einsatz für den Wirtschaftsstandort NRW.

(Beifall von der CDU und der FDP – Michael Hübner [SPD]: Da muss er selbst lachen!)

In der NRW-Koalition gilt Vorfahrt für Wirtschaft, Wachstum und gute Arbeitsplätze und die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie.

(Michael Hübner [SPD]: Wow!)

Wir legen jetzt noch einen Tacken zu und wollen die industriepolitischen Leitlinien, die nie das Licht des Kabinetts Kraft erblickt haben, aufnehmen und gemeinsam mit der Wirtschaft, den Unternehmen, Verbänden, Kammern und Gewerkschaften weiterentwickeln. Mit der sozialen Marktwirtschaft als Kompass werden wir den Industriestandort NRW fit für die Zukunft machen: für Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP – Michael Hübner [SPD]: Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Rehbaum. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Brockes das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Dietmar Brockes (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion – ein paar sind anwesend –,

(Zuruf von der SPD)

mit diesem Antrag „NRW muss Industrieland Nr. 1 in Deutschland bleiben – Industriepolitische Leitlinien weiterentwickeln: für mehr Wachstum und Beschäftigung“ haben wir Ihnen, ehrlich gesagt, eine goldene Brücke gebaut.

(Michael Hübner [SPD]: Aha!)

Sie haben heute hier die Möglichkeit, gemeinsam mit CDU und FDP von dieser neuen Landesregierung das einzufordern, was zumindest Teile der SPD in ihrer eigenen Koalitionszeit wegen ihres grünen Koalitionspartners umsetzen wollten, aber nicht konnten.

Wir haben bewusst in dem Antrag darauf verzichtet, Spitzen gegen die abgewählte Regierung zu setzen, und nur nüchtern den Sachverhalt beschrieben, der damals auch breit durch die Medien ging. Es ist uns nämlich wichtig, dass diese Landesregierung hier einen breit getragenen Auftrag erhält und wir heute klar sagen: Nordrhein-Westfalen ist das Industrieland in Deutschland. Nordrhein-Westfalen ist das Industrieland in Europa und soll es auch bleiben.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, ein solches gemeinsames Signal wäre gut und wichtig. Es wäre, ehrlich gesagt, auch nichts Neues; denn wir haben auch in der letzten Legislaturperiode parteiübergreifend für unseren Industriestandort Nordrhein-Westfalen hervorragende Arbeit zum Beispiel in der Enquete-Kommission zur Zukunft der Chemie geleistet. Im Übrigen haben wir in der Enquete-Kommission zum Handwerk genauso gemeinsam gearbeitet. Daran sollten wir eigentlich heute anknüpfen.

Gestern haben Sie als SPD-Fraktion unserem Änderungsantrag zum Haushalt zugestimmt, der die stoffliche Nutzung der Braunkohle voranbringen soll, für die Sie damals keine finanziellen Mittel einsetzen konnten. Deshalb wäre es heute ein gutes und wichtiges Zeichen, an diese gemeinsame Position für den Industriestandort anzuknüpfen.

Aber statt diese ausgestreckte Hand anzunehmen, führen Sie hier mit Ihrem Entschließungsantrag den Kurs der alten, abgewählten SPD fort und schlagen in typischer Römer-Hübner-Manier wie wild um sich und verbreiten mit Ihrem Entschließungsantrag nur Unsinn und Unwahrheiten.

(Vereinzelt Beifall von der CDU – Michael Hübner [SPD]: Was?)

Meine Damen und Herren, ich belege das mit einigen Beispielen aus Ihrem Antrag. Sie sprechen in Ihrem Antrag von Ideenplagiaten. – Was für ein Blödsinn!

(Michael Hübner [SPD]: Nein, das ist richtig!)

Was für ein Blödsinn! Sie wissen gar nicht, was ein Plagiat ist, Herr Hübner.

(Michael Hübner [SPD]: Doch! Ich möchte gern von Ihnen die Erklärung hören, aber ohne Manuskript, Herr Kollege!)

– Bei einem Plagiat unterschlägt man bewusst oder unbewusst die Quelle. – Wir sagen aber, dass wir genau das, was Herr Duin damals begonnen hat, wofür er aber nicht Ihre Unterstützung erhielt, für einen guten und richtigen Ansatz halten, und setzen ihn deshalb um. Wir stehen dazu.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und der CDU)

Sie haben bis heute nicht die Traute, sich dahinterzustellen.

Meine Damen und Herren, wir greifen diesen Ansatz auf und setzen ihn in die Tat um. Wir sorgen mit diesem Antrag dafür, dass es offizielles Regierungshandeln wird.

Sie reden, wie gesagt, von einem Plagiat, wenn wir etwas von dem übernehmen, was Sie gemacht haben. Im selben Absatz des Antrags schimpfen Sie aber in einem weiteren Punkt darüber, dass wir die Dialogforen nicht übernehmen würden. Dann haben Sie unseren Antrag nicht gelesen; denn genau das fordern wir ein. Der Dialog soll mit allen Beteiligten fortgesetzt werden, die für diesen Prozess wichtig sind.

Ihren dritten Punkt im Antrag finde ich, ehrlich gesagt, unverschämt. Dort sagen Sie bewusst die Unwahrheit, wenn Sie behaupten, die Landesregierung hätte die Sitzverlegung von thyssenkrupp unterstützt.

(Michael Hübner [SPD]: Ja!)

Dies, meine Damen und Herren, stimmt so nicht. Es ist eine wirkliche Unverschämtheit, dies in Ihrem Antrag so zu schreiben.

(Vereinzelt Beifall von der CDU – Michael Hübner [SPD]: Sie haben doch im Ausschuss selbst für Amsterdam geworben!)

Aber das passt ja

(Michael Hübner [SPD]: Sie haben doch im Ausschuss für Amsterdam geworben!)

zu den Fake News Ihres Herrn Römer zur Debatte über den China-Stahl, wie wir gestern bereits von meinem Fraktionsvorsitzenden Christof Rasche gehört haben.

(Michael Hübner [SPD]: Müssen Sie auch ablesen, dass er Fraktionsvorsitzender ist?)

Hier sage ich Ihnen ganz klar: Das ist nicht der richtige Weg.

Wir fordern deshalb an dieser Stelle, dass sich die NRW-Koalition klar zum Industriestandort Nordrhein-Westfalen bekennt.

(Michael Hübner [SPD]: Ja, machen Sie doch!)

Wir wollen den Dialog mit allen relevanten Gruppen verstärken. Ich hoffe, dass der Einfluss der abgewählten Römer-Hübner-SPD langsam zurückgeht

(Heiterkeit von Rainer Schmeltzer [SPD] und Michael Hübner [SPD])

und dass die SPD in der Lage ist, dem Vorschlag von Garrelt Duin zu folgen und sie unseren Weg mitgeht. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Brockes. – Als nächster Redner hat nun für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Sundermann das Wort. Bitte schön.

(Michael Hübner [SPD]: Frank, verteidige mich bitte!)

Frank Sundermann (SPD): Nee.

(Heiterkeit )

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich reagiere immer so ein bisschen – gereizt bin ich eigentlich nie; wer mich kennt, weiß das – angenervt, wenn hier das Wort „Ehrlichkeit“ benutzt und so strapaziert wird. Also, unehrlich sind hier die wenigsten, aber wenn Sie, Herr Brockes, und auch Sie von der CDU es ernst gemeint hätten, mit uns in eine Kommunikation über Ihren Antrag einzutreten, dann hätten Sie sich a) an uns gewandt, und b) hätten Sie ihn nicht zur direkten Abstimmung gestellt, sondern in den Ausschuss verweisen lassen. Da hätte man sich vielleicht darüber unterhalten können. Das wollten Sie nicht. Sie wollten hier Ihren Punkt setzen und eben nicht mit uns ins Gespräch kommen.

(Beifall von der SPD)

Nichtsdestotrotz, meine Damen und Herren, freuen wir uns natürlich, dass Sie aus unseren Leitlinien nun ein Leitbild machen

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Bei Ihnen wird das mit T geschrieben! – Gegenruf von Michael Hübner [SPD]: Sie meinen, mit D! – Gegenruf von Josef Hovenjürgen [CDU]: Das meinte ich, ja! – Heiterkeit – Gegenruf von Michael Hübner [SPD]: Ich kenne mich aus! Ich bin schon länger hier! – Rainer Schmeltzer [SPD]: Wir bieten auch Rechtschreibkurse an!)

und dieses sogar zum Leitbild Ihres Regierungshandelns machen wollen.

Meine Damen und Herren, es ist auch bitter nötig, dass Sie das an dieser Stelle so machen. Sie sind eben nicht Opposition, und insofern war es ganz erfrischend, dass Herr Brockes nicht schon wieder diese Oppositionsrhetorik verwandt hat. Sie sind Regierung, und deswegen lassen Sie uns doch gemeinsam schauen: Was haben Sie in Ihrer aktuellen Regierungszeit, die nun schon ein gutes halbes Jahr dauert, gemacht? Haben Sie sich an diese Leitlinien, die Sie jetzt so hoch loben, auch gehalten? Das können wir uns doch sicherlich gemeinsam einmal anschauen.

Einer der wichtigsten Punkte kam hier gerade schon ins Gespräch. Das ist der Dialog. Auch in Ihrem Antrag steht, dass Dialog ein Kernpunkt der industriepolitischen Leitlinien sei. Schauen wir uns zu dieser Fragestellung drei Punkte an.

Der erste Punkt: Wie sind Sie mit dem Ladenöffnungsgesetz umgegangen? – Beim Ladenöffnungsgesetz gab es einen runden Tisch, der laut Aussagen der Kirchen kurz vor einem Erfolg stand. Sie haben diesen Dialog gar nicht weiter gesucht, sondern Ihr Gesetz an diesem Dialog vorbei auf den Weg gebracht.

(Beifall von der SPD )

Der zweite Punkt ist die Allianz Wirtschaft und Arbeit 4.0. – Herr Minister, Sie haben in einigen Interviews gesagt, dass Sie diesen Dialog fortführen wollen. Das freut uns. – Sie nicken gerade. Das werte ich als Zustimmung, auch fürs Protokoll. Aber von Teilnehmern hört man, dass dieser Prozess aktuell brachliegt. Deshalb lautet unser Wunsch: Machen Sie dort weiter!

Drittens. Sicherlich der negative Höhepunkt war die Absage des Stahlgipfels. Der Stahlgipfel ist abgesagt worden, weil mangelndes Vertrauen da war, weil dieser Dialog nicht funktioniert.

Deshalb kann man sagen: Den Punkt „Dialog“ der Leitlinien haben Sie deutlich gerissen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Der zweite Punkt, den ich anführen möchte, ist die Akzeptanz. Industrie braucht Akzeptanz, aber auch die industriellen Produkte brauchen Akzeptanz. Akzeptanz brauchen auch Windkraftanlagen, die Produkt dieser industriellen Fertigung sind.

(Beifall von Michael Hübner [SPD])

Sie zerstören mit Ihrem Windkrafterlass und mit Ihrem LEP diese Akzeptanz, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD)

Der dritte Punkt ist die Energiepolitik. Energiepolitik ist immer auch Industriepolitik, und Industrie- und Energiepolitik müssen verlässlich sein. Leider, meine Damen und Herren, haben wir festgestellt, dass das Gegenteil der Fall war. Hier ist schon öfter darüber gesprochen worden: Am Rande der Jamaika-Koalition haben Sie mit der von Ihnen aufgerufenen Megawatt-Lotterie, Herr Ministerpräsident, Strukturbrüche riskiert. Sie gefährden 30.000 Arbeitsplätze und darüber hinaus den Industriestandort Nordrhein-Westfalen.

Der vierte Punkt, der in den industriepolitischen Leitlinien immer eine wichtige Rolle spielt, sind die Fachkräfte. Industrie- und Handelskammern und auch das Handwerk haben den Fachkräftemangel als das Wachstumshindernis Nummer eins identifiziert. Und man muss feststellen: Die Landesregierung ist an dieser Stelle bisher mit einer einzigen Maßnahme auffällig geworden: Sie wollen Studiengebühren für ausländische Studenten einführen, um den Zuzug ausländischer Fachkräfte nach Nordrhein-Westfalen deutlich zu verschlechtern.

Meine Damen und Herren, das ist aus unserer Sicht nicht der richtige Weg. Denn wenn wir – in der Analyse sind wir uns doch einig – feststellen, dass das das Problem Nummer eins ist, dann müssen wir es in den Mittelpunkt der Politik stellen. Dann dürfen Sie nicht nur Entfesselungsrhetorik absondern, sondern müssen deutlich liefern. – Herr Pinkwart, Sie schütteln den Kopf und lächeln. Sie werden mir sicherlich gleich fünf Punkte nennen, bei denen Sie es deutlich anders machen.

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Der hört dir gar nicht zu!)

Meine Damen und Herren von der CDU und von der FDP, Sie wollen die Leitlinien zum Leitbild entwickeln. Ein hehres Ziel! Unser Vorschlag wäre: Halten Sie sich ab sofort daran! Dann wäre dem Land gedient und auch den Menschen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Sundermann. – Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Becker das Wort. Bitte schön.

Horst Becker (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Antrag fassen die Fraktionen von CDU und FDP in den ersten beiden Absätzen die Fakten zum Mix der Unternehmen, zu ihrer Größe, ihrer Bedeutung für die industrielle Wertschöpfung, für die Leitmärkte und die Beschäftigten in Nordrhein-Westfalen weitgehend richtig zusammen. Sie fassen zusammen und beschreiben dort, was Sie aus der Regierungszeit der rot-grünen Regierung übernommen haben.

Und, Herr Rehbaum, das ist eben nicht Deindustrialisierung gewesen, sondern das war eine kluge, innovative Industriepolitik.

(Lachen von der CDU)

Meine Damen und Herren, heute nun, nachdem Sie in Oppositionszeiten immer den Standort Nordrhein-Westfalen schlechtgeredet haben,

(Henning Rehbaum [CDU]: Wer glaubt denn so was?)

stellen Sie den Antrag, mit dem Sie diese Landesregierung auffordern, ein verbindliches industriepolitisches Leitbild zu entwickeln und dabei die Entwicklungsfähigkeit und Innovationskraft der Industrie in den Mittelpunkt des Leitbildes zu stellen, dafür den Dialog mit den relevanten Akteuren durchzuführen und für die Akzeptanz der Industrie zu werben.

Es stellt sich die Frage – und es passt gleichzeitig ins Bild Ihrer bisherigen Regierungszeit –, warum Sie eigentlich nach sechs Monaten, nach 206 Tagen, in denen Sie nichts anderes gemacht haben, als Oppositionsreden zu halten und Oppositionsanträge zu stellen, nun um die Ecke kommen und jetzt Gespräche von der Landesregierung fordern, in der nächsten Zeit Konzepte zu entwickeln, von denen Sie in den letzten fünf Jahren behauptet haben, dass Sie sie haben und dass Sie regieren wollen, um diese endlich umzusetzen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in weiten Teilen der Beschreibung ist der Antrag, wenn man das so schön sagen darf, dünne Suppe.

Sie nennen auf Seite 2 im ersten Absatz drei Schwerpunkte – Innovationspolitik und Innovationsdynamik –, aber Sie sagen nichts darüber, wie das ganz praktisch gemacht werden soll, wie die Landespolitik für mehr Innovationsdynamik der Unternehmen einstehen soll und wie sie sie fördern will.

Sie fordern mehr Impulse, aber Sie nennen ein Mehr an Impulsen und die Idee dazu nicht.

Sie nennen Geschäftsmodelle für die Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung, aber Sie sagen eben nicht, ob Sie tatsächlich der Auffassung sind, dass unsere Industrie in Nordrhein-Westfalen die Aufgaben der Industrialisierung und die Herausforderungen nicht erkannt hat.

Sie sagen: Technologietransfer und Ausgründung. Dazu könnte die Landesregierung Vorschläge machen, und ich bin schon gespannt, was ihre Vorschläge sein werden. In dem Antrag liest man sie jedenfalls nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wenn das die industriepolitischen Schwerpunkte dieser Landesregierung sind, dann stelle ich Ihnen die Frage: Was ist mit Fachkräftemangel? Was ist mit der Zukunft der dualen Ausbildung? Und wäre es nicht richtig, wenn Sie zuerst die Menschen in den Mittelpunkt stellen würden, bevor Sie den Eindruck erwecken, die Arbeit der Vorstände der Unternehmen bei Investitionen und Innovationen quasi selber übernehmen zu wollen?

Warum gibt es in Ihrem Antrag beispielsweise keinen vierten Punkt, der die in der Industrie Beschäftigten in den Mittelpunkt stellt und sich um die Frage kümmert, wie die Zukunft der Industriebeschäftigten aussieht und wie wir ihnen die Arbeit der Zukunft erleichtern können?

Sie sprechen von der Qualität der Verkehrsnetze, obwohl Ihr Verkehrsminister nach den großartigen Reden in der Opposition am ersten Tag seiner Regierungszeit verkündet hat, er sei sich keinesfalls sicher, dass am Ende der fünf Jahre Amtszeit weniger Staus stünden als am Anfang.

Sie sprechen vom Breitbandausbau, obwohl Sie im Breitbandausbau keineswegs mehr getan haben, als jetzt die Förderbescheide aus den Förderprogrammen Ihrer Vorgänger zu verteilen.

Zudem kündigen Sie einen engagierten Dialogprozess mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Kammern an. Dazu stellt sich die Frage: Beziehen Sie eigentlich das Handwerk, die Fachverbände und die Wissenschaft mit ein?

Sie wollen darüber hinaus EU-Vorschriften eins zu eins umsetzen. Ihnen ist offensichtlich immer noch nicht aufgefallen, dass Umsetzungen durchaus auch länderspezifisch Sinn machen können, weil Eins-zu-eins-Umsetzungen eben auch mehr Bürokratie als nötig bedeuten können.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])

Meine Damen und Herren, wenn Sie etwas für die Industrie tun wollen, dann sollten Sie inzwischen von dem Vorlesungsstil Ihres Wirtschaftsministers Abstand nehmen, in die konkrete Arbeit eintreten und sich auch tatsächlich um Industriepolitik kümmern, wie zum Beispiel beim Stahl. Dann hätten Sie etwas getan. So muss ich Ihnen sagen: Thema verfehlt. – Schönen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und Michael Hübner [SPD])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Becker. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Strotebeck das Wort.

Herbert Strotebeck (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Nordrhein-Westfalen muss Industrieland Nummer eins in Deutschland bleiben. Diese Forderung können und werden hoffentlich alle Abgeordneten hier im Plenarsaal unterschreiben.

Aber warum stellen Sie diesen Antrag eigentlich gerade jetzt? Haben Sie der Industrie und den Arbeitern in Nordrhein-Westfalen möglicherweise vor den Kopf gestoßen und nutzen den vorliegenden Text nun als eine Art Blumenstrauß-Antrag zur Wiedergutmachung? Jeder weiß vermutlich, auf was ich hinauswill. Wenn nicht, helfe ich sehr gerne nach.

Für Dezember 2017 plante die schwarz-gelbe Landesregierung einen NRW-Stahlgipfel. Dieser musste jedoch kurzfristig durch die Landesregierung abgesagt werden. Bei dem Gipfel sollte nach Wegen gesucht werden, den Stahl zukunftsfähig zu machen. Die IG Metall lehnte jedoch die Teilnahme ab, da sie der Regierung nicht vertraut, sich ernsthaft für die Industrie in Nordrhein-Westfalen einzusetzen, und in Showveranstaltungen keinen Sinn sieht.

Kommen wir zu einem zweiten Detail fragwürdiger Industriepolitik der Landesregierung. Nordrhein-Westfalen plant, bis zu 90.000 t Stahl aus Fernost zu importieren, und das sind genau bis zu 90.000 t zu viel. Meine Damen und Herren der Landesregierung, in Nordrhein-Westfalen wird ausreichend hervorragender Stahl produziert. Ein Import ist in jeder Hinsicht absurd.

(Beifall von der AfD)

In Duisburg zum Beispiel steht das weltbekannte thyssenkrupp-Stahlwerk. Der Stahltransport von dort bis zu den Baustellen auf der A1 oder A40 geht schnell,

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

und die Stahlwerke in Nordrhein-Westfalen gehören zu den umweltfreundlichsten der Welt. Warum lassen Sie es zu, dass wir Stahl aus knapp 10.000 km entfernten Orten nach Nordrhein-Westfalen transportieren? Warum nehmen Sie diese zusätzliche Umweltbelastung in Kauf?

Selbst wenn der Stahl aus Fernost auf den ersten Blick billiger sein mag, so könnte er die Industrie und auch die Menschen in Nordrhein-Westfalen teuer zu stehen kommen. Der Verband bauforumstahl e. V. befürchtet, dass die geringere Qualität des chinesischen Stahls dazu führen könnte, dass die Autobahnbrücken in Nordrhein-Westfalen schneller sanierungsbedürftig werden.

Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Sie für die Akzeptanz der Industrie werben wollen. Mit der aktuellen Industriepolitik werben Sie, überspitzt gesagt, höchstens für die Akzeptanz der Industrie der Volksrepublik China.

Meine Damen und Herren von CDU und FDP, wenn Sie Ihren eigenen Antrag ernst nehmen und sich für mehr Wachstum und Beschäftigung einsetzen wollen, lassen Sie es nicht zu, dass Tausende Tonnen Stahl nach Nordrhein-Westfalen importiert werden, und verstecken Sie sich bitte nicht hinter Ausreden einer EU-weiten Ausschreibung,

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist keine Ausrede, das ist eine Tatsache!)

welche unter der rot-grünen Vorgängerregierung erfolgt ist.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das ist eine Tatsache!)

Stellen Sie sich lieber endlich vor die Stahlarbeiter! Die Ausschreibung und die Vergabe

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Machen Sie sich erst mal sachkundig!)

der Bauarbeiten und damit die Verwendung von Billigstahl für die Leverkusener Brücke sind laut bauforumstahl e. V. kaum nachvollziehbar. Da muss man doch ansetzen.

Wir wissen alle, dass Nordrhein-Westfalen den besten Stahl der Welt in den besten Stahlwerken der Welt produziert. All das lässt sich mit Zertifikaten nachweisen, was Billigfirmen aus Fernost nicht können. Die Tatsache, dass Herr Minister Wüst in der Presse angekündigt hat, extra Prüfer aus Nordrhein-Westfalen nach China zu schicken, um den Stahl vor Ort kontrollieren zu lassen, ist nur eine traurige, aber teure Randnotiz.

Anstatt Prüfer und Stahl um die halbe Welt zu schicken und vor Protektionismus zu warnen, sollte Herr Wüst sich lieber Gedanken machen, wie man einen solch irrsinnigen Vorgang in Zukunft von vornherein verhindern kann. Die Ausschreibung für die A40-Brücke steht ja noch aus.

Noch in der vergangenen Woche hat der Ministerpräsident – jetzt ist er leider nicht da – anlässlich des Neujahrsempfangs der IHK Düsseldorf natürlich eine gute Zusammenarbeit mit der IHK, mit dem Mittelstand und der Industrie in Nordrhein-Westfalen zugesagt, und er betont auch hier wieder „Maß und Mitte“. Nur zwei Tage später stand das angesprochene Stahldesaster natürlich ausführlich in der Presse, was dem Minister bei seiner Rede mit Sicherheit schon bekannt war. Ist das sein Verständnis von „Maß und Mitte“?

Wenn der Ministerpräsident in seiner Rede verkündet hätte, dass selbstverständlich die anstehenden Neubauten der Autobahnbrücken mit Stahl aus der Herzkammer Deutschlands, also natürlich aus Nordrhein-Westfalen, gebaut werden, hätte Herr Laschet wahrscheinlich aufgrund des tosenden und langanhaltenden Beifalls seinen Flieger nach Berlin verpasst. Aufgrund der dann zu erwartenden Presseberichte wären ihm die Herzen aller, nicht nur der Stahlarbeiter, zugeflogen. Sein Lapsus zu den Sonderungsgesprächen wäre dann von der Presse wahrscheinlich gar nicht zur Notiz genommen worden.

Hier wurde eine einmalige Chance vertan. Seit Montag bestätigen ihm die Presseberichte schon, dass 49 % der Bürger mit der Landesregierung unzufrieden sind.

Wir von der AfD stimmen dem vorliegenden Antrag inhaltlich natürlich zu, da wir selbstverständlich unser Land ganz weit vorne sehen wollen. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Strotebeck. – Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat für die Landesregierung Herr Minister Professor Dr. Pinkwart das Wort.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Nordrhein-Westfalen ist ein bedeutender europäischer Industriestandort, und er muss dies auch bleiben. Unsere Industrie und die damit verbundenen industrienahen Dienstleistungen – und das würde ich auch gerne der Öffentlichkeit stärker ins Bewusstsein rücken; beide hängen eng miteinander zusammen – sind Motor des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Gleichzeitig wirken sie schon heute als Innovationstreiber für moderne, umweltschonende Produktionsverfahren und Wertschöpfungsketten.

Es gilt, den leistungsstarken Industriestandort Nordrhein-Westfalen durch optimale Rahmenbedingungen, einen Quantensprung bei Innovation und Transfer, ein ausgezeichnetes Klima für Gründerinnen und Gründer und eine echte Willkommenskultur für Investoren dauerhaft in der Spitzengruppe aller Industriestandorte, auch im weltweiten Vergleich, zu positionieren.

Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber Nordrhein-Westfalen hat zweifellos das Potenzial dazu. Die Schlüsselworte für die Weiterentwicklung moderner Industriestandorte heißen Infrastruktur, Digitalisierung und Innovation. Der permanente Wandel muss Teil unserer DNA sein. Wir wollen deshalb die in der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit der Wirtschaft und den Industriegewerkschaften von meinem Amtsvorgänger erarbeiteten industriepolitischen Leitlinien zu einem Leitbild mit konkreten Zielvorgaben weiterentwickeln.

Dabei wird unser Leitbild anders als in der letzten Legislaturperiode am Ende des Prozesses vom gesamten Kabinett auch mitgetragen werden. Ich möchte Ihnen das auch sehr persönlich sagen, auch in Anerkennung für das, was Herr Duin dort vorgearbeitet hat: Inhaltlich stimmen wir da überein.

Im Duktus sah ich allerdings Nachbesserungsbedarf an den industriepolitischen Leitlinien, die bisher erarbeitet wurden. Das habe ich im Übrigen direkt nach Amtsübernahme den Gewerkschaften wie den Arbeitgebervertretern in der Arbeitsgruppe – mit ihnen arbeiten wir schon Monaten – zu deren Freude auch schon gesagt: Ich wünschte mir, dass die industriepolitischen Leitlinien im Sinne eines Leitbildes zum Teil der gesamten Landesregierung würden und auch vom Landtag mit großer Mehrheit hoffentlich verabschiedet würden, dass das aber keine Leitlinien werden, die defensiv als Abwehrleitlinien formuliert sind,

(Beifall von der CDU und der FDP)

sondern dass sie positiv formuliert werden.

Ich finde, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Industrie in Nordrhein-Westfalen, die dort Beschäftigten, und die, die dort Verantwortung auch in den Unternehmensleitungen tragen, müssen sich doch nicht dafür entschuldigen, dass es die Industrie gibt. In all ihren Erscheinungsformen, wie die Debatte es gezeigt hat, erfordern die kleinen industriellen Betriebe wie die großen Weltmarktführer natürlich Rahmenbedingungen, aber auch Anerkennung für das, was in den Unternehmen geleistet wird.

Mein Wunsch ist, dass wir aus dem Gegeneinander von Wirtschaft und Umwelt, wie es ja jahrelang leider in diesem Land gesehen wurde, herausfinden und zu einem Miteinander von Wirtschaft und Umwelt kommen, indem wir hier in Nordrhein-Westfalen den Anspruch an uns stellen, nicht nur die effizienteste Industrie zu haben, sondern auch die umweltfreundlichste Industrie in Europa und weltweit; denn nur dann werden wir auf Dauer auch wettbewerbsfähig sein können.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das hat doch auch die Debatte der letzten Monate mit Blick auf die Klimaziele gezeigt. Daran gab es jetzt schon wieder neue Kritik. Wenn Sie sich natürlich kurzfristig daranmachen, mit aller Gewalt Ziele durchsetzen zu wollen, dann werden Sie Brüche verursachen. Wenn Sie sich langfristig ehrgeizige Ziele setzen, dann haben Sie die Chance, durch Innovation und einen sozialverträglichen Strukturprozess sehr ehrgeizige Ziele erreichen zu können.

Was ist für uns wichtig? – Für uns in Deutschland sind es die Pariser Ziele 2030, 2050 – hoch ambitionierte Klimaziele. Wir werden sie nur erreichen, wenn wir jetzt im engen Dialog mit den Tarifpartnern, mit der Wissenschaft, mit der Forschung daran arbeiten: Mit welchen Technologien im Bereich des Energiesektors, der Industrie, aber auch im Bereich Verkehr und Wohnen können wir diese ambitionierten Ziele erreichen?

Jetzt ist unsere Aufgabenstellung, meine Damen und Herren, diese Projekte zu erarbeiten, sie in Nordrhein-Westfalen noch prototypenhaft zum Einsatz zu bringen und möglichst als Anlagen hier, aber auch in anderen Teilen Deutschlands und weltweit einzubauen, um damit auch neue Märkte zu erschließen. Eine solche Neuausrichtung der Industriepolitik wünsche ich mir für Nordrhein-Westfalen, damit wir nicht nach Berlin und Brüssel fahren und betteln müssen, um noch Ausnahmen von gewissen Grenzwerten für eine Weile zu erhalten, sondern dass wir die Grenzwerte unterschreiten, weil wir die beste Technologie hier in Nordrhein-Westfalen haben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Daran wollen wir arbeiten; das ist für mich der neue Ansatz. Ich freue mich sehr über die Unterstützung aus den Koalitionsfraktionen, aber auch über die Beiträge, die darüber hinaus kamen. Ich würde mich freuen, wenn es in den nächsten Monaten und Jahren gelänge, Nordrhein-Westfalen zum modernsten und umweltfreundlichsten Industriestandort Europas zu entwickeln und eine große Unterstützung dafür hier im Parlament zu wissen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Professor Pinkwart. – Es hat sich noch einmal für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Becker gemeldet.

Ein Hinweis an alle Fraktionen: Die Landesregierung hat ihre Redezeit um 41 Sekunden überzogen. Bei einigen Fraktionen war ich ohnehin schon etwas großzügiger, aber die Grünen haben 20 Sekunden plus die 41 Sekunden Überziehung der Landesregierung. – Bitte schön, Herr Kollege Becker.

Horst Becker (GRÜNE): Schönen Dank, Frau Präsidentin. Die werde ich gar nicht komplett in Anspruch nehmen müssen. – Ich will auf Folgendes hinweisen, Herr Minister, weil mir klar war, dass das die übliche Leier sein würde: Wer die Verbindung von Umwelt, Technologie und Industrie schaffen will und gleichzeitig die Windkraftindustrie in Nordrhein-Westfalen so zerstört und behindert, wie Sie das tun,

(Zuruf: Oh)

der ist auf einem Weg, das Gegenteil von dem zu tun, was er vorgibt.

Ich will in das an einem zweiten Beispiel erklären. Wenn Sie hier mitteilen,

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Sie wollen nicht in Brüssel „bitte, bitte“ machen und darum bitten, bestimmte Dinge umsetzen zu können, dann kann ich Ihnen nur sagen: Ich wäre dankbar gewesen, wenn sich diese Landesregierung tatsächlich dafür eingesetzt hätte, dass man im Bereich von thyssenkrupp in den nächsten Jahren – nach der Übergangszeit – nicht möglicherweise in Amsterdam „bitte, bitte“ machen muss, damit man hier eine vernünftige Verbundlösung von umweltgerechter Stahlproduktion mit unserer Chemieindustrie hinbekommen kann.

(Bodo Löttgen [CDU]: Eine Minute!)

Das ist nämlich nur möglich, wenn die Unternehmensentscheidungen in diesem Sinne für Nordrhein-Westfalen gefällt werden. Doch in Amsterdam werden die im Zweifelsfall nicht für Nordrhein-Westfalen gefällt, sondern für andere Standorte, und daran hat diese Landesregierung ihren Anteil.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Becker. Ich kann Sie im Übrigen beruhigen, Herr Becker: Sie haben die Möglichkeiten voll ausgeschöpft. – Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen sehe ich nicht. Ich gucke noch einmal in die Runde. – Das bleibt auch so.

Dann sind wir am Schluss der Aussprache und kommen zur Abstimmung, und zwar über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/1659. Hier haben die antragstellenden Fraktionen von CDU und FDP direkte Abstimmung beantragt, sodass ich diese jetzt durchführen lasse.

Wer dem Inhalt des Antrags zustimmen möchte, den darf ich jetzt um das Handzeichen bitten. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU, der Fraktion der FDP und der Fraktion der AfD. Gibt es Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich frage der Vollständigkeit halber, ob es Enthaltungen gibt. – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag Drucksache 17/1659 angenommen.

Ich lasse zweitens abstimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD Drucksache 17/1753. Wer dem Inhalt des Entschließungsantrags zustimmen möchte, den darf ich jetzt um das Handzeichen bitten. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP. Enthaltungen? – Das sind die Abgeordneten der AfD. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 17/1753 mit dem gerade festgestellten Ergebnis abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss von Tagesordnungspunkt 3.

Ich rufe auf:

4   Gefährdungen durch Altbergbau

Große Anfrage 1
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/554

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 17/1407

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich noch einen Hinweis geben, der mich gerade erreicht hat. Es scheint ein Knacken in der Lautsprechübertragung zu geben. Die Technik ist bereits bemüht, das abzustellen. Insofern versuchen wir es einfach mal.

Jetzt hat aber für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Abgeordnete Brems das Wort. Bitte schön, Frau Kollegin.

Wibke Brems*) (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, das junge Jahr 2018 – das wissen wir schon jetzt – wird ein historisches Jahr für das Bergbauland Nordrhein-Westfalen.

Die Schließung der letzten beiden deutschen Steinkohlezechen bedeutet das Ende einer jahrhundertealten Tradition. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der Bergbau das Land NRW entscheidend prägte. Einerseits hat der Kohlebergbau ermöglicht, dass wir heute ein erfolgreiches Industrieland sind. Andererseits wurde der Boden in Teilen Nordrhein-Westfalens geradezu durchlöchert wie ein Schweizer Käse.

900 Jahre Bergbau in NRW hinterlassen Spuren, und mit diesen Spuren werden wir es noch lange zu tun haben. Vor allem die Hinterlassenschaften des Steinkohlebergbaus aus den vergangenen Jahrhunderten, der sogenannte Altbergbau, werden uns noch lange beschäftigen.

Mit unserer Großen Anfrage ist nun ein erster Einblick in den Umfang der Risiken von tages- und oberflächennahem Bergbau, in das Risikomanagement von Altbergbaugesellschaften und des Landes NRW möglich.

Ich möchte mich zunächst einmal bei der Landesregierung bedanken, vor allem bei der Bergbehörde, für die umfangreiche Arbeit und die Transparenz.

(Beifall von Matthi Bolte-Richter [GRÜNE])

Bedanken kann ich mich aber leider nicht bei allen Altbergbaugesellschaften, denn nicht alle arbeiten eng mit der Bergbehörde zusammen, wie es beispielsweise die RAG tut. Keine der Altgesellschaften hat Aussagen über ihre Kosten für die Beseitigung von Risiken und zu den Rückstellungen gemacht. Das ist aus unserer Sicht eine eklatante Missachtung des Informationsrechts des Landtags von Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Zu Beginn des Steinkohlebergbaus hat natürlich alles anders ausgesehen als heute. Es gab andere Standards. Der Bergbau wurde nicht so tief betrieben. Aber es gibt aus dieser Zeit noch sehr alte beeindruckende Karten mit erstaunlicher Genauigkeit der unterirdischen Schächte.

Die oberirdischen Bezüge lauten allerdings manchmal so ähnlich wie „150 m südöstlich der Dorfeiche“. Solche Ortsangaben sind aus heutiger Sicht nicht gerade präzise. Diese und weitere Voraussetzungen machen es natürlich schwierig, ein vollständiges Bild des Altbergbaus zu bekommen.

Manche Menschen im Ruhrgebiet mögen sich jetzt fragen, wo denn hier die Neuigkeiten liegen; man ist es ja irgendwie gewohnt, dass sich die Erde auftut.

Zwischen 2005 und 2016 kam es zu fast 1.900 Tagesbrüchen in Nordrhein-Westfalen. Ich finde diese Zahlen wirklich dramatisch.

Die neuen Erkenntnisse liegen aber nicht in den Zahlen, sondern in den noch schlummernden Risiken. Dafür ein paar Beispiele:

60.000 verlassene Tagesöffnungen werden in NRW vermutet. Nur 30.000 davon sind digital erfasst. Die Bergbehörde ist nicht nur für die Kontrolle dieser Altgesellschaften zuständig, sondern auch für die Schächte und Tagesöffnungen, bei denen nicht mehr klar ist, wem sie überhaupt zuzuordnen sind.

Damit verantwortet die Bergbehörde 2.569 Schäch-te. Bei 65 Schächten ist die exakte Lage nicht genau bekannt, bei mehr als 1.100 Schächten muss mit Tagesbrüchen gerechnet werden. Das ist eine sehr bedenkliche Zahl, weil noch nicht einmal alles bearbeitet wurde. Diese Bearbeitung der Bergbehörde ist im Ruhrrevier erst Anfang der 20er-Jahre fertig. Im Aachener Revier soll sie dann anfangen und noch zehn Jahre dauern.

Das dauert uns und vielen Menschen in Nordrhein-Westfalen zu lange. Hier müssen die Kapazitäten erhöht werden, um in Zukunft mehr Tagesbrüche zu verhindern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Antwort der Landesregierung macht auch deutlich, welche eklatante rechtliche Lücke es in Nordrhein-Westfalen gibt. Weil der Bergbau beendet ist, unterliegen die Altbergbaugesellschaften eben nicht mehr der Aufsicht der Bergbehörde. Doch die Gefahr von Tagesöffnungen besteht trotzdem weiter, und auf das zum Teil unkooperative Verhalten der Altgesellschaften habe ich bereits hingewiesen.

(Zuruf von der CDU)

Eine Abstimmung mit der Bergbehörde oder eine sonstige behördliche Kontrolle gibt es schlicht nicht, und das kann weitreichende Folgen haben. So schreibt die Landesregierung in der vorliegenden Antwort – ich zitiere –:

„Immer wieder ist festzustellen, dass bei der Sicherung altbergbaulicher Hinterlassenschaften durch unerfahrene Dritte Verfahren eingesetzt werden, die für den entsprechenden Zweck unzureichend und/oder unter Nachhaltigkeitsaspekten fragwürdig sind. Es ist nicht ausgeschlossen, dass durch solche Maßnahmen selbst neue Gefahren geschaffen werden …“

Ich möchte darauf hinweisen, dass das keine Panikmache ist, sondern das schreibt die Landesregierung in ihrer Antwort. Das zeigt ganz klar: Es besteht dringender Handlungsbedarf.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aus unserer Sicht brauchen wir schnellstmöglich eine behördliche Anzeigepflicht für die Maßnahmen der Altgesellschaften und ein Kataster, in dem alle durchgeführten Maßnahmen zur Untersuchung und Sicherung potenziell tagesbruchverursachender Hinterlassenschaften aufgelistet und für die Zukunft gesichert werden. Andere Bundesländer haben das bereits geschafft, Nordrhein-Westfalen muss hier nachziehen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin gespannt, ob wir über diese Maßnahmen heute schon Einigkeit erzielen können; denn aus unserer Sicht spricht die Antwort auf die Große Anfrage eine ganz klare Sprache. Es ist nicht eine Überprüfung notwendig, ob Regelungen in NRW möglich und erforderlich sind, sondern lediglich, wie dies geschehen kann.

Es besteht dringender Handlungsbedarf. Für unsere Fraktion möchte ich gerne sagen, dass wir hierfür unsere konstruktive Zusammenarbeit anbieten. – Glück auf!

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Brems. – Es hat nun für die Fraktion der CDU Frau Abgeordnete Plonsker das Wort.

Romina Plonsker (CDU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das war doch wirklich ein schöner Schluss Ihrer Rede, Frau Brems. Ich glaube auch, bei dem Thema herrscht große Einigkeit im Hohen Haus.

Unser Ministerpräsident Armin Laschet hat in der ersten Regierungserklärung im September 2017 von den großen Veränderungen berichtet, die Sie auch angesprochen haben, Frau Brems. Die erste große Veränderung tritt Ende des Jahres ein, wenn die letzten Steinkohlezechen schließen: Prosper-Haniel und Ibbenbüren. Mit den beiden Bergwerken endet die Steinkohleförderung in Nordrhein-Westfalen.

Die Steinkohle ist eng mit der Identität von uns in Nordrhein-Westfalen verbunden, insbesondere mit dem Ruhrgebiet. Wir verdanken ihr den Aufstieg Deutschlands und NRWs nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Bergbau hat dazu beigetragen, dass wir Energie- und Industrieland Nummer eins geworden sind. Er hat uns Wirtschaftswachstum und Wohlstand gesichert. Ende des Jahres endet dieser Teil der Landesgeschichte. Deshalb hat mich die Große Anfrage der Grünen sehr gefreut. So können wir uns noch einmal intensiv mit dem Thema beschäftigen.

Aber mit jeder Veränderung gehen auch Chancen einher. Die Politik ist aufgerufen, diese zu gestalten und NRW fit für die Zukunft zu machen. Das Ruhrgebiet stellt sich neu auf. Wir, die NRW-Koalition, wollen es dabei begleiten.

Essen ist im letzten Jahr bekanntlich „Grüne Hauptstadt Europas“ gewesen und wurde dafür ausgezeichnet, dass sie Umweltschutz und wirtschaftliches Wachstum mit einer hervorragenden Lebensqualität ihrer Einwohner verbindet. Das sind doch die Zeichen, die wir im Ruhrgebiet sehen wollen.

„Fit für die Zukunft“ heißt aber nicht, dass wir die Vergangenheit verdrängen; denn zur Geschichte des Ruhrgebietes gehören viele Tagesbrüche und eine starke Senkung der Oberfläche. Wie gesagt, der Antwort auf die Große Anfrage ist auch eine erhebliche Gefährdungslage der Anwohner zu entnehmen.

Die NRW-Koalition nimmt die Tagesbrüche und Erdabsenkungen sehr ernst. Wir danken der Bergbaubehörde für die umfangreiche Zusammenstellung der Daten für die Antwort auf die Große Anfrage.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das Problem ist, wie Frau Brems eben schon gesagt hat, der Altbergbau oder der widerrechtliche Bergbau. Seit dem Mittelalter ist in NRW Bergbau betrieben worden. Unsere Vorfahren gruben und bohrten kilometerlange Stollen. Diese sind aber erst seit dem 19. Jahrhundert kartografisch festgehalten worden, und im Zweiten Weltkrieg ist auch viel zerstört worden. Deshalb haben wir jetzt das Problem, dass viele Erkenntnisse nicht vorliegen.

Im Unterausschuss Bergbausicherheit haben wir bereits einen Bericht zu den Tagesbrüchen rund um die S-Bahn-Linie 6 in Essen gehört. Aktuell wird dieser Bergschaden, der zu Ausfällen von Haltestellen führt, behoben. Die wichtige Bahnverbindung – gerade für die Essener – soll schnellstmöglich wieder störungsfrei laufen, wobei uns ganz wichtig zu betonen ist, dass in diesem Fall Sorgfalt vor Schnelligkeit geht, damit die Sicherheit der Passagiere gewährleistet ist.

Bereits 2015 und 2013 waren massive Störungen auf der Bahnstrecke zu verzeichnen. Auch die A45 im Jahr 2012 soll noch einmal in Erinnerung gerufen werden. Fast drei Wochen zog sich die Sperrung hin.

Nach dem Kenntnisstand der Bergbaubehörde NRW sind in den Jahren 2005 bis 2016 innerhalb der bestehenden Steinkohlebergbauberechtigung 1.696 Tageseinbrüche aufgetreten. Das ist eine sehr hohe Anzahl. Hinzu kommen noch die 201 Tagesbrüche, die keinem Unternehmen zuzurechnen sind und damit in der Verantwortung von NRW liegen.

Die Bürgerinnen und Bürger in NRW vor solchen altbergbaulichen Hinterlassenschaften zu schützen, also nicht nur anlassbezogen, sondern auch präventiv Maßnahmen zu ergreifen, das ist im Rahmen des Risikomanagements vorgesehen, was auch der Großen Anfrage zu entnehmen ist.

Die Bergbaubehörde erfasst die Risse digital und erstellt Karten der altbergbaulichen Hinterlassenschaften. Sie will dort auch moderner werden, indem sie das neue und moderne Risswerkarchiv aufbessert.

Ja, hier könnten wir noch schneller vorankommen. Doch alles braucht seine Zeit, und oftmals fehlen leider die Experten, die so etwas in einer kurzen Zeit auf sich nehmen können.

Das sind alles keine neuen Erkenntnisse, das beschäftigt das Hohe Haus schon seit vielen Jahren. Aber Ihre Anfrage, die Sie in der Regierungszeit von Ministerpräsident Rüttgers gestellt haben, brachte ungefähr die gleichen Antworten hervor.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Sorgen macht mir allerdings – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin aus der Antwort der Landesregierung –:

„Bereits heute steht fest, dass eine vollständige und exakte Bestimmung der Gesamtanzahl der verlassenen Tagesöffnungen des Bergbaus und der von bergbaulichen Hohlräumen betroffenen Fläche des Landes nicht möglich ist.“

Für die NRW-Koalition kann ich festhalten, dass wir sehr daran interessiert sind, dass die Bergbauhörde mehr Erkenntnisse über die altbergbaulichen Hinterlassenschaften gewinnt. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2016 sind ca. 53,1 Millionen € aus dem Landeshaushalt in das Präventivprogramm geflossen.

Deshalb dürfen wir nicht müde werden, in Zukunft auf Prävention zu setzen, und sollten nicht nur bei konkreten Schadensereignissen handeln. Damit gehen für uns auch eine Qualitätssicherung bei der Erfassung und Mindeststandards, die bei der Erfassung möglich sind, einher.

Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist es daher, uns für die Sicherheit der Menschen in den betroffenen Regionen einzusetzen. Wie wir im Koalitionsvertrag der NRW-Regierung festgestellt haben, wollen wir die Rechte aller Bergbaubetroffenen schützen.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Wir treten für eine effektive Bergbausicherheit ein.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich freue mich, dieses Thema zusammen mit den Kollegen der CDU-Fraktion und allen anderen Kollegen im Unterausschuss Bergbau weiterhin zu begleiten. Frau Brems danke ich für die freundliche Einladung, dort konstruktiv zusammenzuarbeiten. Das bestätigt meine ersten Eindrücke aus dem Unterausschuss. Ich freue mich, wenn wir das so fortsetzen können. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Abgeordnete Plonsker. – Als nächster Redner erhält Kollege Schneider für die Fraktion der SPD das Wort. Bitte schön, Herr Abgeordneter.

(Wolfgang Jörg [SPD]: Sollen wir klatschen? – Beifall von Wolfgang Jörg [SPD], Thomas Göddertz [SPD] und Michael Hübner [SPD])

René Schneider (SPD): Vielen Dank für den Applaus. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich zu Hause davon erzähle, dass ich im Unterausschuss Bergbausicherheit arbeite, dann ernte ich immer wissende Blicke und ein Nicken. Der eine oder andere sagt: Na ja, Ende des Jahres hast du dann ja nicht mehr viel zu tun.

Dabei gibt es natürlich auch nach dem Ende der Steinkohleära aktiven Bergbau in Nordrhein-Westfalen. Es wird weiterhin den Steinsalzbergbau geben. Insofern ist die Tradition des Bergbaus in Nordrhein-Westfalen auch zum Ende des Jahres lange nicht vorbei.

Aber auch sonst wird uns der Bergbau bis weit über das Jahr 2018 hinaus beschäftigen. Die Antwort auf die Große Anfrage, über die wir heute diskutieren, zeigt eine dieser Facetten auf. Knapp 70 Seiten lang ist das Dokument, für dessen Erstellung ich zuallererst der Bergbehörde NRW danken möchte, die heute hier auch vertreten ist. Vielen Dank für diese Arbeit.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

In großer Fleißarbeit haben Sie die Antworten zusammengetragen. Unterstützt wurden Sie dabei nicht nur vom Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, sondern von zahlreichen weiteren Stellen sowie von den Altgesellschaften, die zum Teil als Rechtsnachfolger einstiger Bergwerksunternehmen bis heute Sorge dafür tragen, dass in ihrem Beritt keine Unfälle passieren. Ihnen allen herzlichen Dank für diese Arbeit.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und der FDP – Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Sicherlich verlangt bereits das laufende Geschäft der Bergbehörde NRW – davon bekommen wir im Unterausschuss immer einen Eindruck – mehr als genug Arbeit ab. Genau wegen dieser enormen zusätzlichen Arbeitsbelastung sind wir Parlamentarier immer gehalten, vor dem Stellen einer Großen Anfrage zu hinterfragen, in welcher Relation Aufwand und Nutzen letzten Endes stehen.

Es reicht deshalb nicht aus – das haben meine Vorrednerinnen gerade schon dargestellt –, nur die Beantwortung zur Kenntnis zu nehmen und heute die eine oder andere Besonderheit zu diskutieren.

Aus diesen Berichten müssen wir auch Konsequenzen ziehen. Denn hinter den schier unglaublichen Zahlen von beispielsweise mehr als 2.500 Schächten, die heute keinem Eigentümer mehr zuzuordnen sind und deshalb vom Land NRW gesichert werden müssen, steckt schlicht und einfach eine Herkulesaufgabe, vor der das Land und die Bergbehörde in den kommenden Jahren und Jahrzehnten stehen werden.

„Die Sau wird nicht vom Wiegen fett“, sagt ein altes Sprichwort. Das ist wahr. Denn ob jede der uns nun vorliegenden Zahlen exakt so stimmt oder ob es im Detail leichte Abweichungen gibt, ist gar nicht so entscheidend. Aber eines ist sicher: Es handelt sich hier um ein Problem, das umso gravierender ist, weil es unsichtbar in der Tiefe schlummert.

Ganz unvermittelt können aufgrund altbergbaulicher Aktivitäten Brüche auftreten. Schlimmstenfalls könnten Menschen zu Schaden kommen. Sachbeschädigungen und Beeinträchtigungen wie beispielsweise erst im vergangenen Jahr am Essener Hauptbahnhof sind weitere mögliche Konsequenzen. Umso wichtiger wird es sein, nach dem Wiegen auch endlich die Sau fett zu machen.

Ich möchte deshalb drei zentrale Punkte nennen, die wir im Unterausschuss in den kommenden Monaten diskutieren und zur Entscheidung vorbereiten müssen.

Was immer wieder im Bericht hervorscheint und zum Schluss auch sehr konkret als Forderung von der Bergbehörde formuliert wird, ist der Wunsch nach einer restriktiveren Gesetzgebung oder besser danach, in der Sache überhaupt etwas gesetzlich zu regeln.

Es gibt beispielsweise derzeit noch nicht einmal eine rechtliche Verpflichtung Dritter, ihre Untersuchungsergebnisse und Sicherungsmaßnahmen bei der Bergbehörde anzuzeigen. So kann jedes Unternehmen nach eigenem Gutdünken verfahren. Die Unterteilung in Risikoklassen geschieht genauso individuell wie das Verfahren, mit dem die Unternehmen Tagesbrüche verfüllen oder sonstige Sicherungsmaßnahmen vornehmen. Ob dies nach dem neuesten Stand der Technik geschieht, spielt dabei keine Rolle.

Von einem umfassenden und nach allgemein gültigen Kriterien aufgestellten Kataster aller infrage kommenden Hotspots sind wir weit entfernt.

Auch wenn sich alle betroffenen Unternehmen des Themas eigenverantwortlich angenommen haben, Risikobewertungen vornehmen und Schächte sichern, schadet es sicherlich nicht, dies auch gesetzlich vorzuschreiben mitsamt einer Vorgabe der notwendigen Standards. Diese sollten nicht nur im Hinblick auf das Wie der Verfüllung und Sicherung festgelegt werden, mindestens ebenso wichtig sind allgemeingültige Datenstandards bei der Risikoanalyse.

Es wäre doch ein Witz, wenn alle Beteiligten unterschiedlich vorgingen und ein Zusammenführen der Datenbestände nicht mehr möglich wäre. Solche Normen – oder zumindest deren Einführung – müssen wir gesetzlich beschließen. So weit sind wir völlig d‘accord mit der Meinung der Landesregierung zum Thema „Gesetzgebung“.

Nicht einverstanden bin ich jedoch mit dem Vorschlag der Bergbehörde – ich zitiere –, „im Rahmen einer gutachterlichen Untersuchung insbesondere zum rechtlichen Regelungsbedarf Lösungsansätze entwickeln zu lassen …“ Meine Damen und Herren, Gutachter sollen keine Gesetze schreiben und auch nicht vorschlagen; das ist das Privileg der Legislative.

Den Grund, warum die Bergbehörde diese Arbeit dennoch outsourcen möchte, kann ich gleichwohl nachvollziehen. Das führt mich direkt zum zweiten Punkt.

Wenn wir – wie es im Polizeijargon so schön heißt – vor die Lage kommen wollen, benötigen wir mehr Ressourcen. Sowohl personell als auch finanziell ist die Bergbehörde nicht in der Lage, auf Tagesbrüche mehr als nur zu reagieren.

Gleichzeitig bleibt nur wenig Gelegenheit, bei der Risikoanalyse mit großen Schritten voranzukommen. Wenn wir ehrlich sind, brauchen wir mehr Geld und mehr Personal, wenn wir das Problem nicht nur benennen und beseitigen wollen, wo es akut auftritt, sondern zusätzlich alle Meldungen und Informationen schnellstmöglich in einem einzigen Kataster erfassen wollen.

Dies wäre umso wichtiger, weil unter anderem – auch das klingt in der Antwort auf die Große Anfrage an – Bauwillige sehr gut beraten sind, ihr Vorhaben auch in Richtung möglicher Altbergbauschäden abzusichern.

Hier brauchen wir eine offensivere Informationspolitik auf kommunaler Ebene. Neben den zig Prüfungen in einem Bebauungsplanverfahren gehört eben auch ein Blick auf das dann hoffentlich allumfassende Altbergbaukataster. Um diesen Status zu erreichen, benötigen wir, wie gesagt, mehr finanzielle Ressourcen.

Eine Variante, die es deshalb drittens zu prüfen gilt, ist eine zusätzliche Finanzierung über das EFRE-Programm ab 2020. Das Land Sachsen macht es uns vor. In der vergangenen und aktuellen Förderperiode fließen dort über 34 Millionen € in die Beseitigung von Gefahren aus obertägigem und untertägigem Altbergbau ohne Rechtsnachfolger, also – über den dicken Daumen gepeilt – rund 3 Millionen € pro Jahr. Das ist eine stattliche Summe, die auch in NRW bestenfalls zusätzlich ab der kommenden Förderperiode zur Verfügung stünde.

Meine Damen und Herren, alles in allem stelle ich fest, dass die Arbeit der Bergbehörde NRW für die kommenden Jahre und Jahrzehnte gesichert ist. Das ist eine gute Nachricht. Damit ist auch die Arbeit des Unterausschusses Bergbausicherheit – auch wenn er vielleicht nicht ewig so heißen wird – gesichert. Wir werden gebraucht, um die passenden Gesetze und Regelungen zu beschließen, mit denen auch diese Folgen des untertägigen Rohstoffabbaus in Nordrhein-Westfalen auf lange Sicht beherrscht werden können.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Das beruhigt den Vorsitzenden!)

Vielleicht werden Besucher, denen ich in einigen Jahren von meiner Arbeit im Unterausschuss berichte, wieder wissend nicken, diesmal jedoch, weil sie festgestellt haben: Bergbau und dessen Folgen spielen auch nach dem 31. Dezember 2018 eine wichtige Rolle für die Menschen in Nordrhein-Westfalen. – Glück auf und Gottes Segen!

(Beifall von der SPD und Josef Hovenjürgen [CDU])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Schneider. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP der Abgeordnete Freynick das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Jörn Freynick (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte als Allererstes die konstruktive Arbeit im Unterausschuss Bergbausicherheit lobend erwähnen. Ich habe das bisher als wirklich sehr gute Arbeit empfunden und bin der Meinung, dass wir daran festhalten und weiterhin so arbeiten sollten, wie wir es in der Vergangenheit getan haben.

(Zuruf von der CDU: Das liegt am Vorsitzenden!)

Natürlich wird das Jahr 2018 für den Bergbau in Nordrhein-Westfalen eine Zäsur darstellen – Sie haben es eben schon ausgeführt –, denn dann endet die Ära des Steinkohlebergbaus in unserem Bundesland. Selbstverständlich stellt sich für uns in der Landespolitik die Frage, welche Folgen dieses Erbe hinterlässt und bereits hinterlassen hat.

Die Folgen des Bergbaus sind nicht von der Hand zu weisen. Uns allen sind Vorfälle wie auf der A45 aus dem Jahre 2012 bei Dortmund noch in guter Erinnerung. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die Unterbrechung der S-Bahn-Linie 6 bei Essen.

Festzuhalten ist: Eine effektive Gefahrenabwehr hinsichtlich konkreter und latenter Gefahren in Form von Tagebrüchen ist durch die Bergbehörde in der Bezirksregierung in Arnsberg in Dortmund vorhanden, auch wenn die Bewältigung für die Betroffenen oft eine langwierige und nervenkostende Zeit darstellt.

Das 2011 begonnene Risikomanagement der Bergbehörde untersucht in diesem Rahmen die dem Land rechtlich verantworteten Schächte auf mögliche Gefahren und katalogisiert sie dementsprechend. Das war richtig und wichtig.

Die Zahlen, die nun die Landesregierung im Dezember präsentierte, sind ernüchternd: Nahezu alle bisher untersuchten Schächte – immerhin über 1.000 – weisen eine erhebliche Gefahr für Mensch, Natur und auch Umwelt auf. Es ist wichtig, dass sich die Landespolitik dieser stetigen und potenziellen Bedrohung stellt.

Für die restlichen über 12.000 verlassenen Schächte in NRW sind maßgeblich die heutigen und ehemaligen bergbautreibenden Unternehmen in der Pflicht. Daraus ergibt sich für die Unternehmen im Vergleich zu den vom Land überprüften ca. 2.500 Schächten eine besondere und wichtige Verantwortung.

Als zuständig für die Abwehr konkreter und potenzieller Gefahren des Altbergbaus ist die Bergbehörde nicht auf vollständigem Wissensstand. Weil eine rechtliche Verpflichtung Dritter, Schäden und Gefährdungen des Altbergbaus anzuzeigen, in NRW fehlt, ergibt sich für die Bergbehörde eine unzureichende und fehlerhafte Übersicht. Das liegt in der Natur der Sache.

Die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage zeigt glücklicherweise, dass hier erste Schritte in Betracht gezogen werden. So hat Minister Professor Dr. Pinkwart den Willen bekundet, zu prüfen, inwieweit ähnliche Regelungen eines Anzeigeverfahrens bei Arbeiten unter Tage, wie beispielsweise in Sachsen oder Thüringen, auch in NRW möglich und von Nutzen sein könnten.

Einerseits gibt es Käufer von Grundstücken, die nicht wissen, dass sich unter ihrem neuen Eigentum Altbergbaulasten befinden und inwieweit sich die dortigen bergbaulichen Verhältnisse auf mögliche Bauvorhaben auswirken könnten.

Andererseits sind meist grobe Informationen bei der Bergbehörde vorhanden und abrufbar. Eine Aufklärung ist hierbei wichtig. Das leistet die Bergbehörde auch durch Portale im Internet, die für jeden öffentlich zugänglich sind.

Die Pläne der Bergbehörde, die im Netz öffentlich abrufbaren Informationen bekannter zu machen – unter anderem durch die Sensibilisierung von Notaren zu dieser Thematik –, ist ausdrücklich zu begrüßen.

Dabei ist auch zu prüfen, inwieweit die Bergbehörde zur Ausrüstung ihrer Aufgaben ausreichend finanziert ist.

Dies können aber nur erste Schritte sein. Der Abbau von Rohstoffen unter Tage, oft bereits in den vorherigen Jahrhunderten erfolgt, fand meist nahe der Festgesteinsoberfläche statt und ist durch Unwissen und mangelnde Absicherung heute eine große Gefährdung. Diese Umstände stellen eine deutliche Herausforderung dar. Nicht zu vergessen ist auch der illegale und wilde oder schlecht wie gar nicht dokumentierte Bergbau.

Die bekannten Ursachen sind vielfältig. Bergbautreibende Unternehmen, die bereits lange nicht mehr auf dem Markt sind, oder der Uraltbergbau, der eine Dokumentation von Gruben gar nicht erst anstrebte, sind alles Probleme. Dazu kommt, dass Unterlagen durch die Geschehnisse von zwei Weltkriegen unwiderruflich verloren gegangen sind.

All diese Aspekte hängen wie ein stetiges Damoklesschwert über sämtliche Bemühungen, eine hundertprozentige Aufklärung und Absicherung von Altbergbaulasten zu gewährleisten.

Die Bewältigung der Folgen des Bergbaus in NRW bedeutet eine Aufgabe, die sich über mehrere Generationen erstrecken wird. Wir als Regierungsfraktionen werden diese Vorhaben konstruktiv begleiten und auch mitgestalten. Wir laden Sie alle herzlich dazu ein. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Freynick. – Als nächster Redner erhält Herr Loose von der AfD-Fraktion das Wort. Bitte schön.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerade als gebürtiger Ibbenbürener berührt mich das Thema „Bergbau und Altbergbau“ sehr. Ich wünsche den Kumpels – darunter sind auch Nachbarn und Freunde – viel Glück, damit sie, wenn sie zum Jahresende das letzte Mal hinabfahren, im nächsten Jahr einen neuen Weg finden werden. Denn sie haben viel für uns geleistet und immer das schwarze Gold für uns herausgeholt.

Die Bergbauleute, die uns durch ihre Lebensleistung über so viele Jahre wirtschaftlich und gesellschaftlich geprägt haben, verdienen unser aller Respekt und unsere Anerkennung.

(Beifall von der AfD)

Das Traurige an dieser Großen Anfrage ist aber, dass sie keine neuen Erkenntnisse zutage fördert. Denn schon im Oktober 2009 hat die grüne Fraktion in der Opposition eine umfangreiche Große Anfrage zu diesen Kosten und den Fragen der Schachtsanierung des Steinkohlebergbaus gestellt. Nicht einmal 100 Tage vor der Einreichung dieser Großen Anfrage waren die Grünen selbst in Regierungsverantwortung.

Es scheint also eine Große Anfrage als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Landesregierung und die Bergbehörde zu sein. Deshalb möchte ich der Regierung, der Bergbehörde und den Altgesellschaften explizit für ihre Mühen und ihre Antworten danken.

Diese Große Anfrage über den Steinkohlebergbau und den Bergbau allgemein ist auch ein ökologischer Kampf, weil versucht wird, den Bergbau grundsätzlich zu verdammen. Das Ganze fügt sich wie bei einem Puzzle zusammen. So sind für die Grünen die Kohlekraftwerke dreckig und die Dieselfahrzeuge Dreckschleudern.

Apropos Dreckschleudern: Wir haben aber unseren Kumpels viel zu verdanken, die sich nicht zu schade waren, auch im Dreck für uns zu graben.

(Beifall von der AfD)

Mit dem Abschied Ende 2018 haben wir zwei Probleme.

Erstens gehen gut bezahlte Arbeitsplätze verloren – für Malocher, die aufrechten Hauptes nach Hause kamen, eine Familie ernähren konnten und vieles für uns alle im Land geleistet haben.

Zweitens verlieren wir auch das technische Wissen. Gerade die Zechen in Bottrop und Ibbenbüren zeichnen sich durch modernste prozessorgesteuerte Technik aus. In kaum einem anderen Land wurde das schwarze Gold aus so großen Tiefen gewonnen wie bei uns.

Doch was kommt eigentlich als Alternative zu unserem Bergbau? Alle hier schon länger vertretenen Parteien propagieren die erneuerbaren Energien. Doch was heißt das für den Bergbau? Was heißt das für die Sicherheit?

95 % der Weltproduktion von Neodym, das für die Windräder gebraucht wird, stammen aus China. Über die Standards der Förderung von Neodym in China ist nichts bekannt, da China seine Umweltstandards gar nicht veröffentlicht. Und wer erinnert sich nicht an die Schlagzeilen zu den Grubenunglücken in China? Wenn sich China nicht einmal während des Abbaus um die Sicherheit kümmert, was glauben Sie, wie sich die Chinesen um die langfristigen Risiken kümmern werden? Dabei fallen bei der chemischen Trennung von Neodym von anderen Gesteinen zudem hoch toxische Abfallprodukte an, unter anderem radioaktive Elemente wie Uran und Thorium, die zu Krebs führen können.

Es wird somit deutlich, dass wir hier mit zweierlei Maß messen. In Deutschland muss alles schön perfekt und sicher sein, und den Ausländern bürdet man die Risiken auf –

(Beifall von der AfD)

alles letztendlich für das Ziel der Grünen, die vollständige Deindustrialisierung Deutschlands herbeizuführen.

Wenn wir über die Abwicklung des deutschen Steinkohlebergbaus sprechen, müssen wir auch über die RAG-Stiftung sprechen. Die Ewigkeitskosten, derer wir uns bewusst sind, sollen durch das Stiftungsvermögen getragen werden. Die rechtsfähige Stiftung, die aus ca. 20 Mitarbeitern besteht, hat ja nun die fachliche Unterstützung eines Landtagsmitglieds erhalten, welches bereits Mitglied im Sportausschuss ist. Ich wünsche allen dabei viel Kraft. Leider sehe ich diese Person nicht hier – und auch nicht ihren Vorgänger, Herrn Römer, der sicherlich auch einiges zu diesem Thema hätte beitragen können.

Zum Abschied aus der Steinkohle salutiere ich vor diesen Bergleuten und ihren Lebensleistungen, die das Ruhrgebiet und Nordrhein-Westfalen nach dem Krieg nach oben geholt haben. – Danke schön und Glück auf!

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Loose. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Professor Dr. Pinkwart.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte hat es gezeigt: Das Thema „Altbergbau“ ist, wie der Name schon sagt, kein neues Thema.

In Nordrhein-Westfalen wurde über Jahrhunderte hinweg Bergbau auf Kohle, Erze und andere Bodenschätze betrieben. Unser Land hat ganz wesentlich dem Bergbau sein industrielles Wachstum und seinen heute erreichten Wohlstand zu verdanken.

Der Bergbau hat aber auch Spuren hinterlassen. Das sind oftmals die von Menschenhand geschaffenen Hohlräume im Untergrund. Die Bergbehörde geht nach derzeitigem Erkenntnisstand davon aus, dass es in Nordrhein-Westfalen ca. 60.000 Schächte und Stollenöffnungen gibt, wobei die Gebiete, in denen nahe an der Tagesoberfläche Bergbau betrieben wurde, einen Anteil von ca. 600 m2 der Landesfläche ausmachen.

In ungefähr der Hälfte aller Kommunen in Nordrhein-Westfalen ist alter Bergbau umgegangen. Wir wissen auch, dass schon damals die Bergleute einen Großteil ihrer Schächte, Stollen und Abbaubereiche verfüllt oder auf andere Weise gesichert haben, aus heutiger Sicht jedoch oft unzureichend und nicht den heutigen Standards entsprechend.

Außerdem wurde neben dem seinerzeit schon behördlich zu genehmigenden Bergbau insbesondere in Kriegs- und Notzeiten auch Bergbau ohne Genehmigung betrieben, von dem wir naturgemäß weniger oder noch gar nichts wissen.

Im Bereich solcher altbergbaulichen Hinterlassenschaften ergeben sich auch heute noch Schäden an der Oberfläche. Das reicht von unbedeutenden Einmuldungen bis hin zu dramatischen Einbrüchen der Tagesoberfläche. Im Bereich des Altbergbaus müssen wir daher von einem gewissen Gefährdungspotenzial ausgehen.

Größere Tagesbrüche wie etwa im Jahre 2000 in Bochum-Höntrop oder im Jahre 2004 in Siegen-Rosterberg sind aber – ich möchte hinzufügen: Gott sei Dank – eher selten. Daher trete ich an dieser Stelle entschieden dem Eindruck entgegen, dass wir nun überall in altbergbaulich geprägten Gebieten großflächig vom Einsturz der Tagesoberfläche bedroht wären. Ich halte es für nicht verantwortlich, derartige Ängste zu schüren.

Den Fragen, in welchem Umfang tatsächlich Gefahren aus den altbergbaulichen Hinterlassenschaften resultieren und wie diesen Risiken begegnet werden sollte, geht die Bergbehörde in sehr verantwortungsvoller Art und Weise nach. Dies trifft im Wesentlichen gleichermaßen auf die Unternehmen bzw. die Altbergbaugesellschaften zu, die ihren Pflichten aus dem von ihnen verursachten Altbergbau ebenfalls gewissenhaft nachkommen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist gerade nicht so, als würden Politik und Verwaltung nur reagieren. Neben der Wahrnehmung ordnungsbehördlicher Aufgaben wird die Bergbehörde auch präventiv tätig – sie ist schon in den letzten Jahren präventiv tätig geworden –, und zwar dort, wo Verantwortliche, die vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten Bergbau betrieben haben, nicht mehr vorhanden sind.

In diesen Bereichen trägt das Land die Verantwortung. Dementsprechend hat die Bergbehörde hierfür ein effektives Risikomanagement aufgebaut. Hier wird eine profunde Risikoanalyse, Bewertung und Klassifizierung altbergbaulicher Gegebenheiten vorgenommen. Es wird eine Prioritätenliste erstellt. Auf dieser Basis werden präventive Untersuchungs- und gegebenenfalls erforderliche Sicherungsmaßnahmen durchgeführt. Ziel ist es, das Eintreten konkreter Gefahren und Schäden auch zukünftig zu vermeiden.

Auf diese Weise sind zwischen 2000 und 2016 aus dem Landeshaushalt ca. 53 Millionen € allein für präventive, gefahrenvorbeugende Maßnahmen eingesetzt worden.

Auch die Altbergbaugesellschaften haben erkannt, dass planmäßiges präventives Arbeiten sinnvoller ist als hektisches Reagieren bei eingetretenen Schäden, für deren Bewältigung sie verantwortlich sind. Deshalb haben auch alle größeren Altbergbaugesellschaften solche Systeme zum Risikomanagement aufgebaut.

Das bergbehördliche Risikomanagement umfasst derzeit im Wesentlichen die verlassenen Altbergbauschächte im Bereich des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet.

Die Bergbehörde wird das Risikomanagement aber auch auf die Bereiche des Altbergbaus in geringen Teufen und auf andere Altbergbaugebiete wie etwa die des Erzbergbaus schrittweise ausweiten. Grundlage hierfür ist eine sorgfältige Analyse zum entsprechenden Bedarf an finanzieller Ausstattung und qualifiziertem Personal.

Ob man – wenn ich das hier einflechten darf, sehr geehrter Herr Schneider – direkt nach neuem Personal und mehr Ausstattung rufen muss, möchte ich vor dem Hintergrund Ihrer Eingangsbemerkung, dass Sie oder möglicherweise Ihre Nachbarn meinten, dass sich Ihre wichtige Aufgabe im Landtag erübrigen könnte, zumindest noch einmal infrage stellen. Vielleicht fallen ja auch Aufgaben weg, und neue, sich hier ergebende Aufgaben könnten sinnvoll fortgesetzt werden. Damit will ich keiner organisatorischen Überprüfung zuvorkommen. Möglicherweise wird es auch einer Erweiterung bedürfen. Ich wollte nur einmal angemerkt haben, dass man auch so an diese Frage herangehen könnte.

Für jeden jedenfalls, der in altbergbaulich geprägten Gebieten in den Untergrund eingreift und auf sicheren Baugrund angewiesen ist, ist die Kenntnis über etwaige altbergbaubedingte Gefährdungspotenziale immens wichtig. Das gilt für die Errichtung von Gebäuden oder beim Bau von Verkehrswegen, egal ob Straße oder Schiene oder sonstige Infrastruktur.

Dem kommen wir entgegen. Schon seit 2009 betreibt die Bergbehörde gemeinsam mit dem Geologischen Dienst ein im Internet für jedermann nutzbaren Informationsdienst über den Untergrund. Hier können Bürgerinnen und Bürger, aber auch Kommunen, Genehmigungsbehörden und Planungsträger Erstinformationen zu einem etwaigen altbergbaubedingten Gefährdungspotenzial abrufen und gegebenenfalls auch grundstücksbezogene Auskünfte anfordern.

Das Informationsangebot ist längst vorhanden und einfach zu nutzen. Aber leider wird es, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht durchgehend in Anspruch genommen, oder aber die Informationen werden, obwohl sie genutzt werden, danach nicht angemessen berücksichtigt. In diesen Fällen wird dem Bauherrn unter Umständen erst beim Ausheben der Baugrube klar, dass altbergbauliche Hinterlassenschaften vorhanden sind, die vor einer baulichen Nutzung fachgerecht untersucht und gesichert werden müssen. Dann ist guter Rat im wahrsten Sinne des Wortes teuer.

Mehrkosten und auch Unkenntnis mögen zumeist die Gründe sein, wenn Untersuchungen und Sicherungen des Altbergbaus nicht dem Stand der Technik entsprechend beauftragt worden sind. Daraus können unter Umständen auch neue Gefahren resultieren.

Hier wollen wir ansetzen, um eine signifikante Verbesserung zu erreichen – beispielsweise dadurch, dass neben den Baugenehmigungsbehörden auch die regelmäßig am Grundstücksverkehr beteiligten Notare Hinweise auf das Informationsangebot der Bergbehörde geben.

Leider existiert eine weitere unglückliche Lücke im System bzw. im Gesetz. Wir haben in der Antwort der Landesregierung bereits auf diesen Punkt hingewiesen und wollen das Problem lösen. Bislang gibt es keine zwingende Verpflichtung, dass ein Dritter, der im Altbergbau aktiv ist, die fachlich kompetente Bergbehörde vor der Durchführung von Untersuchungs- und Sicherungsmaßnahmen beteiligt oder zumindest informiert. Da ist nicht immer die Einhaltung technischer Standards gewährleistet.

Auch Altbergbaugesellschaften untersuchen und sichern selbstständig verlassene Grubenbaue. Sie achten regelmäßig auf die Einhaltung technischer Standards und informieren auch die Bergbehörde über die Maßnahmen. Insofern sind sie nicht das Problem.

Die Probleme liegen eher bei Maßnahmen, die etwa von Grundstückseigentümern, Bauunternehmen und Verkehrssicherungspflichtigen veranlasst werden, von denen die Bergbehörde nichts erfährt und auf die sie daher auch keinen Einfluss nehmen kann.

Dies geht dann nicht nur zulasten des jeweiligen Untersuchungs- oder gar Sanierungsfalls. Hinzu kommt, dass die Bergbehörde aus solchen Untersuchungs- und Sicherungsmaßnahmen selbst keine neuen Erkenntnisse gewinnen kann, um das eigene Wissen über die altbergbaulichen Gegebenheiten zu erweitern und für zukünftige Auskünfte zu etwaigen Gefährdungspotenzialen zu nutzen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen daher zukünftig eine umfassende Information der Bergbehörde über alle im Land durchgeführten Untersuchungs- und Sicherungsmaßnahmen im Bereich des Altbergbaus sicherstellen. Damit wird auch für die landesweit zuständige Fach- und Ordnungsbehörde größtmögliche Transparenz geschaffen. Die Bergbehörde kann für die Einhaltung technischer Standards sorgen, und sie kann die Ergebnisse solcher Maßnahmen zur Vervollständigung ihres Wissens über altbergbauliche Gefährdungspotenziale nutzen. Dies stellt für alle Beteiligten einen Mehrwert in puncto Sicherheit dar.

Die Landesregierung wird in diesem Sinne prüfen, welchen rechtlichen Regelungsbedarf es gibt, und dem Parlament Vorschläge vorlegen, um konkrete Lücken baldmöglichst zu schließen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herzlichen Dank, Herr Minister. – Als nächsten Redner habe ich für die CDU-Fraktion Herrn Kollegen Hovenjürgen auf der Liste stehen. Bitte schön.

Josef Hovenjürgen (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Da hier großer Konsens in der Bewertung des Sachverhalts herrscht, ist es immer sehr angenehm, dieses gemeinsam im Bergbausicherheitsausschuss – der übrigens seit 2005 so heißt; vorher war es der Grubensicherheitsausschuss – zu besprechen.

Es war damals eine gemeinsame Entscheidung, zu sagen: Wir können uns nicht nur mit dem Bergbau an sich befassen, also mit dem Handeln im Unternehmen und der Sicherheit der Menschen im Unternehmen, sondern müssen uns auch mit dem beschäftigen, was Bergbau über Tage anrichtet, und uns auch denen zuwenden, die vom Bergbau geschädigt werden.

Ich glaube, dass das eine sehr richtige Entscheidung war, für die wir uns an dieser Stelle selbst noch einmal belobigen sollten, meine Damen und Herren,

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD)

weil wir damit erstmalig den Menschen, die geschädigt sind, eine Möglichkeit gegeben haben, ihre Problemlagen zu schildern. In vielen dieser Verfahren ist uns deutlich geworden, wie notwendig es ist, auch den Menschen im Binnenverhältnis bis zum Unternehmen Gehör zu geben.

Lieber Herr Minister, erst einmal herzlichen Dank für den Bericht und die Hinweise, die Sie gerade in Ihrer Rede gegeben haben! Ich darf aber auch noch einmal – die Vertreter der Bergbehörde wissen, was jetzt kommt – darauf hinweisen, dass ich es auch als notwendige Aufgabe einer Bergbehörde und einer Bergaufsicht ansehe, sich nicht nur die Feststellungen des Unternehmens zu eigen zu machen, sondern auch mithilfe eigener Erkenntnisse Klageführungen von Bürgerinnen und Bürgern zu überprüfen. Es genügt nicht, nur das Unternehmen zu fragen, ob das, was der Bürger vorträgt, richtig ist oder falsch. Fakt ist: Sie sind auch den Bürgern verpflichtet und nicht ausschließlich dem Unternehmen.

Deswegen noch einmal die ganz herzliche Bitte in Richtung Bergbehörde: Machen Sie sich nicht die Erkenntnisse des Unternehmens zu eigen, sondern gewinnen Sie eigene Erkenntnisse darüber, ob das, was zum Beispiel Bürgerinnen und Bürger Ihnen vortragen, auch sein kann.

Es kann eben nicht sein, dass Sie sich alles vom Unternehmen mitteilen lassen. So hieß es zum Beispiel in meiner Heimatstadt Haltern am See seinerzeit auf meine Anfrage, um wie viele Schadensmeldungen es sich handele: 40; 20 davon sind Bergschäden; 19 davon sind keine Bergschäden; eine Besichtigung steht noch aus. – Auf die Frage, ob dies eigene Erkenntnisse seien, wurde geantwortet: Nein, das sind die Hinweise des Unternehmens.

Das Unternehmen hat die Möglichkeit, selbst vor Ort zu gehen und zu entscheiden: Bin ich Schädiger oder nicht? – Der Schädiger selbst entscheidet also, ob er Schädiger ist. Das ist in einer Zeit, in der die Menschen aufgeklärt sind und Erkenntnisgewinne haben, zu wenig.

Deswegen bitte ich das Ministerium und die Behörden noch einmal darum, hier auch auf die Geschädigten ein Stück weit mehr Rücksicht zu nehmen.

Ein weiterer Punkt, auf den wir eingehen müssen, ist die Situation der Arbeitsplätze im Ruhrgebiet. Der Vorredner der AfD sprach gerade von den Menschen, die jetzt ihre Arbeit verlieren. Das trifft nicht ganz den Sachverhalt. Gott sei Dank konnte in gemeinsamer Verantwortung von Unternehmen, Mitarbeitern und Gesetzgeber erreicht werden, Übergangszeiten zu organisieren, die verhinderten, dass Menschen ins Bergfreie fallen. Es werden eben nicht Massen arbeitslos. Insofern ist das ein sehr guter Weg und ein Beispiel dafür gewesen, wie man Übergänge gestaltet und wie man Prozesse gemeinsam verantwortlich auf den Weg bringt. Auch das sei noch einmal erwähnt.

(Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Unser Ruhrgebiet ist entstanden, weil die Menschen damals zur Produktion von Kohle und Stahl gezogen sind. Heute haben wir ein Baurecht, das Arbeit und Wohnen zusammen nicht mehr ermöglicht. Damit haben wir die Situation, dass wir zurzeit Arbeit aus dem Ruhrgebiet herausziehen, ohne neue Arbeit etablieren zu können, und am Rande des Ruhrgebiets keine Flächen entwickeln können, um dort neue Arbeit anzusiedeln – aufgrund von Gesetzgebung, an deren Veränderung wir uns jetzt machen.

Die Kolleginnen und Kollegen insbesondere der Sozialdemokratie sind in den nächsten Monaten gefordert, zusammen mit uns das zu korrigieren, was ihr Wirtschaftsminister damals immer gerne gewollt hätte, aber leider in der rot-grünen Landesregierung nicht umsetzen konnte, weil es durch Herrn Remmel verhindert wurde. Sie haben jetzt die Möglichkeit und sind eingeladen, mit uns zusammen im Zuge der LEP-Öffnung diese Verfahrensschritte zu gehen, um wieder Flächen im Ruhrgebiet zu akquirieren.

Sie haben auch gemeinsam mit uns die Möglichkeit, auf Bundesebene darauf hinzuwirken, Fläche, die im Ruhrgebiet zurzeit noch für Arbeit genutzt wird, auch für Arbeit zu erhalten. Ich rede hier vom sogenannten Bestandsschutz. Unternehmen, die aktuell im Ruhrgebiet wirtschaften, haben für das, was sie dort im Ballungsraum betreiben, Bestandsschutz.

Wenn sie ihre Produktion aufgeben, ist die Fläche nach aktuellem Baurecht neu zu bewerten. In der Regel geht uns dann ein Großteil der Fläche verloren. Denn unter aktuellem Baurecht kann sie nicht mehr industriell genutzt werden, weil die Abstandssituation zwischen Wohnbebauung und Industriefläche nicht ausreichend ist. Wenn wir aber gemeinsam erwirken könnten, nicht nur den Betrieb mit Bestandsschutz auszustatten, sondern auch die Fläche, auf der dieser Betrieb steht, könnten wir zumindest verhindern, dass diese Fläche, wenn der jetzige Betrieb sie nicht mehr nutzt, direkt massiv verloren geht.

Wir haben wegen des aktuellen Baurechts in den letzten zehn Jahren über 3.600 ha Fläche in dem Ballungsraum verloren. Dieser Entwicklung ist entgegenzuwirken. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Arbeit aus dem Ruhrgebiet entfernt und wir sowohl im Ruhrgebiet als auch am Rand des Ruhrgebiets keine Perspektive für Neuansiedlung von Arbeit schaffen.

(Michael Hübner [SPD]: Das hat mit der Großen Anfrage nichts mehr zu tun!)

– Lieber Herr Kollege, halten Sie doch einfach durch! Sie haben gleich noch die Möglichkeit, auf meine Rede zu antworten. Ich kann nichts dafür, dass Sie in Ihrer Regierungszeit keine zukunftsträchtige Politik gemacht haben.

(Beifall von der CDU und der FDP – Vereinzelt Beifall von der AfD)

Wer im Ruhrgebiet Zukunft gestalten will, Menschen Perspektiven geben will und Menschen deutlich machen will, dass sie nicht abgeschrieben sind, muss ihnen die Möglichkeit des Broterwerbs geben und Arbeit ins Ruhrgebiet holen, statt Arbeit aus dem Ruhrgebiet abwandern zu lassen.

Die Schritte hierfür sind durch die jetzige Nordrhein-Westfalen-Koalition eingeleitet.

Alle, die hier im Hause Verantwortung tragen, sind eingeladen, diese Wege mit uns zu gehen, um den Menschen im Ruhrgebiet und in NRW eine echte Perspektive auf Zukunft in Nordrhein-Westfalen in eigenverantworteter Lebenssituation und in Arbeitsverhältnissen mit guten Löhnen zu geben. Die Einladung gilt für alle im Haus. Ich bin gespannt, ob Sie sie annehmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Hovenjürgen. – Für die SPD-Fraktion spricht nun Herr Kollege Göddertz.

Thomas Göddertz (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner haben schon mehrmals darauf hingewiesen, dass in diesem Jahr die letzten Zechen im Ruhrgebiet schließen. Als Bottroper und somit als Bürger einer der letzten Zechenstädte bedaure ich diese Entscheidung nach wie vor. Ich halte sie nach wie vor für falsch.

Für unsere Region schließt sich ein wichtiges Kapitel unserer Geschichte. Der Bergbau hat die Biografien vieler Menschen entscheidend geprägt. Er hat sowohl das Ruhrgebiet als auch unser Land stark gemacht. Er hat für einen einmaligen Aufschwung dieser Region und der gesamten Bundesrepublik Deutschland gesorgt. Dies sollte bei der ganzen Diskussion um Risiken und Langzeitkosten nicht vergessen werden.

(Beifall von der SPD)

Wer allerdings glaubt, das Thema „Bergbau im Ruhrgebiet“ wäre mit der Schließung der letzten Zeche beendet, irrt. Im Gegenteil! Das Ende des Steinkohlenbergbaus stellt uns vor vielfältige Aufgaben. Der Verlust an Know-how und an qualifiziertem Personal wird noch weitreichende Folgen haben. Mit den Folgen des Bergbaus zu leben, gehört für die meisten Menschen unserer Region dazu.

Um eines klarzustellen: Das größte Risiko sind hierbei die Tagebrüche. Sie entstehen durch Spätfolgen des sehr frühen Bergbaus und eben nicht durch den heute noch aktiven Tiefbergbau. Der Altbergbau mit seinen Risiken ist eine Hinterlassenschaft, mit der wir umgehen müssen, aber auch umgehen können.

Die Bergbehörde nimmt hierbei eine Schlüsselrolle ein. Sie sichert Wissen, bevor es verloren geht. Sie wird präventiv tätig, seitdem die damalige SPD-geführte Landesregierung ab dem Jahr 2000 die Mittel dafür bereitgestellt hat.

Dabei erfasst sie sukzessive alle Lasten, die uns der Altbergbau überlassen hat. Sie stellt ein Risikomanagement zur Verfügung, um Folgen abschätzen zu können. Sie wird vor Schadenseintritt aktiv, um über Risiken in betroffenen Gebieten zu informieren. Sie tritt verkehrssichernd in Erscheinung, wenn kein Verursacher mehr festzustellen ist. Hier wird vonseiten der Bergbehörde einiges getan, um die Folgen so erträglich wie möglich zu gestalten.

Die Antwort der Landesregierung zeigt die Herausforderungen für die Bergbehörde im Zusammenhang mit dem Altbergbau deutlich auf: verpflichtende Kenntnisnahme durchgeführter Maßnahmen zur Sicherung durch Dritte, Anwendung von zeitgemäßen Standards bei der Sicherung von altbergbaulichen Hinterlassenschaften und Information von Grundstückskäufern in ehemaligen Bergbaugebieten. Dies alles sind Vorschläge der Bergbehörde, die zu einer effizienteren Arbeit führen können, um die Risiken des Altbergbaus einzuschätzen und zu minimieren.

Wir wollen der Bergbehörde hier den Rücken stärken. Das Thema „Altbergbau“ ist dabei als dynamischer Prozess zu begreifen.

Durch die sukzessive Erfassung steigen aber auch die Aufgaben, und die Technik hat sich weiterentwickelt. Gerade nach dem Ende des Steinkohlenbergbaus steigt die Gefahr, dass Spezialwissen verloren geht. Hier müssen wir die Bergbehörde unterstützen, um die Herausforderung zu bewältigen.

Aber wir dürfen die ehemaligen Betreiber auch nicht aus der Pflicht entlassen. Ist ein Verursacher festzustellen, so muss er oder sein Rechtsnachfolger Abhilfe leisten. Denn diese Unternehmen haben massiv vom Bergbau profitiert. Nun müssen sie auch weiter an den Folgekosten beteiligt werden.

Die Einführung einheitlicher Standards zur Bewertung der Risiken des Altbergbaus ist ein Schritt in diese Richtung.

Unsere Aufgabe ist es jetzt, die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Ich sehe diese Anfrage als ersten Schritt dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kommt eine Menge Arbeit auf uns zu.

In diesem Sinne ende auch ich, wie es in meiner Heimatstadt üblich ist, mit einem ganz herzlichen: Glück auf!

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Göddertz. – Für die grüne Fraktion hat nun noch einmal Frau Brems das Wort.

Wibke Brems*) (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon froh darüber, dass wenigstens unter den demokratischen Fraktionen Einigkeit herrscht, wie wichtig das Thema „Risiken des Altbergbaus“ ist und dass hier rechtlicher Handlungsbedarf besteht. Dafür erst einmal herzlichen Dank!

Über zwei Dinge, die der Minister gesagt hat, war ich aber doch etwas irritiert.

Erstens werfen Sie in den Raum, Herr Minister, hier würden Ängste geschürt. Einen solchen Generalvorwurf in den Raum zu stellen, finde ich etwas problematisch. Vielleicht können wir ja Einigkeit darüber erzielen, dass das nicht das generelle Ziel ist.

Zweitens haben Sie den Altbergbaugesellschaften generell gedankt und gesagt, sie kämen ihrer Arbeit gewissenhaft nach. Ich kann das aufgrund der hier gegebenen Antworten, ehrlich gesagt, nicht beurteilen. Nach meiner Interpretation gehen auch einige in der Beantwortung enthaltene Aussagen der Bergbehörde klar dahin, dass es eben keine direkte Zusammenarbeit von einigen der Altbergbaugesellschaften mit der Bergbehörde gibt.

Nehmen wir ein Beispiel. Laut der Antwort auf die Große Anfrage reagieren die meisten der Altbergbaugesellschaften nicht oder nur ausweichend auf Fragen zum Risikomanagement und zur Gefährdungsanalyse.

Zur Frage, ob es einer rechtlichen Notwendigkeit bedarf, etwas zu tun, möchte ich gerne die Antwort der RAG anführen, die

„informiert, dass eine Meldepflicht von Sanierungsmaßnahmen an die Bergbehörde … in Nordrhein-Westfalen nicht existiere und sie es begrüßen würde, wenn über solch eine Regelung ein Sanierungskataster bei der Abteilung Bergbau und Energie in NRW der Bezirksregierung Arnsberg geführt würde …“

Da haben wir es doch! Genau eine dieser Altbergbaugesellschaften würde dies unterstützen. Das sollten wir dann auch mitnehmen und positiv begleiten.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss die Einigkeit nutzen, ein Augenmerk auf das zu richten, was in der Debatte noch keine große Rolle gespielt hat. Wir müssen uns auch mit dem Nichtsteinkohlebergbau beschäftigen. In Ansätzen behandelt die Anfrage dieses Thema. Wir haben hier noch keine komplette Übersicht über Altgesellschaften und die Handlungsnotwendigkeiten. Es ist aber insgesamt viel zu tun. Das zeigt die Debatte, und das zeigt die Antwort. Packen wir es gern gemeinsam an! – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Brems. – Für die AfD hat nun Herr Beckamp das Wort.

Roger Beckamp (AfD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Brems war eben froh, dass sich die pseudodemokratischen Fraktionen bezüglich der Altlasten des Bergbaus einig seien. Das ist sehr erfreulich. Auch wir haben genau hingeschaut. Wir danken der Landesregierung, der Bergbehörde und den Unternehmen, die beteiligt waren, für die umfangreichen Antworten, aus denen sich in vieler Hinsicht durchaus eine Entwarnung ableiten lässt.

Was aber auch interessant ist und was vielleicht auch die pseudodemokratischen Fraktionen interessieren könnte, sind Altlasten, die nicht Jahrhunderte brauchen, bis irgendetwas passiert, sondern die ganz aktuell sind, nämlich bei den Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien. Denken Sie an das Quecksilber in Solaranlagen, denken Sie an das ganze Dämmmaterial, das wir uns jetzt über Jahrzehnte an die Fassaden geklebt und gedübelt haben, denken Sie auch an die Windkraftanlagen, die Sie nachher entsorgen müssen. Das ist die Altlast, das ist der Sondermüll, der jetzt schon vor der Tür steht, den wir sehr bald haben werden.

Insofern vielen Dank für Ihre Anfrage. Das wird für uns Anlass sein, einmal genauer hinzuschauen und Altlasten etwas weiträumiger in den Blick zu nehmen. Insofern freuen wir uns auf die Diskussion demnächst über Altlasten, die Sie hier alle gefördert haben. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Beckamp. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns hier nicht gegenseitig als Pseudodemokraten beschimpfen.

(Roger Beckamp [AfD]: Entschuldigung, wir werden ausgegrenzt als Nichtdemokraten!)

– Sie müssen sich nicht ausgegrenzt fühlen.

(Roger Beckamp [AfD]: Dann habe ich das Recht zum Gegenschlag!)

– Sie haben hier gar kein Recht zu irgendwelchen Gegenschlägen.

(Roger Beckamp [AfD]: Das ist guter parlamentarischer Umgang!)

Sie haben nur die Möglichkeit, das zu sagen, was Sie sagen wollen. Ich habe die Möglichkeit, von hier aus zu sagen, dass wir uns nicht als Pseudodemokraten bezeichnen.

(Zurufe von der AfD – Unruhe von der CDU und der SPD)

– Ich bin gar nicht in der Lage …

(Zuruf von Roger Beckamp [AfD] – Gegenruf von der SPD: Sie haben nicht einmal den Anstand, den Präsidenten ausreden zu lassen! – Michael Hübner [SPD]: Das ist der Parlamentspräsident, Herr Kollege! Was haben Sie für eine Kinderstube? – Markus Wagner [AfD]: Sie werden zum Opfer Ihrer eigenen Rhetorik! – Michael Hübner [SPD]: Was haben Sie für eine Kinderstube?)

Herr Beckamp, ich weise nur darauf hin, dass so ein Ausdruck dem parlamentarischen Gebrauch in diesem Hohen Hause nicht entspricht.

(Markus Wagner [AfD]: Demokratiesimulanten!)

Ich würde Sie einfach bitten, das so zur Kenntnis zu nehmen, wie man das hier bisher auch getan hat. Mehr wollte ich gar nicht sagen. Sie haben das schon verstanden.

(Beifall von der CDU und der SPD)

Damit bin ich am Ende dieser Debatte mit Ihnen angelangt. Da wir keine Abstimmung vorzunehmen haben, habe ich diese Debatte lediglich zu schließen und festzustellen, dass damit die Große Anfrage 1 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erledigt ist.

(Markus Wagner [AfD]: Lesen Sie mal die Presse und die Kommentare zu der gestrigen Debatte! – Michael Hübner [SPD]: Fragen Sie mal Ihre Eltern und überlegen Sie, was Sie hier sagen! Peinlich!)

Wir kommen zu:

5   Rechtssicherheit durch pflichtgemäße Altersbestimmung bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern (UMA), die sich nicht zweifelsfrei ausweisen können und nicht eindeutig als minderjährig erkennbar sind

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/1657

Diesen Antrag begründet nun für die AfD-Fraktion Frau Walger-Demolsky.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Herzlichen Dank. – Herr Vorsitzender! Sehr geehrte Damen und Herren! Kann man ohne jeglichen Beleg Hartz IV oder einen Schwerbehindertenausweis oder eine Pflegehilfe für Angehörige beantragen? – Wohl eher nicht, und das ist wohl auch richtig so.

Die Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Ausländer hat sich in NRW seit 2015 mehr als vervierfacht. Mitte letzten Jahres waren es mehr als 12.500 Jugendliche und Kinder, zwei Drittel im Alter von 16 bis 17 Jahren und zu fast 90 % männlich.

Wie wir alle wissen, haben diese Jugendlichen meist ein Handy dabei, aber selten einen Ausweis. Eine sichere Feststellung der Identität und des Alters sind so also nicht möglich. Wir vertrauen hier in der Regel auf die Selbstauskunft.

Wir alle wissen aber auch, dass es erhebliche Vorteile bringt, als Minderjähriger nach Deutschland und nach Nordrhein-Westfalen zu kommen: eine exklusive Betreuung, eine bessere Unterbringungssituation, kein übliches Asylverfahren, deutlich bessere Bleibeperspektiven und im Fall einer Straftat auch nur eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht.

Der Grüne Boris Palmer sagte in der „Welt“, es sei naiv, von einer Unkenntnis der Asylbewerber auszugehen. Es spreche sich schließlich herum, dass falsche Altersangaben selbst im Alter von bis zu 30 Jahren ausreichen, um von deutschen Behörden als minderjährig anerkannt zu werden. Er fordert bei der Verweigerung einer medizinischen Untersuchung von Volljährigkeit auszugehen, also eine Umkehr der Beweislast.

Im Saarland, CDU-regiert oder CDU-FDP-regiert …

(Bodo Middeldorf [FDP]: Saarland? Nein! – Josef Hovenjürgen [CDU]: Große Koalition!)

– Entschuldigung, okay. – Im Saarland hat man die medizinische Altersuntersuchung in allen zweifelhaften Fällen zur Pflicht gemacht. Den Jugendämtern hat man diese Aufgabe entzogen. Es wurde festgestellt, dass jeder zweite Migrant in diesem Altersbereich falsche Altersangaben macht.

In Berlin wurde von der CDU-Fraktion am 5. Januar 2018 ein Antrag gestellt; er war noch nicht im Plenarsaal. Ich zitiere aus dem Antrag:

„Es ist davon auszugehen, dass eine hohe Dunkelziffer … es schafft, sich als minderjährig ausgegeben. Eine genaue Altersfeststellung liegt daher im öffentlichen Interesse.“

In Dänemark und Schweden haben nachträgliche Untersuchungen ergeben, dass vier von fünf vermeintlich Minderjährigen in Wahrheit volljährig sind.

Die Folgen falscher Altersangaben sind aus finanzieller Sicht für die Steuerzahler gravierend. Das Bundesverwaltungsamt hat beispielsweise für junge Unbegleitete einen Kostensatz von 175 € pro Tag ermittelt. Er ist also fünfmal so hoch wie der durchschnittliche Kostensatz für einen volljährigen Asylbewerber.

Die Altersüberprüfung durch die Jugendämter per Inaugenscheinnahme erweist sich offensichtlich als unzureichend. Daher sind die Jugendämter von dieser Aufgabe zu entlasten.

Wir fordern die Landesregierung auf, durch unabhängige medizinische Gutachter eine Altersuntersuchung bei der Erstaufnahme dann vorzuschreiben, wenn sich das Alter auf anderem Wege nicht zweifelsfrei bestimmen lässt. Dabei sind alle modernen Verfahren zuzulassen und obligatorisch auch anzuwenden. Machen Sie das am besten in der Landeserstaufnahme, dann geht auch keine Zeit verloren.

(Beifall von der AfD)

Das bedeutet aktuell eine forensische Beurteilung der Zahnreife bzw. die Begutachtung der Handwurzelknochen oder auch des Schlüsselbeins unter Einsatz von Röntgen und/oder Ultraschalldiagnostik. Ebenso ist zu empfehlen, sich die Entwicklung der äußeren Geschlechtsmerkmale anzuschauen.

Der äußerst geringe gesundheitliche Nachteil ist vom Antragsteller in Kauf zu nehmen, wenn er selbst keinen Nachweis erbringen kann. Auch Dr. Ernst Rudolf von der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik kommt zu dem Urteil, dass durch eine einmalige radiologische Untersuchung eine zweifelsfreie Minderjährigkeitsbehauptung zulässig wiederlegt werden kann, ohne unzumutbar zu sein. Künftig kann natürlich alternativ die Begutachtung mittels DNA-Analyse oder Ultraschall-Handscanner – entwickelt vom Fraunhofer Institut – erfolgen. Solche Verfahren sollten natürlich forciert werden.

Ich freue mich auf Ihre rege Beteiligung in den Ausschüssen. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Walger-Demolsky. – Für die CDU-Fraktion spricht Frau Gebauer.

Katharina Gebauer (CDU): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD-Fraktion zur Altersbestimmung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist überflüssig. Er zeugt von tiefem Misstrauen: zuerst gegen die zu uns kommenden Flüchtlinge und dann gegen die Jugendämter vor Ort. – So etwas brauchen wir hier in Nordrhein-Westfalen nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen!

(Beifall von der CDU)

Der Antrag listet die Herkunft der unbegleiteten Minderjährigen auf: Staaten außerhalb Europas, in denen der Islam die vorherrschende Religion ist. – Und dann sind es zu 88 % männliche Personen und nur zu 12 % weibliche. Was soll das? Die Herkunft oder das Geschlecht dürfen doch keine Rolle spielen. Ein Kind oder ein Jugendlicher, das bzw. der zu uns kommt und keine erwachsene Begleitung hat, kommt doch nicht zum Spaß.

(Roger Beckamp [AfD]: Ob es Kinder sind, ist ja die Frage!)

Kinder und Jugendliche benötigen zuerst einmal Hilfe, egal, welches Geschlecht, welche Hautfarbe und Religion sie haben.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Und welches Alter?)

Das ist doch wohl ein Gebot der Menschlichkeit und hoffentlich Konsens in diesem Hohen Hause.

(Vereinzelt Beifall von der CDU, der SPD und der FDP)

Da ist der Staat in der Pflicht. Kindern und Jugendlichen ohne Begleitung muss geholfen werden, auch wenn es eine Herausforderung ist, auch wenn es in den vergangenen Jahren mehr waren als in den Jahrzehnten zuvor. Daran lässt sich nicht rütteln. Das ist nach meinem Selbstverständnis und aus dem christlichen Menschenbild heraus unsere Verpflichtung.

Aber Sie können auch den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant als Begründung nehmen. Diese Hilfe ist ein Gebot praktischer Menschlichkeit.

(Zuruf von der AfD)

An dieser Stelle möchte ich hervorheben, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort in den Jugendämtern ebenso wie die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe einen tollen Job machen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dabei müssen sie natürlich schauen, ob die unbegleiteten Flüchtlinge auch wirklich minderjährig sind und ihnen damit die besonderen Rechte zustehen.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Ja, wie schauen sie denn?)

Fehlen die Dokumente und bestehen Zweifel, wird eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt. In der Regel geschieht dies durch zwei Personen, die eine große Erfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit haben.

(Dr. Martin Vincentz [AfD]: Sie müssen einen Ausweis zeigen, wenn sie ein Bier kaufen!)

Das ist in der Handreichung des Ministeriums detailliert beschrieben. Auch können Zeugen befragt, Sachverständige angehört und Urkunden und Auskünfte einbezogen werden. Das ist also jedem Jugendamt möglich, und das ist gängige Praxis.

Die jugendlichen Personen sind auch heute schon verpflichtet, an der Altersbestimmung mitzuwirken. Im Antrag suggeriert die AfD, dies sei nicht der Fall.

Vizepräsident Oliver Keymis: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Walger-Demolsky?

Katharina Gebauer (CDU): Nein, im Moment nicht.

Vizepräsident Oliver Keymis: Keine Zwischenfrage. – Bitte schön.

Katharina Gebauer (CDU): Wenn weiterhin Zweifel am Alter bestehen, kann das Jugendamt auch heute schon medizinische Untersuchungen veranlassen.

Es ist richtig, dass die Einwilligung des Jugendlichen bzw. dessen Vertrauensperson notwendig ist, so wie es bei anderen medizinischen Untersuchungen auch der Fall ist. Weigert sich der Jugendliche, sind Untersuchungen zu unterlassen. Dann liegt es im Ermessen des Jugendamtes, ob es die Leistungen weiter erbringt.

Auch wenn sich nach der medizinischen Untersuchung herausstellt, dass der Jugendliche vermutlich volljährig ist, kann das Jugendamt weitere Leistungen nach dem Jugendhilferecht verweigern. Es ist vorgeschrieben, dass das Jugendamt die Altersfeststellung dokumentiert und die Sachgründe für die Entscheidung festhält.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Es gibt eine Pflicht des unbegleiteten Minderjährigen, an der Altersbestimmung mitzuwirken.

(Heiterkeit von der AfD)

Das ist bundeseinheitlich so geregelt.

(Markus Wagner [AfD]: Toll! Machen sie aber nicht!)

Doch das reicht der AfD nicht. Sie misstrauen den Jugendämtern

(Markus Wagner [AfD]: Ihre Realitätsverweigerung ist ja schon peinlich!)

und unterstellen, dass junge Ausländer mit Falschangaben durchkommen. Zum Beweis dieser Behauptung müssen zwei Zahlen aus dem Internet herhalten, die aus Dänemark und Schweden bezogen werden.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Und dem Saarland!)

Wie und auf welcher Grundlage sie ermittelt werden, bleibt hier aber im Dunkeln.

Auch wird hier unterstellt, dass man in Nordrhein-Westfalen vorgeblich jungen Migranten glaube, während das BAMF medizinische und nichtmedizinische Methoden zur Altersfeststellung kombiniere. Genauso ist es doch auch in Nordrhein-Westfalen. Ich habe die Praxis eben ausgeführt.

Aber die AfD hat NRW nur vorgeschoben. Eigentlich will sie eine bundeseinheitliche Neuregelung. Hier muss der AfD Nachhilfe in Sachen Föderalismus gegeben werden; denn dafür ist der Landtag NRW der falsche Ort.

(Beifall von der CDU – Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Wir sitzen nicht im Bundestag!)

Aber der Antrag geht noch in einem weiteren Punkt an der Realität vorbei. Die AfD wünscht sich Rechtssicherheit durch eine pflichtgemäße Altersbestimmung. Die meisten Ärzte und Gutachter werden der AfD aber sagen, dass es eine zweifelsfreie, exakte Altersbestimmung nicht gibt.

(Helmut Seifen [AfD]: Bis auf ein Jahr!)

Man arbeitet mit Merkmalen von Vergleichsgruppen. Hat man die Handknochen geröntgt oder das Gebiss untersucht, werden die Ergebnisse mit Fallgruppen verglichen. Man kann keinen exakten Wert, sondern nur eine Altersspanne feststellen.

Im „Deutschen Ärzteblatt“ ist bei der Altersbestimmung sogar nur von groben Schätzungen die Rede, die medizinisch möglich sind.

Der Präsident der Bundesärztekammer hat unmissverständlich klargemacht, weder medizinische Verfahren noch psychologische Verfahren könnten den Geburtstag juristisch sicher bestimmen. Der Rechtssatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ kommt in diesem Fall zur Anwendung. Egal, ob in einer qualifizierten Inaugenscheinnahme oder bei der forensischen Altersdiagnostik: Hier wie da ist im Zweifel für den Jugendlichen zu entscheiden.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Daran würde auch eine pflichtgemäße Altersbestimmung nichts ändern.

Und was würden die Untersuchungen bringen? Hierzu zitiere ich den Präsidenten der Bundesärztekammer: Die Untersuchungen sind aufwendig, teuer und mit großen Unsicherheiten behaftet.

Lieben Damen und Herren vom rechten Rand des Hohen Hauses, ich muss Bemerkungen zur handwerklichen Qualität des Antrages machen.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Darauf haben wir gewartet! – Weitere Zurufe von der AfD: Oh!)

Es reicht eben nicht, eine Regierungsvorlage zu zitieren und sich ein paar Zahlen und Zitate zusammenzugoogeln. Es reicht eben nicht, vermeintliche Missstände anzuprangern. Ich fordere Sie auf: Sprechen Sie doch erst einmal mit den Jugendämtern vor Ort,

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Haben wir!)

bevor Sie so einen Antrag stellen. Schauen Sie sich doch im „Ärzteblatt“ die einschlägigen Artikel zur Altersdiagnostik an, bevor Sie korrekte, zweifelsfreie Informationen zum Alter der unbegleiteten Minderjährigen erwarten.

Mit Messungen von Schädelknochen haben deutsche Ärzte im Dritten Reich

(Zuruf von der AfD: Oh!)

Erfahrungen gemacht. Heute will die AfD Handgelenke obligatorisch röntgen lassen. Damals wie heute führen solche Untersuchungen in die Irre.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Die Aussagen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge müssen überprüft werden – einverstanden –, aber bitte nicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Helmut Seifen [AfD]: Wie denn?)

Ich vertraue auf die Jugendämter vor Ort und ihre Erfahrung. Sie schüren Misstrauen in junge Flüchtlinge und in unsere Jugendämter. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN – Nic Peter Vogel [AfD]: Ach, das war die CDU?)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Gebauer. – Für die SPD-Fraktion hat nun Herr Yetim das Wort.

Ibrahim Yetim (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Was ist eigentlich eine professionelle Inaugenscheinnahme bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen? Das ist ein bisschen mehr als das, was uns die AfD hier einzureden versucht, nämlich das einmalige Hingucken und anschließende Entscheiden. Das ist viel mehr.

(Markus Wagner [AfD]: Eben nicht!)

Das sind Gespräche mit dem unbegleiteten Minderjährigen über die Familie, über die Eltern, über die Geschwister, über Geburtsdaten, über Schulzeiten, auch über den Fluchtweg und darüber, warum und wie sich jemand auf die Flucht begeben hat, ob er geschickt worden ist oder nicht.

Es werden die äußeren Merkmale begutachtet, also die Stimmlage, der Haarwuchs usw. All das wird von professionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Jugendämter begutachtet. Und wenn dann noch Zweifel bestehen, können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes bereits heute die ärztliche Untersuchung beantragen.

Daran, dass Sie, Kollegen von der AfD, all das nicht berücksichtigen, zeigt sich sehr deutlich – das hat auch die Kollegin Gebauer gerade ausgeführt –, dass Sie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – das sind Profis – unserer Jugendämter misstrauen, ja, ihnen sogar unterstellen, dass sie nicht vernünftig arbeiten würden. Wenn man weiß, wie unsere Jugendämter arbeiten, finde ich das wirklich – wie soll ich sagen? – schlecht. Ich will versuchen, es harmlos auszudrücken, damit es Ihnen nicht allzu sehr wehtut.

(Beifall von der SPD)

Zum Thema „Medizin“ hat die Kollegin Gebauer gerade alles ausgeführt. Ich will Ihnen nur noch sagen, dass diese medizinischen Untersuchungen auch rechtswidrig wären. Allein dieser Ansatz zeigt sehr deutlich auf, dass Sie sich mit diesem Thema überhaupt nicht auseinandergesetzt haben. Ich möchte mich kurz mit Ihrem Antrag befassen und drei, vier Punkte herausgreifen.

Frau Walger-Demolsky hat gerade gesagt, dass es eine exklusive Betreuung gebe. Das suggeriert demjenigen, der das so hört, dass die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Fünf-Sterne-Hotels untergebracht würden. Wenn Sie sich damit auseinandergesetzt und vielleicht auch angesehen hätten, wie diese jungen Menschen in Wohngruppen untergebracht sind,

(Zuruf von der AfD: Das haben wir!)

dann würden Sie, glaube ich, von einer „exklusiven Betreuung“ nicht mehr sprechen.

(Beifall von der SPD)

Sie versuchen sehr deutlich, alle unter einen Generalverdacht zu stellen, und greifen dabei ein Thema auf, das gerade aufgrund des Fehlverhaltens von Einzelnen in den Medien präsent ist. Deswegen macht der Antrag an dieser Stelle sehr deutlich, wessen Geistes Kind er ist.

(Beifall von der SPD)

Durch Ihre Wortwahl ignorieren Sie komplett, dass es sich bei diesen jungen Menschen um Flüchtlinge handelt. Sie sprechen immer von Ausländern und suggerieren damit, sie seien nicht zugehörig. Sie sprechen nicht davon, dass es um junge Menschen geht, die wahrscheinlich Unsägliches erlebt haben.

(Helmut Seifen [AfD]: Das kann sein!)

Das ist Ihnen komplett egal. Die Schutzbedürftigkeit dieser jungen Menschen ist Ihnen egal.

(Helmut Seifen [AfD]: Das ist doch Quatsch!)

Sie interpretieren und präsentieren die statistischen Zahlen ganz am Anfang Ihres Antrags so, dass sie Ihren Zielen der Verhetzung dienen.

(Beifall von der SPD)

Sie reden von einer Erhöhung um 328 % bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Sie nehmen dabei einen Zeitraum von 2014 bis 2017. Mathematisch ist das zwar völlig richtig, aber komplett unseriös. Seriös wäre es, wenn Sie das Vorjahr für Ihre Berechnungen nehmen würden. Dann aber müssten Sie von einer Verringerung sprechen.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Da war es noch höher!)

Ich sage Ihnen mal, wie es ist: 2016 hatten wir einen Zugang von 35.939, bis Oktober 2017 hatten wir einen Zugang von 8.107 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Das bedeutet, wir verzeichnen einen Rückgang von 77 %.

(Gabriele Walger-Demolsky [AfD]: Ja, die werden auch älter!)

Das wäre seriös gewesen, Frau Walger-Demolsky, aber nicht dieser von Ihnen gewählte Zeitraum. Ich meine, wenn wir genauso wie Sie verfahren würden, könnten wir den Zugang der Gastarbeiter, wie wir sie damals genannt haben, im Jahr 1960 mit den Migrantenzahlen im Jahr 2017 vergleichen. Ich glaube, dann hätten wir einen prozentualen Zugang, der Ihnen wahrscheinlich helfen würde, aber der wäre nicht seriös. Deswegen ist auch Ihr Antrag nicht seriös.

Sie betrachten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge allein als Kostenfaktor und ignorieren dabei, dass das Bundesfamilienministerium darauf hingewiesen hat, dass die Kosten je nach Betreuung und Maßnahme sehr unterschiedlich ausfallen können. Es gibt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die Traumata haben. Die müssen ganz anders behandelt werden als diejenigen, die keine Traumata haben. Auch das ist Ihnen komplett egal.

Ihr Versuch in diesem Antrag, Kollegen von der AfD, zwischen der Religionszugehörigkeit und der Altersbestimmung einen Zusammenhang herzustellen, ist so ähnlich wie der Versuch, einen Zusammenhang zwischen der AfD und Demokratie herzustellen. Der geht komplett daneben.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Mein Fazit ist: Sie versuchen wieder einmal, das Verhalten einzelner Flüchtlinge für Ihre rechtsextreme Positionierung zu nutzen.

(Helmut Seifen [AfD]: Nein, nein, nein!)

– Ja, das ist so.

Ich sage Ihnen sehr deutlich: Wir werden dieser Überweisung zwar zustimmen, aber ich könnte den Antrag schon heute ablehnen. Ich bin sicher, dass dieser Antrag im Integrationsausschuss und auch im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend keine Zustimmung finden wird.

Dieser Antrag sowie die letzten sechs Monate Ihrer Arbeit hier zeigen sehr deutlich, dass der Wähler eigentlich Sie in Augenschein hätte nehmen müssen. Das hätte geholfen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Markus Wagner [AfD]: Wählerbeschimpfung ist billig! Wählerbeschimpfung ist ganz billig! Lassen Sie das! 26.000 Bürger dieses Landes! – Gegenruf von der SPD: Ich glaube, Sie vertauschen da was!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Yetim. – Für die FDP-Fraktion hat nun Herr Lenzen das Wort.

Stefan Lenzen (FDP): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier wen beschimpft, lassen wir, denke ich, jetzt einmal im Raum stehen. Interessant ist aber – da spricht die Verwunderung für die AfD selbst –, dass Sie ganz überrascht tun, dass die Kollegin Gebauer von der CDU ist. Ich glaube, eines in diesem Hause eint vier Fraktionen, nämlich Werte wie Toleranz, Anerkennung der Menschenwürde und auch Rechtsstaatlichkeit. Wenn Sie sich da ausgeschlossen fühlen, spricht das auch wieder für Sie selbst.

(Beifall von der FDP, der CDU, der SPD und den GRÜNEN)

Es ist doch schon bezeichnend, dass keine Sitzungswoche ohne einen Antrag dieser selbsternannten Alternative für Flüchtlingspolitik vergeht. Es gibt keinen Antrag ohne Ressentiments, keinen Antrag mit einem praktikablen Lösungsansatz. Aber das sind wir ja schon von Ihnen gewohnt.

(Zuruf von der AfD)

Wenn man Ihren Antrag liest, stellen sich gleich mehrere Fragen; da kann ich mich meinen beiden Vorrednern nur anschließen. Sie bringen Zahlen, mit denen Sie bewusst polemisieren, lassen dabei aber völlig außer Acht, dass die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge weniger stark angestiegen ist als die der erwachsenen Flüchtlinge.

Ebenso sollte man sich fragen, welche Rolle es eigentlich spielt, dass die Mehrheit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus islamisch geprägten Ländern kommt. Es spielt – das hat die Kollegin Gebauer bereits gesagt – einfach gar keine Rolle. Es darf keine Rolle spielen.

(Beifall von der FDP, der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Warum glauben Sie eigentlich, Sie könnten die Jugendämter von dieser Verantwortung entbinden? Für die Sicherung des Kindeswohls gibt es eine UN-Kinderrechtskonvention, es gibt das SGB VIII, in dem die Aufgabe der Jugendhilfe klar geregelt ist. Genauso sind die Jugendämter vor den entsprechenden Verfahren zur Altersfeststellung verpflichtet, sie direkt in Obhut zu nehmen.

(Zuruf von Gabriele Walger-Demolsky [AfD])

Die Kollegin Gebauer hat es bereits gesagt: Warum ignorieren Sie Zitate – ich möchte das jetzt nicht wiederholen – des Präsidenten der Bundesärztekammer, dass das alles mit großen Unsicherheiten belastet ist? Weiter muss man das nicht ausführen.

Sie verschweigen außerdem, dass man gerade beim Thema „Herkunft“ und der Röntgenmethode aufpassen muss. Die Vergleichsdaten, auf die Sie sich beziehen, gelten nur für mitteleuropäische Kinder. Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass asiatische Kinder eine langsame Knochenreifung haben. Das heißt, Sie bringen hier Dinge ins Spiel, die so nicht funktionieren.

(Markus Wagner [AfD]: Rassentheorie!)

Sie wissen doch selber, dass jegliche Röntgenuntersuchung ohne medizinische Notwendigkeit einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat in punkto Zuverlässigkeit und Verfassungskonformität bereits 2016 aus guten Gründen herausgestellt, dass bei den ärztlichen Altersfeststellungen Zweifel gehegt werden dürfen. Dazu findet man in Ihrem Antrag kein Wort.

Ihr Antrag lässt im Übrigen mehr Fragen offen, als er beantwortet. Sie wollen dieses Grundprinzip unseres Rechtsstaats ins Gegenteil verkehren. Sie wollen alle unbegleiteten Minderjährigen unter einen Generalverdacht stellen, bis das Gegenteil bewiesen ist.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Walger-Demolsky?

Stefan Lenzen (FDP): Nein.

Genauso, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist auch für uns Freie Demokraten klar: Wir verschließen die Augen nicht vor Problemen. Es geht nämlich darum, dass der Sozialstaat für die Bedürftigen da ist und eben nicht für die Findigen. Wenn durch falsche Angaben Leistungen erschlichen oder rechtliche Vorteile gewonnen werden sollen, muss dies auch Konsequenzen haben.

Aber dabei spielt es keine Rolle, woher jemand kommt und welchen Status er oder sie hat. Das ist der Unterschied zwischen einem rechten Verständnis und einem Rechtsverständnis.

(Beifall von der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Wir stellen fest, dass junge Flüchtlinge sich als Minderjährige ausgeben, obwohl sie über 18 Jahre alt sind. Wir wissen, dass die Jugendämter in diesen Fällen durchaus handeln. Dafür gibt es ein sehr gutes Beispiel. In Dortmund wurden 70 % der Anträge auf Inobhutnahme abgelehnt. Es gibt das gestufte Verfahren zur Altersfeststellung aus Prüfen von Dokumenten. Der Kollege Yetim hat Ihnen die persönliche Inaugenscheinnahme etwas ausführlicher dargelegt. Eine ärztliche Untersuchung ist in Zweifelsfällen angemessen. Auch da gehört zum mehrstufigen Verfahren.

Vielleicht sollten wir uns noch einmal in Erinnerung rufen, dass unser Integrationsminister Joachim Stamp zu Recht eine Expertenkommission beim Bundesministerium für Gesundheit gefordert hat. Es ist nur richtig, diese aus Juristen und Ärzten zusammenzusetzen. Diese sollen gemeinsame Standards für Bund und Länder erarbeiten, insbesondere für die Altersfeststellung. Dies ist der richtige Weg mit der richtigen Zusammensetzung. Warum? – Mediziner sind am besten in der Lage, zu beurteilen, was medizinisch angemessen, aber auch ethisch vertretbar ist. Genauso wichtig sind die Juristen, weil sie bewerten können, was unter Wahrung der Menschenwürde und des besonderen Schutzbedürfnisses der Minderjährigen rechtlich möglich ist.

Deswegen halten wir es für sinnvoll, diese gemeinsamen Standards in diesem Rahmen zu erarbeiten, entsprechend auch im Bundesministerium für Gesundheit, um ein transparentes, faires und effizientes Verfahren zu bekommen. Wir dürfen eben nicht in einen wilden Aktionismus verfallen und am Ende nur angstgetriebene Ressentiments befriedigen. Wir brauchen vielmehr Lösungen, die rechtlich, medizinisch und methodisch sauber sind. Diese werden erarbeitet, und dann muss man entscheiden, wo es erforderlich ist, Gesetze zu ändern.

Ich habe hier schon einen großen Konsens bei CDU, SPD und Grünen vernommen, gemeinsame Lösungen zu erarbeiten und die Menschen nicht unter Generalverdacht zu stellen. Wir möchten die Menschenwürde wahren, wir möchten aber auch die berechtigten Interessen des Sozialstaates berücksichtigen. Dies alles ist kein Widerspruch für uns. So werden wir auch an einer fairen, rechtsstaatlichen und wirksamen Neuordnung der Altersfeststellung arbeiten, werden der Überweisung zustimmen, Ihren Antrag aber im Ausschuss ablehnen. – Danke schön.

(Beifall von der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Lenzen. – Für die grüne Fraktion spricht nun Frau Aymaz.

Berivan Aymaz (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen!

(Nic Peter Vogel [AfD]: Geht das schon wieder los?)

Die Vorredner, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU, der FDP und SPD, haben noch einmal verdeutlicht, dass man über Altersfeststellungsverfahren reden kann. Wer aber über Altersfeststellungsverfahren ernsthaft und fern von Stimmungsmache, Hetze und Populismus sprechen will, der darf nicht ausblenden, dass erstens eine exakte Altersbestimmung medizinisch gar nicht möglich ist

(Helmut Seifen [AfD]: Das ist doch Unsinn!)

und zweitens unsere Gesetze, und das zu Recht, der Würde des Menschen, der körperlichen Unversehrtheit und dem Wohl des Kindes oberste Priorität einräumen.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU und der SPD)

Dass in NRW und bundesweit keine regelhafte medizinische Untersuchung an minderjährigen Flüchtlingen vorgenommen wird, resultiert eben genau aus der Abwägung dieser genannten Prämissen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Walger-Demolsky?

Berivan Aymaz (GRÜNE): Nein, natürlich nicht.

(Zuruf von der AfD: Natürlich nicht!)

Wir haben einen gesetzlichen Ablauf zur Altersfeststellung, bei dem der Gesetzgeber ein dreistufiges Verfahren vorsieht. Das wurde hier mehrmals vorgetragen. Die erste Stufe ist die Einsichtnahme in Einreisedokumente, die zweite Stufe ist die qualifizierte Inaugenscheinnahme. Ich finde, dass meine Kolleginnen von der CDU und der SPD, aber auch Herr Lenzen von der FDP sehr genau dargelegt haben, dass die qualifizierte Inaugenscheinnahme eben mehr ist als nur ein Angucken, sondern dass da eigentlich noch mehrere Faktoren hinzugezogen werden sollen, um ein Gesamtbild zusammenzusetzen.

Die dritte Stufe ist schließlich die ärztliche Untersuchung mit der Einwilligung des Betroffenen und des Vormundes. Hier kommen beispielsweise eine Begutachtung der äußerlichen Merkmale, Röntgenaufnahmen von Hand oder Schlüsselbein oder eine zahnärztliche Untersuchung in Betracht.

Eine Weigerung des Betroffenen, sich dieser Untersuchung zu unterziehen, darf tatsächlich nicht automatisch dazu führen, dass die Volljährigkeit der Person angenommen wird. Es stimmt aber eben nicht, wie im AfD-Antrag angedeutet, dass durch eine Weigerung keinerlei negative Rückschlüsse für die betroffene Person gezogen würden, denn bereits jetzt kann in einem Zweifelsfall die Weigerung der Untersuchung sehr wohl als zusätzliches Kriterium über die Entscheidung der Volljährigkeit herangezogen werden.

Meine Damen und Herren, wir halten das bisherige gesetzliche Instrumentarium daher für ausreichend, zumal die medizinische Altersfeststellung bereits ausdrücklich für Zweifelsfälle vorgesehen ist.

Was will nun der vorliegende AfD-Antrag? – Die AfD will, das abwägende und dreistufige Verfahren zur Altersfeststellung abschaffen und dafür eine medizinische Untersuchung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zwingend vorschreiben.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Aymaz, Entschuldigung, dass ich Sie jetzt unterbreche, aber es gibt wiederum den Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar dieses Mal von Herrn Kollegen Seifen.

Berivan Aymaz (GRÜNE): Nein.

Dabei sollen alle Untersuchungsmöglichkeiten genutzt werden. Das heißt, dass einreisende Kinder und junge Menschen reihenweise in einer erniedrigenden Prozedur wie zum Beispiel durch Begutachten der Genitalien hinsichtlich ihres Alters untersucht werden sollen. Also ein Verfahren, das mit der Menschenwürde nicht zu vereinbaren ist, zusätzlich das Recht auf körperliche Unversehrtheit abspricht und auch die Gefahr einer Retraumatisierung von Kindern und Jugendlichen birgt. Das ist für uns absolut inakzeptabel.

Lassen Sie mich an dieser Stelle, meine Damen und Herren, noch einmal auf Artikel 1 unseres Grundgesetzes hinweisen. Darin heißt es:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Damit sind alle Menschen gemeint, auch die Würde der Menschen aus Afghanistan, Syrien, Marokko, Somalia, Albanien, Algerien und aus dem Irak. Auch die Würde der muslimischen Menschen ist unantastbar, meine Damen und Herren.

(Helmut Seifen [AfD]: Das bezweifelt doch niemand!)

Dass im AfD-Antrag die Religion und die Zugehörigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge explizit genannt und hervorgehoben wird, verdeutlicht doch wieder einmal mehr, dass es Ihnen hier eben nicht um eine sachliche Verfahrensdebatte gehen soll, sondern um Stimmungsmache und den Versuch, wieder einen Tabubruch durch die Aushebelung unserer Verfassung zu begehen.

(Helmut Seifen [AfD]: Das ist doch Quatsch!)

Das machen wir nicht mit, das lassen wir nicht zu.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Aymaz. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Dr. Stamp.

(Helmut Seifen [AfD]: Muss Herr Palmer bald Ihre Partei verlassen? – Berivan Aymaz [GRÜNE]: Ich halte es lieber mit Boris Becker als mit Boris Palmer, der ganz deutlich dazu aufruft, auf der Straße gegen Rassismus vorzugehen! – Beifall von den GRÜNEN)

Das Wort hat jetzt für die Landesregierung Herr Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der Zwischenrufe, die ich von der Regierungsbank permanent hören muss, weil ich mich dem nicht entziehen kann, fällt es mir schwer, darauf nicht einzugehen und sachlich zu bleiben. Ich will es trotzdem versuchen.

(Zurufe von der AfD)

Frau Präsidentin! Kinder und Jugendliche, die allein nach Deutschland kommen, sind eine besonders schutzbedürftige Gruppe. Kinder und Jugendliche, egal ob hier geboren und aufgewachsen oder zugewandert, haben besondere Bedürfnisse und besondere Rechte. Sie haben deshalb auch einen Anspruch darauf, dass politische Diskussionen über ihre Belange mit besonderer Sorgfalt und Verantwortung geführt und entschieden werden. Dafür müssen die Grundlagen klar sein.

Erster Grundsatz: Der Umgang mit jedem Kind und jedem Jugendlichen erfolgt auf der Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention, europäischer Konventionen und der anerkannten Grundsätze des Kinder- und Jugendrechts.

Zweiter Grundsatz: Gerade wegen der erheblichen Rechtsfolgen bedarf es allerdings in Zweifelsfällen einer qualifizierten Klärung, wer minderjährig ist. Das ist für uns nicht neu, meine Damen und Herren. Die Altersfeststellung junger Flüchtlinge ist eines der meist diskutierten Themen in der Fachwelt und unter Praktikern, und das nicht erst seit gestern.

Bei der Altersfeststellung, bei den Verfahren und der praktischen Umsetzung besteht Verbesserungsbedarf.

(Beifall von Gabriele Walger-Demolsky [AfD])

Das betrifft nicht nur, aber gerade auch die Klärung medizinischer Verfahren, ihrer Standards, ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Ich habe deshalb vorgeschlagen, unverzüglich unter Federführung des Bundesgesundheitsministeriums eine Expertenkommission aus Ärzten und Juristen einzusetzen, um uns auf gemeinsame Standards zu einigen.

(Zuruf von der AfD)

Bund und Länder müssen unter Beteiligung des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe enger zusammenarbeiten.

(Zuruf von der AfD: Geht alles!)

Wir brauchen bundeseinheitliche Standards und bundeseinheitliche Verfahrensweisen, die überall in Deutschland gleichermaßen angewendet werden. Deshalb ist es notwendig, auf eine solche Angleichung hinzuarbeiten.

Meine Damen und Herren, die Altersfeststellung selbst ist schon jetzt im SGB VIII gesetzlich geregelt und obligatorisch vorgegeben. Die Feststellung der Minderjährigkeit ist bereits zwingende Voraussetzung für die Inobhutnahme junger Flüchtlinge.

Erst 2015 sind neue Vorgaben zur Altersfeststellung im Zuge des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung von ausländischen Minderjährigen geschaffen worden.

Das Jugendamt prüft danach in einem dreistufigen Verfahren das Alter: durch Ausweispapiere, durch qualifizierte Inaugenscheinnahme und in Zweifelsfällen durch eine ärztliche Untersuchung.

Allerdings besteht über die Leistungsfähigkeit und die Genauigkeit der verschiedenen medizinischen Verfahren wie auch über damit verbundene berufsethische Fragen selbst unter Medizinern kein Konsens. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ermöglichen medizinische Verfahren gesicherte Erkenntnisse zur Volljährigkeit zum Beispiel dann, wenn Personen deutlich älter als 18 Jahre sind. Sie ermöglichen aber keine exakte Altersbestimmung, sondern nur eine Altersspanne mit einer Streubreite, die ein Jahr deutlich überschreiten kann.

Anders als im Antrag suggeriert wird, gibt der Stand der medizinischen Verfahren nicht her, dass eine Altersfeststellung nur darauf gestützt werden könnte. Denn bei den schwierigen Fällen geht es oftmals um die Frage, ob der junge Mensch 17 oder 18 Jahre oder ob er 16 oder 17 Jahre alt ist. In den schwierigen Abgrenzungsfällen muss eine medizinische Feststellung daher in Kombination mit den Ergebnissen von Befragungen und qualifizierter Inaugenscheinnahme gewertet werden.

Auf der Grundlage der bestehenden Gesetzeslage können die Jugendämter übrigens schon jetzt jederzeit eine erneute Altersfeststellung durchführen, wenn aufgrund der Entwicklung des Jugendlichen oder aufgrund neuer Informationen Zweifel entstehen.

Meine Damen und Herren, was wir angesichts der komplexen Thematik derzeit am allerwenigsten brauchen, ist politische Stimmungsmache, die nicht auf Problemlösung zielt.

(Beifall von der CDU, der FDP, der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

Wir brauchen auch keine neuen Gesetze. Was wir brauchen, ist eine Optimierung der Verfahren, eine Klärung von Standards und eine Verbesserung und Angleichung in der Praxis. Dazu habe ich einen angemessenen Vorschlag gemacht. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt Frau Kollegin Wermer.

Heike Wermer (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, den wir heute hier diskutieren, greift eine gesellschaftliche Diskussion auf, die aktuell von vielen Menschen geführt wird. Aber der Antrag greift nicht nur eine gesellschaftliche Diskussion auf, er greift auch ein gesellschaftliches Gefühl auf.

Denn es geht bei dem Thema Altersfeststellung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nicht nur um irgendwelche abstrakten medizinischen Feststellungsverfahren. Es geht hier eigentlich um die Frage, wer in unserem Rechtsstaat unter welchen Bedingungen Schutz bekommt. Diese Frage wird von der AfD mit Zweifeln um unseren Staat genährt und gespickt. Um die Frage nach Schutz geht es Ihnen hier nicht. Es geht Ihnen vielmehr darum, ob unser Staat eigentlich alles im Griff hat.

(Helmut Seifen [AfD]: Ja!)

Sie nähren Zweifel, ob Verfahren geordnet und rechtmäßig ablaufen, so wie das sein sollte, oder ob die Dinge sogar systematisch im Argen liegen. Immer wieder wollen Sie Misstrauen in unserem Staat schüren, nur um dann aus Stimmungen Stimmen zu machen.

(Helmut Seifen [AfD]: Ha, ha!)

Ihrem Antrag fehlt es an Sachlichkeit und an Interesse, die Dinge klarzustellen und aufzulösen.

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen klipp und klar sagen: Die Menschen sagen und erwarten, dass wir demjenigen, der nach der Flucht vor Krieg und Tod und Elend hierher zu uns kommt und Schutz sucht, diesen Schutz gewähren. Unsere Herzen sind offen. Wir tun, was wir können, als Mitmenschen und als Staat.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Wermer, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Frau Kollegin Walger-Demolsky würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Heike Wermer (CDU): Nein, die Fragen können wir im Ausschuss diskutieren.

Aber – und das denken viele Menschen auch – wir erwarten Ehrlichkeit von denen, die da kommen. Wir wollen unsere Hilfsbereitschaft nicht ausgenutzt wissen. Wir wollen und erwarten von den staatlichen Institutionen, dass Offenheit und Ordnung in Einklang stehen. Das erwarten die Menschen hier bei uns und überall im Lande zu Recht. Dabei haben sie uns als CDU und NRW-Koalition ohne Wenn und Aber an ihrer Seite. Wir stehen dafür ein, dass Offenheit und Ordnung in Einklang stehen.

(Helmut Seifen [AfD]: Dann müssen Sie unseren Antrag unterstützen!)

Wir stehen dafür ein, dass Recht und Gesetz gelten. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir als CDU und als NRW-Koalition alles daransetzen, dass Ihre und unsere Nächstenliebe nicht missbraucht wird.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Dazu drei Punkte:

Erstens ist eine Altersfeststellung auf der bestehenden rechtlichen Grundlage schon jetzt obligatorisch, und sie wird auch durchgeführt. Unser Staat und unser System funktionieren also. Da, wo trotzdem Fehler passieren, schauen wir nicht weg, sondern wir schauen im Gegenteil genau hin und stellen diese ab.

Zweitens: Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gilt das zuletzt Gesagte selbstverständlich ebenso. Fürs Protokoll: Wir haben es aber bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nicht pauschal mit einer Horde von Betrügern und Lügnern zu tun, wie die AfD zu suggerieren versucht.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP und den GRÜNEN)

Es geht um den Schutz von Kindern und um den Schutz des Kindeswohls. Diese haben wir vor Augen und diesen werden wir nach Kräften gerecht. Deshalb sind Zweifel an den Mitarbeitern im öffentlichen Dienst bzw. ganz konkret in den Jugendämtern unangebracht.

Ja, die Überprüfung des Alters eines Asylbewerbers oder eines jungen Flüchtlings ist aus sozial-, asyl-, aufenthalts- und jugendhilferechtlichen Gesichtspunkten ein notwendiges und wichtiges Verfahren. Die Jugendämter in unserem Land und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben das nötige Know-how und die beste Kompetenz, um dieses Verfahren durchzuführen.

(Christian Loose [AfD]: Haben die auch Medizin studiert?)

Drittens verspreche ich Ihnen: Wir als CDU und NRW-Koalition sind und bleiben am Ball. Wir arbeiten kontinuierlich an Verbesserungen und loten Optimierungspotenziale bei der Altersfeststellung von Flüchtlingen aus. Wir sind an Ihrer Seite, wir sorgen für Recht und Ordnung. Denn das ist im Interesse der Menschen, die schon hier leben, und dient genauso dem Wohl derjenigen, die zu uns kommen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Wermer. – Für die AfD spricht Herr Kollege Wagner.

Markus Wagner (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Manchmal muss man gar keine Rede zum Thema ausarbeiten. Man muss hier nur sitzen und ein bisschen zuhören, dann schreibt man sich ein paar Dinge auf, und dann fängt man erst mal an zu antworten auf das, was hier teilweise von sich gegeben wurde.

(Zurufe: Parlament!)

Da kommt Frau Gebauer von der CDU und erzählt etwas darüber, dass das Alter nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. – Ja, genau. Das ist aber nicht das Problem, um das es hier geht. Denn was zweifelsfrei festgestellt werden kann, ist, ob jemand volljährig ist, wenn er volljährig ist, zumindest über ein gewisses Maß hinaus. Und genau darum geht es.

Es geht beispielsweise darum, sogenannte Einzelfälle zu verhindern wie den des Mörders von Freiburg, Hussein Khavari. Der wurde nämlich unter Inaugenscheinnahme als 16-Jähriger eingeschätzt und ist in Wirklichkeit 33 Jahre alt. Also kommen Sie mir nicht mit der halbwegs zuverlässigen Inaugenscheinnahme! Da ist gar nichts zuverlässig.

Denn das Beispiel Saarland, in dem übrigens eine Große Koalition regiert, was ja nach Ihrer Ansicht nichts taugt, zeigt ganz eindeutig, dass nach der medizinischen Prüfung der Altersfeststellung über 50 % derjenigen, die sich als minderjährige Flüchtlinge ausgegeben haben, gar nicht minderjährig sind.

Frau Aymaz, Sie sprechen von der Menschenwürde, wenn es um medizinische Untersuchungen zur Feststellung des Alters und der Volljährigkeit geht. Wo ist denn die Menschenwürde derjenigen, die einen Behindertenausweis beantragen und dementsprechend medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen? Haben die keine Menschenwürde? Werden die erst einmal nicht unter Generalverdacht gestellt? Selbstverständlich werden sie es, weil sie alles nachweisen müssen, wenn sie Leistungen bekommen wollen.

Genauso, Herr Yetim, geht es mir mit Ihren Aussagen des Generalverdachts. Wir hatten früher in diesem Land mal Passkontrollen. Jeder, der reinkam, musste nachweisen, wer er ist, wie alt er ist und wo er herkommt. Das heißt, jeder stand zunächst einmal an der Grenze unter Generalverdacht. Selbstverständlich! Als derjenige, der in dieses Land kommt, muss ich nachweisen, wer ich bin, woher ich komme und wie alt ich bin. Wenn ich das nicht nachweisen kann, habe ich daran mitzuwirken bzw. die Feststellung zuzulassen.

Wenn Sie behaupten, Herr Yetim, dass wir unbegleitete minderjährige Flüchtlinge als Kostenfaktor betrachten, dann muss ich Sie enttäuschen. Als Kostenfaktor betrachten wir Menschen, die vorgeben, minderjährig zu sein, und nicht diejenigen, die tatsächlich minderjährig sind. Das ist ein bedeutender Unterschied.

(Beifall von der AfD)

Dementsprechend, meine Damen und Herren der vier Fraktionen, haben Sie ein ganz großes Problem. Und das ist Ihr tatsächliches Problem: Seit Jahren wissen alle, dass eine große Zahl derjenigen, die hierherkommen und sagen, sie seien minderjährig, eben nicht minderjährig sind. Und obwohl es seit Jahren alle wissen, wollen Sie es seit Jahren nicht wissen. Das ist Ihr Problem, meine Damen und Herren. Und deswegen wehren Sie sich dagegen.

(Beifall von der AfD)

In diesem Sinne halte ich es mit Frau Nahles: Der Staat darf sich nicht betrügen lassen. – Sie hingegen wollen sich belügen lassen.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Danke, Herr Kollege Wagner. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. – Das bleibt auch so. Dann schließe ich an dieser Stelle die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend in der Federführung zu geben und den Integrationsausschuss, den Innenausschuss, den Rechtsausschuss und den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales mitberatend einzubeziehen. Die abschließende Abstimmung soll dann im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand dagegen stimmen? – Nein. Sich enthalten? – Auch nicht. Dann haben wir so überwiesen.

Ich schließe den Tagesordnungspunkt 5 und rufe auf:

6   Gute Arbeitszeiten sichern – Schutzrechte der Beschäftigten stärken – Die Digitalisierung der Arbeitswelt gestalten!

Antrag
der Fraktion der SPD
Drucksache 17/1665

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Kollege hat für die SPD-Fraktion Herr Abgeordneter Neumann das Wort.

Josef Neumann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Mitte-rechts-Regierung von CDU und FDP will im Rahmen einer Bundesratsinitiative das Arbeitszeitgesetz aufweichen. So wird auch immer wieder behauptet, dass das deutsche Arbeitszeitgesetz nicht mehr zeitgemäß und zu unflexibel sei. Die Digitalisierung der Arbeitswelt mache eine Umorientierung notwendig. Hier zählt einzig das Mantra „Flexibilisierung auf Kosten der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer“.

Als zukünftiger Maßstab soll den Beschäftigten lediglich die EU-Arbeitszeitrichtlinie dienen. Diese sieht eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden vor. Vorgaben zur täglichen Arbeitszeit gibt es da nicht mehr. – Kolleginnen und Kollegen, dieses Aufweichen des deutschen Arbeitsschutzrechtes im Sinne der Arbeitszeit muss verhindert werden.

(Beifall von der SPD)

Für alle vernünftig handelnden Menschen ist doch klar, dass gute Arbeit und faire Arbeitsbedingungen sich einander bedingen. Der bisherige sozialpartnerschaftliche Konsens, der Gewinne ermöglicht, aber auch Arbeitnehmerrechte schützt, wird damit der Entfesselungsideologie zum Opfer fallen. Das deutsche Arbeitsrecht ist bereits so flexibel, dass es erhebliche Ausnahmen vom Achtstundentag zulässt sowie auch Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit. Und gerade das Verbot der Sonntagsarbeit sollte bei der Partei, die das C vorne im Namen stehen hat, heilig sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Wirtschaft wächst und wächst – und das seit Jahren – von Rekord zu Rekord. Es scheint nicht so zu sein, dass dieses Arbeitszeitgesetz daran irgendeinen gestört hat.

(Beifall von der SPD)

Aber gerade vor der großen Veränderung, die wir durch die Digitalisierung erwarten – und keiner von uns weiß, in welche Richtung sich diese entwickeln wird –, müssen wir aufpassen, dass wir nicht unser gesetzlich bewährtes Arbeitszeitsystem aufgeben und nachher vielleicht in eine Situation geraten, dieses nicht mehr zurückholen zu können.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Die Herausforderung der Digitalisierung und die damit verbundene Umstrukturierung der Arbeitswelt müssen wir auch im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesetzlich gestalten.

Ich stelle deshalb für die SPD-Fraktion fest:

Erstens. Das Arbeitszeitgesetz bedarf keiner Aufweichung.

Zweitens. Es müssen Konzepte zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen auf den Weg gebracht werden, um die Herausforderungen der Digitalisierung auch für die Arbeitswelt zu gestalten.

Drittens. Die Beschäftigten sollten mehr als bisher selbstbestimmt über ihre Arbeitszeitgestaltung entscheiden können. Ich verweise hier auf die aktuelle Tarifrunde der IG Metall, die in diesem Bereich entsprechende Forderungen aufstellt. Sie sollen mehr Wahlmöglichkeiten bei ihrer Arbeitszeit und ihrem Arbeitsort erhalten, wenn betriebliche Belange dem nicht im Wege stehen.

Hier nenne ich nur das Stichwort Wahlarbeitszeitgesetz, in dem Rechtsansprüche der Beschäftigten, finanzielle Unterstützung in bestimmten Lebensphasen und Anreize für die Aushandlung betrieblicher Wahlarbeitszeitkonzepte geregelt werden, Stichwort beispielsweise: Pflege im Alter in der Familie.

Viertens. Auch die Schaffung eines gesetzlichen Rückkehrrechts, das Teilzeitbeschäftigten nach einer freiwilligen Phase unbefristeter Teilzeit einen Weg zurück in Vollzeit ermöglicht, ist ein wichtiger Baustein.

Fünftens. Gerade in einer digitalisierten Arbeitswelt bedarf es fairer Arbeitszeiten. Dazu gehört insbesondere auch der Anspruch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht erreichbar zu sein. Das Arbeitsschutzgesetz muss daher um verbindliche Regelungen zur Verringerung von psychischen Belastungen ergänzt und ein Rechtsanspruch auf Nichterreichbarkeit muss geschaffen werden. Dazu gehört natürlich auch, dass die Kontrollen der Einhaltung des Arbeitsschutzes und des Arbeitsrechts verbessert werden müssen.

Deshalb fordern wir die Landesregierung auf, sich erstens auf Bundesebene für eine Weiterentwicklung der Schutzfunktionen des Arbeitsrechtes einzusetzen und zweitens das Vorhaben, eine Bundesratsinitiative zur Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes auf den Weg zu bringen, unverzüglich zu stoppen.

Wir bitten, der Überweisung in den Ausschuss zuzustimmen, freuen uns auf einen konstruktiven Diskurs und werden uns sicherlich auch in entsprechenden Anhörungen mit diesem Thema noch einmal beschäftigen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Neumann. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Schmitz.

Marco Schmitz (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wandel der Arbeit und auch der Arbeitszeit schreitet unwiederbringlich voran, und ich habe das Gefühl, Sie wollen das Ganze künstlich aufhalten. – Lieber Kollege Neumann, das wird Ihnen nicht gelingen. Somit besteht nur die Möglichkeit, dass wir als Politik das Ganze moderierend begleiten.

In Ihrer Antragsbegründung kritisieren Sie die voranschreitende Flexibilisierung der Arbeitszeit und sehen darin ausschließlich Gefahren zur Ausbeutung der Arbeitnehmer. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aber inzwischen vollkommen weltfremd.

Der heutige Tag ist ein perfektes Beispiel dafür: Sturmtief Friederike zieht über das Land und die Stadtverwaltungen von Essen, Düsseldorf und anderen Kommunen in NRW fordern die Eltern auf, Ihre Kinder von der Schule abzuholen. Was glauben Sie denn eigentlich, wie glücklich diese Eltern jetzt sind, wenn Sie die Flexibilität besitzen, heute ihre Kinder von der Schule nach Hause zu bringen, sicher mit ihnen den Tag zu verbringen und die Arbeit, die sie tatsächlich auch noch gerne machen und die sie erfüllt, heute Abend von Zuhause aus fertigzustellen?

(Beifall von der CDU und der FDP)

Auch das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist heute Realität und nicht mehr das Bild von ausgenutzten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist heute nicht mehr das Gehalt wichtigster Punkt bei der Jobsuche, sondern Punkte wie Work-Life-Balance, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Möglichkeit von Telearbeit und Homeoffice. Das zeigen auch die Ergebnisse einer repräsentativen Forsa-Umfrage unter rund 500 Beschäftigten aus dem letzten Jahr. 72 % der Befragten gaben an, sie könnten sich vorstellen, bei der Jobsuche eine Stelle mit einem attraktiv ausgestalteten Arbeitsplatz einem anderen Angebot vorzuziehen.

Nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels müssen sich Arbeitgeber auch immer mehr anstrengen, um geeignete Bewerber von sich zu überzeugen. Dabei sollten sie vor allem für eine gute Arbeitsatmosphäre und flexible Arbeitszeiten sorgen. Denn dies sind die wichtigsten Erwartungen von Bewerbern an einen neuen Arbeitsplatz. Erst mit einigem Abstand folgen auf Platz drei und vier Aufstiegsmöglichkeiten und eine überdurchschnittliche Bezahlung.

Während die Arbeit in den Fabriken meist zeit- und ortsgebunden ist, können viele Dienstleistungen und Verwaltungstätigkeiten mit digitalen Arbeitsmitteln potenziell von jedem Ort aus und zu jeder Zeit ausgeübt werden. Dies bietet neue Freiräume für ein selbstbestimmteres Arbeiten.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Die Möglichkeiten, Arbeit, Familie und Freizeit flexibel nach den individuellen Bedürfnissen auszubalancieren, verbessern sich damit. Der digitale Wandel läuft aber im globalen Maßstab ab und bringt selbst weit entfernte Regionen und Personen in engen Kontakt miteinander. Dies hat zur Folge, dass der weltweite Wettbewerb sowie internationale Arbeitsteilung zunehmen werden – eine Arbeitsteilung bis ins Kleinste.

Wenn ich mit meinen Kollegen in Übersee an einem Projekt zusammen arbeiten muss, dann wird das auch manchmal das Erfordernis mit sich bringen, dass ich in den späten Abendstunden oder in den frühen Morgenstunden arbeiten muss, weil die dann zu dem Zeitpunkt arbeiten, oder aber, dass die auf der anderen Seite des Atlantiks das Gleiche machen müssen.

Dies bedeutet sowohl für die Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer eine große Chance. Dafür werden wir aber auch bereit sein müssen, dass die Arbeitszeit flexibel gestaltet werden kann. Zukünftig steht die Erledigung der Aufgabe im Vordergrund.

Ich möchte an dieser Stelle eine Postkarte zitieren, die die Kollegin Müller-Rech an ihrer Bürotür hängen hat, an der ich jeden Tag vorbeilaufe. Auf der Karte steht: Anwesenheit ist kein Leistungsmerkmal. – Es mag mal so gewesen sein, das hat sich aber im Laufe der Zeit geändert. Unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind den Unternehmen heute nicht mehr schutzlos ausgeliefert, sondern sie können sich selber aussuchen, wie sie ihr Arbeitsleben gestalten wollen.

Mit Überregulierung werden wir als Land dabei ins Hintertreffen gelangen. Gerne können wir das aber noch im Ausschuss kontrovers und detailliert diskutieren. – Danke sehr.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schmitz. – Für die FDP-Fraktion hat Kollege Lenzen jetzt das Wort.

Stefan Lenzen (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag ist wieder einmal typisch für die Politik der SPD. Ihre Antwort auf Zukunftsfragen lautet einmal mehr: gesetzliche Regulierung. Sie sehen vor allem Risiken und Gefahren in der Digitalisierung. Wir hingegen wollen Chancen eröffnen und die Selbstbestimmung der Beschäftigten stärken.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Uns allen sollte bewusst sein, dass die Digitalisierung gerade die Arbeitswelt ähnlich grundlegend verändern wird, wie es in vielen anderen Lebensbereichen schon längst der Fall ist. Wir sind bereits auf dem Weg zur Industrie 4.0 und zu neuen Formen der Produktion.

Aus unserer liberalen Sicht bietet die digitale Arbeitswelt den Menschen mehr Chancen, selbstbestimmt zu arbeiten und sich Arbeitszeit, Arbeitsort und auch die Organisation selber einzuteilen.

(Zuruf von Josef Neumann [SPD])

An die Stelle des klassischen abhängig Beschäftigten mit Präsenzpflicht von 9 Uhr bis 17 Uhr treten freiere Formen der Arbeitsgestaltung. So können die Beschäftigten ihre Arbeit auch besser mit Familie, Weiterbildung und Freizeit vereinbaren. Viele Menschen schätzen die Zeitsouveränität, die die Digitalisierung ihnen eröffnet, wie auch der Kollege Schmitz gerade an einem Beispiel ausgeführt hat.

Häufig wird in Bewerbungsgesprächen schon nicht mehr zuerst nach einem Dienstwagen gefragt, sondern inwieweit man einen Teil seiner Arbeit via Homeoffice erledigen oder die Kinderbetreuung durch flexible Arbeitszeiten besser regeln kann.

Angesichts dieser Veränderungen in der Arbeitswelt brauchen wir statt mehr Regulierung flexiblere gesetzliche Regelungen – gerade hinsichtlich der Arbeitszeit. Wichtig ist: Es geht nicht um ein Weniger im Arbeitsschutz, sondern um praktikable Regelungen und um mehr Selbstbestimmung für die Beschäftigten.

Das aktuelle Arbeitszeitgesetz ist 23 Jahre alt und stammt noch aus einer Zeit, in der das Internet den Kinderschuhen gerade entwachsen war. Man kann auch sagen, dass es an der Schwelle vom Medium für Wissenschaftler und Nerds hin zu einer kommerziellen Anwendung war. Das Gesetz begrenzt die zulässige tägliche Arbeitszeit auf acht bis maximal zehn Stunden; Sie haben es bereits angesprochen.

Wir sehen das nicht als Gefahr, sondern als Chance. Es gibt eine europäische Arbeitszeitrichtlinie, die ganz klar besagt, dass die Höchstarbeitszeit 48 Stunden pro Woche beträgt. Das ist klar vorgegeben. In diesem Rahmen ist aber mehr Flexibilität möglich.

Es geht ja auch gar nicht darum – wie man es den Liberalen gerne vorwirft, und auch die CDU hat ihr „C“ nicht umsonst im Namen –, die Wochenarbeitszeit auszuweiten, sondern wir wollen sie im gesetzten Rahmen variabler verteilen.

(Josef Neumann [SPD]: In der Altenpflege!)

Das ist kein Widerspruch in der NRW-Koalition.

Angesichts der Debatten zuvor: Ich weiß nicht, wie lange Sie den Pseudobegriff „Mitte-rechts“ aufrechterhalten wollen. Ich glaube, an anderen Stellen in der Debatte sieht man, dass es einen gewissen Konsens gibt, der auch gut und wichtig ist. Deshalb sollte man das noch einmal überdenken.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich nenne Ihnen noch ein anders Beispiel, warum die ununterbrochene Ruhezeit von elf Stunden nicht mehr ganz der heutigen Welt entspricht. Sie müssten nur einmal eher das Büro verlassen, um die Kinder ins Bett zu bringen, und danach noch etwas weiterarbeiten wollen: All das dürften Sie schon nicht mehr. Am nächsten Morgen müssten Sie im Büro aufpassen, ob Sie überhaupt noch eine E-Mail lesen dürfen. So arbeiten eigentlich jetzt schon Millionen Arbeitnehmer in der Illegalität.

(Josef Neumann [SPD]: Es geht um den Busfahrer; um den E-Lok-Fahrer!)

Unserer Meinung nach bedarf es eines Updates, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Die aktuelle Arbeitszeitrichtlinie würde auch etwas mehr Spielraum bieten, gerade bei der Vereinbarung mit Sozialpartnern. Dahin müssten wir, wenn die Voraussetzungen für entsprechende tarifvertragliche Ausnahmen gegeben sind, kommen. Wir wollen mit den Tarifvertragspartnern mehr Flexibilität erreichen, um einen Schritt weiterzukommen.

Selbst Andrea Nahles ist schon weiter als ihre NRW-Genossen mit diesem Antrag. Auch sie hat das Thema der Öffnungsklausel auf der eben erwähnten Basis – die tarifpartnerschaftliche Verabredung – schon angesprochen. Sie setzen aber weiterhin auf mehr Regulierung und verstärkte Kontrolle.

Die Freien Demokraten werden gemeinsam mit der CDU in der NRW-Koalition über eine Bundesratsinitiative für mehr Spielräume sorgen. Das ist das feste Ziel. Wir wollen es gemeinsam mit den Tarifpartnern ausweiten, ohne die Wochenarbeitszeit anzutasten. Wir wollen die Chancen einer digitalen Arbeitswelt für mehr Freiheit für die Menschen nutzen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lenzen. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fühle mich fast wie im arbeitsmarktpolitischen Schlaraffenland, wenn ich Herrn Lenzen lausche und er davon schwärmt, dass man nicht mehr für Anwesenheit und andere Dinge belohnt wird.

Herr Kollege Lenzen, wenn das der Ausgangspunkt wäre, dann wären wir sehr schnell einer Meinung und auf einer Linie. Nur, der Ausgangspunkt dessen, wie Sie losgelegt haben, die Basis Ihres Koalitionsvertrags ist doch etwas anderes. Es waren doch DEHOGA und andere, die auf der Basis der jetzigen Arbeitsmarktbedingungen gesagt haben, sie bräuchten noch längere Arbeitszeiten und kürzere Ruhezeiten, damit die Leute am nächsten Tag wieder eine Schicht machen können.

Das sind Tatbestände, bei denen wir auch im 21. Jahrhundert noch Schutzmechanismen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen. Deshalb ist es richtig, an diesen Schutzmechanismen festzuhalten.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Der zweite Punkt: Es geht auch um die Frage, wie die Spielregeln sind, wer welche Möglichkeiten hat und welche Stärken es im Einzelnen betrifft. Ich bin sehr dafür – wie es offenbar auch die Große Koalition auf Bundesebene einzustielen versucht –, dass es Flexibilität auf beiden Seiten gibt. Aber dann müssen auch beide Seiten zustimmungsfähig sein. Beide Seiten müssen im Zweifel auch Nein sagen können, nämlich: So geht es nicht!

(Anja Butschkau [SPD]: Genau!)

Auch die Betriebsräte müssen sagen können: So geht es nicht!

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Dann bin ich sehr dafür, die Flexibilität zu erhöhen; das ist gar keine Frage.

Es gibt einen weiteren Aspekt: Das Ganze hängt auch mit Tarifen zusammen. In der Pflege zum Beispiel, in der ich mich einigermaßen auskenne, arbeiten einige Leute mehr, als es gesund für sie ist. Das tun sie manchmal, weil sie es müssen bzw. der Betrieb es nicht anders hergibt, und manchmal auch, weil sie unvorsichtig sind und weil sie meinen, am Wochenende noch eine Schicht drauflegen zu können, weil sie noch sehr jung sind.

Wenn es dann vermehrt zu Krankheitsfällen kommt – und das ist nicht zu bestreiten –, dann ist auch eine Frage für die Solidargemeinschaft, nämlich für die Krankenversicherten, wer die Kosten dafür trägt. Deshalb ist es richtig, dass der Staat hier Regeln macht. Er muss natürlich schauen, wie weit er an welcher Stelle geht.

Liebe Kollegen von der SPD, was die Arbeitszeiten betrifft, sind wir uns in vielen Punkten einig. Nur hält Ihr Text nicht ganz, was die Überschrift verspricht. Wenn wir schon über Arbeitszeit 4.0 reden, dann müssen wir auch über die Abgrenzung der Dauerverfügbarkeit, über die Abgrenzung bei E-Mails, über Fragen des Schutzes der Beschäftigten vor Video-überwachung usw. reden. Das alles hängt mit der Digitalisierung der Arbeitswelt eng zusammen.

Wir sind ein Landesparlament, das diese Fragen allenfalls am Rande – vielleicht als Arbeitgeber – streift. Das meiste davon ist Bundesgesetz. Ich möchte es nur gesagt haben; denn das sind ganz wichtige Fragen, wenn man zum Beispiel Homeoffice zulässt, was Sie hier angepriesen haben und was ich für absolut richtig halte.

Mehr Flexibilität für Familien und andere Dinge ist in der Zielbestimmung richtig. Ihre Ausführungen entsprechen aber nicht meinen Erfahrungen damit, wie viele Arbeitgeber mit ihren Beschäftigten umgehen. Deswegen sind Leitplanken, wie die Fragen der Flexibilität ausgehandelt werden sollen, richtig und weiterhin notwendig.

Auf Bundesebene – deswegen sind auch die Positionen hier im Landtag ganz interessant – hat das in den Auseinandersetzungen um die Sondierungen sowohl zur Jamaika-Koalition als auch zur der Großen Koalition eine Rolle gespielt.

Die CDU im Bund hat sich zumindest bis jetzt gegenüber dem Anspruch, aus vorübergehender Teilzeitarbeit wieder auf seinen Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, verweigert. Nach dem, was wir in dem 28-Seiten-Papier gelesen haben, ist die CDU offensichtlich erstmalig bereit, davon abzugehen und dies zumindest zeitweise zuzulassen.

Das zeigt doch, worum es geht. Am Ende des Tages geht es um die Machtfrage: Wer hat welche Macht in der der Auseinandersetzung über die Flexibilisierung der Arbeitszeiten?

Dass es richtig ist, mehr Flexibilität einzuräumen, darin sind wir uns einig. Aber unter welchen Bedingungen das abläuft, wer im Zweifel welche Rechte hat, das müssen wir sehr genau austarieren. Dann werden flexible Arbeitszeitmodelle nicht nur möglich bleiben, sondern auch weitere dazukommen.

Deswegen kann ich Sie nur auffordern, nicht immer nur an die Situation zu denken, dass ein Familienvater erklärt: Es kann doch nicht sein, dass ich um 22 Uhr nicht noch die Sachen erledigen kann, die ich um 8 Uhr nicht erledigt habe, weil ich Familienvater bin. – Das ist doch nicht der Regelungstatbestand.

Es geht um denjenigen, der zum achten Mal hintereinander eine Zehnstundenschicht gefahren hat und gesundheitlich geschützt werden muss. Das haben wir eben auch. Wir sind nicht alle nur digital unterwegs, sondern wir haben auch eine Arbeitswelt, in der die Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer geschützt werden müssen.

Deswegen halten wir wesentliche Teile des SPD-Antrages für vernünftig. Wir stimmen selbstverständlich der Überweisung an den Ausschuss zu. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Mostofizadeh. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Arbeitszeitgesetz ist nicht mehr zeitgemäß. Das zeigen aktuell allein im Jahr 2016 1,7 Milliarden Überstunden der Arbeitnehmer, davon 947 Millionen unbezahlt.

Das heißt im Klartext, dass die anfallende Arbeit mit den aktuellen Modellen nicht mehr geleistet werden kann. Viel Arbeit, die erledigt wird, wird nicht erfasst, und zwar um nicht gegen geltendes Recht zu verstoßen, vor allem aber auch nicht bezahlt. Gearbeitet wird oft trotzdem.

Da ist es dann egal, ob die SPD möchte, dass an den alten Zuständen festgehalten wird. Papier ist sehr geduldig, wenn die aktuellen Rahmenbedingungen bestehen, um das aktuelle Arbeitszeitgesetz auch umzusetzen.

So bewegen sich viele Unternehmen mindestens in einer rechtlichen Grauzone. Ein gutes Beispiel sind die Opt-out-Regelungen für Ärzte oder andere Berufsgruppen. Hier werden neben geltendem Recht Verträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschlossen, um den Arbeitsschutz gezielt auszuhebeln – Alltag in deutschen Kliniken.

Es ist absurd, dass es überhaupt die Möglichkeit gibt, von seinen Rechten Abstand zu nehmen. Hier wird in der Tat Arbeitsmarktpolitik auf dem Rücken der Beschäftigten betrieben.

(Beifall von der AfD)

Es ist dringend notwendig, die geltenden Gesetze zu überarbeiten und die Gesetzeslage wieder der Wirklichkeit anzupassen. Der Fortschritt hört nicht auf, nur weil die Gewerkschaften und die SPD es so wollen. Gerade deswegen haben Arbeitnehmer ein Recht darauf, dass ihre Lebenswirklichkeiten endlich Einzug in die geltenden Gesetze halten, damit so über reale Zustände verhandelt werden kann, und zwar auf dem Boden gesetzlicher Grundlagen.

Das ist zwar vielleicht eine Liberalisierung der Verhältnisse, rückt aber auch den Status quo in den Fokus. Über den müssen wir schließlich diskutieren. Denn gesundes und zufriedenes Arbeiten findet dort statt, wo Arbeitnehmer mit über die Arbeitszeiten bestimmen können. Die sehen eben nicht mehr so aus, wie es die SPD definiert: acht Stunden arbeiten, elf Stunden Pause, acht Stunden arbeiten.

(Beifall von der AfD)

Wenn wir dort nicht neue Wege gehen, werden wir weder den Wünschen der Arbeitnehmer noch denen der Arbeitgeber noch den veränderten Rahmenbedingungen – nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung – gerecht.

Ist der Vorstoß der schwarz-gelben Regierung gut? Auf gar keinen Fall. Aber er ist zumindest nah an der Realität.

Ihr Antrag hingegen, liebe SPD-Fraktion, führt uns zurück in die Amtsstuben der letzten Jahrhunderte. Das ist nun wirklich keine Ausgangslage für eine zukunftsfeste Politik. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Vincentz. – Für die Landesregierung erhält jetzt Herr Minister Laumann das Wort.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundlage für die Politik der Landesregierung, was die Arbeitszeitgesetzgebung in Deutschland angeht, ist der Koalitionsvertrag. Deswegen möchte ich zunächst aus dem Koalitionsvertrag zitieren:

„Wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen und deshalb über eine Bundesratsinitiative das Arbeitszeitgesetz flexibilisieren. Die innerhalb der Vorgaben der europäischen Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung vorhandenen Spielräume wollen wir nutzen und die Tarifvertragsparteien innerhalb dieses Rahmens eigene Regelungen treffen lassen.“

Für die Landesregierung ist vollkommen klar, dass ein Arbeitszeitgesetz ein Arbeitnehmerschutzgesetz ist und dass das auch so bleibt. Das jetzige Arbeitszeitgesetz wurde vor 23 Jahren gemacht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, denn es war das erste Gesetz, bei dem ich als junger Bundestagsabgeordneter Berichterstatter war. Es hat sich damals ausschließlich am Gesundheitsschutz und den entsprechenden Kriterien orientiert.

Fast ein Vierteljahrhundert hat dieses Arbeitszeitgesetz mehr oder weniger in die Zeit gepasst. Es passt für ganz viele Branchen auch heute noch in die Zeit.

Stellen Sie sich das einmal vor: Wenn wir nicht auf dem Bau regeln würden, wie lange man arbeiten darf, wie viele Ruhezeiten es geben muss, wann es auch mal eine Pause geben muss, dann könnte ich angesichts der Situation, die wir heute mit Sub- und Subsubunternehmen auf vielen Baustellen haben, nicht dafür garantieren, dass diese Ansprüche eingehalten würden. Es wäre nicht gut, wenn es dort keine Regelungen gäbe.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: So ist das! – Beifall von der CDU)

Da passt das Arbeitszeitgesetz auch heute noch.

Auf der anderen Seite haben wir die Digitalisierung und Mitarbeiter – vor allem auch bei uns in den Ministerien –, die immer mehr nach Heimarbeit fragen, nämlich: Kann ich nicht einen Tag bis zwei Tage in der Woche von zu Hause arbeiten?

Bei den großen Versicherungen, etwa bei der Provinzial oder der LVM in Münster, sind diese Arbeitsplätze sehr beliebt. Die Versicherungen bieten das auch an. Die Menschen sparen unter Umständen eine Stunde, zwei Stunden Zeit ihres Lebens am Tag, weil sie nicht im Auto sitzen, nicht im Stau stehen müssen.

Die Menschen schreiben uns ja auch Briefe, in denen sie sagen: Wir wollen gerne abends spät noch ein bisschen arbeiten und vielleicht morgens früh, das passt aber nicht mit den Ruhezeiten. Da heute alles über den Computer nachvollziehbar ist, sagt unser Chef: Nein, so könnt ihr es nicht machen. Ich bekomme irgendwann Riesenprobleme wegen des Arbeitszeitgesetzes. Wenn ich diesen Menschen als Arbeitsminister zurückschreibe und sage: „Alles ist wunderbar, alles in Ordnung, wir können nichts ändern“, dann verstehen die mich nicht.

Umgekehrt würde mich aber doch auch der Maurer nicht verstehen, wenn ich ihm sagen würde: Für dich gilt nur die europäische Arbeitszeitrichtlinie. Das heißt, du hast elf Stunden Pause, kannst aber 13 Stunden am Tag arbeiten. – Im Übrigen hat die europäische Arbeitszeitrichtlinie kürzere Ausgleichszeiträume, um wieder auf eine 48-Stunden-Woche zu kommen, als das deutsche Arbeitsrecht.

Deswegen ist der Grundgedanke dessen, was wir hier in der Koalition vereinbart haben, klug. Wir haben erkannt, dass die Arbeitswelt heute so vielschichtig ist, dass wir die Lebenswirklichkeiten der Branchen und der Menschen mit einem Gesetz, das alle Arbeitsplätze gleich beurteilt, nicht mehr treffen. Deswegen brauchen wir Öffnungsklauseln.

Spannend ist dann: Wer darf solche Öffnungsklauseln machen? Der Gesetzgeber kann immer nur ein Gesetz machen, das für alle gilt. Er kann nicht nach Branchen und nach Betrieben differenzieren.

Deswegen wollen wir, dass die Tarifvertragsparteien, die regional- und branchenbezogen sind, die Möglichkeit haben, im Rahmen der europäischen Arbeitszeitrichtlinie Regelungen zu treffen, die dann für sie bindend sind. Ich glaube, das würde für eine gewisse genaue Flexibilisierung sorgen.

Das Schutzinteresse der Arbeitnehmer ist dann über den Tarifvorbehalt gewahrt. Das heißt, die Arbeitnehmer können nicht erpresst werden. Da redet innerhalb der Metallindustrie die IG Metall mit den Arbeitgebern oder umgekehrt die Arbeitgeber mit der IG Metall. Im öffentlichen Dienst brauchen wir Vereinbarungen mit ver.di, wenn wir da Veränderungen wollen. Wenn der DEHOGA Veränderungen haben will, muss er sich mit der NGG darüber unterhalten.

Deswegen war es auch richtig – wir haben in den Koalitionsgesprächen lange darüber geredet, ich war ja dabei –, dass wir damit nicht die Betriebsvertragsparteien befassen, sondern schon die Stärkeren. Es muss schon die Tarifvertragspartei sein.

Daher, lieber Kollege Herr Neumann, verstehe ich nicht, dass Sie hier einen Antrag einbringen, in dem man uns unterstellen will, wir wollten jetzt Tür und Tor für alles Mögliche öffnen. Es ist eine kluge Überlegung, die Schutzinteressen der Arbeitnehmer mit einem Flexibilisierungsinteresse zusammenzubringen, um das durch die Tarifvertragsparteien auf Betriebe und Regionen herunterzubrechen.

(Beifall von der CDU)

Ich finde, das ist eine kluge Politik. Wissen Sie, warum ich an diesem Teil des Koalitionsvertrages so viel Spaß habe? Sie kennen ja meine Biografie. Wenn die jungen Start-ups davon profitieren wollen, dann müssen sie sich tariflich binden. Damit ist es auch eine Maßnahme, um wieder etwas mehr Tarifbindung in Deutschland hinzubekommen; denn ich will Tarifbindung.

(Nadja Lüders [SPD]: Da schauen wir uns doch die Tarifbindung insgesamt in NRW an!)

Wenn die Tarifbindung immer schwächer wird, wird der Gesetzgeber immer mehr regeln müssen. Ich bin froh über alles das, was in Branchen geregelt wird und nicht vom Gesetzgeber geregelt werden muss.

(Beifall von der CDU)

Deswegen stehe ich sehr zu diesem Antrag.

Mein Ministerium wird auch einen Vorschlag für den Bundesrat machen; es betrifft ja die Bundesgesetzgebung. Aber warten Sie doch einmal ab. Bevor ich den Antrag schreibe, würde ich gerne einen möglichen Koalitionsvertrag kennen und wissen, was darin zu dem Thema steht. Es ist früh genug, wenn wir anschließend damit in den Bundesrat gehen. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Minister Laumann hat die Redezeit der Landesregierung um 1:33 Minuten überzogen.

(Minister Karl-Josef Laumann: War aber sinnvolle Zeit!)

– Das ist keine Kritik, sondern das ist der Hinweis an die Fraktionen, dass damit zusätzliche Redezeit zur Verfügung steht. Wenn die jemand nutzen möchte, möge er/sie sich jetzt melden. – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich an dieser Stelle die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 6.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/1665 an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales – federführend – und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung sowie an den Ausschuss für Digitalisierung und Innovation. Die abschließende Abstimmung wird im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wenn niemand gegen diese Überweisung stimmt – das ist der Fall – und sich auch niemand enthält, haben wir einstimmig überwiesen.

Ich rufe auf:

7   Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen für die Menschen greifbar und erlebbar machen

Antrag
der Fraktion der CDU,
der Fraktion der SPD,
der Fraktion der FDP und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/1662

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die CDU-Fraktion Herr Dr. Nacke das Wort.

Dr. Stefan Nacke (CDU): Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Gründung unseres Bindestrichlandes Nordrhein-Westfalen haben die Briten vor über sieben Jahrzehnten ein spannungsreiches Gebilde aus heterogenen Regionen mit unterschiedlichen Traditionen und Mentalitäten geschaffen. Bis heute ist NRW eine Erfolgsgeschichte geworden, die viele Facetten umfasst und den Vergleich mit anderen Bundesländern nicht scheuen muss.

Gerade wir in NRW haben ein besonderes Gespür dafür, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht einfach vorhanden ist. Gesellschaftlicher Zusammenhalt, soziale Kohäsion, bedeutet eine immer neu herzustellende Errungenschaft. Ob es die Kumpel unter Tage oder die Dorfgemeinschaften auf dem Lande sind – wir sind bei allem Strukturwandel Solidaritätsexperten. Die Aufgabe besteht darin, immer wieder neu um die Identifikation mit der relativ jungen politischen Struktur in NRW zu werben. Dabei geht es aus der Perspektive der Menschen in unserem Land immer darum, sich mit etwas gemeinzumachen, eine gemeinsame Basis zu finden und zu pflegen.

Meine Damen und Herren, politisch erleben wir in dieser Zeit das Ende der Selbstverständlichkeiten. Soziologen sprechen von einer Erosion sozialer Milieus, die wir in unseren Städten und Kommunen wahrnehmen. Wir erleben in diesem Haus daran anschließend die Veränderung der Parteienlandschaft. Die Gesellschaft wandelt sich, und Politik muss darauf reagieren und diesen Wandel gestalten.

Früher war nicht alles besser, aber es ist schon sinnvoll, zu wissen, woher man kommt und auf welchen Schultern man steht, um gute, tragfähige Perspektiven und Zukunftsoptionen in den Blick zu nehmen.

Eine besondere Herausforderung der Gegenwart ist, für Verständnis zu werben und für ein Einverständnis mit den unterschiedlichen politischen Ebenen, mit deren Hilfe wir unser Leben gestalten.

Auf europäischer Ebene zeigt der sich in naher Zukunft anbahnende Brexit, wie fragil die friedenschaffende Struktur der EU ist, wie sehr sie von einer stets aktualisierten Zustimmung der Bevölkerung abhängt.

Das gilt für unser Bundesland Nordrhein-Westfalen gleichermaßen. Mit Blick auf die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen benötigen wir eine gelebte Identifikation mit unserem Bundesland. Es geht um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und die Problemlösungskraft dieser föderalistischen Struktur.

Ministerpräsident Laschet hat kürzlich deutlich gemacht, dass die junge Bundesrepublik insbesondere von unserer westdeutschen Identität geprägt wurde.

Als Münsterländer darf ich die Gesellschaftsordnung des sogenannten Rheinischen Kapitalismus besonders loben, die von unserem Bundesland ausgegangen ist.

Als Christdemokrat darf ich an das Ahlener Programm meiner Partei erinnern. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft mit seinem Ausgleich der Interessen von Kapital und Arbeit, mit seiner integrierenden und prosperierenden Kraft findet bei uns viele Anschauungsmöglichkeiten. Es gibt genug Gründe, auf unser Bundesland stolz zu sein.

Ich freue mich in diesem Sinne sehr über unsere gemeinsame Initiative, die Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen für die Menschen greifbar und erlebbar zu machen. Wir benötigen einen gemeinsamen Ort der Selbstreflexion unserer Landesidentität, der Landesgeschichte sinnlich begreifbar macht, der der jungen und nachwachsenden NRW-Generation und nicht zuletzt auch neu Zugewanderten unsere NRW-Identität plausibilisieren kann.

Es ist gut, wenn wir das Bewusstsein für unsere Landesgeschichte dadurch fördern, dass wir zunächst eine überparteiliche Planungsgruppe beim Landtagspräsidenten schaffen, die unter dem Titel „Geschichte, Politik und Demokratie Nordrhein-Westfalens“ die Zusammenarbeit von Museen, Instituten und Lehrstühlen vernetzt.

Ausgehend vom 2016 eröffneten – auf Landtagspräsident Uhlenberg zurückgehend und durch seine Nachfolgerin Gödecke realisiert – Haus der nordrhein-westfälischen Parlamentsgeschichte soll mithilfe eines Kuratoriums und eines wissenschaftlichen Beirats ein Konzept für ein Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens entwickelt werden. Zugleich sollen die vielfach fragmentarisch vorliegenden Erzähl- und wissenschaftlichen Reflexionsstränge zur Landesgeschichte zusammengebracht werden.

Ich bin gespannt auf die Entwicklung und dankbar für die gemeinsame Initiative für diese Form der politischen Bildung. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Nacke. – Für die SPD hat nun Herr Professor Bovermann das Wort.

Prof. Dr. Rainer Bovermann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als 70 Jahre nach der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen und im Jahr der Beendigung des Steinkohlebergbaus rückt die Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen in den Fokus. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte ist neben der politischen Kultur und der politischen Symbolik ein zentraler Baustein für die Ausprägung eines Landesbewusstseins und letztlich auch einer kollektiven Identität.

Allerdings geht die Gleichung „Landesgeschichte gleich Landesbewusstsein gleich Landesidentität“ für Nordrhein-Westfalen nicht so einfach auf. Unser Land – wir haben es gerade schon gehört – ist eine Neuschöpfung der britischen Besatzungsmacht und vereint ganz unterschiedliche Teilkulturen. Wir kennen sie alle – auch aus vielen Anekdoten –: Westfalen, Teile der preußischen Rheinprovinz, Lippe, das Ruhrgebiet und eine Vielzahl weiterer regionaler und lokaler Identitäten.

(Michael Hübner [SPD]: Genau! Das Bergische Land!)

– Auch das Bergische Land.

(Michael Hübner [SPD]: Danke!)

Trotz oder gerade wegen dieser Voraussetzungen hat die Landespolitik immer wieder versucht, ein nordrhein-westfälisches Landesbewusstsein zu fördern. Insbesondere der Christdemokrat Franz Meyers und der Sozialdemokrat Johannes Rau haben als Ministerpräsidenten hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet.

In den letzten Jahren sind diese Bestrebungen vielfach wieder aufgegriffen worden. Historiker und Politikwissenschaftler sind inzwischen mehrheitlich der Meinung, dass Nordrhein-Westfalen heute mehr ist als ein Bindestrichland und man von einem ausgeprägten rationalen Staatsbewusstsein sprechen kann. Doch aufgrund der Fortexistenz der traditionellen regionalen und lokalen Orientierungen ist ein emotional verankertes Landesgefühl – einige sprechen auch von Heimatgefühl – kaum vorhanden, wie die wenigen empirischen Untersuchungen zeigen.

An dieser Stelle setzt der vorliegende Antrag an. Die einzurichtende Planungsgruppe aus wissenschaftlichen Expertinnen und Experten soll die institutionellen Voraussetzungen schaffen, das Geschichts- und Landesbewusstsein zu fördern. Dazu ist die Zusammenarbeit mit den schon vorhandenen Einrichtungen erforderlich. Es geht aber nicht darum, Doppelstrukturen zu schaffen, es geht nicht um Konkurrenz, sondern um etwas wie eine konzertierte Aktion.

Lassen Sie mich zu der Arbeit der Planungsgruppe noch drei Anmerkungen machen:

Erstens. Die Aufgaben sind vielfältig. Leider haben die Medien diese etwas auf die Errichtung eines Museums verkürzt und den Eindruck erweckt, der Spatenstich würde schon in den nächsten Tagen erfolgen. Doch es reicht nicht, einige Gegenstände in Vitrinen auszustellen, sondern es sind zunächst Ausstellungen und Symposien zu organisieren, wissenschaftliche Reihen herauszugeben, Interviews mit Zeitzeugen zu führen und Elemente einer modernen Museumsdidaktik zu definieren.

Eine der Aufgaben ist die Entwicklung eines Konzeptes für ein Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens als Mischung aus Forschungsinstitut und Museum.

Ich erinnere nur daran, meine Damen und Herren: In Baden-Württemberg brauchte es fünf Jahre bis zur ersten Ausstellung und weitere zehn Jahre bis zur Dauerausstellung, die dann in ein neues Haus einziehen konnte.

Zweitens. Inhaltlich sind die großen Erzählungen der nordrhein-westfälischen Geschichte multiperspektiv und, wo es notwendig ist, auch kontrovers darzustellen. Dazu gehören für mich beispielsweise der Strukturwandel, die Rolle von Unternehmen, Gewerkschaften und Mitbestimmung oder die Bedeutung von Migration und Integration für unser Land. Im Mittelpunkt sollen jedoch die Menschen mit ihren Erzählungen stehen, nicht nur die Haupt- und Staatsaktionen.

Drittens. Es handelt sich nicht nur um ein Regierungsvorhaben oder das Vorhaben einer Partei. Die Einbindung des Landtags und die Kooperation mit der Wissenschaft müssen gewährleistet sein. Die Arbeit der Planungsgruppe muss personell und finanziell langfristig abgesichert werden.

In diesem Sinne unterstützt die SPD-Fraktion das Vorhaben. Machen wir uns auf den Weg! Glück auf, Nordrhein-Westfalen!

(Beifall von der SPD, der CDU und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Professor Bovermann. – Für die FDP hat der Abgeordnete Deutsch das Wort.

Lorenz Deutsch (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es steht Nordrhein-Westfalen sehr gut zu Gesicht, seine Geschichte zu erforschen, zu präsentieren und zu vermitteln. Das Aufkommen dieser Idee zeigt sehr gut, dass hier eine Fehlstelle in unserem Land existiert. Es ist gut, dass wir sie schließen. Die guten Gründe dafür haben meine Vorredner schon genannt; sie sind auch im Antrag ausgeführt.

Ich will mich deswegen im Rahmen dieser Aussprache darauf konzentrieren, welche Herausforderungen dieses Projekt eigentlich für uns alle bereithält. Es wird nicht mit dem Ausbau des „Hauses der Parlamentsgeschichte“ getan sein. Herr Bovermann hat gerade schon Perspektiven aufgemacht, was alles thematisch gefordert ist. Landesgeschichte ist nicht etwas einfach Gegebenes, von dem man sagt: Das stellen wir jetzt aus. – Jede Generation entwickelt ein eigenes Verhältnis zu ihrer Geschichte. Wir werden jetzt mit der Frage konfrontiert sein, welche Geschichte von Nordrhein-Westfalen wir eigentlich erzählen.

Es ist natürlich richtig, dass wir da gründlich vorarbeiten müssen. Diese Frage wird keine Planungsgruppe beantworten können. Auch ein Kuratorium wird dazu nicht in der Lage sein. Der wissenschaftliche Beirat muss genau dies organisieren – die Vernetzung mit der historischen Fachwissenschaft und mit der Gesellschaft, mit vielen Gruppen und Menschen, die diese Geschichte erlebt haben, aber natürlich auch weit über den Erlebnishorizont hinaus. Nordrhein-westfälische Geschichte beginnt ja nicht mit den Amerikanern nach dem Krieg, sondern hat sehr viele Voraussetzungen, die die Disparitäten Nordrhein-Westfalens überhaupt erst verständlich machen.

Mit der Klärung des Was treten natürlich sofort auch Fragen des Wie auf. Moderne museale Konzepte addieren eben nicht einfach Ausstellungsobjekte, sondern bieten multimediale Vermittlungsformen in thematischen Konzentrationen, die Dinge erlebbar machen. Es geht darum, Besucher zu involvieren, sie zu interessieren und in diesem Haus tatsächlich Geschichte greifbar und erlebbar zu machen, wie wir es in unseren Antrag geschrieben haben. Geschrieben ist das schnell. Umgesetzt ist es nicht so schnell.

Digitale Techniken können insbesondere bei Vorbereitung und Nachbereitung helfen. Man kann das Thema mitnehmen. Es kann auf diesen Kanälen weiter bespielt werden.

Aber natürlich braucht es auch eine lebendige Museumsdidaktik. In der Museumslandschaft hat sich sehr viel getan. Da kann man viel lernen. Best-Practice-Beispiele müssen angeschaut werden. Auch das ist im Rahmen der Vorbereitung eine Aufgabe. All das ist nicht trivial, sondern sehr herausfordernd.

Das Statistische Bundesamt hat im Dezember den „Spartenbericht Museen“ vorgelegt. Die gute Nachricht lautet: Historische und archäologische Museen haben seit dem Jahr 2000 ihre Besucherzahlen deutlich steigern können. Die schlechte Nachricht ist: Volkskunde- und Heimatmuseen haben im selben Zeitraum fast ebenso stark verloren.

Wo stellen wir uns in diesem Kontext auf? Vielleicht können wir die Trends umkehren. Sind wir mit diesen Labels überhaupt richtig aufgestellt? Welche Art von Museum oder Haus, das wir da etablieren, soll es eigentlich werden?

Uns bietet sich also eine große Chance. Lassen Sie uns das Thema des Verhältnisses von Herkunft und Zukunft und der Möglichkeiten seiner Vermittlung neu denken. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Deutsch. – Für die Grünen darf ich Frau Kollegin Paul das Wort erteilen.

Josefine Paul (GRÜNE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! NRW blickt auf mehr als 70 Jahre Geschichte zurück. 2016 haben wir alle gemeinsam ein großes und auch in vielen Etappen wundervolles Fest dazu gefeiert.

Natürlich haben die meisten Menschen, die hier leben, die Anfänge dieses Bundeslandes gar nicht mehr selbst erlebt. Die meisten von uns sind jünger als 70 Jahre. Dementsprechend kennen sie die Anfänge des Bindestrichbundeslandes nicht aus eigenem Erleben.

Ich muss sagen: Ich bin geborene Niedersächsin. Bis heute überrascht es mich durchaus immer wieder, welche regionalen Besonderheiten, Konkurrenzen und Spezifika es in Nordrhein-Westfalen gibt – mit Westfalen, Rheinländern und Lippern.

(Allgemeine Heiterkeit – Monika Düker [GRÜNE]: Ich verstehe gar nicht, was du meinst!)

Gerade haben wir noch von den Menschen aus dem Bergischen Land und den Leuten aus dem Ruhrgebiet gehört.

Diese Besonderheiten und Konkurrenzen sind etwas, was unser Bundesland ausmacht. Das macht es auch für mich aus, obwohl ich da nicht so drin bin. Denn für manche Dinge muss man sicherlich hineingeboren worden sein. Als Zugezogene lerne ich aber gerne immer weiter.

Nichtsdestotrotz ist NRW mehr als Westfalen, Rheinland, OWL und all die anderen Regionen. Vor allem besteht Nordrhein-Westfalen aus seinen vielfältigen Menschen.

In allererster Linie fällt mir zu Nordrhein-Westfalen immer ein, dass wir ein Einwanderungsland sind. Migration macht einen wesentlichen Teil der Geschichte unseres Landes aus. Migration hat unser Land in wesentlichen Teilen auch zu dem gemacht, was wir heute sind. Dem muss bei der Erzählung der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen natürlich ein großer Raum eingeräumt werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Nordrhein-Westfalen ist auch ein Land vielfältiger Zivilgesellschaft. Auf der einen Seite gibt es das Parlament. Es ist ja schon angesprochen worden, dass mit dem „Haus der Parlamentsgeschichte“ vielleicht schon ein Grundstein vorhanden ist, um in der Erzählung der Geschichte weiterzugehen. Auf der anderen Seite haben neben dem Parlament aber auch die sozialen Bewegungen – die Frauenbewegung, die Umweltbewegung, die Friedensbewegung, die Anti-Atomkraftbewegung – die Geschichte des Landes mitgeprägt. Auch sie müssen bei der Erzählung der Landesgeschichte natürlich einen Platz bekommen.

Wir sind daneben aber auch – natürlich; wer wüsste das in Nordrhein-Westfalen nicht? – Fußballland. Wir sind Sportland. Wir sind ein Land des Karnevals und des CSDs.

Als Münsteranerin sage ich immer sehr gerne: Wer hätte den katholischen Münsterländern zugetraut, dass die erste Schwulen- und Lesbendemo 1972 in Münster stattgefunden hat, im Schatten des Doms? Wer hätte Münster das zugetraut?

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

All das sind die unterschiedlichen und bunten Facetten von Nordrhein-Westfalen und seinen vielfältigen Menschen. Ich bin der Überzeugung, dass es unser Land wert ist, in all seiner Vielfältigkeit und in all seinen Facetten mit dieser bunten Geschichte erzählt zu werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir dürfen aber nicht vergessen, dass es auch eine Geschichte des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen vor 1946 bzw. vor 1945 gibt und dass auch die Frage der Erinnerungskultur und der Demokratiewerdung in die Erzählung einer nordrhein-westfälischen Landesgeschichte Eingang finden muss.

Wie Kollege Bovermann gerade schon gesagt hat, ist es in den medialen Darstellungen oft ein wenig verkürzt worden: Es gibt einen Haushaltstitel, wir setzen jetzt eine Planungsgruppe ein, und im Grunde genommen sind wir schon fertig; der Spatenstich kann vorgenommen werden, und wir verschicken bereits die Einladungen für die Einweihungsparty.

Ganz so einfach sollten wir es uns nicht machen. Es ist gut und richtig, dass wir eine Planungsgruppe einsetzen, die sich mit der Geschichte von Politik und Demokratie in Nordrhein-Westfalen in all ihren Facetten befassen soll.

Sie soll sich auch die ausreichende Zeit nehmen. Herr Löttgen hat schon gesagt: Es wäre schön, wenn es zum 75. Geburtstag so weit wäre; wenn es der 80. Geburtstag wird, ist es auch noch schön. – So würde ich das auch sehen. Es geht darum, wirklich gute, tiefgreifende Konzepte zu haben und vor allem auch die ganzen Vorarbeiten geleistet zu haben, um die facettenreiche Geschichte unseres Landes in Symposien, in Ausstellungen, in Veröffentlichungen zu erzählen.

Wenn am Ende dieses Prozesses ein „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens“ steht, wird das unserem Bundesland, glaube ich, gut zu Gesicht stehen. Auf diesen Prozess, auch jenseits von Spatenstich und Einweihungsparty, freue ich mich. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die AfD hat der Abgeordnete Seifen das Wort.

Helmut Seifen (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen der Altparteien gerieren sich auch in diesem Antrag wieder als die eigentlichen Vertreter des Landtags, wenn sie schreiben, dass – ich zitiere – „Landtag und Landesregierung … das Geschichtsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger … fördern“ wollen. Zum Landtag gehört aber auch die Fraktion der AfD, die von Ihnen einfach ausgeschlossen wird – wie immer seit Sommer 2017.

Sie schreiben, dass Sie die Förderung des historischen Bewusstseins – Zitat – „parteipolitisch neutral“ gestalten wollen und dass Sie offen für kontroverse Deutungen und Diskussionen sein wollen. Und natürlich darf auch der Begriff „Vielfalt“ nicht fehlen.

Sie merken offensichtlich nicht, dass Ihr Ausgrenzungsverhalten dem diametral entgegensteht. Ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu Selbstreflexion und Selbstkritik ist offensichtlich wenig ausgebildet.

Wenn ich das jetzt so konstatieren muss, dann ahne ich Schlimmes für die Konzeption des Hauses der Geschichte.

(Beifall von der AfD)

Sie werden im „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens“ neben vielem anderen auch die politische und parlamentarische Arbeit darstellen. Welchen Platz haben Sie dann der AfD zugedacht? Haben Sie vielleicht schon einen Abstellraum oder Kellerraum eingeplant, in dem man die Verachtung, die einige von Ihnen uns entgegenbringen, dann noch einmal manifest darstellen kann?

Oder vollkommen anders: Wir erhalten einen zentralen Platz in Ihrer Heldenecke, wo Sie den nachfolgenden Generationen Ihren heldenhaften Kampf gegen die von Ihnen als Neonazis beschimpften AfD-Abgeordneten präsentieren können. Werden die Bürger in dieser Heldenecke dann erfahren, dass Sie für die AfD bislang immer geltende parlamentarische Regeln außer Kraft gesetzt haben und ihr den Posten eines Vizepräsidenten verweigert haben, während Sie sonst immer wieder auf die ewig geltenden parlamentarischen Regeln verweisen?

Wird man dort Bilder sehen, wie Sie Arm in Arm mit den Gewalttätern der Antifanten über die Straßen ziehen und den Hassgesängen der neuen Sturmabteilungen gegen die AfD lauschen?

Werden meine Kinder und meine Enkel vielleicht einmal in das Haus der Geschichte kommen und erfahren müssen, dass ihr Vater von Minister Stamp zur Gruppe derjenigen gezählt wurde, die – Zitat – „aus der Gosse kommen und geifern“?

Wie würden Sie, Herr Minister Stamp, meinen Kindern und Enkeln erklären wollen, dass ihr Vater, der für sie ein Leben lang gesorgt und sie mit seiner väterlichen Fürsorge und Liebe begleitet hat, doch nur jemand war, der aus der Gosse kommt, also ein verachtenswerter Mensch?

Was ist das für ein Mensch, der andere Menschen so herabwürdigen muss, um eine innere Befriedigung zu fühlen?

(Beifall von der AfD)

Dabei sollten Sie selbst ganz demütig sein. Denn Sie gehören mit der FDP einer Partei an, die Anfang der 50er-Jahre beinahe von Altnazis übernommen worden wäre, wenn der britische Geheimdienst nicht dazwischengegangen wäre.

Wenn man sich die Nachwuchshoffnung der FDP, Herrn Höne, anhört, der uns als – Zitat – „getroffene Hunde“ bezeichnet, könnte man glauben, er habe sich für seine Rede im Archiv der FDP bedient.

(Beifall von der AfD – Henning Höne [FDP]: Getroffene Hunde bellen!)

Viele von Ihnen werden allenthalben nicht müde, die aufrechten Demokraten der AfD als Nazis zu bezeichnen, während Sie selbst alle Bemühungen, das unleugbare braune Erbe in Ihren Reihen in Nordrhein-Westfalen aufzuklären, bewusst hintertrieben haben. Ich erinnere nur an zwei Beschlüsse des Landtagspräsidiums aus den Jahren 2011 und 2012.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

– Herr Höne, Sie sind noch jung. Hören Sie einfach zu.

(Zurufe von der CDU und der FDP)

Unter dem Eindruck von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über eine erschreckend große Zahl von Altnazis in den Reihen der CDU und der FDP in Führungspositionen bis in die 70er-Jahre hinein entschlossen sich im Jahr 2011 die Mitglieder des Landtagspräsidiums, ein Projekt mit dem Titel „Personal des demokratischen Neuanfangs: Die Abgeordneten des Landtags Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 1954“ in Auftrag zu geben.

Nach der Neuwahl des Landtags im Jahr 2012, als die Linke ausgeschieden war, fassten alle ach so demokratischen antragstellenden Fraktionen in der Sitzung des Präsidiums am 4. September 2012 den Beschluss, das bis dahin nie in die Tat umgesetzte Forschungsprojekt, natürlich nur – ich zitiere – „aus Kostengründen“, fallen zu lassen.

So sieht also Ihre Glaubwürdigkeit im Umgang mit der geschichtlichen Vergangenheit aus. Die AfD-Abgeordneten werden grundlos mit Schmähungen überzogen und diffamiert und damit als unbequeme Kritiker mundtot gemacht. Aber die eigenen schweren Sünden werden still und heimlich unter den Teppich gekehrt.

(Beifall von der AfD)

Ich brauche nicht weiter auszuführen, dass wir mit Ihnen leider – leider Gottes; ich bedaure das zutiefst – keine Basis einer glaubwürdigen Zusammenarbeit sehen. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.

Aber lassen Sie mich noch einen Satz sagen, wenn ich das noch darf, Herr Landtagspräsident. Ich glaube, dass Sie dieses Verhalten langsam abstellen müssen. Das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Das sage ich jetzt nicht als AfD-Abgeordneter, der das irgendwie nicht mehr ertragen kann. Ich sage Ihnen wirklich aus vollem Ernst als Bürger dieses Landes: Dieses Verhalten zerstört die Grundlagen der Demokratie.

Wir können uns gerne anhören, dass unsere Anträge nicht in Ordnung sind und dass sie handwerklich nicht gut sind.

Aber uns ständig in Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und „völkisch“ zu bringen, zerstört die Grundlage der Diskussion. Ich appelliere an Sie als ein Mann, der in der Schule Aufklärungsarbeit geleistet hat: Lassen Sie das sein!

(Zuruf von der SPD)

Es gibt historische Beispiele, bei denen das schiefgegangen ist. Ich appelliere an Ihre Vernunft. Ich appelliere an alle diejenigen, die hier sitzen und ernsthaft gute Arbeit leisten wollen: Denken Sie um. Kommen Sie zur Besinnung, und lassen Sie uns hier gemeinsam demokratisch streiten. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD – Zuruf von der SPD)

Präsident André Kuper: Für die Landesregierung erteile ich nun Frau Ministerin Pfeiffer-Poensgen das Wort.

Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! In absehbarer Zeit wird es für viele wichtige Ereignisse der Geschichte Nordrhein-Westfalens keine Zeitzeugen mehr geben. Es wird keine Person mehr geben, die sich noch aus eigenem Erleben an die Landesgründung erinnert. Daher ist es an der Zeit, die Idee des damaligen Landtagspräsidenten Eckhard Uhlenberg aufzugreifen und einen Ort einzurichten, der die Geschichte des Landes wissenschaftlich aufbereitet und für die Menschen erlebbar macht.

Mit dem „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens“ will der Landtag heute in einem breiten parlamentarischen Bündnis eine solche Einrichtung auf den Weg bringen. Ich versichere Ihnen, dass das Vorhaben natürlich auch die volle Unterstützung der Landesregierung hat.

Es wird Sache der neuen Planungsgruppe sein, Fragen der Landesgeschichte und der Landesidentität aufzuarbeiten und die konzeptionellen Grundlagen für das neue „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens“ zu entwickeln.

Ich begrüße außerordentlich, dass diesem Gremium aufgegeben werden soll, sich dafür intensiv mit der Wissenschaft sowie einschlägigen Institutionen im Lande und natürlich auch Museen auszutauschen. Hier ist sicherlich auch das Landesarchiv von besonderer Bedeutung.

Inhaltlich wird sich die Planungsgruppe sicher mit vielen für die Landesgeschichte prägenden Themen und Entwicklungen beschäftigen. Hier wurde schon mehrfach erwähnt, dass es dazu sicherlich einer breiten wissenschaftlichen Diskussion bedarf.

Beispielsweise sind zu erwähnen: die Gründung des Landes und die Entwicklung des politischen Systems in Nordrhein-Westfalen, die wirtschaftliche Entwicklung von der Hochphase der Montanindustrie bis zur Entstehung neuer Wirtschaftszweige im Zuge des Strukturwandels, die Prägung Nordrhein-Westfalens durch Zuwanderung und besonders deren Beitrag zur Entwicklung des Landes sowie der Ausbau der Bildungslandschaft unter anderem durch zahlreiche Hochschulgründungen.

Noch nicht genannt wurde hier die Profilierung Nordrhein-Westfalens als Kulturregion. Es wird Sie nicht wundern, dass ich diesen Punkt anführe. Denken Sie an die Gründung der großen Kunstsammlung des Landes, die Ruhrfestspiele mit ihrer sehr spezifischen Geschichte oder auch den Beitrag der Kunstakademie Düsseldorf, die weit über die Landesgrenzen hinaus von großer Bedeutung ist.

Ein „Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens“ mit dem Anspruch, das Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen zu fördern, sollte aber nicht nur durch ein Fachgremium entwickelt werden. Ich rege deshalb an, auch Verbände und Gruppen wie beispielsweise die der Bergleute im Ruhrgebiet – um einen aktuellen Anlass aufzugreifen – anzusprechen, um das Lebensgefühl der Menschen in den jeweiligen Zeiträumen angemessen abzubilden.

Ich wünsche dieser Gruppe viel Erfolg.

(Beifall von der CDU, der FDP und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Wir sind damit am Ende der Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellenden Fraktionen von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen haben direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrags Drucksache 17/1662.

Wer für den Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind SPD, Grüne, CDU und FDP. Wer ist dagegen? – Das ist die AfD. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann darf ich feststellen, dass dieser Antrag mit der gerade festgestellten Mehrheit angenommen worden ist.

Ich rufe auf:

8   Landesregierung darf Bürgen von syrischen Geflüchteten finanziell nicht im Regen stehen lassen – zügig einen Hilfsfonds auflegen!

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/1668

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die antragstellenden Grünen Frau Aymaz das Wort.

Berivan Aymaz (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Sie alle können sich sicherlich noch erinnern: In den Jahren 2013 und 2014 stieg die Zahl der Geflüchteten aufgrund des Krieges in Syrien massiv an. 7,6 Millionen Syrer waren Binnenvertriebene, und knapp 4 Millionen Syrer suchten Schutz in den Nachbarländern.

Zur Milderung dieser humanitären Krise in Syrien, aber auch in der gesamten Region entschied der Bundesminister des Inneren im März 2013 gemeinsam mit seinen Länderkollegen, syrische Flüchtlinge vorübergehend in Deutschland aufzunehmen.

Vor diesem Hintergrund ist auch das Land NRW seiner humanitären Verpflichtung nachgekommen und hat in dieser Zeit ein Landesaufnahmeprogramm aufgelegt, das syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen eine sichere Einreise nach Deutschland ermöglicht hat. So konnte übrigens auch gewährleistet werden, dass Menschen nicht kriminellen Schlepperbanden oder der lebensbedrohlichen Fluchtroute über das Mittelmeer überlassen waren.

(Beifall von den GRÜNEN)

In dieser Not haben Menschen damals ihren Verwandten geholfen und sich bereit erklärt, im Rahmen einer Verpflichtungserklärung mit ihrem Einkommen und Vermögen für sie zu bürgen, um sie vor Krieg und Vertreibung zu retten.

Nach Auskunft des Integrationsministers konnten dann tatsächlich rund 2.600 Personen auf dieser Grundlage nach NRW einreisen.

Die Verpflichtungsgeber haben in einer schwierigen Zeit Solidarität bewiesen. Sie haben die immense gesellschaftliche Herausforderung angenommen und mit dafür gesorgt, dass die Folgen einer humanitären Katastrophe gemildert werden konnten. Sie sind nicht nur finanziell eingesprungen. In vielen Fällen haben sie auch den Alltag der Geflüchteten begleitet, sie an unsere Gesellschaft herangeführt und ihnen den Weg in Sprachkurse oder Ausbildung und Arbeit erleichtert.

Diejenigen, die für ihre Angehörigen eine Verpflichtungserklärung abgegeben haben, gingen dabei – wie übrigens auch das damalige Innenministerium – immer davon aus, dass ihre Haftung als Verpflichtungsgeber durch eine Anerkennung der Flüchtlinge im Rahmen eines Asylverfahrens enden würde.

Die Jobcenter treten aber nun mit zum Teil hohen Rückforderungen an die Verpflichtungsgeber heran und berufen sich dabei auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Januar 2017, wonach diese auch dann weiterhin der Verantwortung stehen, wenn Asyl bewilligt wurde.

Wie Sie sicherlich alle schon mitbekommen haben, haben in zwei Fällen auch Bürgen aus NRW gegen diese Erstattungsforderung geklagt, allerdings ohne Erfolg vor dem OVG Münster. Somit sind Bürginnen und Bürgen in NRW von Rückzahlungsforderungen der Sozialleistungsträger betroffen und von finanziellen Härten bedroht.

Für uns Grüne, meine Damen und Herren, ist es ein besonders Anliegen, dass diejenigen, die in schwierigen Zeiten aus humanitärer Überzeugung anderen Menschen zur Seite gestanden haben, mit dieser Verantwortung nun nicht alleine gelassen werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Was wäre es für ein Zeichen, wenn gerade diese Menschen auf hohen Kosten, die gravierende Einschnitte in die eigene wirtschaftliche Existenz bedeuten können, sitzen gelassen würden? Ich finde, das wäre eine Bankrotterklärung an unsere Gesellschaft, die von Menschlichkeit und Solidarität zusammengehalten wird.

Deshalb muss das Land NRW jetzt sicherstellen, dass diese Menschen für ihre Haltung nicht bestraft werden.

Ich begrüße es, dass Sie, Herr Minister Stamp, diese Problematik sehr schnell erkannt haben und sich an die ehemalige Bundesarbeitsministerin Nahles mit einem Brief gewandt haben. Das ist schon einmal ein guter Ansatz. Auch heute werden Sie ja zu dieser Problematik zitiert.

Es reicht allerdings nicht aus, die Verantwortung nur auf die Bundesebene zu schieben. Dort ist, wie Sie sicherlich auch wissen, derzeit aufgrund der politischen Lage nicht mit schnellen Entscheidungen zu rechnen. Es bleibt ungewiss, wann und ob sich eine neue Bundesregierung bildet.

Jetzt darf es aber nicht dabei bleiben, die Problematik nur zu erkennen. Der Erkenntnis müssen auch schnelle Taten hier in NRW folgen.

Wir fordern daher die Einrichtung eines Hilfsfonds für Verpflichtungsgeberinnen und ‑geber in Höhe von 5 Millionen €, bis eine tragfähige bundesweite Lösung gefunden wird.

Den Helferinnen und Helfern in schwierigen Zeiten muss zügig und unbürokratisch geholfen werden, meine Damen und Herren. Das können wir in NRW. Wir dürfen diese Menschen nicht im Regen stehen lassen.

In diesem Sinne hoffe ich und freue ich mich auf eine konstruktive Beratung in den entsprechenden Ausschüssen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin Aymaz. – Jetzt spricht für die CDU der Abgeordnete Blondin.

Marc Blondin (CDU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Im Jahr 2012 lebten mehr als 40.000 Syrer und Menschen mit syrischer Herkunft in Deutschland – Mitmenschen, die hier studierten, die hier arbeiteten und die hier eine Berufsausbildung machten.

Klar ist, dass diese den Kontakt zu Verwandten und Freunden in ihrem Heimatland pflegten. Ab 2013 mussten sie zusehen, wie die Sicherheit von Freunden und Familien mit dem einsetzenden Bürgerkrieg nicht mehr gewährleistet werden konnte und die Auseinandersetzungen stetig bedrohlicher wurden.

Ich denke, wir hier in Deutschland können uns heute kaum noch vorstellen, was es bedeutet, tagtäglich in der Angst um das Wohl unserer Verwandten leben zu müssen.

Gerade weil dies so ist, finde ich es aller Ehren wert, dass Bürgerinnen und Bürger bereit waren, Bürgschaften zu unterzeichnen, um bundesweit ca. 22.000 sogenannte Kontingentflüchtlinge aus Syrien nach Deutschland und somit in Sicherheit bringen zu können.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Viele von ihnen sehen sich nun mit horrenden Rechnungen von Jobcentern konfrontiert. Das gilt auch für Bürger und Gemeinschaften, die aus Solidarität mit vor dem Krieg Flüchtenden eine Bürgerschaft übernahmen. Dieser Zustand ist für die NRW-Koalition nicht akzeptabel; ich denke, dass da aber auch die Abgeordneten der Grünen und der SPD zustimmen. Denn Helfer dürfen für ihre Solidarität und ihr Engagement nicht bestraft oder zur Kasse gebeten werden.

(Sven Werner Tritschler [AfD]: Dann ist es ja keine Bürgschaft!)

Dennoch verwundert es mich, dass die antragstellende Fraktion erst jetzt einen Fonds zur Unterstützung der Bürgen syrischer Flüchtlinge fordert und auflegen möchte.

Blicken wir zurück: Die Menschen, die bis August 2016 eine Bürgschaft unterzeichneten, teilten die Rechtsauffassung der Regierung Kraft und gingen davon aus, dass ihre Verpflichtungserklärung gemäß § 68 Aufenthaltsgesetz mit dem Wechsel des Aufenthaltszwecks endet. Das Bundesministerium des Innern vertrat dementgegen die Haltung, dass die Verpflichtungen nicht mit dem Wechsel des Aufenthaltszwecks enden. Genau diese Auffassung teilten auch die Jobcenter.

Durch den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts von Anfang 2017 wurde schließlich festgelegt, dass Bürgen für insgesamt drei Jahre ihren Verpflichtungen nachkommen müssen, wenn sie ihre Erklärungen vor Mitte 2016 unterzeichnet hatten.

Spätestens als dieser Beschluss getroffen wurde, hätte der damaligen rot-grünen Landesregierung klar werden müssen, dass die Jobcenter mit hohen Forderungen an die Bürgen herantreten werden. Denn erste Fälle, in denen Verpflichtungsgeber in NRW vom Jobcenter aufgefordert wurden, Verpflichtungen zu begleichen, waren seit Mitte 2016 bekannt.

So hätte Rot-Grün spätestens Anfang 2017 aktiv werden können und hätte auch den nun geforderten Hilfsfonds einrichten können. Passiert ist jedoch nichts.

Den Vorwurf, Sie seien dafür verantwortlich, dass Bürgerinnen und Bürger, die Verwandten und Freunden aus Syrien helfen wollten, nun Verpflichtungen leisten müssen, die so hoch sind wie der Wert eines Kleinwagens, mache ich Ihnen nicht. Den Vorwurf, keine Lösung in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung gefunden bzw. nicht mit Nachdruck darauf hingearbeitet zu haben, müssen Sie sich allerdings gefallen lassen.

(Beifall von der CDU)

Mit der Abwahl der rot-grünen Landesregierung und dem Regierungswechsel in NRW blieb dieses Problem bestehen, und Jobcenter verlangen in Einzelfällen mehr als 10.000 € von Verpflichtungsgebern.

Die NRW-Koalition wird sich nun im Sinne der Verpflichtungsgeber für eine verbindliche Lösung einsetzen. Da macht es jedoch wenig Sinn, das Problem isoliert zu betrachten und eine lediglich auf NRW bezogene Lösung zu finden. Denn erstens sind Fälle, in denen Jobcenter absurd hohe Forderungen an die Bürgen stellen, auch aus anderen Bundesländern bekannt, und zweitens sind die Jobcenter dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und nicht dem Landesministerium unterstellt. Daher gilt es, einheitliche und bundesweit verbindliche Lösungen zu finden.

Wir unterstützen die Landesregierung ausdrücklich in ihrem Bestreben, sich gegenüber dem Bund weiterhin für eine Lösung im Interesse der Verpflichtungsgeber einzusetzen. Ihnen, Herr Minister, möchte ich an dieser Stelle für Ihr Wirken im Namen der CDU-Landtagsfraktion ausdrücklich Danke sagen.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, Helferinnen und Helfer sollten sowohl unseren Respekt als auch den Respekt von Behörden erfahren. Dieser Respekt allein muss dem zuständigen Bundesministerium und den unterstellten Behörden Anlass sein, rechtlich vorhandene Spielräume auszuloten oder diese notfalls zu erweitern, unverschuldete Fälle zu prüfen und eine drohende Hilfebedürftigkeit des Verpflichtungsgebers auszuschließen.

Die NRW-Koalition steht den betreffenden Verpflichtungsgebern zur Seite. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Blondin. – Für die SPD hat nun Herr Abgeordneter Yetim das Wort.

Ibrahim Yetim (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen haben in den letzten Jahren Bürgschaften übernommen und dadurch syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen eine sichere Einreise nach Deutschland ermöglicht. In Nordrhein-Westfalen gab es dafür bereits im Jahr 2013 ein Landesprogramm, welches die Grundlage dafür geschaffen hat. Das NRW-Innenministerium hat dabei stets die Auffassung vertreten, dass eine Bürgschaft nach der Beendigung des Asylverfahrens endet. Der damalige Innenminister Jäger hat sich sehr stark dafür gemacht, dass das auch auf Bundesebene rechtssicher verankert wird.

Mit dem Integrationsgesetz aus dem Jahr 2016 wurde auch das Aufenthaltsgesetz geändert, mit einem erheblichen Einfluss auf die Bürgschaften. Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass auch die Verpflichtungserklärungen, welche vor dem Inkrafttreten des Integrationsgesetzes, das auf Bundesebene verabschiedet worden ist, Herr Blondin, für eine Dauer von drei Jahren gelten, unabhängig davon, ob das Asylverfahren in dieser Zeit abgeschlossen wurde. Damit, Kolleginnen und Kollegen, ist eine neue Situation entstanden, die vom Bundesgesetzgeber dringend korrigiert werden muss.

Auf der letzten Innenministerkonferenz wurde wohl auch beschlossen, dass die Innenminister aus Niedersachsen und Hessen gemeinsam mit Frau Barley, der Familienministerin, über Lösungsansätze sprechen. Es wäre gut gewesen, wenn auch Sie, Herr Minister Stamp, als zuständiger Minister an den Beratungen teilgenommen hätten.

Natürlich wäre eine Lösung auf der Bundesebne ideal. Das aber ist kein Grund dafür, dass Nordrhein-Westfalen untätig bleibt. Ich finde, Herr Minister Stamp, es ist Ihre Aufgabe, sich für die Bürgerinnen und Bürger aus Nordrhein-Westfalen einzusetzen, und zwar nicht nur auf Landesebene, sondern auch auf Bundesebene. Wir erwarten daher von Ihnen, dass Sie für die Menschen aus Nordrhein-Westfalen, die dankenswerterweise eine große und verantwortliche Aufgabe für sich übernommen haben, eine Lösung finden.

Als SPD-Fraktion begrüßen wir den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen, dass es bis zur Lösung auf Bundesebene eine Aussetzung der Rückforderungen von Sozialämtern und Jobcentern geben soll. Das ist ein erster Schritt, aber es muss noch mehr folgen; denn ich denke nicht, dass das auf Bundesebene sehr schnell gehen wird. Zudem glaube ich – Herr Stamp, da werden Sie mir sicher zustimmen –, dass es noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, bis sich auf Bundesebene eine neue Lösung dafür findet.

Wir werden der Überweisung zustimmen. Vielleicht schaffen wir es im Ausschuss, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Yetim. – Für die FDP erteile ich nun dem Kollegen Lenzen das Wort.

Stefan Lenzen (FDP): Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass dieser Antrag die Situation der Paten von syrischen Geflüchteten aufgreift, die jetzt von finanziellen Forderungen der Jobcenter betroffen sind. Gerade die individuellen Belastungen sind in vielen Fällen nur schwer zu tragen und bringen die Bürger an den Rand des Existenzminimums.

Wir sollten dabei allerdings nicht vergessen, dass die damalige rot-grüne Landesregierung und ihr Minister Jäger schlicht und einfach dafür verantwortlich sind, dass Menschen eine Verpflichtungserklärung abgegeben haben, ohne dass sie ausreichend über die Konsequenzen informiert wurden. Obwohl bereits seinerzeit die Rechtslage unklar war, wurde den Bürgen vermittelt, dass durch eine Anerkennung als Flüchtling die Zahlungsverpflichtung enden würde. Hier wurde auf eine differenzierte Rechtsauskunft verzichtet, da wohl das Ziel war, möglichst viele Bürgen zu gewinnen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, das Aufnahmeprogramm des Landes von 2013 war sicher eine sinnvolle Initiative, um syrischen Flüchtlingen die Einreise zu den in Deutschland lebenden Verwandten zu ermöglichen, ohne auf Schlepperorganisationen und illegale Grenzübertritte angewiesen zu sein. Dabei ist aber auch zwingend vorauszusetzen, dass die Angehörigen oder andere Freiwillige sich verpflichten, die Kosten des Lebensunterhalts der Flüchtlinge zu übernehmen.

Das Ende der Geltungsdauer entsprechender Verpflichtungserklärungen war jedoch von Anfang an umstritten.

Das NRW-Innenministerium war mit anderen Bundesländern der Auffassung, dass mit der Anerkennung als Flüchtling im Asylverfahren ein neuer Aufenthaltstitel erteilt würde, der die Haftung beenden würde.

Jedoch hat der Bundesgesetzgeber durch die Neufassung des § 68 Aufenthaltsgesetz von August 2016 einen Fortbestand der Verpflichtungserklärung auch bei der Erteilung humanitärer Aufenthaltstitel oder bei der Anerkennung als Schutzberechtigter festgelegt.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hat dies für die vorher abgegebenen Erklärungen für eine Dauer von drei Jahren ab der Einreise bestätigt. Damit sind Erstattungsforderungen der Sozialleistungsträger wie der Jobcenter berechtigt. Auch dies wurde durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster aus dem letzten Monat bestätigt.

Das im Antrag geforderte Moratorium würde insofern den Verzicht auf eine Durchsetzung rechtmäßiger Ansprüche bedeuten und damit dem Grundsatz der Recht- und Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandels widersprechen.

Herr Präsident, meine Kolleginnen und Kollegen, allerdings können die Sozialleistungsträger gerade beim Thema „Zahlungserleichterung“ einen Ermessensspielraum nutzen, wenn die Verpflichtung zu einer unzumutbaren Belastung führt oder im Einzelfall ein Erlass der Forderung in Betracht kommt.

Vielleicht habe ich Sie aber auch nur missverstanden, Herr Kollege Yetim. Diesen Ansatz eines Vorwurfes, unser Integrationsminister solle sich doch mehr um die Bürger oder die Paten in NRW kümmern oder hätte dabei sein sollen oder hätte sich nicht daran beteiligt, weise ich ganz klar zurück, weil sich unser Minister im Interesse der Paten über den Bund zeitnah und schnellstmöglich eingesetzt und auch klargestellt hat, dass die Hilfsbereitschaft und das Engagement für das Gemeinwohl eben nicht zu einer Gefährdung der eigenen Existenz führen darf.

(Vereinzelt Beifall von der FDP)

Ein weitergehender Verzicht auf Regressansprüche kann aber nur durch eine bundesrechtliche Regelung erfolgen. Deswegen sollten wir die Initiative aus Niedersachsen und Hessen unterstützen. Das macht die NRW-Koalition, das macht die Landesregierung mit ihrem Integrationsminister Joachim Stamp. Sie fordern in dem vorliegenden Antrag, aus Landesmitteln einen Hilfsfonds einzurichten. Dieser wäre für einen Erfolg oder eine Lösung auf Bundesebene eher kontraproduktiv.

Der vorliegende Antrag ist zwar gut gemeint, aber letztlich nicht zielführend. Wir werden uns daher weiter für eine konstruktive Lösung einsetzen. Daher freuen wir uns auf die weiteren Beratungen im Ausschuss. – Danke schön.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Lenzen. – Für die AfD hat Frau Walger-Demolsky das Wort.

Gabriele Walger-Demolsky (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Unsere Fraktion hat sich eingehend mit dem Antrag und dem zugrundliegenden Sachverhalt befasst. Wir können auch die schwierige Situation von betroffenen Bürgen durchaus nachvollziehen. Wir können uns gut vorstellen, dass die eine oder andere Klage auch noch folgen wird, denn die Prüfung der Bonität scheint zumindest in Fällen von Mehrfachbürgschaften nicht immer ausreichend gewesen zu sein. Man wird es sehen.

Nichtsdestotrotz ist der Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gleich in mehrfacher Hinsicht aus argumentationslogischer Perspektive defizitär. Das betrifft aus unserer Sicht zuvorderst die juristische Bewertung des Sachverhalts.

Nach § 68 Aufenthaltsgesetz in der alten Fassung endete die Geltungsdauer einer Verpflichtungserklärung entweder bei der Beendigung des Aufenthalts oder mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem – und jetzt genau aufpassen bitte, zuhören! –

(Dietmar Bell [SPD]: Aye, aye!)

anderen Aufenthaltszweck. So war das auch in dem entsprechenden Formblatt formuliert. In dem Merkblatt heißt es wörtlich:

„Im Regelfall endet die Verpflichtung mit dem Ende des vorgesehenen Gesamtaufenthalts oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dafür ein neuer Aufenthaltstitel erteilt wurde.“

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 27. Januar 2017 entschieden, dass der Aufenthaltserlaubnis in dem entschiedenen Fall und in den Fällen, von denen wir hier reden, kein anderer Aufenthaltszweck zugrunde lag, weil die jeweilige Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen ja erteilt worden ist.

In dem Antrag der Grünen wird nun ohne Verifizierung behauptet, die Verpflichtungsgeber seien davon ausgegangen, die Anerkennung als Flüchtling im Zuge des Asylverfahrens würde als anderer Aufenthaltstitel wahrgenommen. Das trifft aber gerade den rechtlichen Kern nun einmal nicht.

Es geht aus der Vorschrift und den eindeutigen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts hervor, dass es nicht um den Aufenthaltstitel, sondern um den Aufenthaltszweck geht. Dies ist wie in dem Gesetz und in dem Formblatt das einzig maßgebende Kriterium und auch gleichgeblieben. So ändert sich nur die Rechtsgrundlage für den Verbleib und nicht der Grund.

Es erscheint daher auch zweifelhaft, ob man das falsch verstehen konnte. Im Übrigen greift hier auch durchaus eine Erkundigungspflicht, insbesondere bei so nicht alltäglichen Rechtsgeschäften wie Bürgschaften, die ja im Volksmund den Ruf des Gefährlichen haben. Über die juristische Bewertung hinaus kritisieren wir an dieser Stelle ausdrücklich die deutlich werdende Moralisierung der antragstellenden Fraktion, die ärgerlicherweise einen juristischen Sachverhalt in die Sollsphäre Ihrer Moralvorstellungen transferiert.

Ob die betroffenen Bürger nun also aus moralisch guten Motiven heraus gehandelt haben, ist für eine rechtliche Bewertung gänzlich irrelevant. Wenn die Regierung seinerzeit eine moralische Verpflichtung bei allen Bürgern gesehen hätte, hätte sie den Steuerzahler gleich zur Kasse gebeten und nicht einzelnen Bürgern die Möglichkeit eingeräumt, selbst in Verantwortung zu treten.

(Beifall von der AfD)

Wir halten daher weder eine Intervention der Landesregierung beim Bund für notwendig und schon gar nicht die Einrichtung eines Hilfsfonds in der Höhe von 5 Millionen € für angebracht.

Sehr geehrte Damen und Herren der Grünen, ich bin sicher, Sie haben ein ausreichendes Parteivermögen, um Ihrerseits besonders moralisch gut zu handeln und einen solchen Fonds selbst einzurichten.

(Beifall von der AfD)

Der Überweisung werden wir dennoch zustimmen. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die Landesregierung erteile ich nun Herrn Minister Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Situation der Bürgen von syrischen Geflüchteten ist der Landesregierung ein wichtiges Anliegen, denn wir wollen die Übernahme von Verantwortung sowie moralisches und ethisches Handeln fördern und nicht bestrafen. Das hat auch etwas mit grundsätzlichem Gerechtigkeitsempfinden zu tun.

Ich darf an der Stelle auch noch einmal sagen, auch weil ich damals selbst in der Situation gewesen bin, dass ich beinahe eine solche Bürgschaft eingegangen wäre. Das ist dann an anderen Dingen gescheitert. Von der damaligen Landesregierung wurde damals angesichts der Bilder von ausgebombten Menschen in den syrischen Gebieten, von zahlreichen toten Kindern klar kommuniziert, dass es hier darum geht, Menschen bis zu Ihrer Anerkennung diese Bürgschaft zu vermitteln. Da die Anerkennung nahezu bei 100 % lag, war auch das Risiko für diejenigen, die der Argumentation der Landesregierung gefolgt sind, überschaubar.

Meine Damen und Herren, im Rahmen des Landesaufnahmeprogramms für Syrer vom 26. September 2013 konnten Menschen, die vor den Folgen des syrischen Bürgerkriegs fliehen mussten, zu ihren in Nordrhein-Westfalen lebenden Angehörigen kommen. Die hier lebenden Angehörigen mussten diese Verpflichtungserklärung für die Kosten des Lebensunterhalts ihrer Verwandten abgeben. Hier haben sich aber auch zahlreiche Menschen unserer Zivilgesellschaft engagiert und die erforderlichen Erklärungen abgegeben. Dieses Engagement für Humanität nötigt mir nach wie vor großen Respekt ab.

(Beifall von Berivan Aymaz [GRÜNE] und Monika Düker [GRÜNE])

Leider hat es dann in der Folge Unklarheiten über die Dauer der Haftung aus diesen Verpflichtungserklärungen gegeben. Ich habe eingangs mein persönliches Erleben dazu geschildert.

Die seinerzeitige Landesregierung vertrat wie andere Länder auch die Auffassung, dass die Haftung mit der Anerkennung eines Flüchtlings endet. Im Gesetzgebungsverfahren zum Integrationsgesetz 2016 hat Nordrhein-Westfalen sich für eine entsprechende Klarstellung zugunsten der Verpflichtungsgeber eingesetzt. Der Vorschlag hat jedoch keine Mehrheit gefunden.

Durch das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 und die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017 wurde geklärt, dass die Haftung eines Verpflichtungsgebers für die Lebensunterhaltskosten von Bürgerkriegsflüchtlingen durch die erfolgte Anerkennung als Flüchtling nicht erlischt. Das ist eine rechtliche Ausgangslage, die wir akzeptieren müssen.

Vielen Verpflichtungsgebern war damals aufgrund der unklaren Rechtslage der zeitliche Umfang ihrer Haftung nicht bewusst. Deshalb habe ich mich dafür eingesetzt, dass die Sozialleistungsträger konsequent jeden Einzelfall prüfen. In Härtefällen kann die Leistungsbehörde von einer Inanspruchnahme der Bürgen absehen. Das schließt zumindest einen verfassungswidrigen Eingriff in das Existenzminimum der Bürgen aus.

Unabhängig von möglichen Hilfen im Einzelfall brauchen wir eine grundsätzliche Lösung. Die Verantwortung zur Lösung der Probleme liegt vor dem Hintergrund der Gesetzgebungskompetenz und der Behördenzuständigkeit auf Bundesebene. Ich erwarte, dass dort über Einzelfälle hinaus einheitliche Lösungen gefunden werden, damit Verpflichtungsgeber nicht unbillig in Regress genommen werden.

Deshalb habe ich bereits im September 2017 die damalige Bundesarbeitsministerin Nahles angeschrieben mit der Bitte, die Regresspraxis der Jobcenter auf den Prüfstand zu stellen und durch den Bund eine sozialverträgliche Lösung herbeizuführen. Frau Bundesarbeitsministerin Dr. Barley hat mir als Nachfolgerin bestätigt, dass die Jobcenter bei ihren Forderungen auch Ermessens- und Billigkeitsgesichtspunkte einzubeziehen haben.

Wir brauchen aber Eindeutigkeit und am besten eine bundeseinheitliche Linie. Ich unterstütze daher nachdrücklich den auf der Innenministerkonferenz gefassten Beschluss, dass die Länder Niedersachsen und Hessen in diesem Sinne Gespräche mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales führen sollen.

An der Stelle möchte ich auch einmal darauf verweisen, dass es nicht so ist, dass nur weil keine neue Bundesregierung gewählt worden ist, die Bundesregierung in Berlin und die Ministerien und alle Ämter handlungsunfähig sind. Das ist bei Weitem nicht der Fall. Insofern können diese Gespräche stattfinden.

Den Ergebnissen dieser gemeinsamen Bemühungen der Länder sollten wir aber wiederum durch Zahlungen des Landes Nordrhein-Westfalen nicht vorgreifen. Denn damit würde eine bundeseinheitliche Regelung erheblich erschwert werden. – Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Minister. – Wir sind damit am Schluss der Aussprache und kommen zur Abstimmung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags in der Drucksache 17/1668 federführend an den Integrationsausschuss sowie an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Die abschließende Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wenn Sie dieser Überweisungsempfehlung folgen wollen, bitte ich um Ihr Handzeichen. – Das sind SPD, Grüne, CDU, FDP, AfD und der fraktionslose Abgeordnete Langguth. Ist jemand dagegen, enthält sich jemand? – Dann ist diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

9   Zehnjähriges Jubiläum der Kooperation zwischen Nordrhein-Westfalen und der Benelux-Union – grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern vertiefen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 17/1660

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU Herrn Dr. Optendrenk das Wort.

Dr. Marcus Optendrenk (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie sieht eigentlich die Idee eines Europas von Frieden, Freiheit und Wohlstand unter einem Brennglas aus? Wie kann man als Vorreiter einer europäischen Integration gewissermaßen im Labormaßstab ausprobieren, wie ein solches Europa funktionieren könnte?

Das hat diejenigen Politiker beschäftigt, die vor 60 Jahren die Benelux-Union gegründet haben. Diese Kooperation von Belgien, den Niederlanden und Luxemburg gehört in das unmittelbare zeitliche Umfeld der ersten europäischen Verträge, der Römischen Verträge des Jahres 1957.

Neben den Beneluxstaaten haben damals Frankreich, Italien und die Bundesrepublik Deutschland unter anderem die EWG, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, gegründet.

Benelux – das war vor 60 Jahren tatsächlich etwas Neues. Das war der europäische Aufbruch im Kleinen.

50 Jahre später wurde unser Bundesland Nordrhein-Westfalen ein privilegierter Partner dieser Benelux-Union, ein Status, den es davor nicht gegeben hat, etwas ganz Besonderes, denn Nordrhein-Westfalen ist ja kein Staat im völkerrechtlichen Sinne.

Umso wichtiger ist es in diesem Jahr – zehn Jahre nach diesem Beitritt zur Zusammenarbeit der Beneluxstaaten –, daran zu erinnern, was damals wie heute diese Partnerschaft prägt.

Das sind der Gedanke der guten Nachbarschaft, das Wissen um viele gemeinsame Wurzeln und gemeinsame Wertegrundlagen. Das ist aber auch die Erkenntnis, dass es alleine durch geografische Nähe und wirtschaftliche Verflechtungen starke gemeinsame Interessen gibt. Nordrhein-Westfalen wickelt immerhin mehr als 20 % seines gesamten Außenhandels mit den drei Beneluxstaaten ab. Die Niederlande sind sogar der wichtigste Handelspartner unseres Landes.

In vielen Bereichen ist es für uns Bürger selbstverständlich, sich ohne Grenzen zwischen Luxemburg und Texel, zwischen Antwerpen und Aachen zu bewegen. Das gilt für den Tourismus, für Städtepartnerschaften, für die gemeinsame Arbeit in den Euregios, aber auch im kulturellen und sozialen Leben.

Umso wichtiger ist es für uns, heute daran zu erinnern, was 2008 der Zweck der Partnerschaft Nordrhein-Westfalens mit Benelux sein sollte. Der damalige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat dies in der damaligen politischen Erklärung wie folgt auf den Punkt gebracht:

Es ist unsere erklärte Absicht, die Zusammenarbeit auszubauen und vorhandene Potenziale besser auszuschöpfen.

Wenn wir nun gegen Ende dieses Jahres offiziell die zehnjährige Partnerschaft feiern, dann sollte dieser Feier auch eine inhaltliche Bestandsaufnahme vorausgehen. Wie sieht die aus?

Es ist offenbar gelungen, auf vielen Ebenen ein besseres und breiteres Verständnis dafür zu entwickeln, dass die Beneluxländer und Nordrhein-Westfalen tatsächlich manche Ähnlichkeiten aufweisen, viele gemeinsame Interessen haben und auch voneinander lernen können. Die Zusammenarbeit zwischen Behörden und Institutionen ist schon ein Stück einfacher geworden, auch wenn mancher offizielle Weg einfach so gar nicht ginge, sondern offiziell noch über Berlin laufen müsste.

In den letzten Monaten hat sich dabei eine neue Dynamik in dem Wunsch nach intensiverer Zusammenarbeit auf vielen Themenfeldern ergeben. Nordrhein-Westfalen hat Partner im Westen, die mit uns gemeinsam Hürden beseitigen, praktische Probleme lösen und freundschaftlich zusammenarbeiten wollen. Wir dürfen darüber froh sein, unsere Nachbarn als Freunde zu haben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Zehn Jahre Partnerschaft ist aber auch die Chance, die Zusammenarbeit deutlich zu intensivieren. Themen dafür gibt es genug. Lassen Sie uns nicht nur der Regierung antragen, das zu intensivieren, sondern lassen Sie uns das auch als Parlament gemeinsam angehen, damit Europa von unten her bürgernah, begreifbar und zukunftsfest wird. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Optendrenk. – Für die FDP hat nun Kollege Nückel das Wort.

Thomas Nückel (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Modell Benelux ist ein einmaliges Erfolgsprojekt, und das seit 60 Jahren. Auch die zehnjährige Kooperation von NRW mit den Beneluxstaaten ist ein Erfolgsmodell, und selbst überzeugte und eingefleischte Bundesrepublikaner in NRW werden sich vielleicht insgeheim manchmal beim Träumen ertappen, wie gut doch zu den beiden Königreichen und dem Großherzogtum NRW – sagen wir mal: NRW als Herzensherzogtum – passen würde. Aber das ist nicht einmal nötig, denn die Zusammenarbeit mit den Beneluxnachbarn ist heute enger als je zuvor. Aber das ist natürlich kein Grund, sich auf Erreichtem auszuruhen.

Die Beziehung NRWs mit den Beneluxstaaten bildet einen der wesentlichen Schwerpunkte der europäischen Zusammenarbeit dieser Koalition, und die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit sowohl mit der Benelux-Union, mit den nationalen Regierungen der Beneluxstaaten als auch mit den dezentralen Ebenen fußt dabei auf drei wichtigen Säulen:

Erstens zum Beispiel die grenzüberschreitende Kooperation im Rahmen der Euregios. Zu den Bereichen Hochschulen und Arbeitsmarkt hat die NRW-Koalition gestern einen Antrag eingebracht. Zweitens die nachbarschaftlichen, freundschaftlichen Beziehungen zwischen NRW, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg und den regionalen Institutionen auf bilateraler Ebene und drittens die privilegierte Partnerschaft von NRW mit der Benelux-Union.

Diese Dreigliedrigkeit ist wahrlich kein Selbstzweck, sondern ist dem mitunter nicht zu vergleichenden Staatsaufbau der vier Staaten geschuldet. Aber der Erfolg ist aller Mühen wert.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Denn auf dieser Grundlage entwickelten sich in den vergangenen Jahren auf allen Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft vielfältige und enge Beziehungen. Davon zeugen über 100 Städtepartnerschaften, aber eben auch der rege fachliche und politische Austausch mit unseren Nachbarn. In diesem Jahr feiern wir nicht nur 60 Jahre Geburtstag der Unterzeichnung des Beneluxvertrages, sondern auch das zehnte Jubiläum des Kooperationsabkommens, mit dem die Partnerschaft zwischen der Benelux-Union und dem Land NRW vertraglich fixiert wurde.

Das Jubiläumsjahr sollte genutzt werden, die Partnerschaft zwischen NRW und der Benelux-Union auf dieser Basis der Kooperation systematisch weiterzuentwickeln. Das wird schon deshalb, glaube ich, von Erfolg gekrönt sein, weil – und das muss ich als freier Demokrat betonen und unterstreichen – derzeit alle drei Beneluxländer ausnahmslos von Ministerpräsidenten liberaler Parteien regiert werden. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Kollege Nückel. – Für die SPD hat nun der Abgeordnete Weiß das Wort.

Rüdiger Weiß (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist es ja die Aufgabe der Opposition, die Regierung zu kritisieren, zu kontrollieren und alternative Lösungen vorzuschlagen. Auch wenn wir das üblicherweise von und an dieser Stelle immer wieder gerne tun, dieser Antrag bietet aus meiner Sicht wenig Anlass dazu. Es ist deshalb schön, ausnahmsweise einmal lobende Worte für einen Antrag der Regierungsparteien aussprechen zu können.

Die Benelux-NRW-Kooperation ist ein vorbildliches Beispiel dafür, wie langfristig regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedensten Bereichen gelingen kann. Sie ist auch ein Beispiel dafür, wie wichtig eine konsistente und kohärente Politik auf Landes- und Regionalebene ist.

Die wichtigen Impulse für europäische Integration kommen eben nicht nur aus Brüssel, Paris oder Berlin, sie kommen auch aus Namur, Düsseldorf und Arnheim. In dieser Hinsicht haben das Land NRW und seine vergangenen und verschiedenen Regierungen sehr gute Arbeit geleistet.

Und diese Arbeit gilt es jetzt fortzusetzen, und natürlich, meine Damen und Herren, werden wir uns auch aus der Opposition heraus daran intensiv beteiligen.

Wir erkennen in dem Antrag ein klares Bekenntnis zu Europa und zu einer weiteren Intensivierung des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Austausches zwischen NRW und den Beneluxstaaten.

Beinahe sind wir als SPD versucht, zu sagen: Weiter so! – Ich sage „beinahe“, denn obwohl wir an diesem Antrag wenig Kritikwürdiges finden, muss es jetzt auch um die Details gehen, die den Grundstein für eine weitere Intensivierung der NRW-Benelux-Kooperation legen. Ich möchte jetzt diese Gelegenheit nutzen, um etwas genauer auf das einzugehen, was in Ihrem Antrag nur grob angerissen ist.

Die Europäische Kommission bzw. die Generaldirektion Regionalentwicklung hat in ihrer Evaluierung der grenzüberschreitenden Beziehungen in den letzten Jahren in Europa 239 Hindernisse für funktionierende grenzüberschreitende Beziehungen identifiziert. Von dieser Vielzahl an Hindernissen betreffen 25 NRW. Etwa die Hälfte davon liegt im direkten oder indirekten Zuständigkeitsbereich des Landes Nordrhein-Westfalen.

Wir sprechen also – round about – von einem Dutzend Hindernisse, derer wir uns annehmen sollten. Dabei geht es nicht etwa um abstrakte Regularien für Handelsgüter oder komplizierte Richtlinien für transnationale Unternehmen. Es geht um den Alltag der grenzüberschreitend tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es geht um die Gleichbehandlung von Arbeitssuchenden und um Perspektiven für die Menschen in den Grenzregionen.

Lassen Sie mich Ihnen ein paar Beispiele nennen. Obwohl europaweit viele Fortschritte in der gegenseitigen Anerkennung von Bildungsabschlüssen gemacht wurden, bleiben Berufsausbildungen leider nach wie vor weitestgehend von dieser Harmonisierung ausgeschlossen. Ein Grundproblem liegt darin, dass bei uns in Deutschland die Zuständigkeit für die Vergabe von Abschlusszeugnissen bei den jeweiligen Handelskammern liegt, während in den Niederlanden die Zentralregierung in Den Haag diese Kompetenz besitzt.

Für eine bessere Harmonisierung in einem äußerst umständlichen Prozess müsste die niederländische Regierung also erst einmal eintreten und mit Handelskammern verschiedenster Couleur verhandeln. Das Land kann und sollte seine Bemühungen intensivieren, diesen Prozess zu vereinfachen und voranzutreiben.

Ein weiterer Punkt ist die mangelnde Verfügbarkeit von Informationen – nicht nur in Bezug auf die Möglichkeiten und Chancen für grenzüberschreitend Tätige, die wir bereits gestern intensiv diskutiert haben, sondern auch in Bezug auf deren Rechte und Pflichten.

Die Regelungen für Lohn- und Rentenansprüche, für die Sozialversicherung sowie für den Arbeitsschutz in NRW unterscheiden sich teilweise stark von den Regelungen in unseren Nachbarländern. Die Europäische Kommission bemängelt, dass die notwendigen Informationen in diesen Bereichen oft nur unzureichend und unübersichtlich zur Verfügung gestellt werden.

Auch in der Krankenpflege und in der Kriminalitätsbekämpfung stehen Nachbesserungen an.

Lassen Sie uns also die Erfolgsgeschichte der 60-jährigen Partnerschaft zwischen Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und NRW als Anlass nehmen, uns um diese Probleme zu kümmern. Angesichts der Tatsache, dass wir in diesem Jahr 100 Jahre Frauenwahlrecht feiern dürfen, möchte ich abschließend frei nach Marie Curie sagen: Beschäftigen wir uns nicht nur mit dem, was getan worden ist; beschäftigen wir uns auch mit dem, was getan werden muss. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Weiß. – Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Remmel das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Johannes Remmel (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will mich auch heute an den guten Vorsatz, den ich gestern gefasst habe, halten, nicht die Argumente zu wiederholen, wenn man bei einem Antrag große Übereinstimmung feststellt. Deshalb zur zeitlichen Abkürzung: Ich stimme all dem zu, was meine Vorredner zu dem Thema gesagt haben.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Dann hat sich das ja erledigt!)

Es ist eine wichtige und gute Gelegenheit, um die europäische Verständigung erneut zu unterstreichen. In der Tat sind Jubiläen Anlässe, genau das zu tun.

Hier handelt es sich um den Nukleus der europäischen Entwicklung, wo Nordrhein-Westfalen eine privilegierte Partnerschaft hat.

Im Übrigen sind auch die Parlamente miteinander verbunden. Auch diese Arbeit könnte vertieft werden – erst jüngst gab es dazu ein Treffen. Ich würde mir wünschen, dass das im Rahmen der weiteren Beratungen noch einfließen könnte. Wir müssen ja nicht gleich die höchste Stufe – siehe Élysée-Vertrag – anstreben, aber auch die Parlamente könnten das Ganze mit einer Erklärung begleiten. Eine solche Vertiefung der Partnerschaft wäre eine gute Erweiterung dessen, was Sie bereits Gutes vorgelegt haben.

Darüber hinaus würde ich mich sehr freuen, wenn Sie auch erwähnen könnten, dass die Benelux-Strategie der alten Landesregierung in den letzten sieben Jahren Voraussetzung dafür war, die Partnerschaft jetzt zu erweitern.

In diesem Sinne wünsche ich uns gute gemeinsame Beratungen. Etwas betrüblich ist leider, dass nach mir solche europäischen Anträge immer wieder dazu geeignet sind, beim national-völkischen Teil des Parlaments

(Christian Loose [AfD] gähnt laut. – Zuruf von Sven Werner Tritschler [AfD])

eine europafeindliche und damit auch bürgerfeindliche Politik zu verbreiten.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das finde ich bedauerlich, ist aber offensichtlich nicht zu verhindern. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Andreas Keith [AfD]: Alle Klischees bedient!)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Remmel. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD der Abgeordnete Beckamp das Wort.

Roger Beckamp (AfD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt weiß ich gar nicht, was ich sagen soll, Herr Remmel.

(Frank Sundermann [SPD]: Dann lassen Sie es doch! – Johannes Remmel [GRÜNE]: Sie könnten mich überraschen!)

Jetzt fällt mir gar nichts Bürgerfeindliches ein. Was könnte ich denn jetzt an bösen Dingen sagen? – Oh mein Gott!

Ich wühle mal im Fundus des Nationalkonservativen und aller abartigen Dinge, die Sie sich sonst noch so vorstellen können, und überlege mir: Ja, der Antrag ist in Ordnung. Wir sehen das weitgehend auch so, Herr Remmel.

Insofern nötigen Sie mich dazu, noch weitere Dinge zu sagen und darauf hinzuweisen, dass das, was Sie gerade haben hochleben lassen – die große Europaidee – in der Tat in der Benelux-Region gelebt wird und auch funktioniert.

Woran liegt das denn? – Nicht daran, dass es von oben irgendwie oktroyiert oder von irgendwelchen Eliten in Brüssel – Herrn Juncker und Konsorten – aufgezwungen wurde, sondern daran, dass dort gemeinsame Voraussetzungen gegeben sind: eine regionale Nähe, eine kulturelle Nähe, eine wirtschaftliche Nähe. Das ist doch ein Europa, wie es funktioniert und wie wir es uns wünschen.

(Helmut Seifen [AfD]: Genau so!)

In der Tat: Unsere Häfen sind nicht Bremerhaven und Hamburg. Unsere Häfen für NRW sind Antwerpen und Rotterdam.

(Helmut Seifen [AfD]: Ja, so ist es!)

Das ist völlig klar, und damit zitiere ich sogar unseren Ministerpräsidenten. Der hat es genauso gesagt, und da hat er völlig recht.

(Beifall von der AfD)

Die vielen Dinge, die schon passieren, sind ja auch gut – gemeinsame Studiengänge, Kitaplätze usw.

Zu dem Institut in Maastricht mit 180 Punkten, das Sie, Herr Dr. Pfeil, zitiert haben: Das ist wohl gar nicht mehr so. Dort ist gerade eine neue Liste in Arbeit; das wird gerade aufgearbeitet. Es kommen neue Sachen hinzu, andere werden ausgetauscht. Das sind ja genau die Maßnahmen, die wichtig und gut für den grenzüberschreitenden Verkehr sind.

Zu Ihrem zweiten Hinweis – Herr Remmel, erlauben Sie es mir –: Wenn im Koalitionsvertrag etwas über innere Sicherheit, über grenzüberschreitende Kriminalität oder über gemeinsamen Grenzschutz in diesem Raum steht, dann wollen wir daran festhalten. Wir wollen auch daran erinnern, dass wir froh sind, dass Sie sich dieser Aufgabe, die Grenzen zu schützen, stellen wollen. Denn Sie wollen etwas tun, was die Kanzlerin vorgibt, nicht tun zu können. Wir sind sehr gespannt, wie das bei Ihnen in NRW funktioniert.

Dritter Punkt: Herr Dr. Pfeil – ich glaube, das Papier stammt maßgeblich von Ihnen, so habe ich das zumindest aufgefasst –, Städtepartnerschaften kommen darin gar nicht so richtig vor. Es gibt knapp 100 Städtepartnerschaften zwischen Städten in NRW, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Eine davon ist zum Beispiel die Partnerschaft zwischen Lüttich und Köln. Köln hat Städtepartnerschaften mit Lüttich und Rotterdam. Dieser Punkt kommt gar nicht richtig vor, wobei viele dieser Städtepartnerschaften eingeschlafen sind, andere wiederum sind aktiv. Man könnte auch noch einmal darangehen – knapp 100 gibt es schon –, das zu aktivieren. Das würden wir auch begrüßen.

Insofern stimmen wir freudig zu und wünschen einen guten Tag.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Beckamp. – Als nächster Redner hat für die Landesregierung Herr Minister Dr. Holthoff-Pförtner das Wort.

Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Als Europaminister und als überzeugter Europäer freue ich mich natürlich wirklich und besonders über den großen Konsens der Fraktionen dieses Hauses zu diesem Antrag.

NRW arbeitet mit seinen Nachbarn in Benelux eng zusammen. Wie erwähnt, wird sich am 9. Dezember dieses Jahres der Jahrestag der Unterzeichnung der besonderen Partnerschaft NRWs mit der Benelux-Union zum zehnten Mal jähren. In diesen zehn Jahren – auch das darf ich dann sagen, Herr Remmel – ist regierungsübergreifend eine Menge passiert.

Wir pflegen Kontakte mit den nationalen Ebenen der Beneluxstaaten, mit den niederländischen Provinzen, mit den Regionen und Gemeinschaften Belgiens, und wir unterstützen die Euregios in den unmittelbaren Grenzregionen und kooperieren auf vielfältige Weise mit ihnen.

Die Partnerschaft mit unseren Nachbarn dient dem Ziel, die Existenz von Grenzen für das tägliche Leben unserer Bürgerinnen und Bürger so weit wie möglich zu egalisieren. Der Ministerpräsident und die Landesregierung engagieren sich in den Grenzregionen und im Dialog mit unseren Nachbarstaaten. Für uns ist Europa nicht eine Ansammlung von Staaten, sondern eine Herzensangelegenheit. Von daher galt auch der erste Besuch des Ministerpräsidenten dem Ministerpräsidenten in den Niederlanden.

Herr Kollege Optendrenk hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir da nicht immer so ganz auf Augenhöhe sind. Es wird aber auf sehr freundschaftliche Weise gezeigt, welch großes Interesse die Niederlande an einer Kooperation mit Nordrhein-Westfalen – mit einem Bundesland – haben. Wir werden die grenzüberschreitenden Freundschaften und Zusammenarbeiten vorantreiben.

In Zusammenarbeit mit dem von der niederländischen Nationalregierung benannten Gouverneur haben wir erste Schritte für den Ausbau dieser neuen Strukturen festgelegt. Über die Grenzen hinweg soll die Zusammenarbeit noch effektiver und dynamischer werden.

Mit unseren Nachbarn verbinden uns enge, historische, nicht immer gute Zeiten, aber mittlerweile auch persönliche Freundschaften und wirtschaftliche Verknüpfungen. Daraus ist eine Gemeinsamkeit erwachsen. Genau dieses Verständnis spiegelt der Antrag wider.

Ziel der Landesregierung ist es, dass zukünftig auch Einrichtungen des Nachbarlandes wie selbstverständlich genutzt werden können: Kitas, Schulbesuche jenseits der Grenze oder grenzübergreifende Studiengänge müssten der normale Alltag sein.

Als privilegierter Partner der Benelux-Union zeigt Nordrhein-Westfalen seit zehn Jahren, die Wichtigkeit und die Bedeutung des gemeinsamen Austausches verstanden zu haben. Diesen Weg müssen und werden wir weitergehen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Holthoff-Pförtner. – Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich schaue noch einmal in die Runde. – Das bleibt auch offensichtlich so, sodass wir am Schluss der Aussprache sind.

 

Wir können zur Abstimmung kommen. In diesem Falle stimmen wir über die Überweisungsempfehlung des Ältestenrats ab, der uns nahelegt, den Antrag Drucksache 17/1660 an den Ausschuss für Europa und Internationales zu überweisen. Dort soll dann auch die abschließende Abstimmung in öffentlicher Sitzung erfolgen. Gibt es jemanden, der dieser Überweisungsempfehlung nicht folgen möchte? – Der sich der Stimme enthält? – Dann ist das mit Zustimmung der Abgeordneten aller Fraktionen sowie des fraktionslosen Abgeordneten Langguth so beschlossen und die Überweisung des Antrags Drucksache 17/1660 an den Ausschuss für Europa und Internationales erfolgt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen dann zu:

10 Ergebnisse des Diesel-Gipfels greifen zu kurz – wirksame Sofortmaßnahmen zur Luftreinhaltung umsetzen

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/1669

Hierzu ist eine Aussprache nicht vorgesehen.

Daher können wir unmittelbar zur Abstimmung kommen. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/1669 an den Ausschuss für Umwelt, Landwirtschaft, Natur und Verbraucherschutz – federführend –, an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen sowie an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales vorzunehmen. Die abschließende Aussprache und Abstimmung soll nach Vorlage einer Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses erfolgen.

Gibt es ein Votum gegen diese Überweisungsempfehlung? – Enthaltungen? – Dann stelle ich auch hier fest, dass mit Zustimmung aller Fraktionen sowie des fraktionslosen Abgeordneten Langguth die Überweisungsempfehlung angenommen wurde.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Schluss unserer heutigen Sitzung.

Ich berufe das Plenum für Mittwoch, den 28. Februar, 10 Uhr, wieder ein und wünsche Ihnen allen einen schönen Nachmittag und Abend und vor allem eine sichere Heimkehr.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 16:14 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.