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Landtag

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Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

17/136

17. Wahlperiode

02.07.2021

 

136. Sitzung

Düsseldorf, Freitag, 2. Juli 2021

Mitteilungen des Präsidenten. 5

1   Warum hat Ministerpräsident Laschet den Expertenrat jetzt aufgelöst?

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14356. 5

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 5

Thorsten Schick (CDU) 7

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD) 8

Susanne Schneider (FDP) 9

Dr. Martin Vincentz (AfD) 10

Ministerpräsident Armin Laschet 12

Thomas Kutschaty (SPD) 14

Josefine Paul (GRÜNE) 15

Ministerpräsident Armin Laschet 16

Dr. Martin Vincentz (AfD) 18

Thomas Kutschaty (SPD) 19

Bodo Löttgen (CDU) 20

2   Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration in Nordrhein-Westfalen (Teilhabe- und Integrationsgesetz TIntG) 21

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/14243

erste Lesung. 21

Minister Dr. Joachim Stamp. 21

Heike Wermer (CDU) 22

Ibrahim Yetim (SPD) 23

Stefan Lenzen (FDP) 24

Monika Düker (GRÜNE) 25

Christian Loose (AfD) 26

Ergebnis. 28

3   Gesetz zur Einführung eines Radverkehrsgesetzes sowie zur Änderung weiterer Gesetze

Gesetzentwurf
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14257

erste Lesung. 28

Arndt Klocke (GRÜNE) 28

Klaus Voussem (CDU) 29

André Stinka (SPD) 30

Ulrich Reuter (FDP) 31

Nic Peter Vogel (AfD) 33

Minister Hendrik Wüst 34

Ergebnis. 35

4   Freiheit für Georg Thiel! Es gibt kein Recht auf Staatsfunk-Propaganda!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/14266. 35

Sven Werner Tritschler (AfD) 35

Oliver Keymis (GRÜNE) 36

Ministerin Ina Scharrenbach. 36

Ergebnis. 36

5   Gesetz zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes und zu Ausgleichszahlungen für geduldete Personen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/14244

erste Lesung. 37

Minister Dr. Joachim Stamp. 37

Heike Wermer (CDU) 38

Ellen Stock (SPD) 39

Stefan Lenzen (FDP) 40

Monika Düker (GRÜNE) 41

Christian Loose (AfD) 42

Ergebnis. 43

6   Das Landesverwaltungsnetz weiterentwickeln, um der steigenden Bedeutung digitaler Verwaltungsprozesse gerecht zu bleiben

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14260. 43

Matthi Bolte-Richter (GRÜNE) 43

Dr. Christian Untrieser (CDU) 44

Christina Kampmann (SPD) 45

Rainer Matheisen (FDP) 46

Sven Werner Tritschler (AfD) 46

Minister Prof. Dr. Andreas Pinkwart 47

Ergebnis. 48

7   Jeder Badeunfall ist einer zu viel – sofortige Maßnahmen zur Unfallprävention treffen.

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/14264. 48

Dr. Martin Vincentz (AfD) 48

Jens-Peter Nettekoven (CDU) 49

Thomas Göddertz (SPD) 49

Andreas Terhaag (FDP) 50

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 50

Minister Karl-Josef Laumann. 51

Ergebnis. 51

8   Innenstädte – neue Räume für die Zukunft

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14262. 51

Ergebnis. 51

Entschuldigt waren:

Minister Karl-Josef Laumann

Jörg Blöming (CDU)

Frank Boss (CDU)

Dr. Anette Bunse (CDU)

Guido Déus (CDU)       
(bis 11 Uhr)

Björn Franken (CDU)

Katharina Gebauer (CDU)

Matthias Goeken (CDU)

Daniel Hagemeier (CDU)

Wilhelm Hausmann (CDU)

Klaus Kaiser (CDU)

Jochen Klenner (CDU)

Wilhelm Korth (CDU)

Oliver Krauß (CDU)

Dr. Ralf Nolten (CDU)   
(ab 12 Uhr)

Charlotte Quik (CDU)

Marco Schmitz (CDU)

Daniel Sieveke (CDU)

Martin Sträßer (CDU)

Dietmar Panske (CDU)

Romina Plonsker (CDU)

Peter Preuß (CDU)

Jochen Ritter (CDU)

Petra Vogt (CDU)

Margret Voßeler-Deppe (CDU)

Simone Wendland (CDU)

Andreas Becker (SPD)

Andreas Bialas (SPD)

Inge Blask (SPD)

Dr. Nadja Büteführ (SPD)

Anja Butschkau (SPD)

Hartmut Ganzke (SPD)

Heike Gebhard (SPD)

Gabriele Hammelrath (SPD)

Wolfgang Jörg (SPD)

Hans-Willi Körfges (SPD)

Andreas Kossiski (SPD)

Hannelore Kraft (SPD)

Hubertus Kramer (SPD)

Eva Lux (SPD)

Norbert Römer (SPD)

Prof. Dr. Karsten Rudolph (SPD)

Rainer Schmeltzer (SPD)

Sebastian Watermeier (SPD)

Daniela Beihl (FDP)

Dietmar Brockes (FDP)

Alexander Brockmeier (FDP)

Jörn Freynick (FDP)

Marcel Hafke (FDP)

Martina Hannen (FDP)

Susanne Schneider (FDP)

Berivan Aymaz (GRÜNE)

Horst Becker (GRÜNE)

Sigrid Beer (GRÜNE)

Stefan Engstfeld (GRÜNE)

Dr. Christian Blex (AfD)

Iris Dworeck-Danielowski (AfD)

Gabriele Walger-Demolsky (AfD)

Markus Wagner (AfD)

Frank Neppe (fraktionslos)

 

 

Beginn: 10:03 Uhr

Präsident André Kuper: Guten Morgen! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen zu unserer heutigen, 136. Sitzung des Landtags. Ich begrüße die Gäste auf der Besuchertribüne, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Medien sowie die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Bildschirmen.

Ich rufe auf:

1  Warum hat Ministerpräsident Laschet den Expertenrat jetzt aufgelöst?

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14356

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mit Schreiben vom 28. Juni 2021 gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu dieser aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster für die Fraktion der Grünen Herr Kollege Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich hier freudig den Ministerpräsidenten begrüßen, der auch in der Redeliste angekündigt ist. Wahrscheinlich hat er sich nur kurz verspätet.

(Bodo Löttgen [CDU]: Steht im Stau!)

Er wird sicherlich nicht bei einem Spatenstich in Münster oder bei einer Diskussion in Bonn oder in Essen zugegen sein und deswegen hier unentschuldigt beim Plenum fehlen, sondern sicherlich gleich eintreffen und hier auf der Regierungsbank Platz nehmen. Meine Vorfreude teile ich wahrscheinlich mit dem gesamten Parlament, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Man muss sich allerdings die Frage stellen, die wir hier gestellt haben: Warum hat der Ministerpräsident den Expertenrat aufgelöst?

(Ministerpräsident Armin Laschet betritt den Plenarsaal.)

– Ah, schönen guten Morgen, Herr Ministerpräsident.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Guten Morgen!)

– Warum haben Sie den Expertenrat aufgelöst? Warum haben Sie ihn denn eingerichtet, Herr Ministerpräsident? Ich habe mir die Mühe gemacht und auf der Homepage nachgeschaut, warum Sie ihn eingerichtet haben. Da lese ich etwas ganz Spannendes:

„Unser Land steht vor der schwersten Bewährungsprobe unserer Geschichte.“

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

„In den vergangenen Wochen haben Politik und Verwaltung zahlreiche, teils massive Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Es ist richtig, sich mit aller Entschlossenheit dem Kampf gegen das Virus zu widmen, denn die Bilder aus Italien, Spanien oder New York zeigen unermessliche Tragödien.“

Und das Wichtige ist:

„Wir müssen schon heute Strategien für die Zeit nach der Krise entwickeln.“

Das haben Sie im April oder März letzten Jahres formuliert, Herr Ministerpräsident.

Auf der Pressekonferenz haben Sie, Herr Ministerpräsident, auf die Nachfrage, warum Sie denn den Expertenrat auflösen, geantwortet: Wir wissen doch alles.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Ja!)

Das finde ich schon eine ziemlich steile These, Herr Ministerpräsident.

(Beifall von den GRÜNEN und Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])

Wenn wir alles wissen, warum handeln Sie dann nicht nach diesem Wissen?

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Tun wir doch!)

Warum befasst sich dieses Parlament nicht mit den Fragen, die sich aus dem Expertenrat ergeben?

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Das tun wir doch!)

Sie haben während der letzten 15 Monate nicht ein einziges Mal die Chance ergriffen, die mittlerweile sechs Berichte des Expertenrates hier im Parlament zur Diskussion zu stellen, Herr Ministerpräsident.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Auch im AGS stand das kein einziges Mal zur Diskussion, und auch die Maßnahmen haben Sie nicht mit dem Bericht des Expertenrates in Verbindung gebracht. Ich finde, dass Sie da eine sehr große Chance der parlamentarischen Auseinandersetzung

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Jede Woche wurde berichtet!)

nicht ergriffen haben, Herr Ministerpräsident.

(Beifall von den GRÜNEN – Bodo Löttgen [CDU]: Wie häufig haben Sie es denn bean­tragt? – Armin Laschet, Ministerpräsident: Jede Woche wurde berichtet!)

– Herr Kollege Löttgen, gut, dass Sie sich gerade aufregen;

(Bodo Löttgen [CDU]: Nö!)

denn ich kann in diesem Zusammenhang aus Ihrem Antrag zitieren. Wir haben hier am Mittwoch eine sehr würdevolle, wie ich finde, Gedenkveranstaltung durchgeführt, und CDU und FDP formulieren in ihren pandemischen Leitlinien: Nachdem der Schritt vom akuten Krisenmanagement zum souveränen Risikomanagement gegangen wurde, ist nunmehr der Punkt gekommen, Antworten und Lösungen zu suchen für die Zeit nach der Krise.

(Bodo Löttgen [CDU]: Die stehen alle in den sechs Berichten drin!)

– Vielleicht, Herr Kollege Löttgen, sollten Sie an der Stelle eine Stufe ruhiger sein. Sie sprechen von einem souveränen Risikomanagement. Selbst wenn Sie das selbst glauben und sich selbst auf die Schulter klopfen, würde ich angesichts von 100.000 Toten in Deutschland und ungefähr 20.000 Toten in Nordrhein-Westfalen den Ball insgesamt ein bisschen flacher halten und souveräner mit diesem Thema umgehen.

Aber, Herr Ministerpräsident, wir haben sehr viele Handlungsfelder, die überhaupt noch nicht geklärt sind. Wir haben alleine in dieser Plenarwoche – ich greife beispielhaft den sechsten Bericht des Expertenrats auf – viele Punkte diskutiert, zu denen Sie keine Meinung haben. Zum Abwassermonitoring hat die Landesregierung keine Meinung.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Doch!)

Zur Frage, wie der Fortgang der Pandemie betrachtet werden soll, hat die Landesregierung zumindest keine hier im Parlament diskutierte oder vorgetragene oder für mich erkennbare Meinung.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Doch!)

Zwei Punkte möchte ich an der Stelle zentral herausgreifen.

Der erste Punkt ist Kommunikation. Ihnen ist es mehrfach gelungen, aus schwierigen Situationen Krisen werden zu lassen. Das erste deutliche Beispiel dafür war das Superspreader-Event bei Tönnies. Da sprachen Sie von Rumänen und Bulgaren, die hier arbeiten würden, und insofern habe das mit Nordrhein-Westfalen nichts zu tun.

(Zuruf von Gregor Golland [CDU])

Das war ein riesiger kommunikativer Fehler.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Das steht im Bericht!)

Sie haben sich auch nicht beraten lassen, sondern es einfach rausgehauen.

Der zweite, fast in der gleichen Zeit verankerte Fehler war: Sie haben behauptet, dass wir zur verantwortungsvollen Normalität zurückkehren müssten. Was war denn die Folge der verantwortungsvollen Normalität im letzten Frühjahr? Wir hatten saisonal bedingt, aber auch aufgrund der Entwicklung dieser Pandemie die höchsten Inzidenzen im darauffolgenden Herbst und einen monatelangen Lockdown hier in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)

Das war eine verantwortungsvolle Normalität? Ich finde das nicht normal. Ich möchte so einen Zustand nicht dauerhaft in Nordrhein-Westfalen haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)

Und was der Expertenrat auch anmahnt und was Sie in Ihren Sonntagsreden immer verkünden, ist,

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Auch montags und donnerstags!)

dass wir einen klaren Schwerpunkt für die Kinder und Jugendlichen setzen müssen.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: So ist es!)

Ja, da sind wir uns alle einig.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Aber wo sind denn die Maßnahmen, Herr Ministerpräsident? Wo findet denn die Schwerpunktsetzung statt? In den pandemischen Leitlinien äußern Sie sich ausschließlich zu Schule; ich möchte das nicht wiederholen. In Bezug auf Schule sind Sie eher ratlos. Der Expertenrat schreibt, dass keine Maßnahmen hinterlegt werden, und er fordert Sie auf, zertifizierte Konzepte zu erstellen, und zwar nicht für Schule, sondern auch für die Freizeit, für Kultureinrichtungen und vieles andere. Das alles machen Sie aber nicht. Wir haben das beim Gesundheitsminister abgefragt, aber bis heute liegen dazu keine zertifizierten Konzepte vor.

Und jetzt der wichtigste Punkt zum Schluss: Herr Ministerpräsident, Sie senden mit Ihren Maßnahmen ein merkwürdiges Signal. Am Ende müssen Sie es entscheiden, und es ist Aufgabe des Parlaments, dass wir das nachholen, was Sie zu tun versäumen,

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Ihr habt doch ein Begleitgremium!)

nämlich es hier im Parlament zu diskutieren. Das werden wir auch tun.

Sie tun aber so, als ob die Pandemie jetzt zu Ende wäre, als ob es nicht ganz viele Aufgaben gäbe, die wir in Zukunft diskutieren und vorbereiten müssten. Schließlich sagt selbst der Expertenrat, wir müssen jetzt die Sommermonate nutzen, um uns auf den Herbst vorzubereiten, damit keine überzogenen Reaktionen kommen, damit keine Panik aufkommt und damit auch mit der Bevölkerung eine klare Kommunikation stattfindet, mit der sie umgehen kann.

Überall Fehlanzeige beim Ministerpräsidenten! Er sagt, es sei parteipolitisch motiviert, wenn man diesen Expertenrat weiterlaufen ließe. Diese krude Interpretation habe ich überhaupt nicht verstanden. Erklären Sie mir und dem Parlament jetzt und an dieser Stelle, warum Sie nicht der Auffassung sind, dass sich diese Landesregierung vor diesem Parlament mehr erklären muss und dass das Wissen und das Können des Expertenrates, von dem wir ausdrücklich gut fanden, dass Sie ihn eingerichtet haben,

(Lachen von Bodo Löttgen [CDU])

dem Parlament zur Verfügung gestellt werden soll. Herr Ministerpräsident, das ist eine sehr merkwürdige Vorstellung.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Deswegen bin ich sehr auf Ihre Ausführungen gespannt, die wir gleich erwarten dürfen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege Mostofizadeh. – Für die Fraktion der CDU spricht der Abgeordnete Herr Schick.

Thorsten Schick*) (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Sommerpause naht, die Kreativität erlahmt. Ich glaube, das ist das Fazit, das man aus dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Aktuellen Stunde zum Expertenrat ziehen muss. Durch Ihre Rede, Herr Mostofizadeh, ist es auch nicht besser geworden.

Lassen Sie mich mit einem Dank an die Landesregierung und den Expertenrat beginnen: Es war die richtige Entscheidung des Ministerpräsidenten und der Landesregierung, sich frühzeitig von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beraten zu lassen, und zwar nicht von irgendwem, sondern von renommierten Expertinnen und Experten aus den Bereichen „Medizin“, „Rechtswissenschaften“, „Wirtschaftswissenschaften“, „Philosophie“, „Soziologie“ und „Sozialwissenschaften“. Aber statt Lob und Anerkennung gab es von Teilen der Opposition heftige Kritik. Die SPD-Fraktion sprach in einer Pressemitteilung im letzten April spöttisch von einem „soge­nannten Expertenrat“. Angesichts der Besetzung, Herr Kutschaty, war und ist das eine Unverschämtheit.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Renommierte Köpfe haben sich zur Verfügung gestellt, um Nordrhein-Westfalen durch die größte Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg zu bringen. Herr Kutschaty, die heutige Debatte bietet Ihnen die Chance, die Wortwahl der damaligen Pressemitteilung zurückzunehmen.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Das ist so, und ich finde, diese Expertinnen und Experten haben es verdient, dass Sie ihre Expertise auch mal würdigen. Sie haben es doch auch nicht besser gemacht.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Sie haben es in der Unterrichtung der Landesregierung am Mittwoch zur Coronapandemie auch nicht besser gemacht, als Sie sich auf einmal als großer Fan, als Erfolgsfan der Expertenratskommission geäußert haben. Ja, Sie forderten den Ministerpräsidenten sogar auf, den Expertenrat wieder einzusetzen, taten so, als ob die Entscheidung eventuell sogar finanzielle Gründe haben könnte, und machten auch noch einen Finanzierungsvorschlag, damit es weitergehen kann. Herr Kutschaty, ein Fähnchen im Wind ist gegen Sie ein Muster an Beständigkeit.

(Beifall von der CDU und Thomas Nückel [FDP])

Der Expertenrat ist nicht abgesetzt worden. Er hat einen abschließenden Bericht vorgelegt. Finanzielle Gründe kann es schon deshalb nicht gegeben haben, weil die Expertinnen und Experten ehrenamtlich gearbeitet haben. Es geht hier nicht um Honorare. Es geht um die Sorge, dass unser Land durch die größte Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg kommt. Das sollten Sie einfach mal zur Kenntnis nehmen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Das Signal, das von Ihnen ausgeht, ist: Wer sich in Krisenzeiten für das Land engagiert, der muss damit rechnen, ins Visier sozialdemokratischer Polemik zu geraten.

(Lachen von Sarah Philipp [SPD])

Herr Kutschaty, guter Rat scheint in Ihrem SPD-Beraterkreis teuer zu sein; denn außer billigen Sprüchen kommt da herzlich wenig.

(Vereinzelt Beifall von der CDU – Beifall von Henning Höne [FDP])

Auch die Forderung der Grünen, den Expertenrat weiter tagen zu lassen, kann ich nicht nachvollziehen. In sechs Berichten, die die Wissenschaftler vorgelegt haben, sind umfangreiche Handlungs­emp­fehlungen enthalten. Sie betreffen alle Stadien der Pandemie und liefern nicht nur Hinweise auf die augenblickliche Situation, sondern sind sogar bei zukünftigen Pandemien hilfreich. Damit haben die Landesregierung und auch wir hier im Parlament eine gute Grundlage, auf der wir diskutieren können.

Ich kann diese Forderung der Grünen auch deshalb nicht nachvollziehen, weil sie ja ständig auf eine Weiterentwicklung gedrängt haben. Es war doch zunächst so, dass Sie auf einen Pandemierat gedrängt haben, um zusätzliche Professionen einzubinden. Anschließend haben sich die Fraktionen hier im Parlament zusammengesetzt und haben eine Lösung gefunden. Sie haben sich auf ein parlamentarisches Begleitgremium geeinigt. Es gibt einen Unterausschuss Pandemie. Viel von dem, was Sie gefordert haben, ist doch dort enthalten: Es können zusätzliche Disziplinen eingebunden werden, die Teilnahme der Politik ist gesichert, Gutachter können beauftragt werden. – Auf all das haben wir uns doch geeinigt. Wir haben also ein Instrument, das uns allen wichtig war. Damit haben wir auch die Chance, die Politik wieder in die Mitte des Parlaments zu holen.

Ich habe aber das Gefühl, Ihnen ist nicht ganz geheuer, dass Sie nicht mehr am Spielfeldrand stehen, sondern dass Sie Akteur sind. Es ist natürlich wesentlich einfacher, zu meckern,

(Bodo Löttgen [CDU]: Ja!)

als irgendwann zu gestalten. Der Unterschied zwischen der Opposition und uns ist: Wir scheuen die Verantwortung nicht. Wir übernehmen sie für die Menschen und für das Land.

(Beifall von der CDU, Henning Höne [FDP] und Susanne Schneider [FDP])

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die SPD spricht die Abgeordnete Frau Kapteinat.

Lisa-Kristin Kapteinat (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst freue ich mich, insbesondere nach dieser Rede, dass für die CDU-Fraktion offensichtlich Thomas Kutschaty jetzt das Lieblingsthema geworden ist. Ich kann nur sagen: Gewöhnen Sie sich dran, das wird so bleiben.

(Beifall von der SPD)

Mir graut es allerdings spätestens seit der letzten Woche vor einem Déjà-vu, und damit meine ich keinen kurzen Moment, kein schnelles Aufflackern, sondern Wochen und Monate der Sorglosigkeit im Sommer und ein böses Erwachen im Herbst. Ich sage nur: 2020 grüßt 2021.

Ganz ehrlich, das war letztes Jahr schon unnötig und enttäuschend. Dieses Jahr ist es grob fahrlässig. Der Gesundheitsminister dieser Landesregierung – leider ist Minister Laumann heute Morgen nicht da –

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

stand am Mittwoch an diesem Rednerpult und hat darauf aufmerksam gemacht, dass es keine Gewissheit über die Entwicklung des zukünftigen Infektionsgeschehens gibt. Da würde ich dem Gesundheitsminister übrigens uneingeschränkt zustimmen.

Anders indes Ministerpräsident Laschet, der sich am 23.06. hinstellte und sagte – mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich –:

„Alles, was wir wissen müssen, wissen wir. Wir erkennen doch das Ende der Pandemie.“

(Zuruf von der CDU: Genau!)

Ich wiederhole: „Alles, was wir wissen müssen, wissen wir.“ – Was für eine beeindruckende oder aber auch erschreckende Arroganz gegenüber diesem Virus, das die ganze Welt seit eineinhalb Jahren in Atem hält.

(Beifall von der SPD)

Zudem widerspricht es allem, was kluge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder feststellen. Arrogant ist es im Übrigen auch gegenüber all denjenigen, für die wir hier schon applaudiert haben, für die wir uns immer wieder stark machen, über die immer wieder gesprochen wird, nämlich denjenigen, die das Unvorbereitet-Sein der Politik immer wieder ausbaden müssen.

Eine Gewissheit gibt es nicht, wohl aber die Möglichkeit, sich bei Expertinnen und Experten zu informieren, Rat zu suchen, vorausschauend zu agieren.

Das Ziel der SPD-Landtagsfraktion ist jedenfalls kein erneuter siebenmonatiger Lockdown, insbesondere, weil wir nicht denken, wir wüssten alles. Die Berichterstattung zur Auflösung des Expert*innenrats vom 23.06. ging mit der Bitte eben dieses Gremiums einher, im Sommer besonnen zu agieren. Zugleich warnte es vor steigenden Zahlen im Herbst. Allein das zeigt doch, dass der Expert*innenrat selbst davon ausgeht, noch gebraucht zu werden.

Aber auch hier wieder ein Déjà-vu: Im letzten Sommer haben die Virologinnen und Virologen vor einer zweiten Welle im Herbst gewarnt. Diese Landesregierung hat jedoch die Gesundheitsämter zu spät unterstützt, sie hat die Schulen nicht vorbereitet, und sie ist zu zögerlich in den Lockdown gegangen und hat ihn so unerträglich lang gemacht.

Minister Laumann sprach am Mittwoch von einer stichprobenhaften Kontrolle der Gesundheitsämter im Hinblick auf die Einhaltung der Quarantäne bei Reiserückkehrern. Ich bin gespannt, welche Gesundheitsämter dazu wie lange in der Lage sein werden. Einerseits wirkt es so, als würde der Gesundheitsminister der Situation selbst nicht trauen. Andererseits scheint es keine ausreichende Bereitschaft zu bestehen, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Eine andere Perspektive wäre, zu sagen: Die Auflösung des Expert*innenrats durch Ministerpräsident Laschet ist nur konsequent, weil er in den letzten 14 Monaten die Empfehlungen und Einschätzungen dieses Expert*innenrats regelmäßig ignoriert hat. Egal, ob der Rat frühzeitig eine deutlich höhere Zahl von Testungen gefordert hat oder zuletzt eine fehlende Strategie im Umgang mit Geimpften, Getesteten und Genesenen kritisiert hat: Ministerpräsident Laschet sah keinen Grund, den Empfehlungen des Expert*innenrats zu folgen.

War Ihr Expert*innenrat von Anfang an nur eine PR-Show? Dann erklären Sie uns das gleich.

Eine weitere Möglichkeit wäre: Ist der tatsächliche Grund für die Auflösung des Expert*innenrats vielleicht gar keine Ignoranz gegenüber Empfehlungen, sondern die fehlende Bereitschaft eines Ministerpräsidenten, in den letzten zwei Monaten seiner Tätigkeit Kritik an seiner Arbeit durch versierte Expert*innen zu dulden?

Egal, welcher Grund es aber nun ist: Der eine ist so falsch wie der andere.

Ministerpräsident Laschet, setzen Sie den Expert*innenrat wieder ein. Hören Sie auf die Expert*innen, und agieren Sie fern von persönlichen Eitelkeiten. Handeln Sie verantwortungsbewusst für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes! – Danke schön.

(Beifall von der SPD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion spricht die Abgeordnete Frau Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als ich den Antrag zu dieser Aktuellen Stunde las, musste ich mich schon etwas wundern, denn es gibt keinen Beschluss zur aktiven Auflösung des Expertenrats. Der Expertenrat hat doch vielmehr mit seiner sechsten Stellungnahme und den Empfehlungen für den Herbst und den Winter seine Arbeit abgeschlossen.

Auch der Ministerpräsident hat deutlich gemacht, dass die Mitglieder des Expertenrates – mit Erlaubnis möchte ich aus der die Presseerklärung der Staatskanzlei zitieren – „alle Ihre Bereitschaft erklärt haben, mit ihrer jeweiligen Expertise der Landesregierung bei Bedarf auch weiterhin beratend zur Seite zu stehen.“

(Beifall von der FDP und der CDU – Sarah Philipp [SPD]: Warum haben Sie das jetzt vorgelesen?)

Für mich zeigt das, dass die Grünen mit dem Antrag versuchen, einen Sturm im Wasserglas aufkommen zu lassen, um vielleicht von diversen Lebensläufen oder Plagiaten abzulenken. Ich weiß es nicht; sachlich ist das auf jeden Fall nicht.

(Vereinzelt Beifall von der FDP und der CDU)

Unsere Landesregierung wird jedenfalls auch künftig Expertenwissen

(Zuruf von Sarah Philipp [SPD])

bei der Beobachtung und Bekämpfung der Pandemie einbeziehen.

(Sarah Philipp [SPD]: Ganz wichtig!)

Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen, der Expertenrat wurde bereits Anfang April 2020 einberufen. Der Grundgedanke war, das vorhandene Wissen aus unterschiedlichen Fachbereichen wie Medizin, Psychologie, Philosophie, Ökonomie und Rechtswissenschaft zu bündeln und auf diesem Weg einen ganzheitlichen Ansatz zu entwickeln, der eben nicht nur auf die Inzidenzzahlen und epidemiologische Modelle blickt, sondern auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Maßnahmen zum Infektionsschutz betrachtet.

Ich möchte an dieser Stelle den zwölf beteiligten Experten meinen herzlichen Dank aussprechen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Sie haben nicht nur der Landesregierung, sondern der gesamten Landespolitik entscheidende Anstöße gegeben und Wege für die Wiedereröffnung des gesellschaftlichen Lebens aufgezeigt. Auch im Gesundheitsausschuss haben die Bewertungen eine wichtige Rolle gespielt.

Ein entscheidender Punkt in der ersten Stellungnahme waren die Vorschläge für eine schrittweise Öffnung. Damit war Nordrhein-Westfalen Vorreiter, um Wege zur Öffnung zum Beispiel im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der Kultur zu entwickeln und die Diskussionen auf der Bundesebene voranzutreiben. Dies hat uns im letzten Jahr einen relativ unbeschwerten Sommer ermöglicht. Gleichzeitig war dies mit einer eindringlichen Warnung vor Rückschritten und neuen Infektionswellen verbunden.

In seiner zweiten Stellungnahme hat der Expertenrat deutlich gemacht, dass staatliche Maßnahmen zur Einschränkung von Grundrechten nur mit zwingenden epidemiologischen Gründen zu rechtfertigen sind. Dies ist ein elementarer Grundsatz für unser politisches Handeln. Einschränkungen können nicht schon auf Verdacht angeordnet oder beliebig lange aufrechterhalten werden, sondern sie waren und sind nur dann erforderlich, wenn eine exponentielle Entwicklung der Fallzahl oder eine drohende Überlastung des Gesundheitswesens zu beobachten ist.

In der Folge haben wir etliche Vorschläge aus den Stellungnahmen aufgegriffen. Beispiele dafür sind die Einrichtung eines Corona-Dashboards des Landes oder die Entwicklung einer dezentralen Strategie mit der Abstufung von Maßnahmen auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte in Abhängigkeit vom jeweiligen lokalen Infektionsgeschehen.

Darüber hinaus haben gerade die Überlegungen zu einem differenzierten Vorgehen der Landespolitik wichtige Hinweise gegeben, um die Akzeptanz und Praktikabilität von Maßnahmen sowie mögliche Kollateralentwicklungen im Blick zu behalten. Leider wurde dieses differenzierte Vorgehen im April durch die Notbremse des Bundes zunächst beendet.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, der Expertenrat hat immer wieder auch das Monitoring des epidemiologischen Geschehens angesprochen. Bereits in der ersten Stellungnahme wurden der schnelle Ausbau einer Testinfrastruktur und eine deutliche Erhöhung der Testzahlen vorgeschlagen. Auch in den folgenden Stellungnahmen wurde die Ausweitung von Testkapazitäten mehrfach aufgegriffen.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Wie auch im vorherigen Redebeitrag wird gerne vergessen, dass wir anfangs nur PCR-Tests hatten, von denen es zudem viel zu wenige gab. Das eine oder andere hätte sonst etwas schneller gehen können. Erst mit dem Aufkommen der Antigen-Schnelltests war es dann möglich, hier neue Wege zu gehen. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn man zurückblickt.

Letztendlich sind die Tests neben den Impfungen zu entscheidenden Instrumenten bei der Bekämpfung der Pandemie geworden. Die regelmäßigen Testungen von Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen konnten vulnerable Bewohner schützen, bis diese ihren Impfschutz erhalten haben. Auch das breite Angebot an kostenlosen Bürgertests nach den neuesten wissenschaftlichen Modellen war ein entscheidender Faktor zum Brechen der dritten Welle. Diese Bürgertests haben geholfen, asymptomatisch Infizierte zu erkennen und so Infektionsketten zu durchbrechen. Dieses niedrigschwellige Testangebot und die Anreize zum Testen sollten wir daher weiter fortführen, bis jeder ein Impfangebot erhalten hat.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, in seiner sechsten und letzten Stellungnahme hat der Expertenrat angesichts der Saisonalität und der Verbreitung von Virusvarianten ein besonnenes Vorgehen angemahnt. Außerdem hat er darauf hingewiesen, dass zwar im Herbst wieder ansteigende Infektionszahlen zu erwarten sind, aber angesichts des Impffortschritts weniger schwere Erkrankungen auftreten dürften, die zu einer stationären Aufnahme oder gar zu einer intensivmedizinischen Behandlung führen.

Deshalb dürfen wir auch nicht wieder zu den Mustern von Panik, Übervorsicht und drastischen Maßnahmen zurückkehren, sondern sollten weiter auf Impfungen und Tests setzen sowie Hygiene- und Schutzkonzepte weiterentwickeln. Einschränkende Maßnahmen dürfen wir nicht nur an die Neuinfektionszahlen koppeln; wir müssen dabei auch die Schwere der Krankheitsfälle und den Impffortschritt berücksichtigen und die Rechtslage entsprechend anpassen. So wird die wichtige Arbeit des Expertenrates auch künftig unsere Politik anleiten und begleiten.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die AfD spricht nun der Abgeordnete Herr Dr. Vincentz.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Die Wissenschaft“, wie es heute oft heißt, gibt es schlicht nicht. Wenn jemand einen Satz mit „die Wissenschaft ist sich einig, dass“ beginnt, ist eigentlich immer Vorsicht geboten.

Wissenschaft ist immer ein Vielklang unterschiedlicher Stimmen. Zu einem Thema konkurrieren unterschiedliche Studien, bis sich in der Fachwelt dann eine Meinung als die wahrscheinlichste herauskristallisiert hat und bis zum Beweis des Gegenteils als Bestbeschreibung eines Istzustandes herhalten muss, um darauf dann weitere Fragen aufzubauen und zu klären.

Es lohnt sich also in jedem Fall immer, die gegenläufigen Daten anzuschauen, anstatt sich vielleicht darüber zu streiten, wie es leider in dieser Zeit des Drucks auch in der Wissenschaft und dann auch noch über Twitter oftmals passiert ist. Besser ist es, sich auch die Datensätze der Gegenseite anzuschauen. Wahrscheinlich ist aus beiden Teams meistens kein sonderlich Dummer dabei.

In der Medizin hat sich seit langer Zeit die sogenannte EBM, also Evidenzbasierte Medizin, durchgesetzt – ein System, das sich im Prinzip direkt an das alte hippokratische Prinzip „Primum non nocere“ – „Zuerst nicht schaden“ – anlehnt.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse müssen hingegen bereits in ihrer Etablierung immer sorgfältig auf ihren potenziellen Schaden abgewogen, Studien auf ihre Ethik abgeklopft werden.

Insbesondere in Europa hat sich das sogenannte Vorsorgeprinzip durchgesetzt – eine Rechtsschule, die Unternehmen wie Staaten dazu bewegen soll, besonders genau hinzusehen, bevor sie eine Methode oder ein Medikament auf dem Markt etablieren.

Das soll heißen: Die Wissenschaft in einer Funktion als moralischer Imperativ in der Politik ist selten zu gebrauchen, wohl aber als Impulsgeber für daraus ableitbares politisches Handeln.

Wer meint, Wissenschaft über Twitter zu betreiben, ist oft wahrscheinlich kein so guter Wissenschaftler.

So oder so: Es lohnt sich immer, beide Seiten anzusehen – wenn es nur zwei gibt; zur Not auch drei, vier oder fünf – und ordentlich abzuwägen.

Wie sieht es dabei in der Realität aus? Modi-SARS haben die Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts den Erreger genannt, der im Szenario von 2013 drastische Auswirkungen hat: 7,5 Millionen Tote, ein völlig überfordertes Gesundheitssystem, heftige wirtschaftliche Schäden, tiefe Verunsicherung in der Bevölkerung, politische und gesellschaftliche Verwerfungen.

Das Erschreckende an diesem Szenario ist – obwohl es nun wirklich deutlich übertrieben ist; denn der Erreger, der dort angesprochen ist, ist ein deutlich schlimmerer –: Die Mechanismen, die darin beschrieben werden, sind durchaus auf die Realität übertragbar.

Im Szenario sind Ärzte, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in ihren Möglichkeiten der Gegenwehr genauso beschränkt wie in der Realität. Im Szenario fliegen zwei Infizierte nach Deutschland. Die eine Person besucht eine Messe in einer norddeutschen Großstadt. Die andere Person nimmt nach einem Auslandssemester ihr Studium in Süddeutschland wieder auf. Diese beiden Index-Patienten verbreiten zusammen mit einigen anderen Einreisenden durch ihre umfangreichen Sozialkontakte das Virus. Wir erinnern uns: Das ist sehr nah an der Realität.

So nehmen Infektionen mit stetig steigender Geschwindigkeit zu. Die Wissenschaftler gehen von drei Erkrankungswellen über den gesamten Pandemieverlauf aus, vergleichbar der Spanischen Grippe. Da Viren auch mutieren können, besteht immer das Risiko, dass sich bereits gesunde Menschen nach einiger Zeit erneut anstecken können.

Deutschland sollte in der Realität am Ende in der tatsächlichen Pandemie, die uns heimgesucht hat, besser wegkommen – einzig, da der Erreger harmloser war als angenommen.

Trotz dieses Szenarios steht die Politik dem Verlauf hilflos gegenüber. Das Papier wurde übersehen und hat in keinem Fall dazu geführt, die damals bereits offengelegten Schwachstellen anzugehen.

Aber kommen wir zu dem tatsächlichen Ausbruch des Geschehens in 2020 zurück.

Im Februar 2020 warnt Dr. Voshaar, Chefarzt am Lungenzentrum Moers, das öffentliche Gesundheitswesen sei in keiner Weise auf die Pandemie vorbereitet. Land und Bund behaupten weiterhin das Gegenteil. Kurze Zeit später muss das öffentliche Leben heruntergefahren werden – aus Angst vor einer Überlastung des Gesundheitssystems.

Am 14. März sagt der Facharzt für Mikrobiologie und Lehrbeauftragte für Virologie an der Universität Frankfurt, Dr. Stürmer, im ZDF: In Deutschland haben wir jetzt so viele Fälle, dass es zu dem jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sinnvoll ist, die Grenzen zu schließen, weil vermutlich schon zu viele Infizierte die Grenze überschritten haben. – Tage später führt dann Deutschland Grenzkontrollen zu vielen Nachbarstaaten ein.

Die AfD rückte von dieser Forderung schon lange ab, nachdem Rufe nach Kontrollen im Januar, die aus unserer Bundestagsfraktion kamen, allesamt abgelehnt wurden. Es ist leider etwas, was wir jetzt allzu oft sehen. Das wurde auch häufiger als Logikbruch in unserer Politik beschrieben. Nein, wir haben genau das umgesetzt, was die Wissenschaft an der Stelle gesagt hat. Zu diesem Zeitpunkt war es zu spät, um noch Grenzkontrollen einzuführen. Sie hätten entweder schnell und hart reagieren müssen, oder aber diese Maßnahmen waren völlig sinnlos.

(Zuruf von Matthias Kerkhoff [CDU])

Sie können es vielleicht aus den klassischen 90er-Jahre-Horrorfilmen herleiten: Wenn der Killer erst einmal zur Tür herein ist, lohnt es nicht, die Tür abzuschließen. Dann ist es zu spät.

Ähnlich ist es jetzt bei der Delta-Variante. Sie ist doch längst hier und macht große Teile der Infektionen aus. Jetzt noch gewisse Gebiete als Risikogebiete zu deklarieren, ist eher wenig sinnvoll.

Am 19. März führen die Ergebnisse der französischen Studie „SARS-CoV-2: fear versus data“ zu dem Schluss, dass das Virus in seiner Gefährlichkeit für den Menschen nicht so hoch ist, wie zu diesem Zeitpunkt medial verbreitet wird. Die Studie und viele weitere Aussagen weiterer medizinischer Autoritäten haben keinen wirklichen Einfluss auf die angeworfene Panikmaschinerie.

Ebenfalls im März stellt eine italienische Studie über 2.000 registrierte COVID-19-Todesopfer fest, dass nur drei Personen, also 0,8 %, keine Vorerkrankungen hatten. Das Durchschnittsalter der Toten liegt bei 79,5 Jahren. Hieraus leiten wir als AfD die Forderung ab, die geringen Ressourcen des Gesundheitswesens vor allem auf die älteren und Risikopatienten zu konzentrieren. Unsere Reden gehen aber genauso unter wie die italienische Studie.

Am 3. April kritisiert der Statistiker Bosbach:

„Der Maßstab der Regierung, ab wann eine Abschwächung der Maßnahme geboten ist, basiert auf einer Scheinzahl von Infizierten, die aber nichts mit der Realität gemein hat.“

Die Inzidenz ist bis heute immer noch das Maß aller Dinge. Wir haben das hier mehrfach kritisiert. Es wird von Ihnen aber nicht wahrgenommen.

Am 7. April fordert die Deutsche Gesellschaft für Pathologie, Coronaverstorbene sollten obduziert werden. Wir bringen den Antrag auch ins Parlament ein. Er wird abgelehnt.

Am 9. April nimmt die Landesregierung erste Ergebnisse der Heinsberg-Studie entgegen. Demnach sind bereits 15 % der Teilnehmer infiziert oder infiziert gewesen. Unter ihnen betrage die Sterberate 0,37 %, fünfmal niedriger als von der Johns Hopkins Universität damals berechnet. Wir beantragen im Folgenden, die Studie auszuweiten, um mehr über Übertragungswege zu erfahren. Der Antrag wird natürlich abgelehnt.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD])

Am 11. April stellt der Expertenrat Corona sein erstes Papier mit dem Titel „Weg in eine verantwortungsvolle Normalität“ vor. Darin heißt es:

„Jede Entscheidung hat Folgen und zu jeder Entscheidung gibt es auch immer Alternativen.“

Und:

„… mit Blick auf neue Erkenntnisse über den Virus sollten wir jetzt beginnen, die Maßnahmen differenzierter und flexibler zu steuern, um die verschiedenartigen negativen Auswirkungen so gering wie möglich zu halten.“

Der Rat fordert:

„Auf Bundes- und auf Landesebene sollten jeweils Task Forces gegründet werden, die alle relevanten Informationen unter Berücksichtigung medizinischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Risiken sammeln und auswerten, um dann geeignete Maßnahmen empfehlen zu können.“

Vor Schäden des Lockdowns ökonomischer, sozialer und gesundheitlicher Natur wird explizit gewarnt. Man müsse dringend unser Wissen über das Virus und die COVID-19-Erkrankung vergrößern.

Die Autoren merken zudem an:

„Eine starke Ausweitung der Tests führt zwangsläufig zu mehr gemeldeten Fällen. Dieser Effekt muss von medizinischen Experten bei der Analyse der Situation und Entwicklung berücksichtigt und eingeordnet werden.“

Jetzt können Sie an der Stelle noch einmal beurteilen, ob das tatsächlich stattgefunden hat.

Am 17. April stellt Professor Dr. Stefan Homburg, Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover, mit Verweis auf das „Epidemiologische Bulletin 17/2020“ des RKI fest, dass der Lockdown vom 23. März völlig unnötig war. Was haben wir gemacht? Wir sind dann erst in einen der größeren Lockdowns gestartet.

Meine Redezeit läuft jetzt ab. Ich bin gerade erst im April, und das war nur eine Auswahl der Fehler, die gemacht wurden, bzw. der Chancen, die man verpasst hat.

(Zurufe von der SPD)

Im zweiten Teil trage ich dann noch weitere vor. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Ministerpräsident Laschet.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD])

Armin Laschet, Ministerpräsident: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist eine gute Gelegenheit, die ausgezeichnete Arbeit des Expertenrates Corona heute auch hier im Landtag noch einmal gebührend zu würdigen.

Ich habe damals im Einladungsschreiben an die Expertinnen und Experten formuliert, dass unser Land vor der schwersten Bewährungsprobe unserer Geschichte steht. Heute, 14 Monate später, können wir festhalten: Das waren in der Tat die herausforderndsten und schwierigsten Monate für unser Land.

Umso dankbarer bin ich, dass die zwölf Mitglieder des Expertenrates Corona Nordrhein-Westfalen und die Landesregierung in dieser für uns alle herausfordernden Zeit beraten haben. Zwölf Frauen und Männer, alle herausragende Köpfe in ihren Professionen: der Verfassungsrechtler Udo di Fabio, der Psychologe Stephan Grünewald, der Philosoph Otfried Höffe, der Wirtschaftsforscher Michael Hüther, die Sozialpädagogin Monika Kleine, die Meinungsforscherin Renate Köcher, die Familienunternehmerin Nicola Leibinger-Kammüller, der große Soziologe Armin Nassehi, die Managerin Claudia Nemat, der Wirtschaftsforscher Christoph Schmidt, der Virologe Hendrik Streeck und die Medizinethikerin Christiane Woopen.

Als ich im März des letzten Jahres fragte, ob sie bereit wären, die Landesregierung im Zuge der Coronapandemie mit ihrem Fachwissen zu begleiten, haben alle spontan zugesagt. Alle haben ihre Expertise ehrenamtlich und unentgeltlich eingebracht. Alle haben sich engagiert, obwohl sie in der Pandemie beruflich wie privat gefordert waren. Deshalb danke ich ihnen.

Ich muss Ihnen aber sagen: Manchmal beschämt es mich gegenüber solchen Experten, wenn ich manche Debatte hier erlebe.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das ist beschämend für unser Land. Ich kann mich dann immer nur für die Opposition entschuldigen.

(Stefan Zimkeit [SPD]: Welche Arroganz!)

Beispielsweise die SPD-Fraktion, die jetzt einen Expertenrat haben will und ihn würdigt, fragt in offiziellen Landtagsdokumenten in Bezug auf den – in Anführungszeichen – sogenannten Expertenrat nach: Wie viel haben die Bewirtungen gekostet? Wie hoch waren die Aufwendungen für die Kostenerstattungen?

Dieses Klein-Klein in einer Krise schadet unserem Land. Ich bitte Sie, das zu unterlassen.

(Beifall von der CDU und von der FDP – Sarah Philipp [SPD]: Das haben Sie gar nicht zu bewerten!)

Es ist ja schön und freut mich, dass Sie jetzt sagen: Bitte, bitte, haltet den Expertenrat. – Aber mit solchen Persönlichkeiten so umzugehen, wie Sie sich das erlaubt haben, schadet unserem Land und der Pandemiebekämpfung in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich will noch einmal klipp und klar sagen: Sie können so weitermachen. Sie machen das in vielen anderen Feldern auch. Sobald jemand da ist, der Expertise gibt, wird auf die Person geschossen und wird personalisiert. Wir müssen in der politischen Auseinandersetzung weg von diesen Personalisierungen und hin zu Sachauseinandersetzungen kommen. Es wäre gut, wenn Sie sich das einmal überlegen würden.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

Dieser Expertenrat ist zu 17 Sitzungen zusammengekommen. Der stellvertretende Ministerpräsident und ich haben persönlich an allen diesen 17 Sitzungen teilgenommen, von Anfang bis Ende, und zugehört, was uns die Experten sagen.

Herr Mostofizadeh, Sie haben gesagt, wir hätten den Landtag nicht beteiligt. Meine Berichte hier gaben exakt meine Positionen und das, was aus dieser Arbeit erfolgt ist, wieder.

Der Landtag hat sich auch ein eigenes Begleitgremium gegeben. Ich vermute, dass Sie – alle Fraktionsvorsitzenden, alle Experten – auch viele Stunden in diesem Begleitgremium waren. Das ist die parlamentarische Begleitung.

Meine eigene ist dieser Expertenrat. Dieser hat Grundsätze formuliert, die jetzt schon für das, was uns im Herbst droht, klar sind. Natürlich ist die Pan­demie nicht zu Ende. Aber die Muster, um die es geht, hat er in der 6. Stellungnahme exakt beschrieben und gesagt: Es wäre gut, wenn auch auf der Bundesebene nicht nur medizinisch-naturwissenschaftlich Modelle modelliert würden, wie schrecklich alles werden kann, sondern wenn die sozialen Folgen, die wirtschaftlichen Folgen und die Folgen für Kinder in einem ähnlichen Begleitgremium auf der Bundesebene betrachtet würden.

Ich kann Ihnen sagen: Sollte ich auf der Bundesebene Verantwortung übernehmen, wird auch eine solche Methode dort eingeführt – und nicht nur die Modellierung irgendwelcher Kurven, wie schrecklich alles wird.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Dieser Rat war der einzige in Deutschland, der es so gemacht hat. Er hat Nachfragen auf internationaler Ebene ausgelöst. Wir haben mit israelischen Wissenschaftlern über die israelischen Erfahrungen gesprochen. Unsere Experten haben mit israelischen Experten diskutiert.

In der deutschen Medienlandschaft sind alle unsere Experten in diesen 15 Monaten in hohem Maße angefragt worden, das weiterzugeben, was sie bei uns erarbeitet haben.

Deshalb war dieser ganzheitliche Ansatz, diese nordrhein-westfälische Besonderheit, dieser ganzheitliche Blick auch auf Kinder, auf sozial Schwächere, auf Jugendliche, auf Menschen, die Schäden erleiden, jenseits der pandemischen Folgen, richtig. Aber auch dafür sind wir vielfach kritisiert worden.

Ich empfehle jedem, diese 6. Stellungnahme zu lesen. Der Expertenrat sagt am Ende: Wir dürfen nicht wieder im Herbst, wenn eine vierte Welle kommt … Natürlich steigen im Herbst die Inzidenzen. Es ist doch logisch und klar, dass im Herbst die Zahlen wieder steigen werden. Aber die Frage ist: Wie gehen wir dann damit um?

(Josefine Paul [GRÜNE]: Das ist ja die Frage an Sie!)

– Entschuldigung. Das ist doch das, was hier die ganze Woche vorgetragen wird.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Das hat der Gesundheitsminister hier vorgetragen. Das hat die Schulministerin vorgetragen. Wir sind darauf vorbereitet.

Aber Ihrer Methode, alles wieder zu schließen, werden wir nicht folgen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir werden alles tun, um mit Viren zu leben,

(Stefan Zimkeit [SPD]: Das haben Sie schon mal versprochen!)

und nicht die Empfehlungen aus Solingen – Wechselunterricht – und alles das, was Sie uns hier vorgetragen haben, übernehmen. Wir werden dafür kämpfen, dass es Präsenzunterricht gibt und dass wir lernen, mit dem Virus zu leben.

(Zuruf von Bodo Löttgen [CDU])

In der letzten Stellungnahme des von Ihnen heute so gelobten Expertenrates steht: Eine freiheitliche Gesellschaft muss auch mit Risiken leben und darf nicht immer mit repressiven Maßnahmen auf jedes Risiko reagieren. – Das ist ein Appell bezüglich einer liberalen, einer freiheitlichen Gesellschaft, die auch unter Pandemiebedingungen Grundrechtseingriffe im Blick hat.

Deshalb teile ich alles das, was der Expertenrat in seiner letzten, 6. Stellungnahme sagt. Wird diese Chance versäumt, einen multi- und transdisziplinären Kurs zu organisieren, droht eine unfruchtbare Dominanz von allein auf Modellanalysen konzentrierten Systemen. Dagegen müssen wir uns wenden. Eine feindliche Gesellschaft muss auch in Krisenzeiten, in einer Pandemie, freiheitlich reagieren.

Das war die Arbeit von 15 Monaten. Und das ist es, was mich in dieser Pandemie ganz besonders geprägt hat. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Für die Fraktion der SPD hat sich ihr Fraktionsvorsitzender Kutschaty zu Wort gemeldet.

Thomas Kutschaty*) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Pandemie ist für uns Politikerinnen und Politiker vieles neu gewesen. Wir mussten die Entscheidungen treffen. Aber nicht bei allem hatten wir – das darf ich, glaube ich, für uns alle sagen – auch die nötige Sachkenntnis.

Insofern ist es vom Grundsatz her auch erst einmal klug und gut, Expertenmeinungen einzuholen und zu hören, um Tipps zu bekommen, wie man entscheiden kann. Das darf einem allerdings die politische Verantwortung nicht abnehmen.

Deshalb sage ich allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herzlichen Dank, die sich mit ihren Meinungen eingebracht haben und dafür auch teilweise öffentlich angefeindet worden sind; das darf man ebenfalls nicht vergessen.

Der Ministerpräsident hat gerade gesagt, was ihn beschämt, und theatralisch dargestellt, wofür er sich bei den Experten fast entschuldigen musste.

(Sarah Philipp [SPD]: Sehr theatralisch!)

Ich will Ihnen jetzt einmal sagen, was mich beschämt. Herr Laschet, Sie haben die Experten doch immer nur dann vorgeschickt, wenn ihre Meinung gerade in Ihr politisches Konzept passte.

(Beifall von der SPD und Verena Schäffer [GRÜNE])

Sie haben die Experten doch dafür missbraucht. Warum gab es denn die Heinsberg-Studie als erste große wissenschaftliche Studie in Nordrhein-Westfalen? Doch nicht, weil Sie dadurch besondere wissenschaftliche Erkenntnisse hatten, sondern, weil Sie gerade in einem Wettlauf mit Markus Söder waren, wer die besten, meisten und größten Lockerungen versprechen konnte. Dafür haben Sie einen Experten gesucht, der Ihnen das bestätigt hat, was Sie politisch unbedingt durchsetzen wollten. Das ist Missbrauch an der Wissenschaft, Herr Laschet. So geht man nicht mit Wissenschaftlern um.

(Beifall von der SPD und Arndt Klocke [GRÜNE])

Wenn Ihnen diese Meinungen der Experten so wichtig sind und Sie sagen, dass man darauf hören sollte, frage ich an dieser Stelle noch einmal: Warum haben Sie es denn nicht getan?

Wir haben uns die Stellungnahmen der Experten angehört, auch wenn Sie teilweise versucht haben, sie vor dem Parlament geheim zu halten.

Frau Woopen hat zum Beispiel sehr, sehr früh empfohlen, in unserem Land regelmäßig zu testen. Ich erinnere mich: Im letzten Jahr habe ich in gefühlt jeder zweiten meiner Reden hier gesagt, dass wir eine vernünftige Teststrategie brauchen. Frau Woopen hat dies seit April letzten Jahres gefordert. Was haben Sie gesagt? Sie haben mich belächelt, als ich vorgeschlagen habe: Mit mehr Tests gibt es auch wieder Lockerungen und Veranstaltungen. – Heute wissen wir, dass es so ist. Frau Woopen hat Ihnen das im April letzten Jahres gesagt. Aber Sie wollten nicht darauf hören, weil es nicht in Ihr politisches Konzept passte. Das ist doch die Wahrheit, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und von den Grünen – Zurufe von der SPD: So ist es!)

Sie haben die Wissenschaft nicht ernst genommen. Das muss man tatsächlich sagen. Aber Sie sollten die Wissenschaft ernst nehmen. Denn – es ist gerade gesagt worden – diese Pandemie ist noch längst nicht vorbei. Es gibt viele Fragen, die wir politisch klären können. Aber wir brauchen auch nach wie vor wissenschaftliche Expertise.

Wie geht es mit der Delta-Variante weiter? Wie ich heute gelesen habe, geht Herr Spahn davon aus, dass sie schon in wenigen Tagen auch in Deutschland die vorherrschende Variante sein wird.

Wie reagieren wir darauf? Wie reagieren unsere Impfstoffe? Hat das Auswirkungen auf eine dritte und eine vierte Impffolge, die wir möglicherweise brauchen?

Ich sage persönlich, dass ich das nicht beantworten kann. Dafür brauchen wir Expertinnen- und Expertenwissen. Ich befürchte, Sie können es selbst auch nicht beantworten. Das mache ich Ihnen überhaupt nicht zum Vorwurf. Aber lassen Sie die Experten weiterhin in Ihrem Hause arbeiten. Lassen Sie sie uns gemeinsam beraten. Machen Sie transparent, was Expertinnen und Experten sagen, damit wir alle daran teilhaben können. Wir werden es brauchen. Aber wir dürfen sie nicht missbrauchen, so wie Sie es getan haben, Herr Laschet.

(Beifall von der SPD und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Präsident André Kuper: Vielen Dank. – Für die Fraktion der Grünen hat sich die Fraktionsvorsitzende Frau Paul zu Wort gemeldet.

Josefine Paul*) (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Zitat vom Ministerpräsidenten ist schon einige Male angesprochen worden: Alles, was wir wissen müssen, wissen wir. – Das sagt er trotz der immer noch dynamischen Lage. Herr Kollege Kutschaty hat es gerade angesprochen. Wir wissen nicht, wie sich die Delta-Variante weiter entwickeln wird. Wir wissen nicht, was das in Bezug auf die Impfungen heißt.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Wir wissen auch nicht, wie sich sonst die Dinge noch weiter entwickeln werden. Angesichts dieser dynamischen Lage beschleicht einen doch der Verdacht, dass leider in diesem Land, in dem eigentlich evidenzbasierte Politik nötig wäre, unglücklicherweise Hybris regiert, Herr Ministerpräsident.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wie auch schon mehrfach gesagt worden ist, hat der Expert*innenrat Ihnen immer wieder Vorsorge ins Stammbuch geschrieben. Immer wieder hat er vorsorgende Politik angemahnt. In seiner 1. Stellungnahme hat er bereits eine Teststrategie gefordert. Da war in dieser Landesregierung das Wissen um Testungen noch nicht so weit verbreitet.

(Armin Laschet, Ministerpräsident: Stimmt doch gar nicht!)

An der Stelle haben Sie auch nicht zugehört.

Dann ist immer wieder Kommunikation angemahnt worden. Kollege Mostofizadeh hat vorhin schon einmal darauf hingewiesen, wie wichtig Kommunikation in dieser Krise gewesen wäre, und zwar funktionierende Kommunikation. Sie, Herr Ministerpräsident, haben aber gemeinsam mit der Landesregierung immer wieder Belege dafür geliefert, wie man es gerade nicht machen sollte und wie man durch mangelhafte Kommunikation, durch schlechte Kommunikation die Menschen in einer Lage, in der sie eine verlässliche Landesregierung gebraucht hätten, noch zusätzlich verunsichert.

(Beifall von den GRÜNEN und Sarah Philipp [SPD])

Die Frage der Digitalisierung ist angesprochen worden. Auch da passiert viel zu wenig. Das gilt auch für die Digitalisierung der Gesundheitsämter, die Digitalisierung unserer Schulen und die Digitalisierung der kommunalen Verwaltung insgesamt.

Zuletzt hat der Expert*innenrat noch einmal angemahnt, die Kinder und Jugendlichen wirklich in den Blick zu nehmen und nicht nur immer davon zu reden.

Herr Familienminister, Sie regen sich immer auf, wenn wir kritisieren, dass Ihr Krisenmanagement an dieser Stelle schlecht gewesen ist. Ja, Herr Minister Stamp, das Krisenmanagement war an dieser Stelle schlecht.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Das war toll!)

– Nein, es war nicht toll.

(Beifall von den GRÜNEN)

Einfach nur zu behaupten, es wäre toll gewesen, hat den Kindern und Jugendlichen gar nichts gebracht. Es hat ihnen ein verlorenes Jahr gebracht. Das ist Ihre Verantwortung, Herr Laschet.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass wir Vorsorge treffen.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Der Ministerpräsident hat jetzt nicht das Virus erfunden!)

– Nein, der Ministerpräsident hat nicht das Virus erfunden. Es wäre aber gut gewesen, wenn diese Landesregierung eine Strategie erdacht hätte, wie man gut mit diesem Virus umgehen kann.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

In mehr als 15 Monaten wäre dazu Zeit gewesen. Diese Zeit dürfen Sie jetzt angesichts der Sommerferien nicht wieder verstreichen lassen.

(Beifall von den GRÜNEN und Sarah Philipp [SPD])

Ich lasse mir von Ihnen, Herr Stamp, auch nicht immer unterstellen, dass jede Form der berechtigten Kritik unseriös wäre.

(Zuruf von Matthias Kerkhoff [CDU])

Das ist eine Art und Weise, in der man politisch nicht miteinander umgeht.

(Zuruf von der CDU: Auf der ganzen Welt ist es nicht besser gelaufen als in Nordrhein-Westfalen!)

Deshalb haben wir immer wieder angemahnt, Herr Laschet: Lassen Sie uns gemeinsam mit den Parlamentarierinnen und Parlamentariern und dem Expertenrat Maßnahmen diskutieren.

(Henning Rehbaum [CDU]: Wo ist es denn besser gelaufen?)

Lassen Sie uns gemeinsam evidenzbasiert und von der Wissenschaft beraten abwägen, wie man das macht.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Sie haben gerade in Ihrer Rede gesagt: Ich habe meinen Expertenrat, und Sie haben Ihr Begleitgremium. – Offensichtlich haben Sie kein Interesse an dieser gemeinsamen Befassung und einer notwendigen gemeinsamen Bewältigung der Pandemie.

(Zuruf von Armin Laschet, Ministerpräsident)

Das ist schade. Wir brauchen doch jetzt das Gemeinsame, damit wir gemeinsam Strategien finden, hier durchzukommen. Es wäre jetzt an der Zeit, den Expertenrat wieder einzusetzen und mit dem Parlament zu verzahnen, damit wir alle gemeinsam daran arbeiten, wie aus einem guten Sommer ein guter Herbst wird und wie wir aus der Pandemie gemeinsam herauskommen können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aus dieser Verantwortung können Sie sich doch nicht herausstehlen. Die Vorbereitung auf steigende Zahlen ist eine Frage an Sie. Es ist nicht zuletzt auch eine Frage an die Schulministerin, damit Schülerinnen und Schüler auch in Präsenz nach den Ferien wieder in die Schulen kommen können. Dafür brauchen wir jetzt die Vorbereitungen. Da sind die Luftfilter auch eine Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.

(Zuruf von Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung)

Wenn sich in der letzten parlamentarischen Debatte Frau Ministerin Scharrenbach hier hinstellt und sagt, Schulen seien sichere Orte, und die Kommunen könnten doch machen, was sie wollten, dann ist das wieder ein Davonstehlen aus Verantwortung. Sie lassen die Kommunen wieder dort alleine, wo sie die Unterstützung des Landes brauchen, damit sie die Schulen zu sicheren Orten machen können. Wir können nicht einfach nur behaupten, dass sie sichere Orte wären.

(Beifall von den GRÜNEN und Christian Dahm [SPD])

Dementsprechend ist es so wichtig, dass dieser Expertenrat weiterhin tagt und sein Fachwissen weiterhin einbringt. Denn wir sehen doch, dass die Lage dynamisch ist. Wir sehen an der Krisenpolitik dieser Landesregierung, wie wichtig es wäre, dass sie sich wissenschaftlich beraten lässt.

Noch wichtiger ist aber neben der eigentlichen Beratung, dass man zuhört und seine Schlüsse daraus zieht – und nicht, wie Kollege Kutschaty gerade gesagt hat, immer nur dann auf die Expertinnen und Experten hört, wenn es der eigenen Sicht nutzt.

Wir brauchen kein Stochern im Nebel. Wir brauchen jetzt Weitsicht. Das hat Ihnen der Expertinnen- und Expertenrat immer wieder aufgeschrieben. Halten Sie sich daran, und nutzen Sie weiterhin das Fachwissen dieser Leute, damit wir gut durch die Krise kommen und aus der Krise herauskommen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsident André Kuper: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Direkt dazu der Ministerpräsident. Bitte schön.

Armin Laschet, Ministerpräsident: Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Paul, wir können das gern so weitermachen. Sie haben gerade gesagt, der Ministerpräsident sei schuld an einem verlorenen Jahr der Jugend. Das können wir so weitermachen. Herr Krischer hat gestern gesagt, ich sei verantwortlich für die Toten in Kanada.

(Zurufe von der FDP)

Ich bitte die grüne Fraktion in diesem Landtag, diese unglaubliche Methodik, die ich nur von anderen in diesem Landtag kenne, im Umgang miteinander einzustellen!

(Beifall von der CDU und der FDP – Josefine Paul [GRÜNE]: Das ist doch lächerlich! Das habe ich so nicht behauptet!)

Wir können über die Sachfragen der Pandemie reden. Natürlich sind in 15 Monaten Fehler gemacht worden. Aber zu glauben, das sei solitär in Nordrhein-Westfalen durch eine einzige Person – mich oder auch den stellvertretenden Ministerpräsidenten und die Schulministerin – und anders als sonst irgendwo in Deutschland erfolgt und das sei alles eine parteipolitische Frage, ist zu banal.

Die CDU in verschiedenen Landtagen steht manchmal in der Gefahr, so daherzureden, wie Sie das hier tun. Ich sage den Kollegen: Lasst das. Macht daraus nicht dieses parteipolitische Klein-Klein.

Die Debatten, die Sie gegen diese Schulministerin führen, führt jede Opposition in Deutschland gegen die jeweilige der 16 Schulministerinnen. Das kann man im normalen Spiel machen. Das ist auch bei allen anderen Tagesordnungspunkten Ihre Methodik.

Meine Bitte an Sie ist: Nehmen Sie die Pandemie, die Bekämpfung einer weltweit grassierenden Krankheit, aus Ihrem Pepita-Klein-Klein der persönlichen Parteipolitik heraus und machen das hier nicht weiter.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das ist eine kleine Bitte – eine Bitte und nicht mehr.

Dann haben Sie gesagt – darauf will ich antworten, Herr Kollege Kutschaty –, ich würde die Stellungnahmen nur dann zitieren, wenn sie mir passten. Die Stellungnahmen habe ich nicht immer in allem geteilt. Es ist ja keine offizielle Stellungnahme der Staatskanzlei. Ich wollte, dass die Experten auch einmal etwas Kontroverses sagen. Ich wollte vor allem nicht, dass jede Stellungnahme der Experten überall in Deutschland folgendermaßen gelesen wird: Typisch Laschet! Jetzt geht es wieder so. Hier macht er wieder dieses oder jenes. Das ist nicht der Konsens der Ministerpräsidenten. – Nein, sie sollen das aufschreiben, was sie für richtig halten.

Insofern habe ich manches geteilt und manches nicht geteilt. Ich habe Ihnen hier vorgetragen, was ich geteilt habe. Das war dann der offizielle Teil. So muss man auch mit Wissenschaft umgehen, finde ich.

(Verena Schäffer [GRÜNE]: Der offizielle Teil? – Zuruf von Sven Wolf [SPD])

Das kann keine ressortabgestimmte Stellungnahme sein, auch wenn dann jeder immer versucht hat, zu sagen: Oh, jetzt sagt Frau Woopen so, aber Herr Laschet sagt so; Dissens. – Ja, Gott sei Dank Dissens!

(Sarah Philipp [SPD]: Warum haben Sie denn nicht darauf gehört?)

Ich stimme selten – eigentlich nie – der AfD zu. Aber Sie haben heute einen wahren Satz gesagt: Immer, wenn jemand ankommt und sagt, „die Wissenschaft“ sage das und das, ist man klug beraten, zu hinterfragen, was dieser gerade im Schilde führt. Denn die Wissenschaft hat immer auch Mindermeinungen, und wenn es nur ein Einzelner ist.

(Sarah Philipp [SPD]: Ist das Ihr Ernst?)

Deshalb ist wissenschaftlicher Diskurs mehr als parteipolitisches Inanspruchnehmen. Deshalb werbe ich dafür, das weiter zu tun.

Eine letzte Bemerkung zur 4. Stellungnahme.

(André Stinka [SPD]: Peinlich! – Weitere Zurufe von der SPD)

– Haben Sie da Widerspruch? Sehen Sie das nicht so?

(Sarah Philipp [SPD]: Dass Sie der AfD zustimmen, nein, das sehe ich nicht so!)

Dann kommen Sie bitte nach vorne und erklären Ihr Wissenschaftsverständnis, dass Wissenschaft immer 100 % eine Meinung hat. Sie haben den Kern von Wissenschaft nicht verstanden, wenn Sie das ernsthaft glauben, Frau Philipp. Sie haben ihn nicht verstanden.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sie lebt vom Gegensatz.

(Zurufe von der SPD)

Sie passt nicht in Ihre parteipolitischen Schemen.

(Weitere Zurufe von der SPD)

Die Wissenschaftler selbst,

(Jochen Ott [SPD]: Also, so was! Unwürdig!)

auch die Virologen, haben gesagt: Wir leben in der Wissenschaft davon, dass man auch einmal etwas Unterschiedliches sagen kann.

Das Problem vieler Wissenschaftler war, dass sie in eine mediale Auseinandersetzung hineingezogen wurden, ob sie für diesen oder jenen sind. Ihr eigentliches Leben ist davon gespeist, dass es Gegensätze gibt. Dann ist es möglich, dass Herr Lauterbach plötzlich sagt: Herr Streeck hatte recht. – Unfassbar! Herr Streeck war doch eigentlich für viele ein Feindbild. Dann sagt Herr Lauterbach, er hatte in dieser Frage recht und in einer anderen Herr Drosten und in einer dritten Frau Brinkmann.

Ich finde das erfrischend. Das passt nicht in Ihre kleinen parteipolitischen Klischees.

(Sarah Philipp [SPD]: Quatsch, was Sie erzählen! – Christian Dahm [SPD]: Was soll der Unsinn?)

Aber es ist gut für die Debatte in einer freien Gesellschaft in Deutschland, wenn Wissenschaftler so argumentieren.

(Beifall von der CDU, der FDP und Dr. Martin Vincentz [AfD])

Eine letzte Bemerkung: Diejenigen, die wir für die virologische Beratung bezüglich der Delta-Variante brauchen, sind alle noch da. Die werden auch weiter Rat geben. Es sind übrigens nicht nur die, die in dem Expertenrat sind.

Die Kernfrage, wie wir mit der potenziellen vierten Welle umgehen, habe ich beantwortet. Dazu liegt alles auf dem Tisch. Dazu brauchen wir keine neuen Erkenntnisse. Das ist abschließend beschrieben, und wir müssen uns nur noch daran halten.

Wir wissen nicht, ob die vierte, die fünfte oder die sechste Welle kommt. Es wird weitere Coronaviren geben – möglicherweise die ganzen nächsten Jahre. Möglicherweise werden sich Bakterien und Viren aufgrund des Klimawandels und einer erhöhten Tempe­ratur völlig anders verbreiten, als wir es gewohnt sind.

In Südamerika gibt es bereits durch Mücken übertragene Kinderkrankheiten, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Wir werden in ein Jahrzehnt gehen, in dem wir mit solchen Risiken leben müssen.

(Bodo Löttgen [CDU]: So ist es!)

Deswegen ist wissenschaftliche Erkenntnis über die neuen, die vierten, fünften, sechsten Variationen wichtig. Aber die Grundlage, auf der man handelt, wie man damit umgeht, ist in den sechs Berichten sehr gut beschrieben.

Wenn man solche Persönlichkeiten zeitlich sehr in Anspruch nimmt, dann muss man irgendwann einmal sagen: Der Zeitraum ist jetzt beendet. Wir hören euch weiter gerne, aber wir nehmen euch nicht mehr in die Pflicht, ständig an unseren Sitzungen teilzunehmen.

Wenn Sie diese Leute nämlich zu Dauermitarbeitern machen, dann finden Sie irgendwann keine Experten mehr, die bei einem befristeten Projekt mitmachen. Deshalb ist nun der richtige Zeitpunkt, den zwölf Dank zu sagen und ab jetzt individuell auf die Experten zuzugreifen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Damit es gleich keine Irritationen oder Nachfragen gibt: Wir befinden uns noch in der zweiten Runde der Aussprache zur Aktuellen Stunde. Deshalb hat jetzt Herr Dr. Vincentz für die AfD-Fraktion das Wort.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich werde mir den Tag im Kalender markieren, an dem mich der wahrscheinlich nächste Bundeskanzler in einer Debatte zitiert hat. Ich muss ja nicht verraten, wer es war.

(Sarah Philipp [SPD]: Super hinbekommen! – Christian Dahm [SPD]: Das ist der Punkt! Gut gemacht! Unglaublich! – Zuruf von der CDU: Wo ist das Problem?)

Genau das, was Sie gerade angesprochen haben und was ich nur unterstreichen kann, ist einer der zentralen Punkte.

Sie, Herr Ministerpräsident, verstecken sich hinter den anderen 15 Ministerpräsidenten. Genau das, was Sie eigentlich vernünftig ausgeführt haben, dass Wissenschaft ein Vielklang ist, würde voraussetzen – so würde ich es von einem Kanzler erwarten –,

(Unruhe – Glocke)

dass Sie sich gerademachen und sagen: Die anderen mögen das so machen, ich mache es anders. In Nordrhein-Westfalen fahren wir eben einen anderen Kurs.

So kann man auch die letzte Stellungnahme des Expertenrates lesen. Das ist nicht nur unbedingt eine Perspektive nach vorne, das kann genauso als Kritik, wie es bisher gelaufen ist, gelesen werden.

Ich habe an dieser Stelle häufiger kritisiert, dass die mathematischen Modelle doch schon lange falsch lagen. Jetzt ruft Sie der Expertenrat dazu auf, diesen nicht noch weiter zu folgen, in den Herbst, in den Winter. Genau das wird hier postuliert. Man kann das genauso auch als Blick nach hinten verstehen.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich im April Anrufe von einem Chefarzt, einem Mathematikprofessor, einem Laborleiter bekommen habe, die mich allesamt eines fragten: Herr Vincentz, was ist denn mit der Saisonalität? Warum reagiert die Politik nicht darauf?

Ich sagte: Professor Streeck war im Ausschuss. Er hat uns allen das auch erzählt, eigentlich müsste das bekannt sein. Aber wir haben hier einen Ministerpräsidenten und keinen Kanzler. – Der hätte das nämlich anders gemacht.

5. Mai: Knapp 100 Forscher fordern in ihrem Positionspapier zur Bildungspolitik in der Coronakrise mehr Tempo bei den Schulöffnungen. – Das passiert aber nicht.

Im Mai 2020: Wissenschaftler der Stanford University um den Gesundheitswissenschaftler Professor Dr. Ioannidis kommen zu dem Ergebnis, dass COVID-19 deutlich weniger gefährlich sei als bislang angenommen und stellen die Verhältnismäßigkeit von Lockdowns infrage. – Unsere längsten Lockdowns stehen da tatsächlich noch aus.

Am 12. Juni berichtet das „Deutsche Ärzteblatt“ mit Blick auf die Ct-Werte über eine Studie des britischen „Medical Journal“, derzufolge 70 % aller positiv Getesteten nicht ansteckend seien. – Wir haben daraufhin beantragt, diese Ct-Werte in den Blick zu nehmen. Der Antrag wurde abgelehnt.

13. Juli: Eine Studie der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität Dresden widerlegt die These, Kinder seien Virenschleudern. Studienleiter Reinhard Berner sagt: Kinder wirken eher als Bremsklötze der Infektion; nicht jede Infektion, die bei ihnen ankommt, wird auch weitergegeben. – Die AfD-Forderung nach Öffnung der Schulen wird mehrfach abgelehnt.

13. Juli: Die Universitätsklinik Düsseldorf legt das Ergebnis einer Kita-Studie vor. In fast 35.000 Proben wurde nur eine Infektion bei einem Kind gefunden. – Die Forderung der AfD, Kitas offenzuhalten, wird mehrfach von Ihnen abgelehnt.

1. August: Eine Studie des National Bureau of Economic Research kommt zu dem Schluss, dass Lockdowns weltweit keine wesentliche Rolle bei der Eindämmung des Virus gespielt haben. – Wenig später startet Deutschland in den nächsten Lockdown.

4. Oktober: In der Great Barrington Declaration wird mit mehreren Tausend Wissenschaftlern – teilweise von Weltruf – dazu aufgerufen, mehr die negativen Folgen des Lockdowns in den Blick zu nehmen. – Auch das unterbleibt.

22. November: Professor Dr. Matthias Schrappe, der seinerseits lange die Bundesregierung beraten hat, und acht weitere Kollegen veröffentlichen ein Thesenpapier. Ein Strategiewechsel sei unvermeidlich. – Was passiert? – Man zieht die Strategie einfach weiter durch.

Februar 2021: Verschiedene Aerosolforscher, darunter Gerhard Scheuch, sehen in verschiedenen Arbeiten de facto eine vernachlässigbare Gefahr, sich an der frischen Luft zu infizieren. – Was passiert? – Lange nichts.

Am 3. März kehrt Texas tatsächlich zur absoluten Normalität zurück. Bei einer landesweiten Sieben-Tage-Inzidenz von 173 strich Gouverneur Greg Abbott von Maskenzwang über Kundenbeschränkungen bis hin zum Verbot von Großveranstaltungen einfach alles. – Ich muss sagen: ein gewagtes Experiment. Was ist passiert? Steigende Fallzahlen im Sommer? – Nein, Fehlanzeige!

Mai 2021: Der 16. Bericht der CODAG-Gruppe der LMU München sieht keinen statistischen wesentlichen Effekt der Bundesnotbremse. – Trotzdem wird die Bundesnotbremse auch in diesem Haus als Erfolg mehrfach gelobt; es steht alles im Protokoll.

Im Juni kommt der 17. Bericht der CODAG-Gruppe der LMU München nach umfangreicher Datenanalyse zu dem Schluss, dass Hospitalisierungen von Kindern nach Unfällen im Straßenverkehr noch deutlich höher liegen als zu jedem Zeitpunkt wegen COVID-19 und dass Infektionen in der Schule keine wesentliche Rolle spielen.

Am 1. Juli wird der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Gassen in mehreren Medien zitiert: Panikmache, Irrationalität und Inzidenzgläubigkeit in der politischen Diskussion bestimmen die Diskussionen rund um die Delta-Variante. – Auch das haben wir heute Morgen hier wieder gehört. Der arme Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wird an dieser Stelle überhört.

Die STIKO bleibt bei ihrem Nein zu einer allgemeinen Empfehlung zur Impfung von Kindern. – Auch das wird hier mehrfach anders gefordert.

Diese Aufzählung könnte ich beliebig verlängern oder in detailreicher Art noch weiter aufschlüsseln. Das zeigt ganz deutlich, dass die Politik auf Daten aus der Wissenschaft eher im Einzelfall gehört hat und es keinen fest eingestellten Mechanismus dafür gibt.

Die Auflösung des Expertenrats ist daher nur folgerichtig. Traurig, ja! Schade, ja! Bedauerlich, ja! Aber was nützt der Rat der Experten, wenn er dann durch Lobbygruppen, medialen Druck und politische Zwänge völlig ausgehebelt wird?

Es gibt viele Dinge, die wir noch nicht wissen, aber ich befürchte, diese Erkenntnisse werden bei Ihnen tatsächlich nicht ankommen. Den Expertenrat hier zu kritisieren, ist falsch. Aber ich würde behaupten, noch falscher ist es, einen Expertenrat erst einzuberufen und dann nicht auf ihn zu hören. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Damit ist die zweite Runde beendet. Herr Kutschaty hat in der dritten Runde für die SPD-Fraktion um das Wort gebeten.

Thomas Kutschaty*) (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte mich eigentlich gar kein weiteres Mal melden,

(Vereinzelt Beifall von der FDP – Zuruf von Helmut Seifen [AfD])

aber Ihr letzter Redebeitrag, Herr Laschet, zwingt mich doch, noch einmal ans Redepult zu gehen.

(Helmut Seifen [AfD]: Lassen Sie es lieber!)

Was Sie mit Ihrem letzten Wortbeitrag gemacht haben, war ein absoluter Tabubruch in diesem Parlament, Herr Laschet.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Sie haben sich mit Ihrem Redebeitrag gerade zum Kronzeugen der AfD gemacht.

(Christian Dahm [SPD]: So ist es! – Dr. Martin Vincentz [AfD]: Quatsch! – Weitere Zurufe von der CDU und der SPD)

Dass Sie Herrn Vincentz zugestimmt und geäußert haben: „Wer weiß denn schon, was der einzelne Wissenschaftler möglicherweise im Schilde führt“, ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Das war schlecht für unsere Demokratie, Herr Laschet.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Helmut Seifen [AfD]: Hören Sie bitte auf! – Weitere Zurufe)

Wir haben es hier mit einer Partei zu tun, die die Gefährlichkeit von Corona in weiten Teilen leugnet, die der parlamentarische Arm der Querdenker und Coronaleugner ist. Von solch einer Partei muss man sich distanzieren.

Ich darf Ihnen deutlich sagen: Wir werden der Coronapolitik und den Positionen der AfD in keinem einzigen Punkt zustimmen.

(Zuruf von Roger Beckamp [AfD])

Sie wären gut beraten, das auch zu tun, Herr Laschet, und das klarzustellen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zurufe von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kutschaty. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Löttgen.

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Unverschämtheit! – Zuruf von der CDU: So kommen Sie nicht über 20 %! 18 %, 15 %! – Zurufe von CDU und FDP – Armin Laschet, Ministerpräsident: Schäbig seid Ihr, charakterlich! – Unruhe – Glocke)

Bodo Löttgen (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Aufregung hat die letzte Wortmeldung des Fraktionsvorsitzenden der SPD, Thomas Kutschaty, deutlich gemacht,

(Christian Dahm [SPD]: Dass sie richtig ist!)

warum diese Aktuelle Stunde von Bündnis 90/Die Grünen und SPD wirklich initiiert wurde. Sie sollte als parteipolitisches Instrument in einem Wahlkampf dazu dienen,

(Zurufe von Verena Schäffer [GRÜNE] und Armin Laschet, Ministerpräsident)

Ihre gebetsmühlenartig vorgetragene Kritik an dieser Landesregierung zum Ausdruck zu bringen, an allen Maßnahmen, an dem, was angeblich zu wenig, zu viel oder nicht funktioniert haben soll.

(Zurufe von Lisa-Kristin Kapteinat [SPD] und Josefine Paul [GRÜNE])

Das war der eigentliche Grund für diese Aktuelle Stunde und nichts anderes.

Schauen wir uns die einzelnen Wortmeldungen an. Sehr geehrter Herr Kutschaty, das, was Sie gerade dem Ministerpräsidenten hier unterstellt haben, ist schlicht und einfach schäbig, ist politisch unanständig.

(Beifall von der CDU, der FDP und Dr. Martin Vincentz [AfD])

Äußerungen, die an diesem Rednerpult fallen – ganz gleich, ob von Ihnen, ob von der CDU, der FDP, von Bündnis 90/Die Grünen oder von der AfD –, können sehr wohl genommen werden, um in einen politischen Diskurs gestellt zu werden. Nichts anderes hat der Ministerpräsident getan – Punkt.

(Christian Dahm [SPD]: Hat er nicht getan!)

Dass Sie aber auch das wieder nutzen, um daraus irgendetwas zu konstruieren, Hauptsache gegen diesen Ministerpräsidenten, Hauptsache gegen diese Landesregierung,

(Christian Dahm [SPD]: Nee!)

Herr Kutschaty, das ist – Armin Laschet hat es gesagt – so kleines Karo, das kann ich schon gar nicht mehr sehen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Christian Dahm [SPD]: Nee, nee!)

Deshalb bin ich der Kollegin Kapteinat sehr dankbar, dass sie hier einen wahren Satz gesagt hat. Den finde ich klasse, Frau Kapteinat. Sie haben gesagt: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, die letzten zwei Monate Ihrer Tätigkeit … – Danke, dass auch Sie davon ausgehen, dass Armin Laschet der nächste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wird.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP – Zuruf von Lisa-Kristin Kapteinat [SPD])

Ich muss ehrlich sagen: Herzlichen Dank dafür.

(André Stinka [SPD]: Das glauben Sie selbst nicht! – Zuruf von Verena Schäffer [GRÜNE])

Dass Sie den Wahlkampf schon lange aufgegeben haben, das merkt man tatsächlich. Deshalb ist das toll.

Wenn ich alles zusammenfasse …

(Lisa-Kristin Kapteinat [SPD]: Soll ich davon ausgehen, dass das nicht stimmt? – Zurufe von der CDU)

– Ich habe es ja nicht gesagt, Frau Kapteinat. Sie haben das gesagt. Damit müssen Sie leben. Dafür müssen Sie sich innerhalb der SPD rechtfertigen, nicht ich an diesem Rednerpult.

(Unruhe – Glocke – Lisa-Kristin Kapteinat [SPD]: Herr Laschet hat gesagt, er geht nach Berlin, auch wenn er verliert!)

Das Tollste aus den Wortmeldungen von Frau Paul und auch von Herrn Kutschaty kann man in einem Satz zusammenfassen: Wir wissen nicht, was in der Zukunft passiert, aber im Nachhinein wissen wir alles besser. – Genau das tragen Bündnis 90/Die Grünen und die SPD hier permanent vor.

(Beifall von der CDU)

Meinen Dank für die sechs Berichte, die teilweise inhaltsschwer sind und die sehr gut gelesen werden müssen, habe ich bereits am Mittwoch hier ausgedrückt.

Ich will Ihnen eines sagen: Es gibt darüber hinaus sehr viele Stellen, an denen wir uns über Corona informieren können. Eines davon – häufig unterschätzt, sehr wenig, glaube ich, gelesen – ist das Bundesinstitut für Risikobewertung. Es veröffentlicht jede Woche einen Bericht zu Corona, einen Corona-Monitor.

In der neuen Ausgabe seines Wissenschaftsmagazins – da sind wir wieder bei der Wissenschaft – beschäftigt es sich im Schwerpunkt mit dem Thema „Angst und Corona“. Ich will einen Satz von Professor Wolfgang Freitag, Professor für Theoretische Philosophie und Sprachphilosophie an der Universität Mannheim, ans Ende stellen; denn ich glaube, das ist die Quintessenz von allem. Er plädiert dafür, „den Experten nicht alles zu überlassen, insbesondere nicht die Bewertung der Zukunft.“ – Danke.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Löttgen. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann schließen wir gemeinsam die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 1, der Aktuellen Stunde.

Ich rufe auf:

2  Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration in Nordrhein-Westfalen (Teilhabe- und Integrationsgesetz TIntG)

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/14243

erste Lesung

Zur Einbringung des Gesetzentwurfes hat jetzt für die Landesregierung Herr Minister Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Auseinandersetzung mit der Sachpolitik kann vielleicht atmosphärisch hier wieder etwas Positives bewirken.

Ich darf daran erinnern: Am 19. Juni 2021 jährte sich die Integrationsoffensive des nordrhein-westfälischen Landtags zum 20. Mal. Sie ist der sichtbare Ausdruck eines lange andauernden parteiübergreifenden Konsenses in der Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen.

Wir legen heute einen Gesetzentwurf vor, der ein Meilenstein für die Integrationspolitik in Deutschland ist. Ich würde mich freuen, wenn wir im Geiste des Integrationskonsenses die Beratung dieses Gesetzentwurfes vornehmen und ihn am Ende vielleicht gemeinsam – diejenigen, die in diesem Hause an einer positiven Gestaltung der Integration in Nordrhein-Westfalen interessiert sind – beschließen könnten.

Die NRW-Koalition hat sich von Anfang an dazu bekannt, die Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen noch verlässlicher und verbindlicher zu machen. Auf diesem Weg zu einem Mehr an gelungener Integration, zu mehr Teilhabe, zu mehr individueller Chancengerechtigkeit setzen wir heute diesen wichtigen Meilenstein, die Neufassung des Teilhabe- und Integrationsgesetzes.

Wir schaffen damit das modernste Integrationsrecht in Deutschland. NRW wird so erneut seiner bundesweiten Vorreiterrolle in der Integrationsgesetzgebung gerecht.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir im Wesentlichen folgende Zielstellungen: die Fortentwicklung eines positiv konnotierten integrationspolitischen Leitbildes für das Einwanderungsland Nordrhein-Westfalen, die Stärkung der integrationspolitischen Infrastruktur insbesondere in den Kommunen sowie den Ausbau und die Vernetzung aller maßgeblichen integrationspolitischen Akteure zur Umsetzung von Integration als Querschnittsaufgabe.

Das klingt jetzt sehr technisch, aber das, was wir hier auf den Weg bringen, ist die Absicherung der vom Land unterstützten Integrationsinfrastruktur vor Ort – langfristig, gesetzlich und mit einer Summe von mindestens 130 Millionen Euro im Gesetz hinterlegt.

Wir schaffen damit vor allem eines: Dort, wo Integration stattfindet, in den Kommunen, gibt es endlich Planungssicherheit. So kann die „Projekteritis“ aufhören, die oft dazu führt, dass nicht die geeigneten Personen für die jeweiligen Jobs in den Projekten zu bekommen sind, weil die Befristung so knapp ist. Hier schaffen wir eine dauerhafte Perspektive. Wir schaffen Planungssicherheit und sorgen damit für eine neue Qualität.

Das heißt nicht, dass es nicht auch weiter Projekte geben muss. Projektförderung hat immer mit Innovation zu tun. Entscheidend ist, dass das, was sich als erfolgreich herausgestellt hat, in langfristige Strukturen kommt.

Das geschieht bei den Kommunalen Integrationszentren, beim kommunalen Integrationsmanagement, aber auch bei den Integrationsagenturen. Hier haben wir die Chance, mit Steuerung aus dem Land heraus die Kommunen beratend so zu unterstützen, dass eine echte vernetzte Arbeit vor Ort möglich ist, und zwar dauerhaft und effizient.

Die aktuellen Debatten um Diskriminierung, Antisemitismus, Antiziganismus und jede Form von Rassismus, das betrifft auch antimuslimischen Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, zeigen, dass Nordrhein-Westfalen mit diesem Gesetz auf dem richtigen Weg ist.

Mehr denn je muss ein rechtlicher Rahmen für ein gedeihliches, respekt- und friedvolles Zusammenleben aller Menschen in Vielfalt geschaffen werden. Diesen Rahmen setzen wir jetzt. Damit engagieren wir uns noch stärker als bisher gegen jede Form von Diskriminierung.

Es ist uns wichtig, den deutlichen Auftrag an die Behörden des Landes zu formulieren, einen umfassenden gesellschaftlichen und politischen Prozess von Begegnung und Austausch aller Menschen zu gestalten. Unsere Strategie richtet sich nicht nur an die Menschen mit Einwanderungsgeschichte, sondern an alle in unserer Gesellschaft.

Weder die Herkunft, die Religion oder Weltanschauung, das Alter, die soziale Lage noch die sexuelle bzw. geschlechtliche Identität oder eine Behinderung dürfen die Realisierung von Chancen- und Teilhabegerechtigkeit erschweren.

Gegenwart und Zukunft von rund 5,3 Millionen Menschen mit einer Einwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen gehen uns alle an. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Lassen Sie uns heute gemeinsam den ersten Schritt auf dem Weg zu einem neuen Meilenstein und damit zu mehr Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in der nordrhein-westfälischen Integrationspolitik gehen. Lassen Sie uns gemeinsam und offen diskutieren. Wir sind auch bei diesem Thema offen für konstruktive Vorschläge zur Weiterentwicklung.

Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss und im Parlament. – Haben Sie herzlichen Dank.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank für die Einbringungsrede, Herr Minister Dr. Stamp.

Der Minister hat die Redezeit der Landesregierung um 1 Minute und 15 Sekunden überzogen. Die Fraktionen erhalten diese zusätzliche Redezeit selbstverständlich auch.

Damit kann ich die Aussprache eröffnen. Für die CDU-Fraktion hat Frau Kollegin Wermer das Wort.

Heike Wermer (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Minister hat es schon angesprochen: Vor knapp 20 Jahren wurde mit einer fraktionsübergreifenden Integrationsoffensive ein erster Schritt in Richtung des nun vorliegenden Entwurfs für ein novelliertes Teilhabe- und Integrationsgesetz in Nordrhein-Westfalen vollzogen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bekennen sich die Landesregierung und die NRW-Koalition zum nordrhein-westfälischen Integrationskonsens. Der vor 15 Jahren vorgestellte „Aktionsplan Integration“ des damaligen ersten Integrationsministers Armin Laschet hat einen maßgeblichen Beitrag zur Integration geleistet.

Unser heutiger Ministerpräsident hat schon damals erkannt, wie wichtig es ist, Integration und Teilhabe sowie Migration und Asyl als eine Querschnittsaufgabe zu verstehen. Der vorliegende Gesetzentwurf orientiert sich an diesen Ideen und novelliert aus einem Modernisierungsgedanken heraus die bisher geltende Rechtslage aus dem Jahr 2012.

Die CDU sieht Integrationspolitik als eine Querschnittsaufgabe und als eine große Chance, im Bereich „Zuwanderung, Integration und Teilhabe“ Politik aus einem Guss machen zu können, die sich auf der einen Seite an den Bedürfnissen der Menschen mit Einwanderungsgeschichte orientiert, aber auf der anderen Seite auch die Kommunen und Behörden unterstützt und dort Kompetenzen verstärkt.

Deshalb ist es notwendig, die Arbeit in der Breite durch eine verlässliche und optimierte Infrastruktur zu verstärken und zu unterstützen. Dazu gehört es auch, die kommunale Integrationsinfrastruktur finanziell auf verlässliche Beine zu stellen, zum Beispiel das kommunale Integrationsmanagement, die Kommunalen Integrationszentren, die Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege und der Migrantenselbstorganisationen sowie die Antidiskriminierungsstellen.

Bereits in der Integrations- und Teilhabestrategie 2030 wurden wichtige Wegweiser gesetzt, um diejenigen Zugewanderten zu fördern, die hier in Deutschland bzw. in NRW leben dürfen und weiterhin leben wollen. Hieran wird nach einer Evaluation angeknüpft.

Der vorliegende Gesetzentwurf betont die große Bedeutung der Integrations- und Teilhaberechte als Teile dieser Querschnittsaufgabe. Er berücksichtigt dabei die vielen daran beteiligten Akteure auf kommunaler und Landesebene. Vor allem baut er auf den vier Säulen der Integrationspolitik der NRW-Koalition auf. Das sind Sprache, Bildung, Arbeit und Wertevermittlung.

Der Entwurf einer Novellierung des Teilhabe- und Integrationsgesetzes verbindet zwei politische Werkzeuge:

Erstens. Die Kooperation steht im Vordergrund. Das bedeutet: Vernetzung verschiedener Akteure, um an einem Strang zu ziehen. Dabei arbeitet das Land eng mit den Kommunen zusammen. Das ist richtig, denn bei dieser wichtigen Aufgabe müssen alle relevanten Akteure mitgenommen werden: von den Ausländerbehörden über die Freie Wohlfahrtspflege bis hin zu den vielfältigen Migrantenselbstorganisationen. Ziel ist unter anderem die Ermutigung von Zugewanderten, sich in ihrer neuen Heimat zu engagieren. Hierfür bedarf es der notwendigen Steuerungskonzepte.

Zweitens geht es um die Koordination der Politik in den Bereichen „Teilhabe“ und „Integration“. Die drei Zieldimensionen der Integrations- und Teilhabestrategie 2030 – das Ankommen vorbereiten, die Teilhabemöglichkeiten steigern und die Mitarbeit an unserer Gesellschaft ermöglichen – sind dabei ein wichtiger Anker.

Mit dem kommunalen Integrationsmanagement sollen passgenaue Lösungen vor Ort gefunden und dabei Strukturen für diese drei Schritte aufgebaut werden. Das novellierte Gesetz sorgt dabei für Verbindlichkeit und die notwendige Verlässlichkeit. Dafür stehen sinnbildlich die Verstärkung der Antidiskriminierungsarbeit in der Fläche, aber auch die erste Legaldefinition des Integrationsbegriffs.

Mit dem novellierten Teilhabe- und Integrationsgesetz werden Mängel behoben und die Praxistauglichkeit für die aktuellen Rahmenbedingungen ausgeweitet. Mit einer Modernisierung werden unsere Prinzipien der Humanität und Ordnung in Recht geformt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich freue mich auf die Beratung im Integrationsausschuss. Einer Überweisung stimmen wir selbstverständlich zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Wermer. –Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Yetim.

Ibrahim Yetim (SPD): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Dass Nordrhein-Westfalen zum integrationspolitischen Vorreiter in Deutschland geworden ist, haben wir der fraktionsübergreifenden Integrationsoffensive aus 2001, dem „Aktionsplan Integration“ aus 2006 und dem Teilhabe- und Integrationsgesetz aus 2012 zu verdanken.

Mit diesem Gesetz haben 2012 auf Vorschlag der damaligen Landesregierung und des damaligen Integrationsministers Schneider die SPD, die Grünen, die CDU und auch die FDP das erste Integrationsgesetz in einem Flächenland geschaffen. Damit wurde, wie ich finde, ein weiterer Meilenstein – das Wort hat gerade auch der Integrationsminister benutzt – in der Integrationspolitik unseres Landes gesetzt.

Die Lebensrealität der Menschen mit Migrationshintergrund anzuerkennen und ihre Lebensleistung wertzuschätzen, waren damals unsere Ziele. Die Kommunen als Motor der Integration zu nutzen – das setzt sich Gott sei Dank auch in diesem Gesetz fort –, finde ich gut, ebenso die Verbesserung der beruflichen Perspektiven sowie die Stärkung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund.

Damals haben wir die Aufwendungen für Teilhabe und Integration verdoppelt und dadurch 2012 ein sehr deutliches Zeichen gesetzt: Integration ist uns allen etwas wert.

Das Gesetz hat einen notwendigen und immer noch wirkenden Prozess angestoßen. Es wurden nachhaltige Strukturen geschaffen, zum Beispiel die Kommunalen Integrationszentren, Programme wie KOMM-AN oder „Einwanderung gestalten NRW“. Das ist der fallbezogene Ansatz, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit Fluchterfahrung in unsere Gesellschaft zu integrieren.

Die Anerkennung und Wertschätzung von Migrationserfahrungen waren uns ganz wichtig. Ich glaube, durch das Teilhabe- und Integrationsgesetz haben wir auch in der Bevölkerung einen Prozess in Gang gesetzt, nämlich Menschen mit Migrationshintergrund wertzuschätzen.

Das Teilhabe- und Integrationsgesetz bündelt im Grunde genommen die Leitlinien eines – zugegeben nicht nur sozialdemokratischen – Verständnisses von Integration und Teilhabe. Wir haben es damals parteiübergreifend verabschiedet. Die Linken hatten sich 2012 enthalten, alle anderen Fraktionen jedoch haben daran mitgearbeitet.

Aber die Gesellschaft entwickelt sich weiter. Wir haben im Gesetz festgelegt, dass dem Landtag alle fünf Jahre ein Integrationsbericht mit der Bewertung der Auswirkungen vorgelegt wird, was jetzt auch wieder geschieht.

Das ist auch richtig, denn wir wissen selbst, welche Prozesse in den letzten Jahren in Gang gesetzt worden sind. Wir haben massive Fluchtbewegungen in Richtung Europa gesehen. Der Anteil der Menschen mit Flucht‑ und Migrationserfahrungen steigt und wird auch wieder stärker steigen.

Auch in Nordrhein-Westfalen gab es im Jahr 2015 massive Herausforderungen für uns alle. Die Gesellschaft wird komplexer, sodass es bei so elementaren Bausteinen unseres Zusammenlebens auch der Weiterentwicklung der Rechtslage bedarf. Es ist gut, dass sich die jetzige Landesregierung ihrer Verantwortung bei der Integration bewusst ist. Wir begrüßen die Novellierung dieses Gesetzes.

An einigen Stellen besteht unserer Meinung nach die Notwendigkeit, stärkere Akzente zu setzen. Einige davon will ich nennen.

In der Vergangenheit haben wir gesehen, dass die Stärkung von Kindern und Jugendlichen besser gelingt, wenn deren Eltern in die institutionellen Bildungs- und Erziehungsprozesse eingebunden werden. Das muss auch bei dieser Novellierung berücksichtigt werden.

An manchen Stellen wollen wir Formulierungen im Sinne der kulturellen und religiösen Vielfalt öffnen, während die Verbindlichkeit der Umsetzung einiger Maßnahmen an anderen Stellen unserer Meinung nach zu kurz kommt. Auch darüber müssen wir sprechen.

Wir sollten Migrantinnen und Migranten nicht nur in den Gremien mit einem Bezug zu Belangen von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern überall und in allen Gremien dieses Landes angemessen vertreten. Und – das halte ich für ganz wichtig –: Der von uns allen so hochgelobte Landesintegrationsrat NRW muss einen festen Platz im Beirat für Teilhabe und Integration bekommen.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass 2016, als wir hier das 20. Jubiläum des Landesintegrationsrats gefeiert haben, der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Laschet, der bald wieder Fraktionsvorsitzender sein wird, die einzigartige Struktur des Landesintegrationsrats hervorgehoben. Er sagte damals, damit sei und bleibe er für den Landtag ein wichtiger Ansprechpartner bezüglich aller Angelegenheiten zum Thema „Integration“. Deswegen halte ich es für wichtig, dass wir dem Landesintegrationsrat einen festen Platz im Beirat zuweisen.

Herr Minister, Sie haben die Antidiskriminierung gerade schon angesprochen. Auch das muss im Teilhabe‑ und Integrationsgesetz noch viel stärker zur Geltung kommen.

Bei allen unterschiedlichen Herangehensweisen waren sich SPD, CDU, Grüne und FDP immer bewusst, wie weit wir in der Integrationspolitik streiten dürfen.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Ibrahim Yetim (SPD): Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. – Wir wussten immer genau, an welchem Punkt der Streit enden muss, weil die Integrationspolitik ein sehr sensibles Thema ist. Dafür, dass wir in dieser Sache immer so fair miteinander umgegangen sind, will ich allen damaligen und auch heutigen Fraktionen sehr danken.

Die vorgelegte Novellierung ist für uns kein Bruch mit dieser Tradition, Herr Minister, sondern sie setzt eine gute Tradition fort. Ich hoffe, es wird uns trotz der anstehenden beiden Wahlen auch diesmal gelingen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Yetim. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Lenzen.

Stefan Lenzen (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dem Dank, den Kollege Yetim gerade formulierte, schließe ich mich gerne an. Das ist unter den Fraktionen, die den integrationspolitischen Konsens auch weiterhin pfle­gen möchten, wichtig: hart in der Sache, aber fair im Umgang. Die lobenden Worte sprechen für die Auseinandersetzung.

Der Minister hat es angesprochen: Die Neufassung des Teilhabe‑ und Integrationsgesetzes ist ein Meilenstein. Das kann ich nur unterstreichen. Man könnte aber auch sagen, dass es sich dabei zumindest für diese Legislaturperiode um den krönenden Abschluss der Integrationspolitik der NRW-Koalition aus FDP und CDU handelt.

Vier Fraktionen in diesem Hause bekennen sich dazu und auch im Gesetzentwurf wird ganz klar dokumentiert, dass wir in NRW in einer Tradition stehen und uns als Einwanderungsland sehen. Wir wollen die Integration noch verbindlicher und verlässlicher gestalten.

Diese Ziele haben wir uns von Anfang an gegeben und sie konsequent umgesetzt, zum Beispiel mit dem Antrag zur Integrationsstrategie 2030 im Frühjahr 2018, mit dem wir die Landesregierung beauftragt haben, einen Beirat einzurichten. Dabei haben wir alle Akteure der Zivilgesellschaft sowie die staatlichen Stellen eingebunden.

Gemeinsam mit der Landesregierung wurde die Integrationsstrategie für Nordrhein-Westfalen erarbeitet. In der Folge hat der Landesbeirat für Integration wichtige Impulse für die Neuausrichtung der Integrationspolitik unseres Landes gesetzt.

Einige wichtige Initiativen möchte ich als Sprecher für Integration, Flüchtlinge, Arbeit und Soziales der FDP-Landtagsfraktion gerne nennen. Sie sind mir auch persönlich sehr wichtig.

So haben wir zum Beispiel im Rahmen der Landesinitiative „Durchstarten in Ausbildung und Arbeit“ das Programm „Gemeinsam klappt’s“ entwickelt. Dabei handelt es sich um einen wirklichen Meilenstein, damit die Menschen im Alter von 18 bis 27 Jahren, die bisher beispielsweise bei der Bundesförderung leer ausgegangen sind, eine Förderung vom Land erhalten und eine Chance bekommen.

Wie erfolgreich das Programm vor Beginn der Coronapandemie war, haben wir gesehen. An diesem Punkt müssen wir wieder ansetzen und diesen Menschen eine Chance geben, damit sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen, die Sprache erlernen und eine Ausbildung beginnen und erfolgreich abschließen können.

Ich muss noch ganz kurz eine tolle Geschichte aus meinem Heimatort Dremmen im Kreis Heinsberg erwähnen. Vor wenigen Jahren ist ein junger Mann mit seinen Eltern und Geschwistern aus Syrien nach Deutschland geflohen. Er hat die Sprache erlernt, eine Ausbildung zum Friseurgesellen begonnen und diese als Innungsbester abgeschlossen. Solche Beispiele zeigen uns, dass wir richtig damit liegen, diesen Menschen eine Chance und eine Zukunft zu geben.

Was wir aber auch immer wieder betont haben – es gehört weniger zu diesem Gesetz –, ist, dass wir bei Straftätern und Gefährdern kein Auge zudrücken dürfen.

(Vereinzelt Beifall von der FDP)

Es ist wichtig, die erfolgreichen kommunalen Integrationsstrukturen gesetzlich verankert abzusichern und mit Geld zu hinterlegen. So haben wir auch das Kommunale Integrationsmanagement auf den Weg gebracht, das im letzten Jahr gestartet ist. Es ist uns gelungen, es auf alle Kreise und kreisfreien Städte auszudehnen und sie bei der Entwicklung ihrer Strategie, diese effizienten Strukturen voranzubringen, zu unterstützen.

Mit zusätzlichen Personalstellen haben wir das rechts­kreisübergreifende Fallmanagement als einen Baustein des Kommunalen Integrationsmanagements eingerichtet, was ganz wichtig ist, um die geflüchteten Eingewanderten ganz individuell zu erreichen und zu betreuen.

Ich habe schon erwähnt, dass wir konsequent dafür stehen, gut integrierten Menschen entsprechende Bleiberechte zu geben. Wir unterstützen sie auch gerne weiterhin dabei und wollen ihre Einbürgerung fördern. So sieht das Gesetz vor, dass das Kommunale Integrationsmanagement auf Dauer angelegt, rechtlich verankert und finanziell abgesichert ist. Dafür stehen 130 Millionen Euro zur Verfügung. So steht es im Gesetz

Wir haben schon gehört, dass die Integration eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe ist, die uns alle im Land betrifft. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir die integrationspolitischen Akteure weiter miteinander vernetzen. Das soll im Gesetz stärker hervorgehoben werden.

Bei der Neuausrichtung der Integrationspolitik haben wir als positiv besetzten Begriff „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ formuliert. An vielen Stellen müssen wir auch sprachlich genau darauf achten, welche Worte wir wählen.

Wir definieren den Integrationsprozess in Ankommen, Teilhaben und Gestalten. Wir stärken die interkulturelle Kompetenz weiter.

Es gibt einen großen Konsens bei der Antidiskriminierungsarbeit, wie wir schon gehört haben: Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, antimuslimischer Rassismus, Homo‑ und Transfeindlichkeit sowie weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung müssen wir auch weiter entschieden entgegentreten.

(Beifall von der FDP und von Arndt Klocke [GRÜNE] – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin. – Die Landesregierung hat mit dem Gesetzentwurf einen guten Aufschlag gemacht. Der Minister, aber auch meine Kollegin Wermer und der Kollege Yetim haben zum Ausdruck gebracht, was auch ich mir wünsche: dass wir in der Tradition des integrationspolitischen Konsenses in den Ausschussberatungen zu einem noch besseren gemeinsamen Ergebnis kommen, um es mit großer Mehrheit zu beschließen. Das ist, denke ich, unser aller Wunsch. Zumindest ist das bei den meisten hier der Fall.

In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue ich mich auf die kommenden Beratungen. – Danke schön.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Lenzen. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Düker.

Monika Düker (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits von meinen Vorrednern erwähnt worden: Das Einwanderungsland NRW hat seit 20 Jahren die gute Tradition, im Bereich der Integrationspolitik den Konsens der demokratischen Fraktionen zu suchen. Das ist auch gut so.

Ich freue mich, dass diese gute Tradition mit der Einladung zu Beratungen über diesen Gesetzentwurf auch von dieser Koalition fortgesetzt wird. Das hat in der Vergangenheit nicht immer gut geklappt; das muss man der Fairness halber hinzufügen – aber geschenkt. Herr Yetim hat die Verdienste des Integrationsministers Schneider hervorgehoben, Frau Wermer die Verdienste des Integrationsministers Laschet – geschenkt. Das darf hier jeder und jede auch so tun.

(Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)

– Richtig, es gibt noch einen Integrationsministers Stamp. Aber offenbar sind Sie bei der Erwähnung heute nicht …

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Das wollten wir Ihnen überlassen!)

– Okay. Das könnte ich ja jetzt machen. Dann bedanke ich mich – damit sie alle einmal genannt wurden – ausdrücklich beim Integrationsminister Stamp, dass auch er die Tradition fortsetzt.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN und der CDU)

Ich will aber ganz klar sagen, dass dieses Bekenntnis 2001 – ich glaube, ich bin eine der wenigen, die damals an dieser Integrationsoffensive mitgearbeitet haben – nicht selbstverständlich war. Ich fürchte, das wäre im Jahr 2021 noch schwieriger, als es damals war. Deswegen ist es gut, dass diese gemeinsam getragene Offensive weiterhin Bestand hat und sich bis jetzt alle Fraktionen darauf beziehen und dass gerade in Zeiten der üblen Hetze von rechts, die wir gleich wieder hören werden, die demokratischen Fraktionen zusammenstehen.

Integration erfolgt vor allem vor Ort. Der wichtigste Ansatz der Landespolitik muss es daher sein – das ist auch kontinuierlich erfolgt –, die Arbeit vor Ort in den wichtigen integrationspolitischen Bereichen zu unterstützen; in Bildung, Arbeit und Wohnen.

Erfolgreiche Integrationspolitik betrachtet Integrationspolitik nicht als Einbahnstraße. Auch darüber besteht ein Konsens, und das ist gut so. Nicht nur die Zugewanderten müssen sich in unsere Systeme integrieren, sondern auch wir müssen die Bereitschaft haben, unsere Systeme zu öffnen.

Das bedeutet: Unsere Regelsysteme wie Beratungsstellen, das Schulsystem, öffentliche Stellen, die Arbeitsagentur – all das muss sich interkulturell öffnen. Für die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz braucht es Unterstützung. Auch dies ist Bestandteil des Gesetzentwurfs, und das ist auch gut so.

Auch der Schutz vor Diskriminierung und Rassismus gehört dazu, wenn wir über erfolgreiche Integration sprechen. Hier könnten wir uns an der einen oder anderen Stelle mehr vorstellen, zum Beispiel eine Landesantidiskriminierungsstelle, ein verbindlicheres Landesantidiskriminierungsgesetz. Aber auch das ist im Gesetz enthalten.

Konkret begrüßen wir – das will ich ausdrücklich sagen –, dass neben den Projektmitteln eine verlässliche Grundfinanzierung für eine Integrationsinfrastruktur gesetzlich verankert wird. Das hat der Minister gesagt, und es ist wichtig, dass das verankert ist. Wir dürfen uns bei der Integrationsarbeit nicht immer nur von Projekt zu Projekt hangeln. Es ist eine Daueraufgabe, und die braucht eine dauerhafte Absicherung. Deswegen begrüßen wir diese Verankerung besonders.

Und wir begrüßen besonders, dass bei dem Integrationsmanagement weiterhin nicht nach Status unterschieden wird. Auch das war nicht selbstverständlich. Das Gesetz aus 2012 – damals von Rot-Grün eingebracht, aber von der Opposition mitgetragen – besagte, dass Integration von Anfang an ein Wert für alle ist.

Das heißt, diese Maßnahmen beziehen sich ausdrücklich auch auf Geflüchtete im Asylverfahren, auf Geduldete, denn es profitieren am Ende alle, wenn nicht zwischen Migranten mit sicherem Status und Geflüchteten mit befristetem oder unsicherem Status unterschieden wird. Das war viele Jahre lang nicht selbstverständlich und wird von der Koalition fortgesetzt.

Es ist mir wichtig, diese beiden Punkte herauszustellen.

Wir werden natürlich in die Debatte noch Punkte einbringen, die uns noch nicht klar sind oder zu denen wir Zweifel haben. Das gehört dazu. Dies betrifft zum Beispiel den Grundsatz der Subsidiarität. Da sind wir etwas misstrauisch.

Ich weiß es aus dem Haushalt- und Finanzausschuss, die Kritik wird aber nicht nur in diesem Bereich vorgetragen, dass sich Wohlfahrtsverbände – das wird auch Sie erreicht haben – nicht mehr so sicher sind, ob der Grundsatz der Subsidiarität von dieser Regierung verfolgt wird, ob also die Beratungsstellen der Verbände, die gute Arbeit machen, weiterhin Bestand haben und es nicht auf Behörden übertragen wird. Das werden wir ansprechen und sicherlich im Verfahren diskutieren.

Zur Antidiskriminierungsarbeit habe ich schon etwas gesagt.

Zum Schluss komme ich zu einem Punkt, der gestern hier streitig diskutiert wurde: Bildung für Flüchtlingskinder. Im Gesetz gibt es nur ein schulnahes Bildungsangebot für die Kinder in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen des Landes. Die Aufenthaltsdauer der Kinder in den Einrichtungen beträgt, ob Sie das wollen oder nicht, mehr als ein halbes Jahr, zum Teil zehn Monate. Wir haben in den Asylverfahren immer noch diese langen Verfahren bei bestimmten Ländern.

Insofern brauchen diese Kinder auch in den Zentralen Unterbringungseinrichtungen ein verbindliches und nicht nur ein schulnahes Bildungsangebot. Darauf haben sie einen Anspruch. Das kommt uns in diesem Gesetz auch etwas zu kurz.

Aber das alles werden wir sicherlich im Verfahren konstruktiv diskutieren. – Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Für die AfD-Fraktion spricht Herr Kollege Loose.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Lenzen, ein erfolgreiches Einwanderungsland ist ein Land, welches klare Regelungen für die Einwanderung aufstellt und nicht blind in eine ungeregelte Einwanderung hineinläuft. Das unterscheidet tatsächlich die AfD von der FDP; denn die AfD wünscht sich nun einmal eine qualifizierte Zuwanderung nach klaren Regeln.

Die FDP hat diesen Pfad einer freiheitlichen Partei allerdings verlassen und interessiert sich nicht mehr für eine qualifizierte Einwanderung. Sie wünschen sich hingegen eine unqualifizierte Einwanderung und fordern danach Gelder für die Integration. Deshalb kommen wir zu diesem Gesetzentwurf.

Die Landesregierung möchte nun jedes Jahr 130 Millionen Euro für eine integrationspolitische Infrastruktur ins Gesetz schreiben. Ob die Gelder auch in Zukunft verfügbar sind, das dürfte fraglich sein. Ob die Gelder in den nächsten Jahren aber bei Ihrer Art der Politik gebraucht werden, das steht sicher außer Frage.

Denn angesichts der mageren Erfolge der bisherigen Integration wird es eine Daueralimentierung der integrationspolitischen Infrastruktur werden. Die Integrations- oder – besser – Integrationsbemühungsindustrie wird sich sicherlich über den Geldsegen freuen.

Ansonsten ist die Aktualisierung des Teilhabe- und Integrationsgesetzes kein großer Wurf. Das meiste ist Kosmetik. Statt „Menschen mit Migrationshintergrund“ soll es jetzt „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ heißen.

Zusätzlich gibt es jetzt noch einen neuen Rassebegriff. Sie erfinden gar eine muslimische Rasse und daraus abgeleitet einen sogenannten antimuslimischen Rassismus, den Sie ablehnen.

Anscheinend, Herr Stamp, gibt es bei Ihnen beim Rassismus unterschiedliche Wertigkeiten; denn Sie führen zwar einen sogenannten antimuslimischen Rassismus auf, aber keinen antichristlichen Rassismus, keinen antibuddhistischen Rassismus und keine weiteren Arten von Rassismus.

Herr Stamp, für Sie gibt es damit wichtigen und unwichtigen Rassismus. Das ist wirklich ein Tiefschlag für die Rassismusbekämpfung in Deutschland!

(Beifall von der AfD)

Ich mache es deutlich für Sie: Jegliche Form von Rassismus ist abzulehnen und wird von uns als AfD genauso abgelehnt.

(Beifall von der AfD)

Es findet sich nun auch noch der neue Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im Gesetz. Anscheinend durfte die im DDR-Stasi-Stil aufgebaute Amadeu Antonius Stiftung direkt am Gesetz mitschreiben.

Ob das allerdings der Grund dafür ist, dass im Gesetz kein einziges Wort zur frauenfeindlichen Unterdrückung steht, wissen wir nicht. Denn schließlich ist doch bekannt, dass es bei Personen, die in anderen Kulturkreisen sozialisiert wurden, Probleme mit der Anerkennung der Gleichberechtigung gibt. – Aber man schwenkt lieber Regenbogenfahnen bei Osteu­ropäern anstatt bei Menschen aus anderen Kulturkreisen. Schade, dass Sie diesen Punkt der Frauenunterdrückung ausgelassen haben. Ich hoffe, dass Sie ihn im Beratungsverfahren noch ergänzen werden.

Das große Problem bei diesem Gesetzentwurf ist zudem, dass es nicht passgenau ist. Sie differenzieren in keinem Fall zwischen verschiedenen Gruppierungen. Dabei gibt es wichtige Gründe, zwischen qualifizierten Zuwanderern, Asylbewerbern und Einwanderern aus EU-Ländern zu unterscheiden. Denn qualifizierte Einwanderer bringen häufig bereits Integrationsleistungen wie das Beherrschen der englischen oder deutschen Sprache mit.

EU-Bürger reisen ein, um hier Arbeitsleistungen zum Beispiel als Handwerker zu erbringen, und sind nicht unbedingt an einer umfassenden Integration interessiert.

Letztlich bleibt auch noch die Gruppe der Asylbewerber, bei der nach diversen Kriterien unterschieden werden muss – beispielsweise der Wahrscheinlichkeit, dass der Asylantrag überhaupt erfolgreich ist, Vorbildung usw. An dieser Stelle ist Ihr Gesetz nicht hinreichend genau.

Es ist auch fraglich, ob wirklich alle Menschen mit Einwanderungsgeschichte eine Integration benötigen. So ist der Personenkreis in Ihrem Gesetz extrem umfangreich. Beispielsweise zählt zu Personen, die über § 4 Nr. 2 definiert werden, auch jemand, der vor 65 Jahren in Schlesien geboren wurde und hier vor Jahrzehnten eingewandert ist. Glauben Sie wirklich, Herr Stamp, dass der noch Integrationskurse benötigt?

Mein Tenniskollege ist übrigens eine solche Person. Er hat inzwischen mehr als 40 Jahre in Deutschland gearbeitet und möchte, dass ich ihn als Deutschen behandle und mit ihm deutsch rede. Wenn ich dem sagen würde, dass die Regierung ihm jetzt Integrationskurse anbieten würde, dann würde er sicherlich mehrere Wochen nicht mehr mit mir reden, und zwar zu Recht.

(Heiterkeit von Helmut Seifen [AfD])

Viele der Menschen, die in diesem Gesetz definiert sind, sind bereits seit Jahrzehnten integriert und brauchen keine Integrationsinfrastruktur.

Das erkennt man auch an der Wahlbeteiligung beim Integrationsrat. Lediglich 14 % Wahlbeteiligung sprechen eine klare Sprache. Die meisten dieser Menschen sind bei uns in Deutschland beheimatet und brauchen so etwas schlicht nicht.

Natürlich gibt es immer noch Menschen, die sich hier nie integriert haben und sich vermutlich auch nie integrieren werden. Das ist deren persönliche Entscheidung. Allerdings darf es für solche nicht integrierten Personen eben auch keine Belohnung in Form eines Jobs im Staatsdienst geben. Deshalb lehnen wir Ihre Migrantenquote in § 6 klar ab. Ihre Quote ist vielmehr diskriminierend und leistungsfeindlich.

Wir sind gespannt auf die Beratungen im Ausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Loose. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache in Tagesordnungspunkt 2, und wir kommen zur Abstimmung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs an den Integrationsausschuss – federführend – sowie an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen, an den Haushalts- und Finanzausschuss und an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Mitberatung. Möchte jemand gegen die Überweisung stimmen? Möchte sich jemand enthalten? – Beides war nicht der Fall. Dann haben wir den Gesetzentwurf Drucksache 17/14243 so überwiesen.

Damit kommen wir zu:

3  Gesetz zur Einführung eines Radverkehrsgesetzes sowie zur Änderung weiterer Gesetze

Gesetzentwurf
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14257

erste Lesung

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die antragstellende Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Kollege Klocke das Wort.

Arndt Klocke (GRÜNE): Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben Ihnen in der letzten Woche unser grünes Fahrradgesetz vorgelegt. Wir haben dieses erarbeitet, nachdem wir den Referentenentwurf der Landesregierung Anfang März gelesen und zuvor selbst schon fast 60 Eckpunkte für ein solches Fahrradgesetz vorgelegt hatten.

Für uns Grüne war klar: Der Gesetzentwurf der Landesregierung ist, wenn man die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ ernst nimmt, nicht ausreichend. Und falls gleich die Frage aufkommt, warum die Grünen etwas Eigenes machen: Wir haben einen eigenen Entwurf vorgelegt, weil dies ein besseres Fahrradgesetz für Nordrhein-Westfalen ist als das, was die Landesregierung vorgelegt hat.

(Beifall von den GRÜNEN)

Nun bin ich Realpolitiker und setze nicht unbedingt darauf, allerdings würde ich mich natürlich freuen, wenn FDP und CDU diesem Gesetzentwurf nach der Anhörung zustimmen würden. Unser Ziel ist, dass wir über die Anhörung Ende August und über die Debatte, die wir dann noch im Herbst führen werden, deutliche Verbesserungen im Radverkehrsgesetz gegenüber dem Gesetzentwurf erreichen, den Minister Wüst im letzten Plenum eingebracht hat.

(Beifall von den GRÜNEN – Henning Höne [FDP]: Kann ich ausschließen!)

Ich habe gestern Abend an einer Fahrraddemo in Köln teilgenommen. Es ging um Verkehrssicherheit. Ich habe direkt nach Ute Symanski, der Initiatorin von „Aufbruch Fahrrad“, eine Rede gehalten, und ich habe bei den mehreren Hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmern trotz 14° und Nieselregen gespürt, dass es wirklich eine große Hoffnung, eine große Erwartungshaltung bei den Fahrradaktivistinnen und -aktivisten in diesem Land gibt.

Das Fahrradgesetz war Thema bei den Reden. Da ist wirklich viel Aufbruchsgeist, und es gibt viele Impulse, dass sich an der Fahrradinfrastruktur in Nordrhein-Westfalen in den nächsten Jahren etwas ändert. Diesen Aufbruchsgeist sollten wir nicht enttäuschen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wie stark die Unterschriftensammlung von „Aufbruch Fahrrad“ war, hat sich gestern noch gezeigt. Ich möchte in keinster Weise das große Engagement des NABU beim Artenschutzvolksbegehren infrage stellen – auch bei dieser Unterschriftenübergabe ist eine herausragende Zahl zusammengekommen –, aber „Aufbruch Fahrrad“ hatte doppelt so viele Unterschriften. Das zeigt: Es gibt wirklich einen massiven Druck für besseren Radverkehr in Nordrhein-Westfalen.

Unser Gesetzentwurf nimmt diese Volksinitiative ernst. CDU und FDP – ich bin ja nun schon seit ein paar Jahre im Landtag – haben bisher den Radverkehr in Nordrhein-Westfalen nicht ernst genommen.

Ich habe mir für meine Rede zwei Zitate aus der letzten Legislaturperiode herausgesucht. Die Zitate von Bernhard Schemmer lasse ich weg – er ist jetzt nicht mehr hier als Abgeordneter unter uns, erfreut sich ansonsten aber hoffentlich guter Gesundheit –, sondern ich habe mir zwei Zitate von Abgeordneten herausgesucht, die noch zugegen sind.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Das eine Zitat stammt von Christof Rasche, früher verkehrspolitischer Sprecher der FDP, heute Fraktionsvorsitzender. Er sagte in der letzten Legislaturperiode bei einer radverkehrspolitischen Debatte:

Radschnellwege sind Symbolprojekte der Grünen. Sie sind keine Lösung für die drängenden Verkehrsprobleme in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von den GRÜNEN: Ui!)

Das war in der letzten Legislaturperiode.

Und Minister Stamp, damals FDP-Abgeordneter, sagte in einer Haushaltsdebatte:

Die Ideologie des Fahrrades, vorangetrieben von SPD und Grünen, schadet dem Industriestandort Nordrhein-Westfalen.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: So ist es!)

Das war die Legislaturperiode bis 2017. Deswegen habe ich mich überrascht gezeigt, dass im Jahre 2019, nach der erfolgreichen Volksinitiative, CDU und FDP dieser zugestimmt haben.

(Zurufe von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] und Johannes Remmel [GRÜNE])

Das konnte man wirklich nicht erwarten nach dieser Vorgeschichte in der letzten Legislaturperiode und überhaupt in all den Jahren.

Ich will allerdings klar sagen: Herrn Minister Wüst nehme ich durchaus sein Engagement ab. Ich kenne ihn noch aus meiner Studentenzeit mit dem Fahrrad in Münster. Er hat ja auch das Trauma, dass er in einer Stadt groß geworden ist, in der es mit Lothar Mittag 15 Jahre lang einen grünen Bürgermeister gab, der im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Städte war. Das hat offensichtlich geprägt, und deswegen gibt es jetzt auch eine Radverkehrspolitik hier in Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Zentral ist die Umsetzung in den Kommunen. Da sind wir uns hoffentlich einig. Ich erinnere mich an eine Äußerung des Abteilungsleiters im Verkehrsministerium Dirk Günnewig im vergangenen Jahr bei der RADKOMM, der großen Radverkehrskonferenz. Da war die Frage, ob 25 % Radverkehr in Nordrhein-Westfalen bis 2025 nicht unglaublich ambitioniert seien.

Auch ich als Grüner würde das sagen. Wir sind jetzt nach 30 Jahren Radverkehrsförderung, beginnend beim damaligen Minister Christoph Zöpel über eine Reihe von rot-grünen Regierungen bis jetzt zu einer schwarz-gelben Regierung, bei 9 %. Da sagte Dirk Günnewig: Das 25-%-Ziel ist nur zu erreichen, wenn die Kommunen auch wirklich mitmachen. Sonst kann das Land da nicht viel tun.

Deswegen haben wir in unserem Entwurf die Kommunen bei der Planung und Umsetzung viel stärker in die Pflicht genommen. Deswegen gibt es mehr Geld für die Kommunen, und es gibt vor allen Dingen Unterstützung bei der Planung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Kollege Voussem bezeichnet das in seiner Pressemitteilung als eine Bevormundung der Kommunen. Wir Grüne wollen real, dass sich die Situation auf unseren Straßen ändert. Und das wird nicht funktionieren, wenn die Kommunen in Nordrhein-Westfalen nicht mitziehen und nicht unterstützt werden. Es braucht mehr Geld, mehr Planerinnen und Planer und auch mehr Planungsmöglichkeiten in den Kommunen. Unser grüner Gesetzentwurf würde das ermöglichen, der Gesetzentwurf der Landesregierung tut dies eben nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Deswegen ist unser Gesetzentwurf an dieser Stelle eindeutig besser.

Darüber hinaus geht es darum, auch die anderen Ebenen, wie beispielsweise die Bezirksregierungen, zu unterstützten. Wir definieren die Standards, die in Zukunft gelten sollen: Was sind Radwege? Was sind Radschnellwege? Was sind Radvorrangrouten?

So müssen Radschnellwege durchgängig geführt und breit genug für Überholvorgänge etc. sein; ich möchte Sie jetzt nicht mit den entsprechenden Details langweiligen. Das ist allerdings der Standard. Wir müssen die Standards klar und eindeutig festlegen; sonst wird sich hier nichts tun.

Eine Anhörung dazu findet Ende August statt. Alle relevanten Verbände werden zu hören sein. Es liegt schon eine ganze Reihe von Stellungnahmen zum Radverkehrsgesetz der Landesregierung vor, so vom ADFC, vom RADKOMM e. V., von der Volksinitiative Aufbruch Fahrrad.

Ich hoffe, dass wir den Gesetzentwurf, der jetzt vorgelegt worden ist, noch verbessern können, und ich verspreche Ihnen, Herr Minister Wüst: Sollte uns das nicht gelingen, werden wir das nach einer für die Grünen hoffentlich erfolgreichen Landtagswahl ab 2022 in Regierungsbeteiligung selbst machen. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Klocke. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der CDU Herr Abgeordneter Kollege Voussem das Wort.

Klaus Voussem (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein deutsches Sprichwort besagt, man muss das Rad nicht neu erfinden. Selten hat dies so gut gepasst wie heute, im wahrsten Sinne des Wortes.

Lieber Herr Kollege Klocke, Sie haben die Frage leider nicht beantwortet, warum es denn dazu kommt, dass Sie exakt zwei Wochen, nachdem die Landes­regierung ihren Gesetzentwurf zum Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz in die parlamentarische Debatte eingebracht hat, hier heute mit einem eigenen Fahrradgesetz aufwarten. Da muss ich mich doch wirklich fragen: Waren Sie jetzt anderthalb Jahre bei den Debatten nicht dabei, oder ist es am Ende einfach nur schlechtes Timing gewesen?

Nun, Sie kommen mit einem eigenen Gesetzentwurf um die Ecke, der an vielen Stellen gar nicht weit genug geht und wieder einmal andere Verkehrsteilnehmer benachteiligt. Es geht sogar so weit, dass Menschen und Kommunen bevormundet werden sollen. Dieser Entwurf bremst ein an sich gutes Vorhaben aus, und zwar gewaltig, und stellt eine Rolle rückwärts dar.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, Sie haben den Gesetzentwurf in Berlin abgeschaut, aber das funktioniert nicht so einfach. Berlin ist ein Stadtstaat, Nordrhein-Westfalen ein Flächenland.

Auch in Berlin ist dieses Fahrradgesetz nicht unumstritten. Viele der angesprochenen Punkte lassen sich aufgrund der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie in Nordrhein-Westfalen nicht über Landesgesetzgebung festschreiben oder regeln. Sie legen den Fokus ausschließlich auf das Fahrrad; das ist viel zu eindimensional gedacht. Da sollten wir heute eigentlich schon weiter sein. Der Entwurf der Landesregierung fördert nämlich auch den Fußverkehr und andere Formen der Nahmobilität. Auch die Verkehrssicherheit im Bereich der Nahmobilität kommt in Ihrem Antrag viel zu kurz, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen.

Gewiss, eine ganze Reihe Ihrer Forderungen ist im Hinblick auf den Radverkehr im Entwurf der Landesregierung und in den Eckpunkten für den gesetzesbegleitenden Aktionsplan ebenfalls berücksichtigt.

Unser Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz verfolgt aber darüber hinaus einen deutlich umfassenderen Ansatz. Der Netzgedanke steht im Mittelpunkt. Das Land wird ein Radvorrangnetz definieren, einen Bedarfsplan für Radschnellverbindungen des Landes aufstellen und auch auf lokaler und überörtlicher Ebene die Erstellung von Radverkehrsnetzen vorantreiben. Dabei ist es den Gemeinden und Gemeindeverbänden überlassen, die Radverkehrsnetze und -anlagen in ihrem Gebiet auszugestalten.

Ihr Gesetzentwurf geht in die falsche Richtung; das muss an dieser Stelle einmal deutlich gesagt werden. Die NRW-Koalition ist der kommunalen Familie wesentlich partnerschaftlicher gegenüber eingestellt. Die Kommunen vor Ort sind wichtige Partner, wenn es darum geht, unsere Städte und Gemeinden fahrrad- und fußgängerfreundlich zu gestalten.

Mit dem vor 14 Tagen vorgelegten Gesetzentwurf steht die NRW-Koalition an der Seite der Kommunen und bevormundet sie nicht. Sie wertschätzt das Engagement der Kommunen und unterstützt sie bei der Planung und Umsetzung.

Einzelne Forderungen in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, richten sich direkt an die Menschen. Sie müssen sich für das Fahrrad entscheiden oder Rücksicht aufeinander nehmen. Aber kein Gesetz oder Aktionsplan kann von oben herab etwas anordnen oder vorschreiben.

Um eine weitere Redensart zu bemühen: Ihr Gesetzentwurf ist eindeutig zu kurz gesprungen. Er orientiert sich zwar am Gesetzentwurf der Koalition, bleibt aber viel zu einseitig und damit auch ambitionslos. Die Bevorzugung des Fahrrads im vorliegenden Entwurf ist mit unserem Ziel, alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt zu behandeln, nicht vereinbar. Dies hätte eine Kannibalisierung anderer Verkehrsarten zur Folge. Das darf nicht geschehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, in diesen Tagen stehen in den Schulen die Zeugnisse an. Das Klassenziel hätten Sie mit diesem Antrag sicher nicht erreicht. Denn Abschauen bringt nicht weiter. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Sie sich im Ausschuss konstruktiv mit uns und dem Gesetzentwurf der Landesregierung auseinandergesetzt hätten, wenn wir in der Sache zusammengearbeitet hätten. Das hätte uns vielleicht weiter vorangebracht. So bleibt am Ende nur viel heiße Luft. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Voussem. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der SPD Herr Abgeordneter Kollege Stinka das Wort.

André Stinka*) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die nachhaltige Stärkung des Radverkehrs ist ein unverzichtbarerer Bestandteil einer umfassenden und bedeutenden Verkehrswende.

Wir brauchen mehr Radverkehr zur Erreichung der Klimaschutzziele. Ich will hier nur noch mal in Erinnerung rufen, dass wir den CO2-Ausstoß bis 2030 in dem Bereich um 68 % reduzieren müssen. Wir brauchen den Radverkehr zur Verbesserung der Lebensqualität gerade in den Metropolregionen; dies hat die Volksinitiative Aufbruch Fahrrad mehr als deutlich gemacht.

Die Landesregierung war gut beraten, diese positive Initiative positiv aufzunehmen und ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs und der Nahmobilität anzukündigen. Allerdings drängt sich von Beginn an der Eindruck auf, dass das nur in Teilen freiwillig war. Denn der öffentliche Druck war groß; Eigeninitiative konnte die SPD-Landtagsfraktion bei der Landesregierung zu einem solchen Fördergesetz vor Beginn dieser Initiative nicht erkennen.

Der Gesetzentwurf der Landesregierung wurde in erster Lesung am 18. Juni beraten und an den Verkehrsausschuss überweisen. Nach Beschluss des Verkehrsausschusses vom 23. Juni werden wir uns hiermit nach der Sommerpause detailliert im Rahmen einer Expertenanhörung beschäftigen.

Eines kann man – das haben wir auch von den Vorrednern gehört – schon heute sagen: Bei diesem Gesetzentwurf wird es nicht bleiben. Denn heute liegt uns ein weiterer Gesetzentwurf zur Einführung eines Radverkehrsgesetzes vor. Daraus kann man zunächst den Schluss ziehen, dass die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen nicht besonders viel Vertrauen in den Gesetzentwurf der Landesregierung setzt. Dieser Eindruck ist durchaus begründet.

Um den Radverkehr nachhaltig zu fördern, braucht es eine Vielzahl von Maßnahmen. Das beginnt zunächst mit mehr Geld. Daran besteht aber aufgrund der Finanzsituation des Landes im Moment kein Mangel. Es geht nicht nur darum, mehr Menschen auf das Fahrrad zu bekommen, sondern auch darum, die dazugehörige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet einen massiven Ausbau des Radwegenetzes, eine Bestimmung von Vorrangrouten, die Vollendung der in Planung befindlichen Radschnellwege, mehr Fahrradwachen, mehr Radständer und eine bessere Verknüpfung mit dem ÖPNV- und SPNV-Angebot.

Unverzichtbar neben den Lückenschlüssen im Radverkehrsnetz und dessen Ausbau geht es aber hierbei um die Umgestaltung der innerstädtischen Verkehre mit Blick auf die Nahmobilität. Die Gleichberechtigung der Verkehrsträger, also von Fußgängerinnen, Radfahrerinnen und Autofahrerinnen, hat nämlich deutliche Konsequenzen. Ein Sowohl-als-auch kann es hier nicht geben.

Die Gestaltung der zur Verfügung stehenden Verkehrsflächen muss sich verändern, Kolleginnen und Kollegen. Da kann man nicht von Kannibalisierung reden, wie Herr Voussem das gemacht hat, sondern hier muss gesprungen werden. Eine breite gesellschaftliche Debatte gerade im kommunalen Raum muss organisiert werden. Daneben ist die Verkehrssicherheit für die Verkehrsteilnehmer ein wichtiger Aspekt, der geleistet werden muss.

Angesichts dieser Entwicklungsperspektive ist klar, dass man nicht nur auf landesseitige Fördermaßnahmen zurückgreifen kann. Die Unterstützung der Kommunen bei der Umgestaltung der innerstädtischen Verkehre zugunsten des Verkehrsträgers Fahrrad ist unabwendbar. Das ist notwendig. Das ist eine anspruchsvolle, gar schwierige Aufgabe; denn wir werden Verteilungskämpfe um die Verkehrsflächen erleben, die in vielen Kommunen nicht vermehrbar sind. Dennoch müssen wir diese Aufgabe entschlossen angehen. Die SPD-Landtagsfraktion ist hierzu bereit.

Auch wenn der Eindruck entsteht, dass damit das Aufgabenfeld umfassend skizziert wäre, so fehlt der wichtigste Bestandteil für den Aufbruch Fahrrad in Nordrhein-Westfalen. Es geht um Entschlossenheit, diesen Prozess auch wirkungsvoll und nachhaltig im Land zu entfalten. Sonntagsreden und warme Worte reichen nicht aus. Ich erinnere nur an das Klimaschutzgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, das von der Landesregierung hier verabschiedet wurde. Ein schöner Rahmen ersetzt keine konkrete Politik. Entscheidend ist die Entschlossenheit der Politik, diesen Prozess auch wirklich voranzubringen. Da gibt es bereits jetzt erhebliche Zweifel am vorgelegten Gesetzentwurf der Landesregierung, der unverbindlich, unambitioniert daherkommt. Es fehlt an Verbindlichkeit.

Mit dem Blick auf die Jahrhundertaufgabe einer umfassenden Verkehrswende kommt ein Begriff viel zu wenig vor. Das ist das Innovationstempo. Auch das ist ein unbeschränkt notwendiger Bestandteil dieser Initiative. Wir sind uns, wenn wir auf die aktuelle Politik der schwarz-gelben Landesregierung gerade in Bezug auf Radschnellwege schauen, die in einem Schneckentempo vorankommen, ganz und gar nicht sicher, dass die Landesregierung es mit ihrem Gesetz ernst meint. Ernst und Vernetzung sind aber hier wichtig.

Wir freuen uns auf die Beratung beider Gesetzentwürfe im Ausschuss, und wir sind sicher, dass wir nach der Expertenanhörung hieraus gute und richtige Schlüsse für eine ernsthafte Verkehrswende in Nordrhein-Westfalen ziehen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Stinka. – Für die Fraktion der FDP hat nun Herr Kollege Reuter das Wort. Bitte sehr.

Ulrich Reuter*) (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem wir erst vor wenigen Tagen einen Gesetzentwurf für das Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz der Koalition in diesem Hohen Hause eingebracht haben, befassen wir uns heute hier mit einem nachgelegten Gesetzentwurf der Grünen. Dabei handelt es sich um den Entwurf eines Radverkehrsgesetzes NRW, der als unmittelbarer Konkurrenzentwurf zum Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz der Koalition vorgelegt wird. Das ist zunächst nicht verwerflich. Im Gegenteil. Die Demokratie lebt ja davon, dass es unterschiedliche Entwürfe, Ansätze und Ideen gibt, die im Wettstreit miteinander liegen.

Beide Gesetzentwürfe stellen eine Auseinandersetzung mit der Volksinitiative Aufbruch Fahrrad dar, die im Dezember 2019 – mit über 200.000 Unterschriften überaus erfolgreich – uns als Gesetzheber den Auftrag gegeben hat, ein solches Gesetz zu entwerfen. Beide Gesetzentwürfe sind parallel entstanden. Es entsteht an etlichen Stellen der Eindruck, dass hier das Copy-and-Paste-Verfahren gewählt wurde.

(Arndt Klocke [GRÜNE]: Ganz sicher nicht!)

So ist die Hierarchie der Radnetze, sind Radschnellwege, Radvorrangnetz und kommunale Netze überaus ähnlich. Die Reglung des § 11 zu den Wirtschaftswegen kommt einem mehr als bekannt vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie stehen unter dem enormen Zugzwang, dass Ihr Gesetz für Ihre Klientel das Copyright beansprucht. Bereits dieses Ziel haben Sie mit der verspäteten Vorlage verfehlt.

Ich will gar nicht bestreiten, dass sich Teile dieses Gesetzes sehr ausgearbeitet anhören. Wie Sie Instrumente für die Planung und Umsetzung der Radverkehrsnetze darstellen, lässt sich durchaus hören. Ob dies so weit von dem Entwurf der Koalition fernliegt, muss sich noch zeigen, da wir in unserem Entwurf den Weg gegangen sind, Konkretisierungen und Umsetzungsschritte in externe Regelungswerke wie den Aktionsplan zu verlagern. Das hat den klaren Vorteil, dass man nicht immer das Gesetz ändern muss, wenn man Anpassungen vornehmen will. Das ist gesetzestechnisch ein anderer Weg.

Es wird jedoch im Einzelnen zu sehen sein, inwieweit Ihre Regelungen nicht zu sehr in die Rechte der Kommunen eingreifen. Das verfassungsrechtlich verbriefte Recht auf kommunale Selbstverwaltung gilt auch für Regelungen zur Stärkung des Radverkehrs auf lokaler Ebene. Dies wird eine der zentralen Fragen sein, die die Anhörung klären muss.

Überprüft werden müssen auch Ihre Kalkulationen der Ausgaben und der finanziellen Belastungen, die aus Ihrem Entwurf resultieren. Dabei ist es höchst ungewöhnlich und durchaus fraglich, ob man etwa Regelungen wie die zur Finanzierung von Öffentlichkeitsarbeit und Planungstätigkeit in der von Ihnen vorgeschlagenen Ausgestaltung in ein Gesetz aufnehmen kann. Ein Euro pro Einwohner für das eine wie das andere hört sich erst einmal gut an, bindet dann aber auch den Haushaltsgesetzgeber auf Jahre oder Jahrzehnte. Dies ist nicht im Sinne des Parlaments. Auch das wird zu diskutieren sein.

Dann gibt es grundsätzliche Regelungen in Ihrem Entwurf, die feinziseliert und geradezu harmlos daherkommen, es aber in sich haben. Sie streben die komplette Neuverteilung des Straßenraums in den Kommunen unter der Kautel der Vorrangigkeit der klimagerechten Mobilität bzw. des Umweltverbundes an. Diese Regelungsmechanismen sollten wir tiefer ergründen und dann bewerten.

Meine Damen und Herren, für eine reine Fahrradvorrangpolitik sind wir nicht zu haben. Auch für eine planwirtschaftliche Vorgabe für den Modal Split sind wir Liberale nicht zu begeistern. Ebenso befremdlich erscheint uns die in Ihrem Entwurf auftauchende Förderung, um Fahrradvermietungen zu ermöglichen. Ich glaube, das sind Dinge, die nicht die Politik regelt, sondern der Markt. Darum treten wir in unserem Entwurf für alle Modi ein. Wir sind grundsätzlich technologieoffen – auch im Bereich der Nahmobilität. Die Fahrradvertreter sehen dies skeptisch. Ich denke aber, darin ist unser Gesetzentwurf Ihrem deutlich überlegen.

Die Koalition steht für eine ausgeglichene Verkehrspolitik, für Maß und Mitte und vor allen Dingen für eine grundsätzliche Gleichrangigkeit der Verkehrsträger. Wir wollen die Wahlfreiheit der Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidung, welches Verkehrsmittel in der jeweiligen Situation das Richtige ist. Daran halten wir fest. Darum sehen wir den grünen Entwurf skeptisch. Auf die Anhörung und die nachfolgenden Debatten sind wir sehr gespannt. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Reuter. Sie haben gesehen, dass eine Kurzintervention von Herrn Abgeordneten Klocke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, angemeldet wurde. Natürlich steht es Ihnen frei, diese am Rednerpult oder an Ihrem Platz entgegenzunehmen und zu erwidern.

Ich habe Ihnen das Mikro freigeschaltet, Herr Klocke.

Arndt Klocke (GRÜNE): Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Reuter, ich kann Sie erst mal beruhigen: Da gibt es kein Copy and Paste. Das wird ja gerade an anderer Stelle verwendet. Wir haben diesen Gesetzentwurf mit einer Berliner Anwaltssozietät ausgearbeitet und hatten im Frühjahr die Information aus dem Steuerungskreis – es gab ja diese Beteiligung der Initiativen und Gruppen –, dass Ihr Entwurf wohl nach der Sommerpause kommt. Dann gab es im Mai die Information – was völlig legitim ist –, dass die Landesregierung ihn schon vor der Sommerpause vorlegt. Wir haben dann einfach einen Endspurt hinlegen müssen. Mit dieser Kanzlei war es so kurzfristig nicht möglich, dass wir beides in die gleiche Plenarsitzung einbringen konnten.

Ich glaube, für das große Land Nordrhein-Westfalen und die große Geschichte wird es am Ende ziemlich egal sein, ob ein Gesetzentwurf im ersten oder zweiten Juni-Plenum eingebracht wurde. Es geht nämlich um die Inhalte. Dazu habe ich eine Nachfrage an Sie. Sie haben eben in Ihren Ausführungen durchscheinen lassen, dass das Ganze zu kurz gesprungen sei, und Kollege Voussem nannte das eben ambitionslos.

Das Bemerkenswerte ist ja, dass der Gesetzentwurf der Grünen vonseiten des großen ADFC-Fahrrad­verbandes mit über 50.000 Mitgliedern, von den Initiatoren der Volksinitiative Aufbruch Fahrrad und von anderen ausdrücklich gelobt wird, während der Entwurf der Landesregierung kritisiert wird. Wie kommt es zu dieser Beurteilung bei den Fahrradinitiativen, wenn er so ambitionslos ist, wie Sie das darstellen? Sie suchen ja auch den Kontakt zu den Initiativen, und der Minister ist auch regelmäßig im Gespräch, wie man hört.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Kollege Klocke. – Herr Kollege Reuter, Sie haben jetzt 90 Sekunden für die Erwiderung.

Ulrich Reuter*) (FDP): Herr Klocke, vielen Dank. – Ich habe nicht in Abrede gestellt, dass Ihr Gesetzentwurf durchaus viel Beachtung und auch Lob und Anerkennung durch Ihre Klientel findet. Warum das bei uns etwas anders aussieht, hängt sicherlich damit zusammen, dass wir kein ein reines Fahrradgesetz, sondern ein Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz vorgelegt haben und wir in diesem Sinne natürlich alle Modi beachten und einbeziehen. Das findet wahrscheinlich derjenige nicht ganz so gut, der – um es einmal vorsichtig auszudrücken – eher dem Fahrrad zugeneigt ist und deshalb den Bereich der Fußgänger oder der Elektro-Kleinmobilität lieber aus dem Gesetz heraushätte.

Es gibt also unterschiedliche Ansätze, und je nachdem, wen man fragt, sagen sicher auch genügend, dass der Gesetzentwurf der Landesregierung sehr brauchbar ist und man mit ihm vernünftig arbeiten kann. Von daher freue ich mich nach wie vor auf die Auseinandersetzung im Ausschuss und in der Anhörung. Danach werden wir sicherlich sehen, wie die beiden Gesetzentwürfe zu bewerten sind. – Danke.

(Beifall von der FDP und Matthias Kerkhoff [CDU])

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Reuter. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der AfD Herr Abgeordneter Vogel das Wort. Bitte sehr, Herr Kollege.

Nic Peter Vogel*) (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 18. Dezember 2019 war es endlich so weit: Wir haben in diesem Hohen Hause fraktionsübergreifend beschlossen, dass uns die Landesregierung doch bitte noch in dieser Legislaturperiode ein Fahrrad- und Nahmobi­li­tätsgesetz präsentieren möge. Das haben wir nun am Anfang des letzten Monats bekommen. Wir haben das auch im Plenum bereits besprochen, und selbst wenn wir einige Paragrafen im Inhalt kritisiert haben, muss der Fairness halber hinzugefügt werden, dass dieser Gesetzentwurf eine solide Basis bildet. Da steckt Zeit und Sachverstand dahinter, und darauf kann man aufbauen.

Ungefähr eine Woche später haben wir zu unser aller Überraschung erfahren, dass die Grünen ein eigenes Fahrradgesetz einbringen wollen. Da meinte dann auch der geneigte Beobachter: Das ist ein Herzensprojekt der Grünen. Deshalb haben sie wahrscheinlich auch vor anderthalb Jahren richtig losgelegt und ihre besten Leute reingesetzt, sodass sie uns jetzt ein Fahrradgesetz liefern, das praktikabel, rechtssicher, finanzierbar ist und das von den Leuten akzeptiert wird.

Dem war wohl nicht so, denn Sie sagten eben, Herr Klocke, Sie hätten im März losgelegt. Ich sage jetzt einfach einmal: Wahrscheinlich hat die Zeitkapazität nicht ausgereicht. Wenn wir gerade von Copy-and-paste reden, dann drängt sich dieser Verdacht auch auf, denn wir reden hier über 37 Paragrafen, von denen zwölf im Detail wortgleich sind. Auch wenn man vielleicht kleine Tricks reinbringt, indem aus Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern mal Fahrradfahrende gemacht oder Kilometer oder irgendwelche Ziffern ausgeschrieben werden – es ist identisch. Weitere zwölf Paragrafen decken sich eins zu eins mit den Gesetzentwürfen der Landesregierung.

Man sagt sich also: Okay, bei einem eigenen Fahrradgesetz muss jetzt ein Alleinstellungsmerkmal kommen. Da muss die Existenzberechtigung kommen; da wird es jetzt mal richtig kreativ. Es bleiben 13 Paragrafen über, und ich greife aufgrund meiner Redezeit nur ein paar exemplarisch heraus.

Mit den §§ 4 und 34 fordern Sie Regularien, die es bereits bis ins kleinste Detail, bis hin zur kleinsten DIN-Norm gibt.

In den §§ 6 und 14 beziehen Sie sich auf ein Nachfragepotenzial für den Fahrradverleih. Der Unterschied zwischen unserer und Ihrer Verkehrspolitik ist: Wir richten uns nach dem Bedarf und wollen dementsprechend ein gutes Angebot aufsetzen. Wenn wir dann sehen, wie sich das Ganze entwickelt, kann man das peu à peu aufstocken. Wir verleihen also nicht nach dem Gießkannenprinzip 100 Fahrräder; denn wenn die Nachfrage nicht vorhanden ist, verrotten diese Dinger und kosten uns ein Heidengeld.

In § 29 machen Sie den ganz großen Wurf. Da wird noch der motorisierte Individualverkehr und der Güterverkehr hineingenommen, aber von Fußgängern und deren Bedürfnissen sehen wir dort überhaupt nichts.

Zur Finanzierung: Die Landesregierung wendet für Fahrradwege Rekordsummen auf. Das ist nun einmal so. In Bezug auf unsere geringe Dichte an Fachkräften und Personal lässt sich da im Augenblick auch nicht viel mehr rausholen. Die Grünen sagen sich jedoch: Meine Güte, wir brauchen uns mit den Zahlen gar nicht großartig zu beschäftigen, wir wollen sie einfach jetzt mal schön verdoppeln. Damit reden wir von mindestens 120 Millionen Euro pro Jahr; das sind bis 2035 sagenhafte 1,56 Milliarden Euro.

Ich musste in dem Antrag tatsächlich noch einmal nachsehen, ob wir hier nicht auch bemannte Raumfahrtprogramme mitfinanzieren. Nein, es geht tatsächlich nur um Fahrradwege. Bei dem, was in den nächsten Jahren auf unser Land finanziell zukommen wird, bin ich gespannt, ob man diese Gießkanne überhaupt noch zur Verfügung hat.

Bei einer Sache möchte ich mit einer Legende aufräumen. Herr Klocke, ich finde es immer wieder erstaunlich, dass Sie selbst in den aktuellsten Interviews immer noch die Legende bemühen, bei Straßen.NRW würden sich gerade einmal zehn der 3.000 Mitarbeiter explizit mit den Fahrradwegen beschäftigen. Das ist einfach nicht richtig. Es wurden zehn von 32 Ingenieuren für die Fahrradwege eingesetzt. Das hört sich ganz anders an als zehn von 3.000.

Vielleicht ein letztes Wort zur Vision Zero: Es wäre begrüßenswert, wenn es keine Verkehrstoten mehr gäbe. Wir leben aber nun einmal in einer realen Welt. Jeder der durchschnittlich 3.000 Verkehrstoten in Deutschland ist natürlich einer zu viel. Im Vergleich dazu passieren im Haushalt aber jedes Jahr 12.000 Unfälle; die Leute putzen, sie waschen ihre Gardinen. Es ist nun einmal so: Wenn man lebt, kann man Unfälle nicht ausschließen. Die Richtung ist ein hehres Ziel, aber wir müssen realistischer bleiben.

Insgesamt bleibt zu bemerken: Hinter diesem Fahrradgesetz steckt keine Arbeit. Es wurde schlampig gemacht und dient wahrscheinlich nur dem Ziel, am Wahlstand sagen zu können: Wir haben ein eigenes Fahrradgesetz vorgelegt. Mehr hat Sie bei der ganzen Sache vermutlich nicht interessiert.

Ich bin gespannt, wie wir da im Ausschuss weiterkommen. Der Überweisung des Gesetzentwurfs werden wir zustimmen. Inhaltlich lehnen wir dieses neue Gesetz jedoch definitiv ab. – Danke schön.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Vogel. – Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Wüst das Wort.

Hendrik Wüst, Minister für Verkehr: Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Verantwortung angenommen, unseren Kindern nicht nur eine klimaneutrale Gesellschaft zu hinter­lassen, sondern auch einen Industriestandort, der Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert, und ein Land, in dem Mobilität nicht zur neuen sozialen Frage wird. Deshalb nutzen wir die Stärken aller Verkehrsmittel und jegliche Innovationspotenziale, um die Mobilität in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland besser, sicherer und sauberer zu machen.

Gerade die Elektrifizierung der Antriebe beim Fahrrad bietet uns die Chance, dieses Verkehrsmittel in Zukunft ganz anders einzusetzen, und zwar über höhere Distanzen und in topografischen Lagen, in denen man bisher höchstens sportlich Rad gefahren ist. Deswegen ist es gut, dass wir binnen zwei Wochen zum zweiten Mal einen zweiten Gesetzentwurf zum Thema Fahrrad diskutieren. Ich diskutiere diesen zweiten Gesetzentwurf auch gerne, denn die Bedeutung des Themas bestärkt mich persönlich und unsere Politik, seit dem Regierungswechsel mehr fürs Fahrrad zu tun als früher getan worden ist.

So schlecht, wie es hier teilweise vorgebracht wird, kann der von uns vorgelegte Gesetzentwurf nicht sein. Alle Fraktionen haben den Plagiatstest gemacht, und an mindestens zehn Stellen hat er angeschlagen. Ich sehe das positiv. Bei Konfuzius ist die Kopie die höchste Ehrerbietung, und so werte ich das einfach einmal als Zustimmung jedenfalls zu den plagiierten Teilen.

Ein Unterschied wird aber schon in der Überschrift deutlich. Sie machen ein reines Fahrradgesetz, und wir haben eben ein Fahrrad- und Nahmobilitätsgesetz gemacht. Das klingt – ich bedaure das sehr – etwas kompliziert, zeigt aber, dass es nicht alleine darum geht, die neuen Potenziale des Fahrrads besser zu nutzen, sondern auch darum, das Zufußgehen zu beachten und die Chancen für Zufußgehende zu verbessern.

Geht man etwas tiefer hinein, fällt als zweiter wesentlicher Unterschied der Umgang mit den Kommunen auf. Kollege Klocke hat gesagt, man wolle die Kommunen in die Pflicht nehmen. Danke für die Ehrlichkeit! Sie schreiben den Kommunen in der Tat jede Menge Dinge ins Pflichtenheft – in der Sache, vor allen Dingen aber administrative Pflichten und Aufwände: Es sollen eine kommunale Radverkehrsplanung erstellt, Sachstandsberichte verfasst und Beiräte etabliert werden.

Wir in dieser Landesregierung – Frau Kommunalministerin Scharrenbach ist ja hier – haben ein anderes Verständnis von verfassungsrechtlich garantierter kommunaler Selbstverwaltung, als das bei Ihnen augenscheinlich der Fall ist – ganz abgesehen davon, dass wir nicht erkennen, dass all der Aufwand in Ihrem Gesetzentwurf gedeckt ist; Stichwort „Konnexität“.

Wie gesagt, geht es nicht um Inhalt und Ziel. Aber ich frage mich, ob wir hier mit der richtigen Haltung den Kommunen gegenüberstehen. Wir jedenfalls haben eine fördernde, eine unterstützende Haltung. Wir sehen die Kommunen als Partner. Wir erarbeiten mit den Kommunen den Aktionsplan. Herr Kollege Stinka hat gefordert, das müsse noch konkreter werden. Im Gesetzentwurf steht das drin. Es gibt heute schon Aktionspläne. Einen Aktionsplan Fahrrad erstellen wir in Zusammenarbeit mit den Kommunen neu. Das war immer so, steht aber jetzt im Gesetzentwurf noch einmal drin. Meines Erachtens gehört nicht alles ins Gesetz. Das machen wir eben gemeinsam mit den Kommunen. Ich halte das für besser, als kleinteilig reinzuregieren oder reinzuregulieren.

Ich frage mich, woher die Skepsis kommt. Der letzte Kommunalwahlkampf hat doch gezeigt, dass das große Thema „Mobilität“ überall angekommen ist. Ich kenne keinen Bürgermeister, keine Bürgermeisterin, keinen Landrat und keine Landrätin, der oder die beim Fahrrad nicht mehr will. Deswegen ist es aus meiner Sicht der falsche Ansatz, mit Misstrauen auf die Kommunen zuzugehen.

Dort, wo Fördern wichtig ist, bevormunden Sie. Dort, wo Vertrauen wichtig ist, misstrauen Sie. Ich verstehe den Grund dafür nicht. Es ist auch nicht unsere Politik.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

An einer Stelle, die wichtig ist, sagen Sie nichts. Es geht doch darum, wie wir mehr Tempo in die Planung hineinbekommen. Das kann mit dem einen oder anderen Stakeholder unbequem werden. Aber man muss sich diesem unbequemen Punkt eben auch stellen.

(Zuruf)

Bei uns ist es so, dass wir neben viel Geld – den neuen Haushaltsplan mit 102 Millionen Euro hat Lutz Lienenkämper vorgestellt – auch Planungsbeschleunigungen im Angebot haben. Ja, es ist richtig; es ging beim Radwegebau und bei den Radschnellwegen viel zu langsam voran. Auch da muss Tempo drauf. Daran fehlt es bei Ihnen komplett.

Trotzdem kann es durchaus gut sein, mit zwei Gesetzentwürfen zu arbeiten und sich anzuschauen, was im anderen Entwurf enthalten ist, was wir vielleicht nicht bedacht haben. Insofern sehe ich der Debatte im Ausschuss mit großem Interesse entgegen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Wüst. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, sodass wir am Ende der Aussprache angelangt sind.

Daher können wir nunmehr zur Abstimmung kommen, und zwar über die Überweisungsempfehlung des Ältestenrates, den Gesetzentwurf Drucksache 17/14257 an den Verkehrsausschuss zu überweisen. Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Beides ist nicht der Fall. Dann stelle ich die einstimmige Annahme dieser Überweisungsempfehlung fest.

Wir kommen zu:

4  Freiheit für Georg Thiel! Es gibt kein Recht auf Staatsfunk-Propaganda!

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/14266

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Fraktion der AfD Herrn Abgeordneten Tritschler das Wort.

Sven Werner Tritschler (AfD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beraten wir unseren vierten und vermutlich letzten Antrag auf Freilassung von Georg Thiel.

Es ist nicht deshalb der letzte Antrag, weil Sie oder der WDR ein Einsehen gehabt hätten und diesen armen Mann endlich freigelassen hätten. Nein, er sitzt wegen rund 600 Euro offener Rundfunkbeiträge seit inzwischen über vier Monaten in Haft, und es ist leider zu vermuten, dass Sie diese Travestie des Rechtsstaats bis zum letzten Tag, also bis zum Ablauf von sechs Monaten, durchziehen.

Im Unterschied zu Herrn Thiel fahren Sie alle, meine Damen und Herren, die hierfür maßgeblich verantwortlich sind, in ein paar Wochen in den Sommerurlaub. Ungefähr dann, wenn Sie alle gut erholt und gebräunt aus dem Urlaub zurückkehren, wird auch Georg Thiel wieder ein freier Mann sein.

Da kennen Sie und unser arg verbogener Rechtsstaat keine Gnade. Nein, wenn es um die Finanzierung von WDR und Co geht, gibt es kein Pardon. Da werden alle rechtlichen Möglichkeiten zur Beitragserpressung genutzt.

Pech für Herrn Thiel, dass er nicht mit der kuscheligen Seite unseres Staatswesens zu tun hat, wie sie der Würzburg-Attentäter Jibril A. angetroffen hat, als er 2015 illegal ins Land kam! Nur wenige Monate später wurde er das erste Mal wegen einer Gewalttat polizeibekannt. Bis heute hat er keinen Asylstatus. Trotzdem war er bis Freitag auf freiem Fuß. Glück für ihn und großes Pech für Johanna H., Steffi W. und Christiane H. – man sollte die Namen vielleicht ab und zu mal nennen –, die deshalb – und nur deshalb – am vergangenen Freitag grausam gestorben sind!

Hätte doch hier unser Rechtsstaat auch nur den halben Eifer gezeigt, den er bei Georg Thiel an den Tag legt! Sie wären heute noch am Leben.

So muss man zu dem Schluss kommen, dass Menschenleben in unserem Land im Vergleich zur Finan­zierung des gut geölten öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein eher nachrangiges Gut sind.

Dazu passt es gut, dass die Redakteure der „Tagesschau“ auch heute noch, eine Woche nach der Bluttat, rätseln, welches Motiv der Täter wohl gehabt haben mag. Meine Damen und Herren, was mag er nun gemeint haben mit „Allahu Akbar“ und „Dschihad“? Sie werden es nie erfahren – zumindest nicht bei ARD und ZDF.

Aber vielleicht will man doch einfach nur Rücksicht auf das neueste Mitglied des NDR-Rundfunkrats nehmen – einen Islamisten, der mit den Stimmen von SPD und Grünen gewählt werden soll.

Überhaupt lässt der Staatsfunk derzeit kein Fettnäpfchen aus. Da war die Kommentatorin, die die 5,9 % der Grünen in Sachsen-Anhalt zum Wahlsieg erklärt hat. Da ist das geradezu rührende Bemühen, die diversen Patzer von Frau Baerbock in den vergangenen Wochen – von den vergessenen 50.000 Euro über den verpatzten Lebenslauf und die offensichtliche Inkompetenz in vielen Punkten bis zum abgeschriebenen Buch – zu decken.

WDR und Co mühen sich nach Kräften, Sankt Annalena von der Traurigen Gestalt vor kritischen Nachfragen zu schützen. Wer das infrage stellt, meine Damen und Herren, ist Rechtspopulist, vielleicht sogar ein Nazi, mindestens aber ein Frauenhasser.

Überhaupt müsste man den Rundfunkbeitrag inzwischen wohl als Parteispende bei den Grünen absetzen können. Die Social-Media-Kanäle der Staatsfunker – das gilt insbesondere bei Instagram, dem jungen Medium – dienen überhaupt nur dem Zweck, junge Menschen mit linksgrüner Propaganda vollzudröhnen, wie die „NZZ“ es kürzlich nachgewiesen hat.

Auch die dank aufgeweckter Zuschauer inzwischen aufgedeckte einseitige Selektion von Anrufern im „Presseclub“, bei „Domian“ und bei anderen Call-in-Sendungen spricht Bände über das Verständnis von Meinungsvielfalt beim WDR, aber auch hier im Haus.

Das sind nur einige wenige von vielen Beispielen für die Verkommenheit dieses völlig aus dem Leim gegangenen staatlichen Rundfunks. Dafür sitzt Georg Thiel seit über vier Monaten in einem Käfig. Das tut er aber zum Glück nicht umsonst – und damit meine ich nicht die Haftkosten, die er am Ende perverserweise wohl selbst tragen muss.

Georg Thiels Haft ist ein Zeichen, ein Aufbruchssignal, eine Hoffnung für Hunderttausende von Menschen, die dieses System nicht mehr tragen wollen. Meine Damen und Herren, da werden Sie auch den Deckel nicht mehr draufbekommen.

Georg Thiel und viele Unterstützer werden weiterhin für eine Schrumpfung dieses Apparats, eine Ab­schaf­fung des Rundfunkbeitrags und eine wirklich freie und unabhängige Berichterstattung kämpfen. Dabei wissen sie eine Mehrheit der Deutschen an ihrer Seite, und dabei können sie sich auf uns, auf die AfD, verlassen. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Als nächster Redner hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Abgeordneter Kollege Keymis das Wort.

Oliver Keymis (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum vierten Mal stellt die AfD-Fraktion zum gleichen Punkt den gleichen Antrag. Zum dritten Mal soll ich – so war die Bitte der übrigen vier Fraktionen – für alle vier Fraktionen hier sprechen.

Beim letzten Mal habe ich zu lange gesprochen. Dieses Mal werde ich mich sehr kurzfassen. Ich empfehle ausdrücklich die Lektüre meiner letzten Rede zum letzten Antrag zu diesem Thema vom 18. Juni 2021, die ich im Namen von vier Fraktionen hier im Landtag NRW gehalten habe.

Entsprechend lehnen auch heute vier Fraktionen den Antrag der AfD-Fraktion ab. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Abgeordneter Keymis. – Als nächste Rednerin hat für die Landesregierung Frau Ministerin Scharrenbach das Wort.

Ina Scharrenbach*), Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Landesregierung schließt sich der geäußerten Auffassung des Abgeordneten Keymis an. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP und den GRÜNEN)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Ministerin Scharrenbach. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, sodass wir am Schluss der Aussprache angelangt sind.

Wir kommen zur direkten Abstimmung, wie von der antragstellenden Fraktion beantragt. Wer dem Inhalt des Antrags Drucksache 17/14266 zustimmen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Das sind die Abgeordneten der Fraktion der AfD. Gegenstimmen? – Der Abgeordneten von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Gibt es eine Kollegin oder einen Kollegen, die oder der sich der Stimme enthalten möchte? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann stelle ich fest, dass der Antrag Drucksache 17/14266 abgelehnt wurde.

Ich rufe auf:

Gesetz zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes und zu Ausgleichszahlungen für geduldete Personen

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 17/14244

erste Lesung

Zur Einbringung des Gesetzentwurfs erteile ich für die Landesregierung Herrn Minister Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir den finanziellen Teil der Vereinbarung der Landesregierung mit den kommunalen Spitzenverbänden zur Migrationspolitik und Neuregelung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes vom 21. Dezember 2020 um.

Wir führen rückwirkend zum 1. Januar 2021 eine differenzierte FlüAG-Pauschale ein. Wir folgen der Empfehlung von Herrn Professor Dr. Lenk von der Universität Leipzig.

Statt der bislang für alle Kommunen einheitlichen Pauschale von 866 Euro pro Monat pro Person erhalten kreisangehörige Gemeinden nunmehr 875 Euro und kreisfreie Städte 1.125 Euro. Auf ein Jahr gerechnet, ergibt sich für kreisangehörige Gemeinden eine Pauschale von 10.500 Euro; für kreisfreie Städte sind es 13.500 Euro.

Überdies führen wir eine einmalige Pauschale in Höhe von 12.000 Euro für geduldete Personen ein, die nach dem 31. Dezember 2020 vollziehbar ausreisepflichtig wären. Nach derzeitiger Rechtslage würden die Kommunen für diese Personen nur noch maximal drei Pauschalen zu 866 Euro – das sind 2.598 Euro – erhalten. Das ist also eine ganz erhebliche Steigerung.

Wir beteiligen uns mit Einmalzahlungen an den Ausgaben der Kommunen für Personen, denen bis zum Stichtag 31. Dezember 2020 eine Duldung erteilt worden ist. Hierfür nehmen wir in den Jahren 2021 und 2022 je 175 Millionen Euro und in den Jahren 2023 und 2024 je 100 Millionen Euro in die Hand.

Die Landesregierung führt damit ihren Kurs der finanziellen und organisatorischen Entlastung der Kom­munen in der Flüchtlingspolitik fort. Wir wissen, wo die Verantwortung liegt und wie gut sie dort getragen wird. Dem müssen wir als Land selbstverständlich Rechnung tragen.

Die kommunalen Spitzenverbände begrüßen die Umsetzung der Vereinbarung im Gesetzentwurf ausdrücklich.

Die Landesregierung steht nicht allein zu diesen finanziellen Verbesserungen. Es geht auch darum, den Kreis der Bestandsgeduldeten auf Dauer zu reduzieren. Hierbei arbeiten wir daran, auch gemeinsam mit den Ausländerbehörden vor Ort und den Kommunen den Kreis der Bestandsgeduldeten zu reduzieren, indem wir auf der einen Seite die bundesrechtlichen Möglichkeiten, die wir auf dem Erlasswege haben, dazu nutzen, die beste Bleibeperspektive für dauerhafte Aufenthalte für gut integrierte Geduldete zu schaffen, und auf der anderen Seite auch die kommunalen Ausländerbehörden durch mittlerweile fünf zentrale Ausländerbehörden unterstützen, und zwar bei der Passersatzbeschaffung und der Logistik, um die Rückführungen entsprechend durchführen zu können. Das heißt: Wir wollen von beiden Seiten aus versuchen, die Zahl der Geduldeten deutlich zu reduzieren.

Wir wissen auch, dass es für diese Entwicklung leider europa- und bundesrechtliche Deckel gibt. Ich hoffe, dass wir mit der nächsten Bundesregierung eine aktivere Politik des Bundes erleben werden, die mehr Gestaltungsspielräume eröffnet. Dementsprechend wollen wir daran arbeiten, dazu zu kommen, dass eine Duldung langfristig nur noch das ist, was sie ursprünglich einmal gewesen ist, nämlich letztendlich eine Ausnahmeregelung, und dass diejenigen, die gut integriert sind, hier einen dauerhaften Aufenthalt haben, aber diejenigen, die das nicht sind – insbesondere natürlich Straftäter und Gefährder –, konsequent zurückgeführt werden.

Wir haben mit dem Erlass zu den §§ 60c und 60d des Aufenthaltsgesetzes zur Ausbildungs- und zur Beschäftigungsduldung auch dazu beigetragen, mittelfristig Perspektiven zu verbessern, was über ein sicheres Bleiberecht beim Arbeitsmarktzugang hilft.

Ich freue mich, dass wir in sehr vielen Gesprächen mit den kommunalen Ausländerbehörden sehen, dass diese Art und Weise, wie wir herangehen, in der Praxis umgesetzt wird. Das kostet Mühe; das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Ich habe von Anfang an den direkten Kontakt zu den Ausländerbehörden in Nordrhein-Westfalen gesucht. Ich habe gespürt, dass sie eine andere Wertschätzung brauchen.

Natürlich haben die Ausländerbehörden vor Ort jetzt in der Pandemie auch sehr gelitten, weil sehr viele in den Gesundheitsbereich abgeordnet worden sind. Das ist auch völlig normal. Das hätten wir wahrscheinlich als Hauptverwaltungsbeamte alle so ge­macht und in einer solchen existenziellen Situation natürlich Personal von anderen Ämtern in den Gesundheitsbereich verlagert.

Aber wir müssen jetzt – dazu bin ich auch im intensiven Austausch mit den kommunalen Spitzenverbänden – sehen, dass wir auch die Ausländerämter wieder stärken.

Wir werden sie im Übrigen auch durch das ganz massiv stärken, was wir heute unter Tagesordnungspunkt 2 besprochen haben. Denn durch das Teilhabe- und Integrationsgesetz wird das kommunale Integrationsmanagement mit dem Casemanagement gesetzlich dauerhaft abgesichert. Damit bekommen wir eine ganz neue Ordnung, Struktur und Effizienz im gesamten kommunalen Bereich von Migration und Integration.

Das ist ein sehr großer Fortschritt, den wir hier für unser Land erreichen. Er wird vor allem in zwei, drei, vier oder fünf Jahren richtig Wirkung entfaltet haben. Aber der Grundstein dafür ist gelegt. Ich freue mich, wenn wir diesen Weg hier gemeinsam weitergehen können. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Herr Minister Dr. Stamp. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der CDU Frau Abgeordnete Kollegin Wermer das Wort. Ich erlaube mir für alle Fraktionen noch folgenden Hinweis: Die Landesregierung hat ihre Redezeit um 1 Minute 24 Sekunden überzogen, sodass auch die Fraktionen diese Redezeit in Anspruch nehmen können, aber nicht müssen. – Bitte sehr, Frau Kollegin Wermer.

Heike Wermer (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Integration findet vor Ort, nämlich in den Kommunen, statt.

Wir alle wissen, dass Flüchtlingsaufnahmen mit Kosten verbunden sind. Diese Kosten tragen neben Bund und Ländern auch die Kommunen. Das gilt vor allem für die Kosten, die bei der Ausführung des Asylbewerberleistungsgesetzes entstehen, aber auch im Zusammenhang mit der Unterstützung von Geduldeten. Mit einer Pauschale wird deshalb seit 2017 versucht, Kommunen finanziell bei der wichtigen Aufgabe der Flüchtlingsunterbringung zu entlasten.

Als CDU verstehen wir uns als Partner der Kommunen, als Partner der engagierten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Wir wollen die Kommunen in Zukunft weiter entlasten.

Deshalb freue ich mich, dass der vorliegende Gesetzentwurf diese finanziellen Entlastungen vorsieht und sie bereits mit den kommunalen Spitzenverbänden abgestimmt sind.

Für die lange Vorarbeit gilt unserem Integrationsminister Dr. Stamp und seinem Haus, aber auch dem Finanzminister Lutz Lienenkämper mein Dank.

(Christian Dahm [SPD]: Hat ja lange genug gedauert!)

Welche finanziellen Entlastungen sind also mit der Novellierung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes, kurz FlüAG, für die Kommunen vorgesehen? Minister Stamp hat das zwar gerade dazu ausgeführt; aber ich möchte es uns noch einmal vor Augen führen.

Das FlüAG sieht für die Kommunen eine Kostenpauschale pro berücksichtigungsfähigem Flüchtling vor. Diese wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angepasst und – viel wichtiger – angehoben. Das sogenannte Lenk-Gutachten zur Anhebung der Pauschale wird damit eins zu eins umgesetzt. Die FlüAG-Pauschale von derzeit 10.392 Euro pro Jahr wird somit auf 10.500 Euro für kreisangehörige Gemeinden und auf 13.500 Euro für kreisfreie Städte hochgesetzt.

Des Weiteren möchte das Land eine Entlastung bei der Kostenübernahme für Geduldete schaffen. Deshalb ist eine einmalige Zahlung einer weiteren Pauschale für die Geduldeten vorgesehen, deren Ausreisepflicht nach dem 31. Dezember 2020 eingetreten ist. Diese Pauschale von 12.000 Euro pro Geduldetem geht ebenfalls an die Kommunen.

Zusätzlich unterstützt das Land die Kommunen mit zwei Einmalzahlungen von 175 Millionen Euro in diesem und im kommenden Jahr sowie mit zwei weiteren Zahlungen von 100 Millionen Euro in den Jahren 2023 und 2024. Dieses Geld wird für die vielen Bestandsgeduldeten vor dem 31. Dezember 2020 für die Arbeit der Kommunen bereitgestellt.

Finanzielle Hilfe ist das eine. Aber das andere ist, dass die Kommunen schon viel früher entlastet werden. Wir alle wissen, wie frustrierend es vor allem für die ehrenamtliche Integrationsarbeit vor Ort ist, Personen mit schlechter Bleibeperspektive oder negativem Asylbescheid Kommunen zuzuweisen. Deshalb hat das Land seit 2017 neben dem Aspekt der Integration auch an der Kehrseite gearbeitet, nämlich am Rückkehrmanagement.

Mit dem Asyl-Stufenplan wurde ein in sich konsistenter Fahrplan erarbeitet, um die teils schleppenden Verfahren zu beschleunigen. Das Ziel ist klar: nur noch positiv beschiedene Asylbewerber den Kommunen zuzuweisen, Ausreisepflichtige aus den Landeseinrichtungen zurückzuführen und vor allem die hohe Zahl an Geduldeten und Bestandsgeduldeten abzuarbeiten. Das dient auch dem Wohle der Betroffenen.

Zwei Dinge sind dafür wichtig: erstens, an Ausreisehindernissen zu arbeiten, und zweitens, Menschen aus Kettenduldung, aus einer Unsicherheit, herauszuholen. Dabei spreche ich vor allem von gut integrierten Geduldeten oder von gut integrierten Familien, die sich schon seit Jahren einen Platz in unserer Gesellschaft erarbeitet haben. Wir alle kennen solche Fälle aus unseren Wahlkreisen.

Man sollte also auf der einen Seite diejenigen zügig abschieben, die kein Anrecht auf Asyl in unserem Land haben, und auf der anderen Seite einen pragmatischen Weg für diejenigen finden, bei denen es seit Jahren ein Abschiebehindernis gibt, die sich aber nichts haben zuschulden kommen lassen, sondern stattdessen gut integriert sind.

Deshalb bin ich sehr froh über den in NRW eingeschlagenen Weg – Minister Stamp hat es vorhin erzählt –, mit den Ausländerbehörden vor Ort zu sprechen und sie für die betroffenen Menschen zu sensibilisieren.

Wir sehen also: Die Aufnahme von Flüchtlingen ist immer komplex. Die Kosten sind es ebenso. Die NRW-Koalition widmet sich dieser Aufgabe verantwortungsvoll und zuverlässig.

Auf die Beratung des Gesetzentwurfs im Integrationsausschuss freue ich mich. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Wermer. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion der SPD Frau Abgeordnete Kollegin Stock das Wort.

Ellen Stock*) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Prinzip könnte man beim Lesen des Gesetzentwurfes sagen: Was lange währt, wird endlich gut. – Aber wie lange musste es währen?

Das Gutachten von Professor Lenk, auf das sich nun auch der Gesetzentwurf stützt, liegt seit 2018 vor. Seither gab es mehrere Versuche, die Ergebnisse des Gutachtens in politisches Handeln zu überführen – nur leider nicht von der Landesregierung.

Von den Grünen gab es 2019 einen Antrag und Ende des vergangenen Jahres einen Gesetzentwurf.

Vor fast genau einem Jahr haben wir unseren SPD-Antrag hier ebenfalls vor einer Sommerpause eingebracht. Wir forderten eine auskömmliche Finanzierung, also die Anpassung der Kostenerstattung an die tatsächlichen Kosten der Kommunen für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen. Außerdem verlangten wir die Verlängerung der Dauer der Kostenerstattung für geduldete Personen. Damals wurde der Antrag von CDU und FDP abgelehnt.

Nun rühmt sich Minister Stamp damit, das Gutachten von Herrn Professor Dr. Lenk eins zu eins umgesetzt zu haben. Da darf man fragen: Wieso musste man darauf so lange warten?

Es ist wirklich gut, dass es umgesetzt worden ist. Das hätte nur viel schneller geschehen müssen.

(Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration – Christian Dahm [SPD]: Es waren nicht die Spitzenverbände, Herr Minister! – Zuruf von der CDU)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Herr Kollege, Frau Kollegin Stock hat das Wort.

Ellen Stock*) (SPD): Es hätte wirklich schneller umgesetzt werden müssen – vor allem für die Kommunen, die nicht auskömmlich finanziert wurden, und das seit dem Jahr 2018 sogar nachweislich.

Wer erstattet ihnen denn jetzt die Kosten, deren Erstattung ihnen laut dem Gutachten rückwirkend zusteht? Die Landesregierung hatte versprochen, dies zu tun. Darüber sollten wir im Ausschuss unbedingt noch einmal sprechen.

(Beifall von der SPD – Zuruf von der SPD: So ist es!)

Wir sollten auch noch einmal darüber sprechen, dass es keine Differenzierung nach Städten und Gemeinden gibt.

Wir finden aber tatsächlich auch löbliche Punkte. Das ist beispielsweise die Bleibeperspektive für gut integrierte geduldete Menschen. Das finden wir in der Theorie sehr gut. In der Praxis gibt es da aber noch sehr viel an Kommunikation zu erarbeiten. Denn immer noch werden gut integrierte Menschen abgeschoben.

Es ist natürlich auch begrüßenswert, dass die Kostenerstattung für geduldete Menschen nun tatsächlich über einen wesentlich längeren Zeitraum erfolgt.

Kurz und gut: Wir sind der Ansicht, dass die Landesregierung viel früher hätte handeln können und müssen. Unter diesem Versäumnis sollten die Kommunen nicht leiden. Generell begrüßen wir aber den Gesetzentwurf, stimmen der Überweisung zu und freuen uns auf einen regen Austausch im Ausschuss. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsidentin Angela Freimuth: Vielen Dank, Frau Kollegin Stock. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der FDP Herr Abgeordneter Kollege Lenzen das Wort.

Stefan Lenzen (FDP): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Unsere Kommunen haben im Zuge der Flüchtlingsmigration ab 2015 Großes geleistet, angefangen bei der Unterbringung der Geflüchteten über die ersten Schritte des Ankommens bis hin zur Integration.

Seit Juni 2017 haben sie dabei starke Partner an ihrer Seite: die Landesregierung mit unserem Minister Dr. Joachim Stamp und der NRW-Koalition aus CDU und FDP.

Wir haben es schon klar deutlich gemacht: Mit dem Asyl-Stufenplan haben wir die Zuweisungszahlen für die Kommunen reduziert. Genauso haben wir aber auch gut integrierten Geflüchteten mittels unserer Erlasse – über die sogenannte 3+2-Regelung und die Ausbildungsduldung wie auch über den Bleiberechtserlass – weitere Chancen eröffnet und dies auch den Ausländerbehörden an die Hand gegeben, um damit die Zahl der Geduldeten weiter reduzieren zu können.

Außerdem – darüber haben wir heute Vormittag schon gesprochen – stärken wir die Strukturen vor Ort, wie schon im letzten Jahr mit der Umsetzung des kommunalen Integrationsmanagements begonnen. Heute bringt die Landesregierung mit der Änderung zum Flüchtlingsaufnahmegesetz einen weiteren Meilenstein zur Unterstützung der kommunalen Flüchtlings- und Integrationsarbeit ein.

Statt unüberlegter Schnellschüsse – das muss man auch noch einmal sagen –, wie sie von der demokratischen Opposition mehrfach gefordert wurden, lag uns von Beginn daran – das war uns besonders wichtig –, eine Einigung mit den kommunalen Spitzenverbänden zu erzielen, die Ende letzten Jahres vorlag. So ist auch dieser Gesetzentwurf ein Ergebnis der Gespräche unseres Ministers Dr. Joachim Stamp mit den kommunalen Spitzenverbände. Die Vereinbarung, die dort getroffen wurde, wurde in den Gesetzentwurf eingeführt und dort festgegossen.

(Zuruf von der SPD: Anders wäre ja auch doof!)

Wir sorgen dafür, dass die FlüAG-Pauschalen erhöht werden. Gemäß dem Gutachten von Professor Lenk wird das eins zu eins umgesetzt. Wir sorgen auch dafür, dass die Erstattungen für neue Geduldete erhöht werden. Wenn man das sauber umgerechnet, bedeutet es für die Kommunen in Zukunft vierzehn statt drei Monate. Das ist ein ganz klarer Fortschritt, der zu einer Entlastung unserer Kommunen führt.

Man darf nicht vergessen: Diese sind, auch wenn der Geduldete ausreist oder sich sein Rechtsstatus ändert, nicht zurückzuzahlen. Das heißt, auch hier lohnt sich das Engagement.

Die Kommunen werden vom Land auch unterstützt, sodass sie auf der einen Seite die rechtliche Möglichkeit haben, den Geduldeten eine Bleiberecht­pers­pektive zu eröffnen, und auf der anderen Seite beim Thema „Ausreise und Abschiebung“ mit dem Land zusammenarbeiten können. Entsprechend werden die Kommunen diese Gelegenheit nutzen. Dann werden sie nicht bestraft, sondern belohnt und müssen diese Zahlungen auch nicht erstatten.

Ich finde, es ist ein klares Signal, wenn die NRW-Koalition sagt: Wir möchten diesen Weg gemeinsam mit den Kommunen gehen.

Zur Erinnerung: Der Bund hat daran bisher nichts geändert; er erstattet weiterhin lediglich für einen Monat. Das muss man erwähnen. Das wäre – das in Richtung Sozialdemokraten – ein Punkt, an dem man etwas machen könnte. Das würde den Ländern und Kommunen beträchtlich helfen.

Beim Thema „Aufwendungen für Bestandsgeduldete“ lassen wir die Kommunen nicht alleine. Auch durch entsprechende Einmalzahlungen werden wir die kommunalen Haushalte in diesem Jahr bis 2024 weiter entlasten. Das ist ein gutes und wichtiges Signal.

Mir haben viele Bürgermeister gerade im ländlichen Raum zurückgespielt: Denkt an die Bestandsgeduldeten, wir brauchen da eine Lösung. – Auch das ist in dieser Gesetzesänderung vorgesehen. Das wurde von dieser Landesregierung, dieser NRW-Koalition aus FDP und CDU, gehört. Wir nehmen das sehr ernst, wie diese Änderung des Gesetzes zeigt.

Gemeinsam mit der kommunalen Familie werden wir weiter daran arbeiten, die Zahl der Geduldeten zu verringern. Da gilt weiterhin der klare Zweiklang:

Wir schaffen mehr Chancen für die gut Integrierten und schöpfen den bundesrechtlichen Spielraum aus. Der Minister hat es schon ausgeführt: Wir könnten uns da noch mehr wünschen. Dann würden wir auch gerne noch mehr ausschöpfen. Die Ausländerbehörden sollten diese Gelegenheiten auch nutzen.

Genauso stärken wir das Rückkehrmanagement; das ist die andere Seite der Medaille. Beispielsweise haben wir in allen fünf Regierungsbezirken zentrale Ausländerbehörden aufgebaut. Wir unterstützen die Kommunen bei dem schwierigen Thema der Abschiebung.

Durch Förderprogramme von Bund und Land unterstützen wir auch bei der freiwilligen Ausreise. So haben wir zum Beispiel die Verweildauer in den Landeseinrichtungen extra für die Personen ausgeweitet, bei denen eine schnelle Rückführung durchzuführen ist.

Land und Kommunen müssen gemeinsam die Zahl der Geduldeten reduzieren. Die dann freiwerdenden Ressourcen können wir für die Integration der Menschen mit Bleibeperspektive nutzen. Darüber haben wir heute Vormittag auch beim Teilhabe- und Inte­grationsgesetz debattiert. Wir möchten Teilhabe und Integration weiter stärken.

Die Koalition aus FDP und CDU sieht unser Land als Partner der Kommunen. Wir wissen, dass die Aufnahme von Geflüchteten und deren Integration nicht ohne das kommunale Engagement gelingen kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere Kreise, Städte und Gemeinden niemals im Stich lassen werden und niemals im Stich gelassen haben.

(Beifall von Dr. Werner Pfeil [FDP] und Josef Hovenjürgen [CDU])

Gemeinsam mit der kommunalen Familie und auf wissenschaftlicher Basis haben wir diese Eckpunkte des neuen Flüchtlingsaufnahmegesetzes erarbeitet. Wir werden unsere Kommunen finanziell und organisatorisch stärken, wir entlassen sie aber auch nicht aus ihrer Verantwortung.

Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen im Ausschuss und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. – Danke schön.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Lenzen. – Nun spricht Frau Düker für die Grünen.

Monika Düker (GRÜNE): Danke sehr. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich noch gut, Herr Minister, an die zweite Lesung zur Reform des Flüchtlingsaufnahmegesetzes im Mai 2016, mit der wir damals die Jahrespauschale auf eine Monatspauschale umgestellt haben, sie um 30 % erhöht und damit die Finanzierung der kommunalen Flüchtlingsunterbringung auf komplett neue Füße gestellt haben.

Sie haben diese Reform damals abgelehnt. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an den Grund erinnern. Sie haben gesagt, das alles gehe Ihnen nicht schnell genug.

2016 hatten wir, Rot-Grün, ein Übergangsjahr, bevor 2017 die strukturelle Umstellung erfolgen sollte. Das alles ging Ihnen nicht schnell genug, das hätte man schon 2016 schaffen können. – Das war Ablehnungsgrund eins.

Ablehnungsgrund zwei war, dass Ihnen die Erstattung der Kosten von Krankenbehandlungen über 35.000 Euro zu wenig war. Gemeinsam mit der CDU forderten Sie eine Grenze ab 10.000 Euro.

Herr Minister, wenn Sie diese Messlatte heute noch anlegen würden, müssten Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf eigentlich ablehnen.

(Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration: Nein!)

Sie setzen erst mit dreijähriger Verspätung – keine Eile – die Vereinbarung mit den Kommunen um. Schon Ende 2015 einigte sich Rot-Grün mit den kommunalen Spitzenverbänden auf eine grundlegende Reform der Flüchtlingsfinanzierung, die angesichts der damaligen hohen Flüchtlingszahlen – ich brauche das hier nicht auszuführen – nicht mehr funktional und kostendeckend war.

Bestandteile der Vereinbarung waren im Wesentlichen erstens die Umstellung auf die Monatspauschale inklusive einer Dynamisierung, die der Bund damals geflissentlich unterlassen hat, und zweitens damit einhergehend eine 30%ige Erhöhung der Pauschalen.

Angesichts der finanziell enorm angespannten Lage, in der wir damals waren, war dies ein enormer Kraftakt, der im damaligen Haushaltsjahr zu Zuweisungen an die Kommunen von fast 2 Milliarden Euro führte.

Drittens. Wir haben die Aufnahme der Geduldeten erstmals in die Erstattung aufgenommen.

Viertens – jetzt kommt es, Herr Minister –: Damals wurde vereinbart, dass es im Jahr 2017 eine Istkostenerhebung gibt, die dann zu einer neuen Vereinbarung über eine entsprechende Anpassung der Pauschalen im Jahr 2018 führen sollte. Davon sind die kommunalen Spitzenverbände damals ausgegangen.

Diese Vereinbarung wurde nach Regierungsübernahme von Ihnen überhaupt nicht infrage gestellt, was gut war, aber leider nicht umgesetzt. Es verging das Jahr 2018; eine Anpassung erfolgte nicht. Es verging das Jahr 2019; die Steuereinnahmen sprudelten, Sie hätten Geld gehabt, 2 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen jedes Jahr. Die Jahre 2019 und auch 2020 gingen dahin, ohne dass eine Anpassung erfolgte.

Erst nach massivem Druck aus den Kommunen und nach ungezählten Anträgen und Anfragen der Opposition kommen Sie jetzt, im Sommer 2021, kurz vor Ende der Legislaturperiode mit diesem Gesetz.

(Zuruf von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)

Hier muss man den Hintergrund noch einmal deutlich nennen: Im Jahr 2016, als Ihnen die Umstellung nicht schnell genug ging, gab es 2 Milliarden Euro Zuweisungen im Rahmen der Flüchtlingsaufnahme. Im Gegensatz dazu hatten Sie im Jahr 2020 – als Beispiel aus den letzten Jahren – mit 547 Millionen Euro gerade mal ein Viertel der Ausgaben. Diese Erhöhung wäre locker zu finanzieren gewesen, und zwar schon vor dem Jahre 2021, denn damals sprudelten die Steuern noch enorm.

Sie, Herr Minister, haben das gepflegt ausgesessen und die Kommunen hingehalten.

Kommen wir noch einmal zum zweiten Ablehnungsgrund. Hier ist ein Blick in die Plenarprotokolle interessant. Sie haben gesagt, dass Ihnen die Erstattung oberhalb von 35.000 Euro pro Jahr und Geflüchteten bei Krankenkosten viel zu wenig war und forderten 10.000 Euro.

Ich frage Sie: Warum haben Sie Ihre Forderung nicht einfach umgesetzt? Das war 2016 Ihr Ablehnungsgrund. Jetzt übernehmen Sie diese Regelung. – So viel zum Thema „Glaubwürdigkeit“.

(Beifall von den GRÜNEN)

Im Gegensatz zu Ihnen gehen wir heute konstruktiver mit Ihren Gesetzentwurf um, als Sie es damals getan haben. Wir werden uns mit Nachfragen und Anregungen im Verfahren einbringen. Insbesondere ist uns nicht ersichtlich, warum Sie die Finanzierung der Geduldeten – die richtig ist, das muss jetzt passieren – außerhalb der Monatspauschalen implementieren.

Das und anderes werden wir im Verfahren klären. Wir werden uns einbringen und nicht mit solchen Plattheiten wie Sie damals einfach alles ablehnen.

(Lachen von Dr. Joachim Stamp, Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration)

Ihr Gesetzentwurf kommt spät, aber immerhin kommt er. Frau Wermer, Herr Lenzen, Herr Stamp, das ist noch lange kein Grund für Selbstlob und Ihre Selbstbeweihräucherung, die Sie heute hier an den Tag gelegt haben. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Frau Düker. – Jetzt spricht Herr Loose für die AfD-Fraktion.

Christian Loose (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit 925 Millionen Euro legt Herr Minister Stamp den Mantel des Schweigens über das Abschiebe- und Rückführungsversagen der eigenen Regierung. Denn dass es sich um ein Versagen handelt, zeigen die Zahlen eindeutig.

Zum Stand 31.03. befanden sich in NRW 75.724 ausreisepflichtige Personen. Im gleichen Zeitraum, also von Januar bis März, sind nur 718 dieser Personen abgeschoben bzw. zurückgeführt worden. Sind das die Erfolge, Frau Wermer, Herr Lenzen, von denen Sie sprechen?

Besonders profitieren von den 925 Millionen Euro die Städte, die sich ganz ohne Anbindung an das Meer zum sicheren Hafen erklärt haben und ohne Rücksicht auf die städtische Wohnsituation immer wieder wie eine Sirene „Willkommen“ rufen. Auch die dazugehörende Sozialindustrie kann sich wieder über ein paar Hundert Millionen Euro freuen. Die Verbände der Genossen sind so finanziell abgesichert.

Was bedeuten die 925 Millionen Euro nun konkret? – Um satte 30 % wird die sogenannte FlüAG-Pauschale in den kreisfreien Städten erhöht. Die kreisfreien Städte bekommen damit Monat für Monat 1.125 Euro für jeden einzelnen Asylbewerber.

Den neuen Geldsegen für die Städte gibt es aber nicht nur für die Asylbewerber im laufenden Verfahren, nein, jetzt gibt es auch noch pauschal 12.000 Euro, wenn der Asylbewerber bereits abgelehnt wurde und eigentlich das Land verlassen müsste.

(Ein Kind weint.)

Bezahlen muss es dann unsere neue Jugend – die jungen Kinder, die hier dabei sind. Sie müssen später alles bezahlen.

Statt Ausreise erfolgt aber allzu oft nun die Dauerduldung – für die Städte dank der Gelder kein schlechtes Geschäft. Dann vermietet man sein Hotel auch gerne mal zu überzogenen Preisen. Wir erinnern uns an den Fall eines CDU-Vorstandsmitglieds in Köln.

Bezahlt wird das Ganze nicht nur von der Jugend, sondern auch von dem Arbeiter, der morgens früh aufsteht, um zur Schicht zu fahren, sei es die Altenpflegerin, sei es der Polizist oder die U-Bahn-Fahrerin.

Aber halt, es muss nicht immer die Allgemeinheit bezahlen. Edle Menschen, die es wirklich ernst meinen, können sich beispielsweise als Mentor engagieren. Es gibt ein tolles Bundesprogramm namens „Neustart im Team“, kurz: „NesT“. Die Mentoren schließen sich zu einer Unterstützergruppe zusammen, teilen sich über zwei Jahre hinweg die Kaltmiete für einen Migranten und übernehmen zusätzlich die soziale Betreuung – für die moralisch erhabenen Menschen ein faires Angebot.

Deshalb fragte meine Kollegin Frau Walger-Demolsky die Landesregierung nach dem Erfolg des Programms in NRW. Die Antwort dürfte die Bevölkerung allerdings enttäuschen. In den letzten Jahren haben sich jeweils ganze drei Mentoren gefunden, die das gemacht haben. Noch einmal: ganze drei Mentoren.

Von der Landesregierung hat sich keine einzige Person gefunden, die als Mentor am Programm teilgenommen hat. Aber vielleicht gehört ja einer von Ihnen hier zu den drei Mentoren im letzten Jahr. Stehen Sie ruhig auf, lassen Sie sich feiern. Sind Sie vielleicht Mentor, Herr Kutschaty? Sind Sie vielleicht Mentor, Frau Schäffer? Oder Sie, Herr Löttgen? Oder Herr Rasche? Sind Sie einer dieser Mentoren, die da so edel helfen?

Meine Damen und Herren, Sie alle rufen allzu häufig nach dem Staat, aber eigene Verantwortung wollen Sie nicht übernehmen. Und dann beschweren Sie sich auch noch, dass ich das Ganze hier anspreche.

(Zuruf: Mein Gott!)

Aber es muss angesprochen werden, auch im Sinne all unserer Bürger, die das Ganze bezahlen sollen.

(Zuruf von der CDU)

– Sie rufen immer nur nach dem Staat, aber wenn es darauf ankommt, wollen Sie nicht selber helfen, selber zahlen.

Sprechen wir doch einfach mal über die Verantwortung der Regierung und deren Erfolge. Herr Stamp möchte die Anzahl der Geduldeten reduzieren. Was schlägt er mit diesem Gesetz vor? Etwa, mehr Länder zu sicheren Staaten zu erklären? Den Passersatz schneller zu klären? – Nein, er will sogenannte gut integrierte Geduldete einfach umetikettieren und damit aus seiner Statistik verschwinden lassen.

Aus der Statistik von Herrn Stamp bedeutet dann: rein in die Hartz-IV-Statistik. So titelte die Zeitung „DIE WELT“ heute – ich zitiere –: „Ansprüche ausländischer Hartz-IV-Bezieher haben sich seit 2007 fast verdoppelt“. Noch einmal: Die Ansprüche ausländischer Hartz-IV-Empfänger haben sich seit 2007 verdoppelt.

Die Kosten sind nun allerdings nicht weg. Sie sind zwar nicht mehr im Integrationsbereich, dafür aber jetzt im Hartz-IV-Bereich. Und bezahlen muss es immer noch der Gleiche, nämlich der hart arbeitende Bürger mit seinen Steuern.

Aber für Herrn Stamp zählt nur die Statistik. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ heißt es da.

Was heißt eigentlich „gut integriert“ für den Minister? – Wer ein Einkommen von 51 % des Hartz-IV-Satzes zuzüglich Miete verdient, der gilt als gut integriert. Immerhin konnte Herr Minister Stamp damit die Anzahl der sogenannten gut integrierten Geduldeten im letzten Jahr sogar verdoppeln. Statt 1 % der Geduldeten gelten nun ganze 2 % der Geduldeten als gut integriert. Fehlen nur noch schlappe 98 %, Herr Stamp. Und das verkünden Sie im Ausschuss dann auch noch als Erfolg.

Kommen wir zum Fazit des Gesetzentwurfes: Das Gesetz zielt darauf ab, den Städten noch mehr Geld für die Asylbewerber zu geben. Damit sinkt aber der Anreiz für die Durchsetzung unseres Asylrechtes.

Wir hingegen sagen: Abgelehnte Asylbewerber sind abzuschieben, und über sichere Drittstaaten eingereiste Asylbewerber sind zurückzuführen. Alles andere führt ansonsten zu einer dauerhaften Asyleinwanderung. Das ist weder gerecht noch bezahlbar. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Loose. – Nun sind wir am Ende der Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfes Drucksache 17/14244 an den Integrationsausschuss – federführend –, an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen sowie an den Haushalts- und Finanzausschuss. Wer stimmt der Überweisung zu? – Gegenstimmen? – Nein. Enthaltungen? – Auch nicht. Damit ist Gesetzentwurf Drucksache 17/14244 einstimmig so überwiesen.

Ich rufe auf:

6  Das Landesverwaltungsnetz weiterentwickeln, um der steigenden Bedeutung digitaler Verwaltungsprozesse gerecht zu bleiben

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14260

Die Aussprache ist eröffnet. Herr Bolte-Richter kommt ans Pult und spricht für die Grünen. Bitte schön, Herr Bolte-Richter.

Matthi Bolte-Richter*) (GRÜNE): Vielen Dank. – Herr Präsident! Es geht um das Landesverwaltungsnetz. Das klingt ein bisschen nerdig und ein bisschen trocken, der perfekte Einstieg in eine der letzten Debatten vor der Sommerpause.

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Das Landesverwaltungsnetz ist eine wichtige und kritische Infrastruktur. Wir nehmen insgesamt wahr, dass die Angriffe auf digitale Infrastrukturen zunehmen, auch Angriffe von außen. Damit steigt natürlich die Herausforderung an die Sicherheit.

Wenn Verwaltungen digital arbeiten können, dann bringt das enorme Vorteile für alle mit sich; das hat nicht zuletzt die Pandemie im vergangenen Jahr deutlich demonstriert.

Die Digitalisierung der Verwaltung geht voran, wir haben es hier immer wieder besprochen. Sie geht nicht so schnell voran, wie sie vorangehen sollte, aber wenn es irgendwann einmal so weit ist, dann wird das dazu führen, dass wir vieles anders und besser machen können.

Die digitale Verwaltung wird auch zu mehr guten Erfahrungen der Bürgerinnen und Bürger führen, nicht zuletzt weil aufgrund des Onlinezugangsgesetzes bald alle Verwaltungsleistungen für Bürgerinnen und Unternehmen auch digital möglich sein müssen. Alles das sorgt aber dafür, dass die Anforderungen an die dahinterliegende Technik massiv steigen.

Das Landesverwaltungsnetz ist die grundlegende Infrastruktur für die digitale Verwaltungskom­munika­tion im Land. Wenn Verwaltungen wirklich digital arbeiten sollen, dann muss das sicher und dauerhaft funktionieren.

Wir haben vor wenigen Wochen feststellen müssen, dass das nicht immer der Fall ist. Zwischen dem 19. und 21. April gab es eine technische Großstörung im Landesverwaltungsnetz mit Folgestörungen in den zentralen Netzwerkkomponenten. Dadurch konnten 40 Einrichtungen und Behörden teilweise ganz oder nicht mehr im Netzwerk arbeiten.

Betroffen waren zwei Bezirksregierungen, der Bau- und Liegenschaftsbetrieb, weitere Landesbetriebe, mehrere Hochschulen und Studierendenwerke, das Justizministerium und mehrere Gerichte. Indirekt führte dieser Ausfall auch dazu, dass die Coronafallzahlen mitten in der dritten Welle nicht rechtzeitig gemeldet werden konnten. Dieses Stören zeigt, dass an der Stelle Handlungsbedarf besteht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, es ist ein gemeinsames Problem, das wir gemeinsam bearbeiten sollten. Mit diesem Antrag legen wir heute einige Punkte vor, die aufzeigen, wo Handlungsbedarf für die Landesregierung besteht. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.

Lassen Sie uns genau prüfen, an welchen Stellen wir gemeinsam für die Funktionsfähigkeit des Landesverwaltungsnetzes arbeiten können, was verbessert werden muss, welche Maßnahmen umgesetzt werden müssen. Unser Antrag nennt hierfür konkrete Handlungsfelder.

Die angesprochene Großstörung zeigt, dass Ausfälle von angemieteten Netzwerkleitungen bestmöglich vermieden werden müssen. Wo sie nicht vermieden werden können – und das ist der Gang der Dinge –, müssen sie schnellstmöglich abgestellt werden.

Die Reaktionszeit war im vorliegenden Fall eindeutig zu lang und muss bei zukünftigen Störungen verkürzt werden. Es geht um ausreichende Kapazitäten im Notbetrieb und bei der Störungsbeseitigung. Es braucht mehr Trainings und sichere Routinen für Störfälle, damit IT-Sicherheit dauerhaft gewährleistet und gelebt werden kann. Es gibt auch Hinweise darauf, dass wir mehr Tests brauchen.

Wir müssen auch den Bedarf an Ressourcen genau analysieren. Reichen die personellen und finanziellen Ressourcen an jeder Stelle aus, um die Sicherheit zu gewährleisten? Wenn wir gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, dass das nicht so ist, müssen wir dringend nachlegen.

Bei IT-Sicherheit geht es sowohl um die Technik, mit der Ausfälle verhindert oder kompensiert werden können, als auch darum, wie Abläufe bei Störungen sein können und wie auf Störungen reagiert wird, wie sie gemeldet und behoben werden.

Manchmal sind technische Störungen unvermeidbar. Aber durch professionelles und kontinuierlich geschultes Personal, aktuell gehaltene Technik und strukturierte Sicherheitsprozesse können sie weitgehend verhindert werden. Wir haben sehen müssen, dass das offensichtlich nicht immer in der entsprechenden Weise funktioniert und deswegen Handlungsbedarf besteht.

IT-Sicherheit ist immer und überall von Anfang an mitzudenken – bei jedem Projekt, in jedem Prozess und in jeder Architektur. Sie muss gut ausfinanziert sein und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Das Wichtigste ist: Sie muss gelebt werden.

Das ist eine Aufgabe für uns alle und nicht ausschließlich eine Herausforderung bzw. ein Job für die Techniker und die Sicherheitsleute. IT-Sicherheit ist eine Herausforderung, die von allen Anwenderinnen und Anwendern bearbeitet, beachtet und gelebt werden muss.

Das zu erreichen, ist ein Prozess, für den wir heute einen Aufschlag machen. Ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Bolte-Richter. – Jetzt spricht für die CDU-Fraktion Herr Dr. Untrieser.

Dr. Christian Untrieser (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Wir werden der Überweisung natürlich zustimmen, und ich freue mich auch auf den Austausch. Digitale Verwaltung und IT-Sicherheit sind ganz wichtige Themen. Es ist gut, dass wir uns darüber austauschen.

Ich kann Ihrer Rede, Kollege Matthi Bolte-Richter, kaum widersprechen, weil wir bei den meisten Dingen an einem Strang ziehen. Daher möchte ich auch nicht künstlich irgendeinen Dissens herstellen, wobei Ihre Rede vor Allgemeinplätzen nur so strotzte.

Wir haben im Bereich „digitale Verwaltung“ noch einiges vor uns. Es ist aber auch schon viel passiert. Es ist ausgesprochen wichtig, dass Mitarbeiter in der Landesverwaltung – und generell in den Verwaltungen – digital arbeiten können. Das heißt, dass sie Videokonferenzen abhalten, Videotelefonie nutzen und von zu Hause aus auf Akten zugreifen und miteinander arbeiten können.

Das kann man übrigens heute bereits als Standard bezeichnen. Ich habe schon vor zehn Jahren in der Kanzlei so arbeiten können. Gerade die Pandemie hat aufgezeigt, wie wichtig das ist.

Auch die Bürgerinnen und Bürger des Landes haben Anspruch auf eine digitale und bürgerfreundliche Verwaltung. Sie erwarten, einfach darauf zugreifen zu können. Wir sind da auf einem guten Weg. Die Landesregierung und wir als Parlamentarier haben im letzten Jahr mit dem neuen E-Government-Gesetz gezeigt, dass wir vorangehen.

Mit dem E-Government-Gesetz haben wir das Ziel, die digitale Verwaltung in Nordrhein-Westfalen zu schaffen, noch einmal zeitlich vorgezogen. Rot-Grün hatte gesagt: Die Landesverwaltung muss bis 2031 digital sein. Wir haben gesagt: Das ist zu wenig ambitioniert, das müssen wir vorziehen. – 2025 ist jetzt das Ziel der Landesregierung. Damit sind wir auf dem richtigen Weg.

Überall da, wo digital gearbeitet wird, lauern natürlich auch Gefahren. Das ist schon angesprochen worden. Hacker, Erpresser, Terroristen aus dem Inland oder Ausland wollen Daten abgreifen und möchten den Bürgern und dem Staat Schaden zufügen. Deswegen ist es wichtig, dass wir in der IT-Sicherheit auf dem allerneuesten Stand sind.

Dabei ist klar, dass es ein laufender Prozess ist, der nie abgeschlossen ist. Immer wieder kommen neue Herausforderungen und Gefahren auf uns zu. Deswegen muss sich die Verwaltung immer wieder darüber klar werden, ob sie gegen alle Gefahren abgesichert ist.

Am 19. und 21. April 2021 gab es einen Angriff auf das System. Im Ausschuss haben wir dazu schon einiges vom Minister gehört. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir dort bereits darüber reden konnten und dass gefragt wird: Wo sind die Schwachstellen? Woran müssen wir in Zukunft arbeiten?

Ich bin ebenso dankbar dafür, dass wir gleich und auch in der Folge – in den nächsten Wochen und Monaten im Ausschuss oder woanders – noch etwas dazu hören werden. IT-Sicherheit ist für uns eine ganz besonders wichtige Daueraufgabe.

Ich bin Ihnen dankbar, Herr Kollege Bolte-Richter, dass Sie noch mehr mit uns an einem Strang ziehen wollen; denn bei der Frage, Strafverfolgungs- oder Sicherheitsbehörden besser auszustatten und die Menschen vor den Gefahren zu schützen, war Ihre Fraktion nicht immer an unserer Seite. Es ist uns ganz besonders wichtig, dass wir uns gegen die Gefahren, die da lauern, entsprechend wappnen und davor schützen können.

Daher stimmen wir der Überweisung freudig zu und freuen uns auch auf den Austausch. – Ganz herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Dr. Untrieser. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Frau Kampmann.

Christina Kampmann (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anders als Herr Dr. Untrieser es uns glauben lassen möchte, läuft es bei der Digitalisierung der Verwaltung nicht wirklich rund, wenn man es freundlich ausdrückt. Es kommt eine Pannenmeldung nach der anderen, so könnte man es auch sagen.

Sie haben die Novelle des E-Govenment-Gesetzes gerade gelobt, Herr Dr. Untrieser, aber sie hat sich mehrmals verschoben. Das war im Grunde die erste Panne, über die wir sprechen. Die zweite bezieht sich auf den Antrag, über den wir heute reden. Das war die Panne beim Landesverwaltungsnetz.

Sie haben gerade noch einmal gelobt, dass die Digitalisierung der Landesverwaltung auf 2025 vorgezogen werden sollte. Der wirklich vernichtende Bericht des Landesrechnungshofes, den Sie sich noch einmal anschauen sollten, rügt genau das. Wenn man schon die Digitalisierung der Landesverwaltung vorzieht, dann muss man sie auch ordentlich machen und nicht so, wie es gerade abläuft.

Der Landesrechnungshof hat zu Recht gerügt, dass einzelne Prestigeprojekte nach vorne geholt werden, während die Prozesse im Hintergrund noch überhaupt nicht funktionieren. Das ist ein Riesenproblem.

(Zuruf von Florian Braun [CDU])

Deshalb kann man hier nicht erklären, dass alles wunderbar läuft. Das ist ein objektives Zeugnis dafür, dass Sie an dieser Stelle wirklich versagt haben. Das muss man in der Deutlichkeit sagen.

(Beifall von der SPD)

Alles, was ich gerade ausführe, ist nicht trivial, denn die Digitalisierung und Modernisierung der Landesverwaltung sind kein Selbstzweck. Wir brauchen eine moderne und effiziente Verwaltung. Sie zu digitalisieren, ist daher immens wichtig. Man muss es aber ordentlich machen und sich nicht nur selbst für etwas feiern, was offensichtlich nicht stattgefunden hat.

Das ist problematisch, und das sehen wir an ganz vielen Stellen der Digitalpolitik. Fragen wir etwa nach dem Rollout der digitalen Modellkommunen, dann bekommen wir Einzelbeispiele genannt. Fragen wir nach der Umsetzung der 44 Ziele der Digitalstrategie, bekommen wir Einzelbeispiele genannt. Fragen wir nach der Umsetzung der Verwaltungsdigitalisierung insgesamt, bekommen wir auch Einzelbeispiele genannt.

Als wir danach gefragt haben, wie weit eigentlich die kleineren und mittleren Unternehmen in diesem Land digitalisiert sind, schreibt die Landesregierung in ihrem Bericht, dass es eine Studie gibt, die den Digitalisierungsgrad ebendieser Unternehmen als nicht optimal bewertet.

Dann sagt Minister Pinkwart: Ja, das mag stimmen, aber am Wochenende war eine Frau beim Handelsverband, und bei der läuft es eigentlich richtig gut.

(Heiterkeit von Christian Dahm [SPD])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ein bisschen wie ein Running Gag Pinkwart’scher Digitalpolitik klingt, ist überhaupt nicht lustig. Es verschleiert nämlich diese Art von Fassadenpolitik. Es funktioniert offensichtlich überhaupt nicht ohne ein Monitoring. Das ist ein großes Defizit. Das kreiden wir Ihnen wirklich an.

Daran müssen wir arbeiten. Wir haben als Parlament ein Recht auf Transparenz und auf ein ordentliches Monitoring, damit wir wirklich und ehrlich wissen, wo wir bei der Digitalisierung der Verwaltung stehen.

(Beifall von der SPD)

Dass beim Landesverwaltungsnetz offensichtlich vieles noch nicht richtig funktioniert, haben wir schon gehört. Es gab den Störfall im April, der bereits erwähnt wurde. Wenn das Landesverwaltungsnetz als Teil kritischer Infrastruktur störanfällig ist und Behörden infolgedessen nicht wirklich arbeiten können, ist das gewissermaßen der Super-GAU des digitalen Staates.

Deshalb schließen wir uns den Forderungen der Grünen an: Das Landesverwaltungsnetz muss weiter an Sicherheit und Stabilität gewinnen, wenn das Onlinezugangsgesetz und das E-Government-Gesetz weiter umgesetzt werden.

Das ist sehr wichtig, denn jede technische Störung kann zu einem Desaster für die Behörden werden. Deshalb gilt es, diesen Zwischenfall wirklich ernst zu nehmen und daraus zu lernen.

Fehler passieren schon mal. Es gibt sogar einige wenige Leute, die sagen, dass selbst unter Rot-Grün nicht alles perfekt gelaufen ist.

(Zurufe von Matthias Kerkhoff [CDU] und von Bodo Löttgen [CDU])

– Herr Löttgen ist sich nicht sicher. Das meiste lief ganz gut; ich weiß.

Entscheidend ist aber immer, wie man mit diesen Fehlern umgeht. Wir haben schon in der Rede von Herrn Dr. Untrieser gehört, das eigentlich nicht wirklich eingestanden wird, welche Fehler gemacht werden und was man daraus lernen kann. Das kritisieren wir.

Man muss sich ehrlich machen; denn wenn wir wirklich gemeinsam an einem Strang ziehen und daran arbeiten wollen, dass so etwas Wichtiges wie das Landesverwaltungsnetz in Zukunft störungsfrei funktioniert, müssen auch Sie sich ehrlich machen. Das sind wir der Digitalisierung der Verwaltung und letztlich den Menschen in Nordrhein-Westfalen schuldig. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kampmann. – Nun spricht Herr Matheisen für die FDP-Fraktion. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Rainer Matheisen (FDP): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich doch sehr über den Redebeitrag von Frau Kampmann gewundert, weil Sie eine ideologische Schärfe in die Debatte bringen,

(Christian Dahm [SPD]: Überhaupt nicht!)

die in diesem Zusammenhang gar nicht notwendig ist.

(Beifall von der FDP und von Bodo Löttgen [CDU])

Ich möchte mich ausdrücklich herzlich zum einen bei den Bediensteten von IT.NRW bedanken, die wirklich einen tollen Job machen. Wir haben aktuell große Herausforderungen beim Thema „Digitalisierung“. Für Homeoffice und mobiles Arbeiten müssen entsprechende IT-Lösungen angeboten werden. Dadurch haben wir auch bei IT.NRW einen irren Arbeitsaufwand. Dafür muss man den Beschäftigten an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Zum anderen möchte ich mich auch bei den Grünen dafür bedanken – das ist auch bei Herrn Untrieser angeklungen –, dass sie sachlicher an dieses Thema herangehen als die SPD, die teilweise Dinge hereinzieht, die überhaupt nichts mit dem Antrag zu tun haben. Sie versucht, eine Art Generalabrechnung zu machen, teilweise mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten.

Insofern verweise ich auf das, was Herr Untrieser gesagt hat: Wir stehen vor Herausforderungen, die wir gemeinsam lösen können. Gemeinsam können wir bei der Beratung des Antrags weitere Transparenz darüber schaffen, was IT.NRW schon alles macht. Vielleicht können wir auch erarbeiten, wie man ein paar Dinge noch besser lösen kann.

Insofern freue ich mich auf die Beratung. Wir stimmen der Überweisung zu. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Kollege Matheisen. – Nun spricht Herr Tritschler für die AfD-Fraktion.

Sven Werner Tritschler*) (AfD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das weitverbreitete und offenbar parteiübergreifende Bedürfnis, irgendetwas mit Digitalisierung zu machen, führt doch immer wieder zu kuriosen Ergebnissen, so auch zu diesem Antrag. Ich kann mir das nur so erklären: Nachdem es die Piraten quasi nicht mehr gibt, kämpft man jetzt verbissen um ihre Insolvenzmasse.

Also kommt heute kurz vor der Sommerpause dieser Antrag der Grünen. Der Hintergrund ist – wir haben es gehört –: Es kam zu einer größeren Störung im Landesverwaltungsnetz, dem Intranet von Ministerien und Landesbehörden.

Man kann mir nicht unterstellen, dass ich diese Landesregierung übermäßig viel lobe, gerade nicht für ihre Auskunftsbereitschaft. Im Gegenteil: Ich habe sie wegen einer unzureichenden Antwort vor dem Verfassungsgericht verklagt und gewonnen.

In diesem Fall aber hat die Landesregierung in Person von Minister Pinkwart und seiner Fachleute wirklich erschöpfend alle Fragen der Grünen beantwortet, soweit die Antworten bereits vorlagen. Ich hatte wirklich nicht den Eindruck, dass man das Problem nicht ernst nimmt, verschweigt, dass eine ernsthafte Gefahr bestanden hätte, oder dass die damit betrauten Leute nicht fachkundig oder motiviert sind.

Jeder, der mit Netzwerken, mit IT oder dergleichen zu tun hat, weiß, dass diese Systeme hochkomplex sind und dass solche Fehler selbst bei IT-Firmen vorkommen. Das ist also kein Grund zur Panik und vor allen Dingen kein Grund für diesen Antrag.

Ich glaube nicht, dass irgendeiner der Anwesenden – mich eingeschlossen – über die hinreichende Fachkompetenz verfügt, um unseren IT-Leuten technische Ratschläge zu geben. Sie machen aus dem Landtag den wahrscheinlich überbezahltesten IT-Support der Welt. Dafür ist er nicht gewählt; dafür ist er auch nicht gut. Das gehört bestenfalls in den Fachausschuss.

Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie sich so sehr um die Sicherheit der öffentlichen IT-Infrastruktur sorgen, müssen Sie sich schon die Frage gefallen lassen, warum Sie gegen unseren Antrag zur Verbesserung der Sicherheit in Krankenhäusern gestimmt haben. Dort sind die Zustände wirklich gruselig. Das Ausstattungsniveau ist schlecht. Die Gefahren für Leib und Leben sind real. Das haben wir im Krankenhaus in Neuss gesehen, und das hat auch die Expertenanhörung eindrucksvoll bewiesen. Sie haben den Antrag aber abgelehnt.

Wo wir gerade bei sicherer Infrastruktur sind: Es gibt natürlich keine größere Gefahr für eine sichere Infrastruktur als Ihre wahnwitzige Energiepolitik, die bizarrerweise von den meisten Altparteien inzwischen kopiert wird. Sie gefährden massiv die Stabilität unseres Stromnetzes.

Warum kommt dazu eigentlich kein Antrag? – Wenn irgendwann kein Strom mehr aus der Steckdose kommt, hilft Ihnen auch das beste Datennetz nichts mehr.

Der Antrag ist also überflüssig. Er ist Wahlkampfkokolores und entbehrlich. Wenn wir Ihnen das noch einmal im Ausschuss erklären sollen, machen wir das selbstverständlich gerne. Ansonsten wünsche ich Ihnen allen einen schönen Urlaub und insbesondere der antragstellenden Fraktion weiterhin viel Erfolg im Wahlkampf. – Vielen Dank.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Tritschler. – Für die Landesregierung hat nun Herr Minister Professor Dr. Pinkwart das Wort.

Prof. Dr. Andreas Pinkwart*), Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ganz herzlichen Dank für die sehr sachbezogene Debatte zu einem Punkt, der uns sicherlich allen bedeutsam erscheint.

Zwischen dem Abend des 19. April und dem Morgen des 21. April gab es eine seltene Störung des Landesverwaltungsnetzes, über die ich bereits in der Fragestunde des Plenums am 28. April sowie in der Sitzung des Ausschusses für Digitalisierung und Innovation am 6. Mai berichtet habe.

Die Expertinnen und Experten von IT.NRW haben die Störung inzwischen abschließend analysiert. Kurzfristig umsetzbare Maßnahmen, um eine solche Störung zu vermeiden und im unwahrscheinlichen Fall einer weiteren Störung Fehler schneller zu beheben, wurden umgesetzt.

Die Systemarchitektur der gesamten Kommunikationsinfrastruktur wird überprüft und mit dem Ziel angepasst, Verfügbarkeit und Skalierbarkeit zu erhöhen und weitere Redundanzen zu schaffen.

All diese Schritte sind letztlich Selbstverständlichkeiten, wie sie in jedem geregelten IT-Betrieb vorgenommen werden. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist voll von weiteren Feststellungen und Aufforderungen, die in einem geregelten IT-Betrieb gelebte tägliche Praxis sind und von IT.NRW in regelmäßiger Abstimmung mit dem CIO auch erfolgreich durchgeführt werden. Daher werden hier keine neuen Erkenntnisse gewonnen, sondern bekannte Sachverhalte thematisiert.

Ich kann Ihnen aber versichern, dass wir diesen Vorfall als Chance genutzt haben, das Landesverwaltungsnetz noch besser zu machen. Die Bilanz der Betriebsqualität des Landesverwaltungsnetzes ist sicher und zuverlässig.

Die Rechenzentren der Landesverwaltung setzen den Betriebsauftrag der Landesregierung seit dem Start des Netzbetriebs mit hoher Professionalität bei Planung und Betrieb sowie auch im Fehlerfall um; das tun sie seit mittlerweile drei Jahrzehnten.

Der Anforderung an ein Landesverwaltungsnetz, auch im Falle eines Cyberangriffs funktionsfähig zu bleiben, ist dadurch Rechnung getragen, dass es ein von Netzen Dritter getrenntes Konstrukt ist. Alle Netzübergänge sind unter strengen Auflagen gesichert. Das hat sich rückblickend sehr bewährt, sodass wir dieses erfolgreiche Vorgehen nicht aufgeben werden.

Die Herausforderung, Schadsoftware aus dem Landesverwaltungsnetz herauszuhalten, haben wir angenommen. Dieses tägliche Ringen findet, wenn ich das so bezeichnen darf, im Verborgenen statt, allerdings hoch professionell und bislang auch sehr erfolgreich.

Es ist uns allen hier im Hohen Hause bewusst: Das bleibt eine tägliche Herausforderung. Sie wird in den nächsten Monaten und Jahren an Häufigkeit und an Heftigkeit sicherlich noch zunehmen und uns sehr intensiv beschäftigen.

Die Bedeutung des Landesverwaltungsnetzes ist uns sehr bewusst. Wir haben die Aufgabe in zuverlässige Hände gelegt und finanzieren angemessen die stetige Weiterentwicklung von Technik und Sicherheit, und wir stehen auch im ständigen Austausch miteinander.

Ich darf mich herzlich bedanken für all die sehr sachorientierten Beiträge, weil sie uns als Landesregierung helfen, diese sehr komplexen und sensitiven Prozesse verantwortungsvoll zu unterstützen. Ich verstehe das auch als eine Anerkennung der Arbeit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die tagein, tagaus für die Sicherheit der Systeme Verantwortung tragen. – Herzlichen Dank für die Aussprache.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Minister Professor Dr. Pinkwart. – Weitere Wortmeldungen haben wir nicht. Wir kommen damit zur Abstimmung.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/14260 an den Ausschuss für Digitalisierung und Innovation – federführend – sowie an den Innenausschuss. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Hat jemand etwas dagegen? – Nein. Enthält sich jemand? – Nein. Damit ist die Überweisung einstimmig so beschlossen.

Ich rufe auf:

7  Jeder Badeunfall ist einer zu viel – sofortige Maßnahmen zur Unfallprävention treffen.

Antrag
der Fraktion der AfD
Drucksache 17/14264

Für die antragstellende Fraktion hat Herr Dr. Vincentz das Wort. – Bitte schön.

Dr. Martin Vincentz*) (AfD): Vielen Dank. – Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sommer, Sonne – nichts liegt da näher als ein Tag im Schwimmbad oder am Badesee.

Was in jedem Jahr galt, das gilt natürlich auch im zweiten Jahr mit COVID-19 – mit dem entscheidenden Unterschied, dass immer noch viele Bäder geschlossen oder die Hygienevorgaben derart streng sind, dass Sie bereits Tage vor Ihrem Schwimmbadbesuch einen der heiß umkämpften Zeitslots buchen müssen, um zum Zuge zu kommen.

Oftmals heißt es vor allem: erst zahlen und dann hoffen, dass in vier oder fünf Tagen das Wetter mitspielt. Tut es das nicht, Pech gehabt. Insbesondere viele Familien, die jeden Euro mehrfach umdrehen müssen, verzichten daher lieber.

Als Notlösung gehen dann viele dort schwimmen, wo es eigentlich verboten oder zumindest absolut nicht angeraten ist: in Kiesgruben, in Flüssen, in anderen Fließgewässern. Aber genau da ereignet sich die überwiegende Anzahl der Badeunfälle, eben da, wo nicht durch Rettungsschwimmer bewacht wird. Rund 300 Personen versterben so jährlich in der Republik, darunter viele Kinder.

Ärzten und Rettungskräften brauche ich nicht zu erzählen, was für ein Horror es ist, im Dienst an einen See oder Fluss gerufen zu werden; denn selbst wenn am Ende des Unfalls nicht der Tod steht, kommt es schon nach wenigen Minuten unter Wasser zu irreparablen Schäden am Hirn, die in noch mehr Fällen als eben schon erwähnt zu lebenslangen Behinderungen führen. Und das ist wirklich für alle Beteiligten mehr als furchtbar.

Ausgerechnet dieses Jahr könnte es noch schlimmer kommen, da die DLRG unlängst davor warnte, dass alleine im letzten Jahr knapp 75 % weniger Schwimmprüfungen als im Jahr 2019 abgenommen wurden. 70 % weniger Kinder als im Vorjahr haben im vergangenen Jahr das Seepferdchen-Abzeichen abgelegt.

Es kommen also mehrere Dinge zusammen – immer mehr Nichtschwimmer an immer öfter nicht bewachten, ungesicherten Gewässern.

Hinzu kommt nach Einschätzung der DLRG, dass besonders seit der Coronakrise die Fitness stark abgenommen hat. Viele unterschätzen, wie viel Fitness verloren gegangen ist, wenn sie lange zu Hause sind und sich über einen langen Zeitraum nicht regelmäßig und ausreichend bewegen, so der Pressesprecher der DLRG, Achim Wiese. So werden eigene Stärken oft über- und die Gefährlichkeit des Wassers oft unterschätzt.

Nachdem die Politik den Menschen nun seit anderthalb Jahren so viel zugemutet hat, ist sie jetzt gefragt, dafür zu sorgen, dass die Menschen bei all den Einschränkungen und Reisehindernissen im Sommer zumindest ein wenig Abkühlung in sicherem Rahmen bekommen. Wir rufen Sie daher auf, die Schwimmbäder inzidenzunabhängig und deutlich großzügiger zu öffnen. Im Wasser und an der frischen Luft gibt es de facto kaum Möglichkeiten, sich anzustecken.

Genauso wichtig ist es auf der anderen Seite, mit den Kommunen Gefahrenstellen besser zu identifizieren und besonders abzusichern. Es wird in diesem Sommer wie in vielen anderen viele Leben retten.

Mit diesen letzten Worten darf ich mich bei Ihnen bedanken und Ihnen allen einen sicheren und guten Sommer wünschen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der AfD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Vincentz. – Herr Nettekoven spricht nun für die CDU-Fraktion.

Jens-Peter Nettekoven (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie bringen jetzt auch die Badeunfälle mit der Pandemie in Verbindung. Ich bin gespannt, was beim nächsten Plenum kommt.

Dass jeder Unfall einer zu viel ist, darüber brauchen wir nicht zu reden. Beim Schwimmen in den freien Gewässern, im Rhein, im See, ist die Gefahr relativ groß. Es verunglücken auch viele Schwimmer. Deswegen sind wir uns fraktionsübergreifend einig, dass wir hier etwas tun wollen. Die Landesregierung will mit dem Schwimmkongress etwas tun.

Das, was Sie vorschlagen, ist bereits durch Regierungshandeln und durch Handeln der Kommunen erledigt. Deswegen werden wir den Antrag ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU, der FDP und Christian Dahm [SPD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Nettekoven. – Nun spricht Herr Göddertz für die SPD-Fraktion.

Thomas Göddertz (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD fordert die sofortige Öffnung von Freibädern und Badeseen vorbehaltlos und ohne Einschränkungen. Ferner fordert die AfD, Schwimmunterricht inzidenzunabhängig anzubieten. Angeblich habe es keinen bis kaum Schwimmunterricht gegeben.

Das Ministerium hat am 29. Juni auf eine Anfrage geantwortet, dass Schwimmunterricht im letzten Sommer und Herbst sehr wohl stattgefunden hat und auch in diesem Sommer stattfinden wird.

Dafür hätte es diesen Antrag heute nicht gebraucht. Aber darum geht es der AfD nicht.

(Zurufe von Christian Loose [AfD] und Dr. Martin Vincentz [AfD])

Wir erleben hier im Landtag genau wie in den Kommunen, dass die AfD mit Showanträgen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung kritisiert.

(Andreas Keith [AfD]: Wer hat das denn jetzt vorgeschrieben?)

Sie verweist auf tragische Badeunfälle und führt die Bewertung des Inzidenzwerts als maßgeblichen Ursachenfaktor an; so steht es in Ihrem Antrag. Sie konstruiert einen Zusammenhang, der sich faktisch nicht darstellen lässt. Hier werden diese tragischen Unfälle instrumentalisiert.

Wir alle wissen: Die Schließung der Bäder und Badeseen waren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Und das geringe Infektionsgeschehen der letzten Wochen lässt Öffnungen unter bestimmten Bedingungen auch wieder zu.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Loose?

Thomas Göddertz (SPD): Nein.

Das ist übrigens ein Erfolg der Maßnahmen zur Pandemieeingrenzung. Die Pandemie ist nicht vorbei, aber die Maßnahmen und Impfungen wirken.

Wir werden diesem Antrag nicht zustimmen. Er ist schlecht oder gar nicht recherchiert und instrumentalisiert die tragischen Badeunfälle. Vor allem ist er aber flüssiger als Wasser, nämlich überflüssig. – Glück auf!

(Beifall von der SPD und Bodo Löttgen [CDU])

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Göddertz. – Es gibt eine Kurzintervention, angemeldet von der AfD-Fraktion. – Herr Loose hat das Wort. Bitte schön, Herr Loose.

Christian Loose (AfD): Danke, Herr Präsident. – Herr Göddertz, Sie scheinen in den letzten Monaten von der Realität nicht viel mitbekommen zu haben. Vielleicht sollten Sie sich einmal überlegen, warum private Schwimmkursanbieter inzwischen eine Warteliste von mehr als zwölf Monaten haben.

Ich weiß das, weil ich ein Kind habe, das in den letzten Monaten gerne Schwimmunterricht genommen hätte. Der Schwimmkurs im Herbst letzten Jahres wurde kurzfristig abgesagt. Im gesamten Winter gab es keinen Schwimmkurs. Im gesamten Frühling gab es keinen Schwimmkurs. Jetzt finden Schwimmkurse wieder statt. Nun sagt man uns, es gibt eine Wartezeit von zwölf Monaten.

(Zuruf von Stefan Zimkeit [SPD])

Wir haben natürlich nicht nur bei einem Anbieter angerufen, sondern bei etwa zehn oder zwölf verschiedenen Anbietern. Und Sie sagen uns nun allen Ernstes, das hätte nichts mit den Coronamaßnahmen und den Coronaverboten zu tun. Das ist fernab von jeder Realität, Herr Kollege.

(Beifall von der AfD – Zuruf von der SPD: Hat er doch gar nicht gesagt!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke, Herr Loose. – Nun haben Sie, Herr Göddertz, Gelegenheit zur Rede. Bitte schön.

Thomas Göddertz (SPD): Vielen lieben Dank. – Sie konstruieren hier kausale Zusammenhänge, die nicht existieren.

(Lachen von Christian Loose [AfD])

Entweder wollen Sie die Bürger täuschen, oder Sie sind intellektuell nicht in der Lage, zu differenzieren. Mehr kann man dazu nicht sagen. – Schönen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Göddertz. – Nun hat Herr Terhaag für die FDP-Fraktion das Wort.

Andreas Terhaag (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie schon gestern beim Antrag zum Breitensport liegt uns auch heute wieder ein zeitlich überholter und einseitig dargestellter Antrag der AfD vor. In typischer AfD-Manier spielt er kurz vor dem Ferienstart mit der Angst der Menschen.

Die Behauptung, dass in diesem Sommer mit mehr Badetoten infolge der vergangenen Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie zu rechnen ist, basiert auf keiner wissenschaftlichen Erhebung. Diese Behauptung ist aus der Luft gegriffen und schürt unnötig Ängste.

Für uns Freie Demokraten ist natürlich jeder Badeunfall einer zu viel. Es muss nicht erst zu tödlichen Wasserunfällen kommen. Deshalb haben wir bereits 2019 den Aktionsplan „Schwimmen lernen in Nordrhein-Westfalen“ aufgelegt und das Programm „NRW kann schwimmen!“ für dieses Jahr zusätzlich gefördert.

Seit dem vergangenen Herbst haben wir das Schulschwimmen wieder erlaubt, und seit März ist das Anfänger- und Kleinkind-Schwimmen wieder erlaubt. Außerdem haben wir erst vor einem Monat mit unserer Initiative „Rechtssicherheit für Kommunen schaffen und Naturerlebnis durch freien Gewässerzugang ermöglichen“ Sorge dafür getragen, dass Lösungen hinsichtlich der kommunalen Haftung beim Gewässerzugang gefunden werden.

Der Antrag gibt mir die Gelegenheit, allen Rettungskräften wie zum Beispiel der DLRG und der Feuerwehr unseren Respekt für ihren geleisteten Einsatz zu zollen.

(Beifall von der FDP, der CDU und der SPD)

Die Lebensrettung bei Badeunfällen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein besonderer Dienst gegenüber unserer Gesellschaft. Das ist wertzuschätzen.

Der Antrag der AfD suggeriert wieder einmal falsche Tatsachen. Die NRW-Koalition ist in Sachen Schwimm­sicherheit längst aktiv. Vor diesem Hintergrund wird dieser überflüssige und unsachliche Antrag von uns ebenso entschieden wie knapp abgelehnt.

Wir wünschen allen Schwimmerinnen und Schwimmern einen sonnigen und unfallfreien Sommer. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Terhaag. – Nun spricht Herr Mostofizadeh für Bündnis 90/Die Grünen.

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Schwimmen ist eine schöne Sache, schwimmen macht Spaß, schwimmen ist förderlich für die Gesundheit. Es müsste noch viel mehr gefördert werden; da sind sich viele Fraktionen, denke ich, einig.

Nun könnte man sich die Ursachen ansehen – das ist in einigen Beiträgen auch schon angeklungen –: mehr Schwimmunterricht in der Grundschule, mehr Bewegungsförderung in den Kitas.

Man könnte sich auch ansehen, wo die Schwimmflächen sind. Zum Beispiel verfügen Hotels über zusätzliche Schwimmflächen. Da könnten wir Kooperationen machen. Es gibt viele Städte, die tun das. Von Interesse ist dies auch an Schulstandorten. Es hat sehr viel mit Kommunalpolitik zu tun, diese Flächen auch auszuweisen.

In diesem Zusammenhang wäre es erfrischend gewesen, Vorschläge zu bekommen, wie man das alles besser machen könnte. Dazu kann ich in diesem Antrag nichts lesen.

(Zuruf von Andreas Keith [AfD])

Insofern hat es mich heute Morgen schon ein wenig gewundert, warum ausgerechnet der Ministerpräsident den Redner, der jetzt dazu gesprochen hat, irgendwie als Instanz genommen hat. Das muss er mit sich selber ausmachen. Darüber müssen wir vielleicht an anderer Stelle nochmal reden.

(Zurufe von der CDU)

Dieser Antrag ist komplett überflüssig, dient nicht der Sache und soll ein Thema banalisieren, mit dem man sich viel intensiver und breiter auseinandersetzen müsste.

Das Ziel der Koalition – das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen –, dass jedes Kind am Ende der Grundschulzeit schwimmen können sollte, finde ich ausdrücklich richtig.

(Andreas Keith [AfD]: Wie denn, wenn die Schwimmbäder zu sind und keine Kurse angeboten werden?)

Es richtet sich gerade auch an Menschen, um die sich die AfD nicht kümmern möchte – zum Beispiel an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte oder Menschen, die aus prekären Stadtteilen kommen. Wenn wir da ein Stück vorankommen, sind wir auf jeden Fall dabei. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Andreas Keith [AfD]: Schon mächtig für die Koalition geübt, was?)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Mostofizadeh. – Zuletzt spricht für die Landesregierung Herr Minister Laumann.

Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was den vorliegenden Antrag angeht: Ich finde es schon sehr an den Haaren herbeigezogen einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass wir natürlich über Monate auch unsere Freibäder und Hallenbäder geschlossen hatten, und Badeunfällen an Seen herzustellen.

(Andreas Keith [AfD]: Ach so!)

– Doch, das ist schon so.

(Andreas Keith [AfD]: Glauben Sie nicht, die Mädchen in Duisburg wären lieber in ein Schwimmbad gegangen als in den Rhein?)

Es ist so, dass die Schwimmbäder seit März

(Andreas Keith [AfD]: Glauben Sie das wirklich? Sagen Sie mal, dass Sie mit 13 nicht lieber ins Schwimmbad gegangen wären! Unfassbar! Ehrlich!)

für Schwimmkurse wieder geöffnet haben. Zurzeit sind alle Schwimmbäder geöffnet. Es gibt nur eine einzige Voraussetzung: Man muss sich vorher testen lassen. Dann kann man in jedes Schwimmbad in Nordrhein-Westfalen gehen.

Dass natürlich in der Zeit, als die Schwimmbäder geschlossen gewesen sind – in den Zeiten waren auch die Schulen geschlossen –, kein Schwimmunterricht stattgefunden hat, ist wahr. Dass es da auch einiges nachzuholen gibt, ist auch die Wahrheit.

Dafür fördert die Landesregierung das Schwimmen seit Jahr und Tag sowohl über die Grundschulen als auch über „Nordrhein-Westfalen kann schwimmen“ und viele andere Möglichkeiten. Das ist auch fraktionsübergreifend bis jetzt nie ein Thema gewesen.

Ich bin ebenfalls Vater von Kindern. Die sind mittlerweile groß, und ich bin Großvater. Es ist meiner Meinung nach neben Schule und Kindergarten auch Aufgabe von Eltern und Großeltern, dafür zu sorgen, dass die kleinen Kinder schwimmen lernen. Das ist nicht allein eine staatliche Aufgabe. Ich glaube, dass wir alle uns darüber im Klaren sind.

Ich kann nur sagen: Wenn man in meinem Alter ist und Enkelkinder hat, dann macht es auch den Opas großen Spaß, mit ihnen in die Badeanstalt zu gehen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine schöne Sommerpause. Nutzen Sie die freien Tage – vielleicht, um mit Ihren Enkelkindern oder Kindern in ein Hallenbad zu gehen und ihnen das Schwimmen beizubringen. – Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU, der FDP, den GRÜNEN und Christian Dahm [SPD])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Laumann. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung.

Die antragstellende Fraktion der AfD hat direkte Abstimmung beantragt. Wer stimmt dem Inhalt des Antrags zu? – Das ist die AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Alle übrigen Fraktionen stimmen dagegen. Enthaltungen? – Gibt es nicht. Damit ist dieser Antrag Drucksache 17/14264 abgelehnt.

Ich rufe auf:

8  Innenstädte – neue Räume für die Zukunft

Antrag
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 17/14262

Eine Aussprache zu diesem Antrag ist nicht vorgesehen.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 17/14262 an den Ausschuss für Heimat, Kommunales, Bauen und Wohnen – federführend – sowie an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie und Landesplanung. Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, dass die abschließende Beratung und Abstimmung nach Vorlage der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses erfolgen sollen. Wer stimmt dem zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Nein. Enthaltungen? – Auch nicht. Damit ist die Überweisung einstimmig angenommen.

Meine Damen und Herren! Kurz vor 14 Uhr sind wir am Ende unseres heutigen Sitzungstages angelangt. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hohen Hauses für die Betreuung bis zur Sommerpause bedanken. Danke schön.

(Beifall von der CDU, der SPD, der FDP, den GRÜNEN und der AfD)

Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen und Ihnen allen eine schöne, erholsame und hoffentlich auch gesundheitlich stabile Sommerpause.

Wir sehen uns alle im späten August wieder. Bis dahin: Alles Gute Ihnen und heute einen angenehmen Tag!

Die Sitzung ist geschlossen. – Danke schön.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Schluss: 13:58 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.