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Landtag

 

Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

16/107

16. Wahlperiode

03.03.2016

 

107. Sitzung

Düsseldorf, Donnerstag, 3. März 2016

1   Zusammenhalt stärken: Flüchtlinge aufnehmen und integrieren – eine gesamtstaatliche Aufgabe in gemeinsamer Verantwortung

Unterrichtung
durch die Landesregierung

In Verbindung mit:

Früh und umfassend: Was Nordrhein-Westfalen jetzt für die Integration von Schutzsuchenden tun muss

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11225

Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11299 – Neudruck

In Verbindung mit:

Gelingende Integration von Flüchtlingen. Ein Integrationsplan für NRW.

Antrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/11229

Änderungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11318

In Verbindung mit:

70 Jahre Landeszentrale für politische Bildung: Wir brauchen jetzt mehr politische Bildung für alle

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11218. 10953

Minister Rainer Schmeltzer 10953

Britta Altenkamp (SPD) 10958

André Kuper (CDU) 10959

Jutta Velte (GRÜNE) 10962

Simone Brand (PIRATEN) 10964

Dr. Joachim Stamp (FDP) 10966

Ministerin Sylvia Löhrmann. 10968

Ibrahim Yetim (SPD) 10970

Serap Güler (CDU) 10972

Sigrid Beer (GRÜNE) 10973

Minister Rainer Schmeltzer 10975

Dr. Joachim Stamp (FDP) 10977

Serap Güler (CDU) 10977

Britta Altenkamp (SPD) 10978

Ergebnis. 10978

2   Nordrhein-Westfalen muss umgehend Alternativen und Begleit-Maßnahmen zur Elektroauto-Kaufprämie initiieren

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11288. 10979

Oliver Bayer (PIRATEN) 10979

Inge Blask (SPD) 10980

Henning Rehbaum (CDU) 10981

Arndt Klocke (GRÜNE) 10983

Christof Rasche (FDP) 10984

Minister Garrelt Duin. 10985

Josef Hovenjürgen (CDU) 10986

Rainer Christian Thiel (SPD) 10987

Reiner Priggen (GRÜNE) 10988

Oliver Bayer (PIRATEN) 10990

Minister Johannes Remmel 10991

Josef Hovenjürgen (CDU) 10992

3   Lage und Perspektiven der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen

Große Anfrage 18
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/10146

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 16/11081. 10993

Hendrik Wüst (CDU) 10993

Elisabeth Müller-Witt (SPD) 10995

Dr. Birgit Beisheim (GRÜNE) 10996

Ralph Bombis (FDP) 10997

Dr. Joachim Paul (PIRATEN) 10999

Minister Garrelt Duin. 11000

Inge Blask (SPD) 11002

Wilhelm Hausmann (CDU) 11003

4   Gleichstellungspolitik an die Wirklichkeit anpassen – Männer auch bei der Novelle des Landesgleichstellungsgesetzes gleichberechtigen

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11221. 11004

Susanne Schneider (FDP) 11004

Regina Kopp-Herr (SPD) 11005

Ina Scharrenbach (CDU) 11007

Josefine Paul (GRÜNE) 11008

Marc Olejak (PIRATEN) 11009

Ministerin Barbara Steffens. 11009

Ergebnis. 11010

5   Kleine und mittlere Schlachthöfe in NRW stärken – die Vorteile einer dezentralen Struktur erhalten und fördern!

Antrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/11230. 11011

Norbert Meesters (SPD) 11011

Norwich Rüße (GRÜNE) 11012

Hubertus Fehring (CDU) 11013

Henning Höne (FDP) 11014

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 11015

Minister Johannes Remmel 11015

Ergebnis. 11016

6   Dem Ungleichgewicht im Milchmarkt begegnen – Dumpingpreise verhindern – Gründung einer gemeinsamen Vermark-tungsplattform vorantreiben

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11223. 11016

Christina Schulze Föcking (CDU) 11017

Annette Watermann-Krass (SPD) 11017

Karlheinz Busen (FDP) 11019

Norwich Rüße (GRÜNE) 11019

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 11020

Minister Johannes Remmel 11021

Christina Schulze Föcking (CDU) 11022

Karlheinz Busen (FDP) 11023

Minister Johannes Remmel 11024

Ergebnis. 11024

7   Geflüchtete Frauen und Kinder nicht vergessen: Schutz vor Gewalt auch in den Landesaufnahmen sicherstellen!

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/10782

Beschlussempfehlung und Bericht
des Integrationsausschusses
Drucksache 16/11191. 11024

Ingrid Hack (SPD) 11024

Dr. Anette Bunse (CDU) 11025

Josefine Paul (GRÜNE) 11026

Dr. Joachim Stamp (FDP) 11027

Simone Brand (PIRATEN) 11027

Minister Ralf Jäger 11028

Ergebnis. 11029

8   Möglichkeiten des Asylgesetzes nutzen, um Kommunen bei der Flüchtlings-aufnahme zu entlasten: „Aktionsplan Westbalkan“ ausweiten – Verteilungs-stopp und Rückverlegung von Asyl-bewerbern ohne Bleibeperspektive durchsetzen

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11226. 11029

Ina Scharrenbach (CDU) 11029

Hans-Willi Körfges (SPD) 11030

Monika Düker (GRÜNE) 11031

Dr. Joachim Stamp (FDP) 11033

Frank Herrmann (PIRATEN) 11034

Minister Ralf Jäger 11036

Ergebnis. 11038

9   Gesetz zum Schutz der Natur in Nordrhein-Westfalen und zur Änderung anderer Vorschriften

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/11154 – Neudruck –

erste Lesung. 11038

Minister Johannes Remmel 11038

Manfred Krick (SPD) 11039

Rainer Deppe (CDU) 11040

Norwich Rüße (GRÜNE) 11042

Henning Höne (FDP) 11043

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 11045

Ergebnis. 11045

10 Landesregierung muss ihrer Ver-antwortung für die Kommunen gerecht werden und gegen flächendeckende Rekordsteuererhöhungen bei der Grund- und Gewerbesteuer vorgehen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11227

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/11295

Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11300. 11046

Jens-Peter Nettekoven (CDU) 11046

Michael Hübner (SPD) 11046

Mario Krüger (GRÜNE) 11048

Henning Höne (FDP) 11049

Dietmar Schulz (PIRATEN) 11050

Minister Ralf Jäger 11051

Ergebnis. 11052

11 „Wirkungslos und unmenschlich“: NRW darf dem „Asylpaket II“ nicht zustimmen!

Antrag
des Abg. Schwerd (fraktionslos)
Drucksache 16/11213

Änderungsantrag
des Abg. Schwerd (fraktionslos)
Drucksache 16/11321

In Verbindung mit:

Schutzsuchende aufnehmen, nicht abwehren: NRW lehnt das Asylpaket II ab

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11215

Entschließungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11324. 11053

Daniel Schwerd (fraktionslos) 11053

Simone Brand (PIRATEN) 11053

Hans-Willi Körfges (SPD) 11054

André Kuper (CDU) 11055

Monika Düker (GRÜNE) 11055

Dr. Joachim Stamp (FDP) 11056

Minister Ralf Jäger 11057

Ergebnis. 11057

 

 

Entschuldigt waren:

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft    
Minister Franz-Josef Lersch-Mense    
Ministerin Sylvia Löhrmann

Ministerin Svenja Schulze    
(bis 11:00 Uhr)

Minister Dr. Norbert Walter-Borjans

Heike Gebhard (SPD)

Helene Hammelrath (SPD)

Dieter Hilser (SPD)

Andreas Kossiski (SPD)

Lisa Steinmann (SPD)

Gerd Stüttgen (SPD)

Angela Tillmann (SPD)

Guido van den Berg (SPD)

Marie-Luise Fasse (CDU)

Heiko Hendriks (CDU)         
(ab 14:30 Uhr)

Peter Preuß (CDU)

Lukas Lamla (PIRATEN)      
         (ab 14:15 Uhr)

 


 

Beginn: 10:04 Uhr

Präsidentin Carina Gödecke: Guten Morgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Es ist unsere 107. Sitzung in dieser Wahlperiode. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich elf Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Wir treten heute einmal ohne Vorbemerkungen in die Beratung der Tagesordnung ein.

Ich rufe auf:

1   Zusammenhalt stärken: Flüchtlinge aufnehmen und integrieren – eine gesamtstaatliche Aufgabe in gemeinsamer Verantwortung

Unterrichtung
durch die Landesregierung

In Verbindung mit:

Früh und umfassend: Was Nordrhein-Westfalen jetzt für die Integration von Schutzsuchenden tun muss

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11225

Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11299 – Neudruck

In Verbindung mit:

Gelingende Integration von Flüchtlingen. Ein Integrationsplan für NRW.

Antrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/11229

Änderungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11318

In Verbindung mit:

70 Jahre Landeszentrale für politische Bildung: Wir brauchen jetzt mehr politische Bildung für alle

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11218

Der Chef der Staatskanzlei hat mir mit Schreiben vom 22. Februar dieses Jahres mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, den Landtag in der heutigen Plenarsitzung zu dem genannten Thema zu unterrichten.

(Unruhe)

Die Unterrichtung erfolgt jetzt durch den Minister für Arbeit, Integration und Soziales, Herrn Rainer Schmeltzer. – Der Herr Minister hat das Wort, und ich hoffe, auch Ihre Aufmerksamkeit, denn der Geräuschpegel ist heute Morgen ein bisschen hoch.

Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Die Zuwanderung von Asylsuchenden, ihre Unterbringung und Versorgung sowie die Integration derjenigen, die eine Bleibeperspektive haben, sind Herausforderungen historischen Ausmaßes.

Über  1 Million Menschen suchten im vergangenen Jahr bundesweit um Asyl nach. Rund 330.000 Menschen sind zunächst nach Nordrhein-Westfalen gekommen, ein Teil davon wurde an andere Länder weitergeleitet. Über 230.000 Menschen sind in Nordrhein-Westfalen geblieben. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ausschließlich die Asylsuchenden. Hinzu kommen weitere, auch quantitativ bedeutsame Zuwanderungen.

Das heißt: Mehr Migration als 2015/2016 war in unserer an Migration reichen Landesgeschichte bisher nie. Wir haben das bewältigt, weil wir in guter nordrhein-westfälischer Tradition zusammengestanden haben – Land, Kommunen und Zivilgesellschaft, alle gemeinsam – dank einer enormen Kraftanstrengung von Land und Kommunen, dank des herausragenden Einsatzes unserer Hauptamtlichen auf allen Ebenen und dank des leidenschaftlichen Engagements von Tausenden von Ehrenamtlern, denen man bei jeder Gelegenheit danken muss. Das werde ich hiermit auch wieder tun: Dank an die vielen Tausenden von Ehrenamtlern für diese herausragende Leistung!

(Beifall von der SPD, der CDU, den GRÜNEN, und den PIRATEN)

Dank dieses gesamten Einsatzes haben wir den Flüchtlingen als ersten Schritt das gegeben, was sie am meisten brauchen: Schutz und Sicherheit, ein Dach über den Kopf und medizinische Versorgung.

Von Beginn an war uns klar, dass als zweiter Schritt die Integration derjenigen folgen muss, die bei uns bleiben werden. Die Landesregierung hat daher für das Jahr 2016 insgesamt rund 4 Milliarden € für Unterbringung und Integration veranschlagt, davon mehr als die Hälfte für unsere Kommunen.

Kein Bundesland tut mehr, und wir tun das in allen Ressorts. Hier nur einige wichtige Beispiele:

Das Ressort der Kollegin Kampmann stellt 20 Millionen € für Brückenprojekte bereit, um Eltern und Kindern aus Flüchtlingsfamilien an institutionalisierte Betreuungsangebote heranzuführen. Gleichzeitig wird die Regelstruktur der Kindertageseinrichtungen mittels der Durchleitung von 431 Millionen € aus dem Betreuungsgeld des Bundes gestärkt.

Durch das im Dezember 2015 interfraktionell verabschiedete 5. Ausführungsgesetz zum SGB VIII ist die Unterbringung, die Betreuung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verbessert worden.

Das Ressort der Kollegin Löhrmann hat in diesem und im vorigen Jahr mehr als 5.700 zusätzliche Stellen an Schulen geschaffen. Diese kommen allen Schülerinnen und Schülern zugute. Im Bereich der offenen Ganztagsschulen wurden rund 17.500 zusätzliche Plätze geschaffen. Besonders erfreulich ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Von den im Jahre 2015 eingesetzten Stellen sind schon über 90 % besetzt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Außerdem verstärken wir – wie zu Recht von vielen gefordert wird – die multiprofessionellen Teams, obwohl dies keine Landesaufgabe ist. Wir alle wissen: Mit guter Bildung gelingt die Integration.

Das Ressort der Kollegin Schulze entwickelt mit den öffentlich-rechtlichen Hochschulen im Land ein Integrationsmodell für studienfähige und studieninteressierte Flüchtlinge. Ziel ist es, Strukturen für Beratungs-, Sprach- und Fachkurse an den Hochschulen aufzubauen, um Defizite in der Studierfähigkeit zu beheben und ein erfolgreiches Studium zu ermöglichen.

Das MIWF will darüber hinaus mit den im Nachtragshaushalt vorgesehenen zusätzlichen Mitteln in Höhe von über 6 Millionen € die Voraussetzungen dafür schaffen, dass künftige Lehrerinnen und Lehrer noch besser und umfassender im Bereich Deutsch als Zweitsprache qualifiziert werden.

Das Ressort des Kollegen Groschek hat zum Beispiel Maßnahmen initiiert, die die Schaffung von mehr erschwinglichem Wohnraum für alle durch die deutliche Optimierung der Förderkonditionen zum Ziel haben, und Maßnahmen, die Stadtquartiere unterstützen, die verstärkt Einwanderer dauerhaft aufnehmen. Ich nenne an dieser Stelle konkret das Sonderprogramm „Hilfen im Städtebau für Kommunen zur Integration von Flüchtlingen“, das allein mit 72 Millionen € unterlegt ist.

Das Ressort der Kollegin Steffens hat mit dem Innenministerium eine verpflichtende Regelung über die medizinische Erstuntersuchung und ?versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern erarbeitet sowie den Impfschutz deutlich verbessert, weil auch gesundheitliches Wohlbefinden eine Voraussetzung für gelingende Integration ist. NRW hat deshalb – auch hier wieder als erstes Flächenland – die elektronische Gesundheitskarte eingeführt. Jeder dritte Flüchtling in Nordrhein-Westfalen erhält diese Gesundheitskarte.

Für die vielen vom Krieg verletzten und vom lebensgefährlichen Fluchtweg traumatisierten Flüchtlinge haben wir den Zugang zur psychosozialen und therapeutischen Versorgung deutlich verbessert.

Das Ressort des Kollegen Duin ist in ständigem Dialog mit der NRW-Wirtschaft, um die Potenziale, die in der Flüchtlingswanderung liegen, zur Behebung von Fachkräftemangel und zur Stärkung der wirtschaftlichen Dynamik zu nutzen. Die gemeinsam vom Wirtschaftsminister und mir im Dezember 2015 durchgeführte Konferenz „Integration von Flüchtlingen durch Arbeit und Ausbildung“ war ein erster, war ein wichtiger Schritt auf diesem Wege. Weitere Gespräche, die bereits unmittelbar nach dem 14. Dezember begonnen haben, finden seitdem laufend statt, und Teilergebnisse werden zeitnah umgesetzt.

Ebenso haben wir die Ausbildung von Flüchtlingen zu einem wichtigen Thema im Rahmen des Ausbildungskonsenses gemacht, sowohl auf der Arbeitsebene als auch im Spitzengespräch. Das nächste Spitzengespräch findet bereits morgen statt.

Das Ressort des Kollegen Jäger hat die Flüchtlingsberatung im Lande quantitativ und qualitativ weiter ausgebaut und dabei auch Sorge dafür getragen, dass diese Angebote besser anschlussfähig an die Leistungen der allgemeinen Migrationsfachdienste sind.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nur einige Beispiele zum Iststand, die natürlich laufend weitergeführt werden. Wo immer nötig, werden wir angemessen reagieren und gegebenenfalls natürlich auch nachbessern.

Meine Damen und Herren, die stark steigenden Migrationszahlen erfordern auch eine Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der behördlichen und institutionellen Strukturen in den Kommunen.

Mein Haus fördert deshalb im Rahmen des Projekts „Einwanderung gestalten“ gezielt Kommunen, die ihre Strukturen im Sinne eines kommunalen Einwanderungsmanagements weiterentwickeln wollen. In enger Zusammenarbeit mit den Kreisen, den Städten und den Gemeinden haben wir unsere Infrastruktur weiter gestärkt. Vor Kurzem habe ich gemeinsam mit der Kollegin Löhrmann das 50. kommunale Integrationszentrum, und zwar im Kreis Coesfeld, eröffnet.

Unsere nordrhein-westfälische Integrationsinfrastruktur ist damit bundesweit einmalig, und sie erfährt über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung. Nicht nur das: Wir werden von Länderkollegen gefragt, wie wir das gemacht haben, damit sie es in ihren Ländern übernehmen können.

Meine Damen und Herren, unsere kommunalen Integrationszentren und die landesweite Koordinierungsstelle sind der sichtbare Beleg dafür, dass Land und Kommunen in Nordrhein-Westfalen an einem Strang ziehen und Hand in Hand für mehr Integration und mehr Teilhabe arbeiten.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das zeigt auch unser Programm „KommAn-NRW“. Hierfür wurden 13,4 Millionen € veranschlagt, davon 7 Millionen € allein zur Unterstützung des Ehrenamtes vor Ort. Unsere Informationsbroschüre „Ankommen in Nordrhein-Westfalen“ ist ein weiterer konkreter Beitrag zur Integration. Wir legen sie nicht nur in Deutsch, sondern auch in Englisch, Französisch, Arabisch, Dari, Farsi, Urdu und Tigrinisch auf und erreichen damit den Großteil der Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt leider auch diejenigen, die gegen Recht und Gesetz verstoßen und das Angebot unseres Landes, hier friedlich und in Freiheit leben zu können, ausschlagen. Für unsere Teilhabe- und Integrationspolitik heißt das: Wir werden die Wertevermittlung als zentrale Aufgabe verankern. Gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung erstellen wir aktuell als eine Grundlage für diese Aufgabe eine Broschüre zur Wertevermittlung, die als deutliches Hilfsmittel vor Ort benötigt wird.

Mit den gestern im eingebrachten Nachtragshaushalt dafür vorgesehenen Mitteln werden wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass vor Ort Maßnahmen zur Vermittlung der hier geltenden Regel des respektvollen Miteinanders durchgeführt werden können. Mit „Vermittlung“ meine ich ganz deutlich den persönlichen Kontakt, das direkte Gespräch zur Darlegung unserer Werte in der Bundesrepublik Deutschland und die intensive Erörterung derer, damit nicht nur ein Gesetz in Arabisch übergeben wird, sondern damit wir es den Menschen Face to Face vermitteln können, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir sind stolz auf das friedliche Miteinander von Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen. Das ist ein hohes Gut, und dieses Gut müssen wir gemeinsam mit Leidenschaft und Entschlossenheit verteidigen. Ich füge aber auch hinzu – das ist mir ganz wichtig –: Integration muss von den Zuwanderinnen und Zuwanderern auch gewollt werden. Sie müssen hierbei aktiv werden und aktiv mitwirken. Das ist eine Voraussetzung für eine gelingende Integration.

Ohne Bildung und ohne Arbeit gibt es keine Integration. Die Bundesagentur für Arbeit und die Landesregierung hatten sehr frühzeitig das Programm „Early Intervention NRW+“ auf alle 30 Agenturbezirke in Nordrhein-Westfalen ausgedehnt – auch hier als erstes und lange Zeit auch als einziges Bundesland. Bei „Early Intervention NRW+“ wurde bereits vor der endgültigen Entscheidung über einen Asylantrag geprüft, welche Qualifikationen Flüchtlinge mit Bleibeperspektive mitbringen. Dieses Programm wurde inzwischen in die sogenannten Integration Points integriert, eine Initiative der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit, die von der Landesregierung und den kommunalen Spitzenverbänden maßgeblich unterstützt wird.

Asylsuchenden und Berechtigten wird auf diese Weise eine zentrale Anlaufstelle mit verschiedenen Behörden wie zum Beispiel der Arbeitsagentur, dem Jobcenter oder dem Ausländeramt angeboten. Der bundesweit erste Integration Point ist im September 2015 in Düsseldorf an den Start gegangen. Mittlerweile gibt es in jedem der 30 Agenturbezirke in Nordrhein-Westfalen mindestens einen Integration Point. Derzeit sind es 48, und weitere werden hinzukommen.

Auch diese Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist bundesweit einmalig. Unser Ziel dabei ist: Integration durch Ausbildung und Arbeit, durch Teilhabe, durch das Erleben von Werten und Normen. Die Landesregierung flankiert diese arbeitsmarktbezogenen Maßnahmen mit Basissprachkursen und zusätzlich mit alltagsorientierten Sprachkursen für die geflüchteten Menschen. Der gestern eingebrachte Nachtragshaushalt sieht weitere Plätze hierfür vor.

Alle unsere Initiativen und Maßnahmen dienen – das ist mir besonders wichtig – zwei gesellschaftlichen Zielen: erstens der Integration der Asylsuchenden mit Bleibeperspektive und der Asylberechtigten und zweitens der Sicherung des sozialen Friedens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts in unserem Land.

(Beifall von Ingrid Hack [SPD])

Wichtig ist mir aber auch der folgende Hinweis: Kein einheimischer Bürger und keine einheimische Bürgerin wird durch die Hilfen für Asylsuchende schlechtergestellt. Keinem Einheimischen geht etwas verloren, wenn wir Flüchtlingen helfen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Christian Lindner [FDP]: Das müssen Sie Herrn Gabriel sagen! – Gegenruf von Jochen Ott [SPD]: Der sagt das Gleiche wie wir hier!)

Im Gegenteil: Wir alle gewinnen dadurch, dass Kommunen, Nachbarschaften, Schulen, Kindergärten und andere Bildungseinrichtungen unterstützt werden. Wir stärken so die Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens.

Einzelne Gruppen der Bevölkerung dürfen nicht gegen andere ausgespielt werden. Eine Spaltung der Gesellschaft lassen wir nicht zu.

(Vereinzelt Beifall von der SPD – Christian Lindner [FDP]: Das muss an Sigmar Gabriel geschickt werden!)

Meine Damen und Herren, das Land tut viel. Klar ist aber auch: Die Länder insgesamt brauchen mehr Unterstützung durch den Bund. Das sehen übrigens alle Länder so. Auf den bisherigen Konferenzen der Regierungschefs und Regierungschefinnen der Länder wurde viel erreicht. Das ist aber noch nicht genug. Was wir nach dem Asylpaket I und dem Asylpaket II dringend benötigen, ist jetzt auch ein Integrationspaket für die Flüchtlinge, die hierbleiben werden.

Die Einigung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs über die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Integration von Flüchtlingen ist deshalb ausdrücklich zu begrüßen. Um die Arbeit dieses Gremiums wirksam zu unterstützen, haben wir am vergangenen Freitag gemeinsam mit Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein eine Entschließung in den Bundesrat eingebracht, die denselben Titel trägt wie die heutige Unterrichtung.

Darin schlagen wir konkrete Verbesserungen vor, mit denen wir die Integration der Flüchtlinge mit Bleibeperspektive weiter voranbringen können, und diese Initiative ist ausdrücklich als Unterstützung für die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu sehen.

Eine Forderung unserer Entschließung vom vergangenen Freitag möchte ich besonders herausgreifen: die Verbesserung der Qualität und Quantität der Integrationskurse des Bundes. Wir setzen uns dafür ein, dass der jetzt 60 Stunden umfassende Orientierungskurs auf 100 Stunden erhöht wird. Das Bundesamt muss für die Integrations- und Orientierungskurse aber auch ausreichend Plätze zur Verfügung stellen. Es kann nicht sein, dass Flüchtlinge derzeit immer noch wochenlang auf ihren Kurs warten müssen.

Ich werde dieses Problem der Integrationskurse auf der nächsten Konferenz der Integrationsminister am 16. und 17. März ansprechen, und ich bin davon überzeugt, dass zehn Jahre nach Einführung der verpflichtenden Integrationskurse durch das Zuwanderungsgesetz auf Bundesebene die Zusammenarbeit zwischen BAMF, Ländern und Kommunen noch deutlich verbessert werden kann und deutlich verbessert werden muss. Die Zahnräder greifen hier noch nicht optimal ineinander.

Ein weiterer Punkt unserer länderübergreifenden Initiative: Noch immer gibt es Benachteiligungen, Hindernisse und Förderungslücken, die nicht mehr in die Zeit passen. Es ist doch keinem Außenstehenden erklärbar, dass seit Oktober 2015 den Asylsuchenden mit guter Bleibeperspektive die frühzeitige Arbeitsförderung zugänglich ist, aber die Leistungen der Ausbildungsförderung, wie zum Beispiel das wichtige Instrument der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, erst nach fünf Jahren Aufenthalt eröffnet werden. Wenn doch klar ist, dass ein Flüchtling eine Bleibeperspektive hat, dass er zu uns, zu dieser Gesellschaft, gehören wird, dann sehe ich nicht ein, dass wir ihn schlechter behandeln als einheimische Auszubildende oder einheimische Studierende.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Deswegen haben wir dieses Problem auch in der Bundesratsentschließung thematisiert.

Gleichzeitig wurde auf Initiative von Nordrhein-Westfalen die Aufenthaltserlaubnis für die Ausbildung, die sogenannte 3-plus-2-Regelung, seitens der Koalition in Berlin aufgenommen. Ich würde mich sehr freuen, Herr Kollege Laschet, wenn Sie in Berlin Einfluss in Ihrem Teil der Koalition darauf nehmen könnten, dass hier die Statusfragen eben keine Rolle spielen, sondern vielmehr die Umsetzung dieser einvernehmlichen Einigung auf Koalitionsebene im Sinne der jungen Flüchtlinge, aber auch ausdrücklich im Sinne der Wirtschaft erfolgen muss.

Wir müssen den begonnenen Perspektivwechsel konsequent weitergehen. Um es klar auszudrücken: Der Flüchtling in Ausbildung ist ein Auszubildender, die schutzsuchende Syrerin im Studium ist eine Studentin. Genau so sollten wir die Menschen auch sehen, und wir sollten sie auch so behandeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Es geht also nach der Anerkennung um die möglichst vollständige Gleichstellung. Ich bin froh, dass der Bundesrat unserer gemeinsamen Initiative am vergangenen Freitag zugestimmt hat. Das zeigt, dass wir richtig liegen.

(Michele Marsching [PIRATEN]: Nein, da liegen Sie nicht richtig!)

Aufgrund der stetig steigenden Zahl anerkannter Flüchtlinge und der Höhe der Kosten für die Unterbringung der Menschen droht den Kommunen das Aus. Sie leisten Erhebliches. Das Leistbare wird dadurch überstiegen. Deshalb hat der Bundesrat die Bundesregierung aufgefordert, sich kurzfristig deutlich stärker als bisher an den Kosten der Unterkunft zu beteiligen.

Aber wir fordern ganz grundsätzlich, dass die dringend notwendigen zusätzlichen Leistungen, sprich Gelder, für Flüchtlinge in den betroffenen Ressorts nicht durch Umschichtungen im eigenen Etat zulasten bislang schon sozial benachteiligter Menschen erbracht werden müssen, etwa wenn notwendige Mittel für den Arbeitsmarkt laut Bundesfinanzminister aus dem eigenen Ressort zum Beispiel durch Kürzung der Mittel zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit finanziert werden sollen. Das wäre eine bundesfinanzpolitisch gesteuerte Spaltung der Menschen, und das muss verhindert werden.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Jochen Ott [SPD]: So ist das!)

Die gesamtstaatliche Verantwortung für die Integration von Flüchtlingen muss sich auch in einem modernen Einwanderungsgesetz wiederfinden. Es muss dabei zu einer fairen Aufteilung der Aufgaben und der Lasten zwischen Bund, Ländern und Kommunen kommen.

Meine Damen und Herren, es gibt in Nordrhein-Westfalen die gute Tradition und Praxis der integrationspolitischen Zusammenarbeit. Das unterscheidet unser Land positiv von anderen. Einwanderungs- und Integrationsthemen eignen sich nicht für Populismus. Erkennbarer Ausdruck unserer Zusammenarbeit hier in Nordrhein-Westfalen sind die Integrationsoffensive von 2001, der Aktionsplan Integration von 2006 und das Teilhabe- und Integrationsgesetz, das ohne Gegenstimmen im Landtag verabschiedet wurde und am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist.

In ihrem Antrag „Gelingende Integration von Flüchtlingen“ …

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales: … verweisen die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich auf diese gute Zusammenarbeit. Sie sprechen sich des Weiteren dafür aus, einen Integrationsplan für Nordrhein-Westfalen ins Leben zu rufen, der die bisherigen integrationspolitischen Maßnahmen ergänzt und auch entsprechend weiterentwickelt.

Ich halte dies für einen sinnvollen, für einen notwendigen Schritt zur zukunftsfesten Gestaltung des Einwanderungslandes Nordrhein-Westfalen. Und es ist auch sinnvoll, wenn das Parlament heute diesen Antrag in annähernd alle Fachausschüsse überweist. Damit ist die dezidierte Berücksichtigung aller fachpolitischen Aspekte gewährleistet, und das ist angesichts der Vielzahl und der Vielfalt der zu regelnden Aufgaben, wie sie in den fünf Handlungsfeldern definiert werden, dringend erforderlich.

Eine gute Grundlage für die Arbeit der Ausschüsse ist auch unser Teilhabe- und Integrationsbericht, den wir derzeit aktuell im Integrationsausschuss behandeln. Für die spätere Umsetzung der Eckpunkte, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann entwickeln werden, haben wir mit der interministeriellen Arbeitsgruppe Integration das ressortübergreifende Gremium, das für die kompetente und zügige Umsetzung steht. Ich hoffe, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen nach den umfangreichen Beratungen in diesem Haus die breite Unterstützung erfährt, die er letztendlich auch verdient.

Lassen Sie uns ein Signal ins Land senden, das deutlich macht: Der Integrationskonsens in Nordrhein-Westfalen lebt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das heißt ja nicht, dass wir aufhören sollen, über den richtigen Weg zu streiten. Schließlich ist Streit grundsätzlich nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Er kann sehr produktiv sein. Aber wir müssen deutlich machen, dass wir uns in diesem Haus über das Ziel einig sind, mehr Teilhabe und mehr Integration zu fördern.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Abschluss einige Worte zum Entwurf des bayerischen Integrationsgesetzes, das vom dortigen Kabinett letzte Woche gebilligt wurde. Im bayerischen Gesetzentwurf ist viel die Rede – ich zitiere – „ von gewachsenem Brauchtum, von Sitten und Traditionen“, „von den in der heimischen Bevölkerung vorherrschenden Umgangsformen“, von der im Rahmen des „Gastrechts unabdingbaren Achtung der Leitkultur“. Meine Damen und Herren, als Westfale erlaube ich mir die zaghafte Kritik: Etwas weniger Barock und etwas mehr Weltoffenheit hätten hier nicht geschadet.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

An unser nordrhein-westfälisches Teilhabe- und Integrationsgesetz reicht das bayerische Gesetz nicht heran. Das haben wir in Nordrhein-Westfalen besser hinbekommen. Das wollen wir auch künftig besser machen. Lassen Sie uns das gemeinsam tun, wie 2001 begonnen – für eine gute, für eine gelingende Integration hier bei uns in Nordrhein-Westfalen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Schmeltzer. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit haben wir die Unterrichtung gehört und kommen zur Aussprache. Ich will Ihnen gerne mitteilen, dass der Minister seine Zeit zur Einbringung der Unterrichtung um 3:10 Minuten überzogen hat. Dies werden wir natürlich entsprechend bei der Aussprache berücksichtigen. – Nun spricht Frau Kollegin Altenkamp für die SPD-Fraktion.

Britta Altenkamp (SPD): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine wirklich wichtige Debatte. NRW hat bislang etwa 200.000 Flüchtlinge aufgenommen. Rund 13.000 davon sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. 80 % der Flüchtlinge sind unter 35 Jahre alt. NRW erfüllt damit seine Pflicht mehr als ausreichend.

Andererseits bedeuten diese Zahlen aber auch: Das ist eine Riesenchance für unser Land, aber ohne Zweifel auch eine sehr große Herausforderung. Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich es für wichtig halte, dass wir trotz der Menge an Menschen, die im Augenblick nach Deutschland und auch nach Nordrhein-Westfalen strömen, nicht vergessen, den Blick auf den Einzelnen zu lenken. Wir sollten versuchen, in der Debatte die Flüchtlinge aus dem Objektstatus in den Subjektstatus zu bringen. Das ist wichtig, um überhaupt über Integration sprechen zu können; denn es geht immer individuelle Lebenswege, um individuelle Zugangswege.

NRW fängt bei der Integration von Zuwanderern nicht bei null an. NRW hat große Erfahrungen bei der Integration – übrigens auch und vor allen Dingen bei der gelingenden Integration.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Der Minister hat es schon gesagt: 2001 haben wir in diesem Haus fraktionsübergreifend die Integrationsoffensive beschlossen. Seitdem herrscht in diesem Haus Konsens, in welchen Feldern Integration politisch vorangebracht werden muss.

Damals wie heute sind es die gleichen fünf Felder – diese finden sich auch in unserem Antrag wieder –: Ankommen und erste Maßnahmen, Sprache und Bildung, Arbeit und Weiterbildung, Quartiere und Wohnen, gesellschaftlicher Zusammenhalt und da – das ist damals so gewesen und auch heute so – vor allen Dingen die Frage: Mit welcher Religion kommen die Menschen zu uns, und wie können wir es ermöglichen, dass die Freiheit der Religionsausübung, ein wichtiges Prinzip unseres Staates, auch für diese Menschen uneingeschränkt gilt?

Zur Umsetzung dieser Handlungsfelder brauchen wir die Kommunen. Das ist ohne Zweifel wichtig und richtig.

Zunächst will ich aber noch einmal etwas über unser Leitbild bei der Integration sagen. Integration ist für uns ein Prozess auf Gegenseitigkeit. Wir verlangen keine Assimilation, noch nicht einmal Anpassung, sondern unser Prinzip ist ein abgewogenes Konzept von Fördern und Fordern.

Wir haben aus den Fehlern der 90er-Jahre gelernt. Wir setzen so schnell und so früh wie möglich an. Kinder erhalten so schnell wie möglich Zugang zu Kita und Schule. Der Zugang zu Ausbildung und Arbeit wurde durch das Asylpaket I erleichtert. Das Angebot an Sprachkursen wurde, was die Zahl und die Palette angeht, erhöht und erweitert. Natürlich ist da Luft nach oben. Aber Grundvoraussetzung für alles, was wir weiterhin diskutieren, ist, dass insbesondere – der Minister hatte es schon gesagt – die die Registrierung und damit den Zugang zu bedarfsgerechten Angeboten für die Menschen, die bei uns leben, verbessert und beschleunigt werden.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, für uns ist aber auch klar: Wer bei uns dauerhaft leben will, muss sich zum Grundgesetz, zu unserer Demokratie und zu unseren Werten bekennen. Wir erkennen die Leistung der Migranten in unserer Gesellschaft, ihren Platz zu finden, an. Sie haben einen individuellen Anspruch darauf, dass man ihnen Chancen bietet und dass sie in unserer Gesellschaft teilhaben können. Aber sie müssen bereit sein, ebendiese Leistung auch zu erbringen.

Klar ist: Wir sind uns sicher, dass gelingende Integration ein Gewinn für die aufnehmende Gesellschaft werden kann, aber vor allen Dingen für die Menschen, die Schutz und eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien bei uns suchen.

Wir wissen aber auch: Integration ist eine lange Wegstrecke, auf der es immer wieder zu Problemen und auch zu Missverständnissen kommen kann und wird – auf beiden Seiten übrigens. Auch das muss klar sein. Deshalb sind gerade die Angebote, die erklären und darstellen, was unsere Grundwerte sind, was unsere kulturprägenden Angebote sind und wie unsere Gesellschaft funktioniert, so wichtig für die Menschen, die zu uns kommen.

Aber der größte Fehler wäre es, sich nicht auf diese Wegstrecke zu machen. Das ist der Anspruch, den wir an uns als Politikerinnen und Politiker stellen sollten und den wir auch an die Menschen in unserem Land stellen sollten. Den Menschen die Angst zu nehmen, dass es nicht gelingen könnte oder dass es sich nicht lohnen könnte, die Menschen, die zu uns kommen, in unsere Gesellschaft zu integrieren, ist aus meiner Sicht eine unserer wichtigen Aufgaben. Wir müssen Teilhabechancen für alle Menschen in unserem Land bieten.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

„Ohne Angst und ohne Träumerei“: Dieser Ausspruch von Johannes Rau sollte das Markenzeichen für die Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen werden.

Deshalb stellen wir heute unseren Integrationsplan vor und bringen ihn in die Diskussion ein. Das Wichtigste für die Bürgerinnen und Bürger in NRW, aber auch für die nach NRW Flüchtenden ist, dass wir deutlich machen: Wir gehen planvoll vor.

Was wir heute zur Diskussion stellen, ist vielfach ohne Zweifel nicht neu. Warum auch? Wir haben in NRW eben die Erfahrungen damit, was für gelingende Integration notwendig ist. Vieles ist schon auf den Weg gebracht worden. Der Minister hat es gesagt. Das wird auch in unserem Antrag deutlich.

Der 15-Punkte-Plan für mehr innere Sicherheit sieht vor: 20 Millionen € für die Betreuung der Kinder in Flüchtlingsfamilien, Verbesserung der Versorgung der unbegleiteten Minderjährigen, weiterer Ausbau bei U3 und Ü3, 5.700 Lehrerstellen, 1.300 Willkommensklassen, mehr Plätze in der offenen Ganztagsschule, flächendeckender Ausbau der Integration Points zur Verbesserung der Vermittlung in Arbeit, Fachberatung zur Verbesserung der im Ausland erworbenen Abschlüsse, Förderprogramme zur Schaffung von Wohnraum, Städtebausonderprogramme in Höhe von rund 72 Millionen € pro Jahr, Stärkung und Unterstützung des Ehrenamts bei der Flüchtlingshilfe und, und, und.

Wir lehnen uns nicht zurück, sondern sagen: Das ist ein Anfang. Aber es ist noch mehr nötig – nicht nur, aber eben auch monetär.

Natürlich gibt es insbesondere aus den Reihen der Oppositionsfraktionen immer wieder die Diskussion, dass alles nicht reicht und nicht schnell genug geht. Das ist in Ordnung. Es natürlich auch ein Teil Ihrer Rolle, uns anzutreiben und zu sagen, das müsse besser oder schneller werden. Aber ich bitte Sie, in der Diskussion – auch mit Blick auf die Tradition hier im Hause – nicht allzu schnell in parteipolitische Reflexe zu verfallen.

(Zurufe von der CDU)

Wir laden alle Fraktionen und alle Abgeordneten ein, sich an der Entwicklung dieses Integrationsplans für NRW zu beteiligen. Dabei können wir an die Integrationsoffensive aus dem Jahr 2001 anknüpfen. Ich war damals persönlich daran beteiligt. Wir können auch an den Aktionsplan aus dem Jahr 2006 anknüpfen, an dem ich auch persönlich beteiligt war. Ich habe die Hoffnung, dass wir auch diesmal gemeinsam für die Menschen einen Schritt weiterkommen.

Es ist klar, dass wir die Kommunen als Partner für den Erfolg der Integration in Nordrhein-Westfalen brauchen. Deshalb werden wir die Kommunen auch weiterhin bei der Entwicklung der kommunalen Integrationskonzepte unterstützen. Wir sehen eine Verantwortungsgemeinschaft von Bund, Land und Kommunen. Nur so kann Integration gelingen.

Herr Dr. Stamp, ich sehe in Ihrem Entschließungsantrag viele Punkte, bei denen ich glaube, dass wir sehr positiv an das anknüpfen können, was in dieser Diskussion inhaltlich auch notwendig ist. Lassen Sie uns konkret werden. Das sehe ich in Ihrem Antrag. Das hilft den Menschen und den Geflüchteten in NRW. Lassen Sie uns sagen: Wir in NRW können Integrationspolitik. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Altenkamp. – Für die CDU-Fraktion hat jetzt Herr Kollege Kuper das Wort.

André Kuper (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie, meine Damen und Herren von den regierungstragenden Fraktionen, legen heute hier einen groß angekündigten Antrag vor. Sie nennen ihn „Integrationsplan“, „einzigartig in Deutschland“ und „fortschrittlich“; so meinen Sie. Das mag vielleicht von der Überschrift her so sein. Andere Länder benennen es bescheidener, haben ihre Integrationskonzepte oder Maßnahmenpakete aber zum Teil schon länger als ein halbes Jahr fertig und sind in der Umsetzung, sodass Gesetze sogar endgültig beschlossen sind. Das heißt, sehr geehrte Damen und Herren der Landesregierung und von SPD und Grünen: Sie sind wieder einmal spät dran.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Wenn man nach dem Warum fragt, hat man schnell eine Erklärung. Sie haben die Integration nämlich deshalb so lange vernachlässigt, weil Sie immer noch damit beschäftigt sind, Ihr Organisationsversagen bei der temporären Erstaufnahme der Flüchtlinge zu beseitigen und aus dem Notfallmodus herauszukommen.

(Beifall von der CDU)

Zum Beispiel ließen Sie die Flüchtlinge im letzten Jahr zuerst in völlig überlastete Erstaufnahmeeinrichtungen in Dortmund und Bielefeld bringen, holten sich dann die fehlenden Landesplätze per Ordnungsverfügung von den Kommunen, verteilten die Flüchtlinge monatelang ohne jede Ersterfassung in Notunterkünften und bauten dann Registrierungsstraßen zur Nachregistrierung auf, die wiederum nach Monaten durch sogenannte Ankunftszentren verdrängt wurden. Nun planen Sie ab dem Sommer eine Landeserstaufnahme in Bochum, die wieder nur vorregistriert. Sie haben weiterhin mehrere 10.000 Plätze in Notunterkünften der Kommunen und kommen mit dem Ausbau Ihrer eigenen Einrichtungen nur schleppend voran.

Weiterhin versemmeln Sie eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge im Land. Einige Kommunen erfüllen ihre Aufnahmequote nur zu 59 %, während andere zum Beispiel bei 115 % sind und damit deutlich über 100 % liegen.

Last, but not least: Während Sie beim FlüAG nach außen eine einheitliche Kostenerstattung von 10.000 € je Flüchtling vermarkten, wird aufgrund Ihrer zu 90 % pauschalen Verteilung nach Einwohnern eine nicht zu akzeptierende ungerechte Verteilung an die Kommunen bewirkt. So beträgt bei Ihrer Kostenerstattung je Flüchtling beispielsweise die Spreizung im Kreis Soest zwischen 5.500 € und 77.000 €. Wenn das für Sie Verteilungsgerechtigkeit ist, dann spricht das Bände.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, solange kein vernünftiges Aufnahmeverfahren besteht und solange Tausende kommunaler Unterbringungsplätze vom Land belegt werden,

(Jochen Ott [SPD]: Wir diskutieren über das Thema! Lächerlich!)

wird es für unsere Kommunen schwierig werden, sich endlich vollends und ganz auf die Daueraufgabe der Integration der hier bleibenden Menschen zu konzentrieren.

(Jochen Ott [SPD]: Echt bitter!)

Es gilt, zu bedenken, dass unsere Kommunen – wie bei vielen anderen gesellschaftlichen Aufgaben – aufgrund ihrer Bürgernähe die Handlungsebene sind, auf der Integration vor allem stattfindet.

Deshalb gilt es, für die Zukunft zwei zentrale Handlungsfelder der kommunalen Integrationsarbeit zu definieren.

Das erste Handlungsfeld sind die Integrationsmaßnahmen,

(Zuruf von Marc Herter [SPD])

welche die Kommunalverwaltungen selbst erbringen.

Das zweite und mindestens genauso bedeutende, wenn nicht noch entscheidendere Handlungsfeld ist die Aktivierung und Koordinierung von Bürgerschaft, Wirtschaft und Ehrenamt für die Integration. Integration ist das A und O des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

(Beifall von der CDU – Zuruf von der SPD: Schöne Sonntagsrede!)

Dabei ist die Frage, wie die Gesellschaft funktioniert und der Zusammenhalt auch in Zukunft gesichert werden kann, von zentraler Bedeutung.

Gleichzeitig geben Entwicklungen wie die Ereignisse der Silvesternacht in Köln aber auch Anlass zur Sorge. Die Auswirkungen solcher Vorkommnisse für unsere Ansprüche an Integration müssen intensiv diskutiert werden. Wir brauchen eine deutlich stärkere Auseinandersetzung über das, was Integration leisten kann,

(Zuruf von der SPD: Dann fangen Sie einmal an!)

und das, was Integration auch verlangen kann.

Dabei geht es um das eben angesprochene Fördern und Fordern in Richtung der Zuwanderer, sich als Teil einer Wertegemeinschaft zu begreifen und auch einen Willen zur Teilhabe zu entwickeln. Fundamente sind die Werte unseres Grundgesetzes, aber auch die Anerkennung der spezifischen kulturellen Aspekte unseres Landes wie zum Beispiel Verständnis und Respekt vor der leidvollen deutschen Geschichte und daraus resultierender Verantwortung.

Meine Damen und Herren, wir haben aber auch viele Punkte der Einigkeit. Wo sind wir uns beispielsweise einig?

Die Integration anerkannter Flüchtlinge und Asylsuchender mit guter Bleibeperspektive ist eine der großen Herausforderungen der Landespolitik der nächsten Jahre. Darin sind wir uns alle einig. Wir müssen heute die Weichen für eine vorausschauende Integrationspolitik stellen. Das ist Aufgabe aller staatlichen Ebenen.

Eine erfolgreiche Eingliederung in unsere Gesellschaft ist unerlässlich für den Erhalt des sozialen Friedens im Land.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja ganz neu!)

Schaffen wir es, Flüchtlingskinder und Heranwachsende gut auszubilden und möglichst viele Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sinken zudem die Folgekosten.

(Zuruf von der SPD: Nicht so konkret, bitte!)

Die Schlüssel sind Sprache, Bildung und Arbeit sowie die gemeinsamen Wertegrundlagen unseres Zusammenlebens.

Sie haben zuvor medial und auch heute hier noch einmal eine Einladung zum Konsens ausgesprochen. Konsens in der Integrationspolitik hat in unserem Land Tradition.

(Beifall von Minister Michael Groschek)

Das ist auch gut so. Die Integrationsoffensive des Jahres 2001 haben wir gemeinsam getragen. Auch danach wurde das Thema aus dem Wahlkampf herausgehalten. Aus unserer Sicht, aus meiner Sicht war das gut für unser Land.

Wir haben in Nordrhein-Westfalen ein anderes Klima als in anderen Bundesländern. Pegida existiert bei uns quasi kaum noch. Die AfD war bei der Europawahl schwächer als anderswo. Die AfD ist in Umfragen nicht auf dem Niveau anderer Länder. Meine Damen und Herren, das gilt es zu bewahren. Deshalb ist es auch richtig, sich der AfD zu stellen und die aktive Auseinandersetzung zu suchen.

Zugleich muss der Eindruck der letzten Monate, dass ein gemeinsames Vorgehen seitens Grün-Rot in NRW nicht gewollt ist, auch nicht in der Integrationspolitik, beseitigt werden. Ist das von Ihnen also jetzt ein ernsthaftes Angebot oder nur ein taktischer Schachzug?

(Zuruf von den GRÜNEN)

Bei uns lösen Ihre Maßnahmen Zweifel aus. Ein großer Plan für NRW wird von langer Hand vorbereitet, eingebracht und heute medial verkauft. Eine Einladung an die Opposition wird hier und heute erst nachgeschoben. Ist das parlamentarische Zusammenarbeit und Gemeinsamkeit?

(Beifall von der CDU und der FDP)

Auch in der Integrationspolitik bewegen Sie sich eigentlich nur, wenn eine Krise Sie dazu zwingt.

(Zuruf von den GRÜNEN: Oh! Mein Gott!)

Das erste Beispiel: Den Flüchtlingsgipfel gab es erst nach den Geschehnissen in Burbach.

Das zweite Beispiel: die Unterrichtung und der Antrag nach der Silvesternacht in Köln – übrigens wieder ein Versagen des Innenministers. Wieder sind Menschen Opfer von Straftaten geworden. Wieder schaut die Welt auf Nordrhein-Westfalen. Wieder ist der Ruf des Landes in Mitleidenschaft geraten. Da kommen Sie dann mit Ihrer Unterrichtung aus der Versenkung.

Diese Methode „Kraft“ ist nicht das, was wir uns planvoll, vorausschauend und visionär vorstellen, sondern das ist eher kraftlos.

(Beifall von der CDU – Zuruf von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wer wirklich etwas voranbringen will, wer gestalten will, läuft nicht hinterher oder wartet, bis ihn die Ereignisse einholen, sondern weiß, was er in diesem Land vorhat und wie er diese Ziele erreichen will.

Wir haben seit dem ersten Flüchtlingsgipfel in 30 Anträgen und Positionspapieren dargelegt, wie Nordrhein-Westfalen mit dem Zuzug von Flüchtlingen umgehen muss,

(Jochen Ott [SPD]: Leider nicht!)

damit wir den Menschen gerecht werden und zugleich als Land davon profitieren können.

Jedes dieser Dokumente war ein Angebot,

(Jochen Ott [SPD]: Können wir die einmal sehen?)

dass unser Land wieder zum Integrationsland Nummer eins wird.

(Jochen Ott [SPD]: Mit keinem einzigen Vorschlag!)

Und wie sind Sie damit umgegangen? Das Schema war immer gleich: Empörung, Ablehnung und mit zeitlichem Abstand Übernahme unter eigenem Siegel als eigener Vorschlag – so auch jetzt aktuell in Ihrem Integrationsplan nachzulesen.

(Beifall von der CDU)

Mit dem von uns zur heutigen Sitzung eingebrachten Antrag legen wir Ihnen zur Erinnerung

(Zuruf von der SPD: Plan A2! Jetzt wissen wir es!)

noch einmal ein Kondensat dieser Überzeugungen vor. Kollegin Güler wird später noch darauf eingehen.

Nicht einig sind wir uns bisher auch bei Ihren Prioritätensetzungen. Wir meinen, dass insbesondere die Finanzierung und Entlastung der Kommunen eine Rolle spielen muss und es auch einer entsprechenden Umsetzung des Asylpakets bedarf.

(Zuruf von der SPD: Genau!)

Worauf werden wir achten? Erstens darauf, wie die Prioritäten bei Ihnen jetzt gesetzt werden –

(Zuruf von der SPD: Ich denke, Sie wollen mitmachen!)

nämlich auf das Wichtige statt auf alles Mögliche.

Zweitens werden wir den Fokus auf die Landespolitik legen. Wenn sich jede zweite Forderung nur an den Bund richtet, stimmt die Gewichtung nicht.

Das Wichtigste im dritten Punkt wird das Ziel der Entlastung der Kommunen sein, weil die Integration vor Ort gelingen muss.

Meine Damen und Herren, wie ich schon angedeutet habe, sind wir offen für Gespräche. Für die CDU-Fraktion ist bei aller Lust am politischen Wettbewerb der Konsens in der Integrationspolitik ein hohes Gut.

(Beifall von der CDU)

Wenn Sie, meine Damen und Herren von den regierungstragenden Fraktionen, in diese Richtung wollen, verschließen wir uns nicht. Aber die Formulierung eines Integrationsplanes muss ein gemeinsamer Arbeitsprozess sein. Wir erwarten das klare Bekenntnis, zu gemeinsamen Lösungen kommen zu wollen. Unter diesen Voraussetzungen stehen wir für ernsthafte, an der Sache orientierte Beratung in den Fachgremien zur Verfügung. Im Ergebnis werden wir Sie allein an Ihren Taten messen und nicht an Ihren Worten. – Danke schön.

(Beifall von der CDU – Zuruf von Jochen Ott [SPD])

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kuper. – Die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Frau Kollegin Velte.

Während sie zum Rednerpult kommt, möchte ich Sie darüber informieren, dass es zum Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zwischenzeitlich den Änderungsantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/11318 gibt. Er wird offensichtlich gerade verteilt, ist aber auch schon in der Livetagesordnung vermerkt und kann dort eingesehen werden.

Frau Kollegin Velte, bitte.

Jutta Velte (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Kuper, es ist schön, dass Sie doch noch irgendwie die Kurve bekommen haben. Als Sie Ihre Rede angefangen haben, haben Sie ja etwas typisch Deutsches gemacht, nämlich mit Defiziten begonnen. Da haben wir schon gedacht, dass Sie jetzt ein Stück weit am Thema vorbei reden würden. Aber es ist doch noch einmal gut gegangen, und Sie haben auch das Thema des heutigen Morgens – Integration, in die Zukunft denken, in die Zukunft entwickeln – in den Mittelpunkt Ihrer Rede gestellt.

Vielleicht noch eine Korrektur: Gesetze zum Thema „Teilhabe und Integration“ haben wir schon länger. Vielleicht ist das in Ihrer Zeit als Bürgermeister nicht so richtig bei Ihnen angekommen. Aber wir haben ein Teilhabe- und Integrationsgesetz. Das finden wir auch gut so. Es ist in diesem Haus auch einstimmig verabschiedet worden.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Deswegen können wir da relativ gut miteinander ins Gespräch kommen, denke ich.

„Integration ist anstrengend“, sagt Prof. Dr. El-Mafaalani von der Ruhr-Universität Bochum. Und er weiß, wovon er spricht; denn er ist einer der führenden Integrationsforscher in Nordrhein-Westfalen.

Weiter sagt er: Integration fordert heraus. Sie fordert die Zivilgesellschaft heraus; sie fordert die Politik heraus; sie fordert uns alle ein Stück weit heraus. Natürlich fordert sie auch eine Menge von den Menschen, die sich in unsere Gesellschaft integrieren wollen und integriert werden sollen.

Aber – ich habe den Teilhabe- und Integrationsbericht des Landes Nordrhein-Westfalen mitgebracht – Integration lohnt sich. Das zeigt dieser Bericht wirklich sehr deutlich. In den letzten Jahrzehnten haben wir sehr viele Menschen in Nordrhein-Westfalen aufnehmen können. Das war gut so. Was wäre NRW denn ohne die vielen ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, ohne die vielen Aussiedlerinnen und Aussiedler? Das wäre nicht vorstellbar. Zumindest wäre nicht vorstellbar, was aus uns geworden wäre, wenn diese Menschen nicht ihre Kraft, ihr Engagement, ihr Wissen, ihre Kenntnisse, ihre Aufstiegsbereitschaft oder ihre Aufstiegsdynamik – das sage ich einmal mit Blick auf Herrn Lindner – in unsere Gesellschaft eingebracht hätten.

Wir würden jetzt nicht nur vom Fachkräftemangel sprechen; wir würden von einer Fachkräftekrise sprechen. Die Sozialversicherungssysteme sähen katastrophal aus – die Steuereinnahmen im Übrigen auch. Die Gesellschaft wäre insgesamt etwas älter. Eine ältere Gesellschaft – damit möchte ich keinem zu nahe treten – hat auch eine gewisse geringere Dynamik. Solche negativen Auswirkungen kann man in manchen Ländern ja betrachten, zum Beispiel in Japan, das sich beharrlich weigert, Einwanderung zuzulassen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aus den Anträgen von CDU und FDP wird klar, dass sie diese Erkenntnis durchaus teilen und diese Erfolge NRWs ebenfalls sehen.

Aus der langen Geschichte der Einwanderung nach NRW wissen wir aber auch, welche Fehler wir gemacht haben. Zu lange haben wir uns als Gesellschaft geweigert, uns als Einwanderungsland zu verstehen. Zu lange haben wir es in der Vergangenheit versäumt, die Strukturen unserer Verwaltung, unserer Wirtschaft und unseres Bildungssystems fit zu machen für diese Entwicklung, für diese Einwanderungsgesellschaft. Wir haben ja noch nicht einmal kommunales Wahlrecht für diejenigen, die lange hier leben.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wir schließen sie konsequent von der politischen Teilhabe aus. Zudem steht ein Einwanderungsgesetz bis heute noch aus.

Solche wichtigen Schritte wie auch doppelte Staatsbürgerschaft scheitern immer wieder an der CDU.

(Zuruf von Armin Laschet [CDU])

– Herr Laschet, bleiben Sie ruhig. Jetzt habe ich auch einmal ein Lob für Sie. Es ehrt die NRW-CDU, dass sie zumindest in Teilen – wir ignorieren einmal den Rest – konstruktiver als ihre Bundesschwester mit diesen Themen umgeht. Es ist Herr Laschet, der immer wieder dafür sorgt – und natürlich auch Frau Güler.

Nie da gewesen! Diesen Ausspruch kann man jetzt immer wieder hören und lesen. So viele Menschen kommen! Flüchtlingskrise! Da wird mit großen Zahlen operiert – Zahlen, die, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, alarmieren, die vielleicht Ängste schüren.

Aber was bedeuten sie? – Sie bedeuten, dass sich eine Stadt mit 100.000 Einwohnern um 1.500 Neubürgerinnen oder Neubürger kümmern muss. Das ist keine Krise. Das fordert die Verwaltungen heraus, ja. Das sorgt aber auch dafür, dass die Verwaltungen – da schaue ich Herrn Kuper an, der sich gerade angeregt unterhält – sich vielleicht auch einmal von alten Zöpfen und alten Wegen trennen müssen.

(Zuruf von André Kuper [CDU])

Das bedeutet, dass die Verwaltungen an der einen oder anderen Stelle neue Strukturen erfinden müssen. Das – jetzt möchte ich doch einmal ein großes Lob für Verwaltungen auf der Landesebene und auf der kommunalen Ebene aussprechen – können sie auch.

(Beifall von den GRÜNEN und Norbert Römer [SPD])

Hier ist schon viel erwähnt worden. Wir brauchen natürlich eine Neuorganisation von Schnittstellen. Wir haben uns jahrelang nicht darum gekümmert, wie sich Integrationskurse mit Arbeitsmarktangeboten verzahnen und wie sich Bildungs- und Weiterbildungsangebote mit Aufstiegschancen verzahnen. Darum haben wir uns nicht gekümmert. Stimmt! Das machen wir jetzt besser. Dafür haben wir diesen Antrag auch eingebracht.

Wir können stolz sein, weil wir es ja auch gemeinsam beschlossen haben. Wir können alle insgesamt stolz darauf sein, dass wir die Kommunalen Integrationszentren haben, immerhin in 50 Kreisen, Kommunen und kreisfreien Städten unseres Landes. Denn die können jetzt unsere Kommunen bei den vielen Aufgaben, die auf uns zukommen, bei der Organisation des Ehrenamtes, bei der Organisation des Seiteneinstiegs, bei der Organisation von Arbeitsmarkt- und Bildungszugängen, intensiv unterstützen, und das ist gut so, weil sie das Knowhow haben und in die Kommunen ein sehr, sehr großes und wichtiges Wissen einbringen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aber all diese Veränderungen – und Gesellschaft verändert sich nun einmal permanent – brauchen auch Mittel. Sie brauchen Unterstützung und Menschen, die diese Veränderungen vorantreiben. Das Land bringt einiges an diesen Mitteln auf den Weg. Der Minister hat das ja gesagt, er hat erklärt, wie viel dieses Land dazu beiträgt. Aber – da schaue ich auch Herrn Stamp an – wir brauchen auch den Bund.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Schön, dass Sie mit der FDP im Bund rechnen!)

Das ist kein Schwarze-Peter-Spiel; denn die Frage der Integration von Geflüchteten, von Menschen, die zu uns kommen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die der Bund genauso verantwortlich ist wie das Land Nordrhein-Westfalen, jede einzelne Kommune und jeder einzelne Bürger in diesem Land.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

„Nie dagewesen“ heißt es aber auch, wenn – und das möchte ich gerne anfügen – es um die Willkommenskultur in unserer Gesellschaft geht. Nie dagewesen sind die freundlichen Gesichter derjenigen, die sich Tag für Tag um die Neuhinzugekommenen kümmern, ihnen Obdach gewähren, bei Ämtergängen helfen, ehrenamtlich Deutschkurse anbieten, sich um Kinder und die Familien kümmern und vieles mehr einbringen, damit Integration gelingen kann.

Nie dagewesen sind aber auch die Allianzen zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, die alle gemeinsam bereit sind, das ihrige zu einer gelingenden Integration beizutragen.

Es gibt – und das können wir, meine Damen und Herren, täglich lesen – aber auch die anderen Stimmen, die der Menschen, die unsicher sind, ob und wie die derzeitige Lage zu bewältigen ist, die, die sich vor Veränderungen fürchten, auch und weil gerade die Bundespolitik und insbesondere Horst Seehofer aus Bayern diese Ängste schüren.

Diese Töne vermitteln nicht das, was das Gebot der Stunde ist: Zuversicht und Vertrauen in die öffentlichen Systeme. Sie vermitteln zuallererst das Gefühl, überfordert zu sein. Vielleicht sind sie es auch in Bayern.

Aber eine Lage nicht zu überblicken, kann und darf nicht dazu führen, mit immer neuen und immer radikaleren Forderungen die Öffentlichkeit zu verwirren. Hier gilt es – das ist ausdrücklich an den Bund gerichtet –, seine Arbeit zu tun und die Menschen auf diesem Weg mitzunehmen. Konkrete Politik ist hier gefordert und nicht ein Wettstreit um die absurdeste Forderung.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Damit schüren wir nur Ressentiments, und zwar gegen alle, die schon lange hier leben, hier arbeiten, hier lernen. Wenn Sie sich mit vielen Migrantinnen und Migranten der ersten Stunde, Alteingewanderten, unterhalten, dann sehen Sie, was diese Debatte auch mit Blick auf diese Menschen anrichtet.

Und es gibt die – die andere Gruppe –, die sich mit menschenfeindlichen Sprüchen, mit demokratiefeindlichen Aussagen Luft machen, die meinen, Menschenfeindlichkeit sei in diesem Land salonfähig. Dabei richtet sich ihr Wirken gegen Arbeitslose, Obdachlose, Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, Musliminnen, Geflüchtete. Wenn wir über Demokratieverständnis und die Förderung desselben reden, dann gilt es, auch diese Gruppen in den Blick zu nehmen. Da haben Sie ja völlig recht, meine Damen und Herren von den Piraten.

Aber die Verdoppelung der Mittel der Landeszentrale für politische Bildung reicht da nicht. Wir müssen die Initiativen gegen rechts verstärken, und das machen wir auch. Wir fördern die Beratungsstelle für die Opfer rechter und rassistischer Gewalt, wir fördern die mobilen Beratungsstellen gegen rechts, und wir geben für die Aussteigerberatung NinA viel Geld aus. Man kann darüber streiten, ob das reicht. Aber stolz können wir sein auf die Arbeit der genannten Stellen. Da wir die Landeszentrale bereits mit mehr Mitteln versehen, werden wir Ihren Antrag an der Stelle auch ablehnen.

Meine Damen und Herren, Politik muss Zuversicht vermitteln. Das sagte die Flüchtlingsbeauftragte der Stadt Düsseldorf, Miriam Koch, auf dem Integrationspolitischen Kongress der grünen Landtagsfraktion. Dort wurde auch deutlich, wie viele sich diesen Satz zu Herzen nehmen, auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Herr Kuper.

Mit dem vorliegenden Entwurf machen wir einen Vorschlag. Zumindest freuen wir uns über die Anträge der Opposition, auch wenn wir nicht alle Forderungen teilen. Lassen Sie uns gemeinsam ringen, lassen Sie uns streiten um den besten Vorschlag, um den besten Weg. Lassen Sie uns gemeinsam eine Integrationsoffensive starten, sozusagen eine Integrationsoffensive 4.0 wagen. Lassen Sie uns die Herausforderungen gemeinsam angehen – für unser Land. Wir alle sind NRW! – Ich danke Ihnen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Velte. – Für die Piratenfraktion spricht Frau Kollegin Brand.

Simone Brand (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Jetzt liegt er also vor, der Vorschlag für ein Gesamtkonzept zur Integration. Es ist höchste Zeit, das Thema ganzheitlich in den Blick zu nehmen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept für die kommunale, die Landes- und die Bundesebene sowohl aus der Perspektive der Menschen, die zu uns kommen, als auch aus der Perspektive der Menschen, die bereits hier wohnen und leben.

Ich hoffe, dass wir in diesem Sinne fraktionsübergreifend ein starkes Zeichen nach außen setzen werden. Denn die Diskussionskultur der letzten Plenarsitzung hat das eigentliche Thema negativ überschattet. Da beschimpfen sich fünf demokratische Parteien. Man unterstellt sich Rechtspopulismus und AfD-Nähe. Die Berichterstattung der Medien greift das Gezänke mit Unmut, aber auch mit einer gewissen Traurigkeit auf.

Ich schließe mich da nicht aus, aber in der Nachbetrachtung und in der Außenwirkung muss man leider feststellen, dass der Landtag NRW damit keine Wahlwerbung abgegeben hat.

Eine kurze historische Exkursion in die jüngere Vergangenheit unseres Landes darf Sie vielleicht erinnern, was so ein Verhalten bewirkt. Das Ergebnis der politischen Beschimpfungen, Anfeindungen und Schelten innerhalb der regierungstragenden Fraktionen führte in der Weimarer Republik zu einer weiteren Stärkung der extremen Parteien und vor allem der NSDAP.

Das Ergebnis der aktuellen Uneinigkeit – ich nenne es einmal so – weist eine frappierende Ähnlichkeit mit den Prozessen der Weimarer Republik auf. Ausschließlich die Kräfte an den politischen Rändern sowie die AfD und die NPD profitieren von diesem erbitterten Streit. Umso wichtiger ist es, dass wir Demokraten ein deutliches Zeichen setzen.

(Beifall von den PIRATEN)

Meine Damen und Herren, bevor ich mich mit den einzelnen Punkten Ihres Integrationsplans auseinandersetze, möchte ich zunächst eine grundsätzliche Bewertung Ihrer Ausführungen und Ihres Vorhabens vornehmen.

Sie beauftragen die Landesregierung, einen Integrationsplan zu erarbeiten. Das finden wir wichtig und richtig.

Darüber hinaus benennen Sie Handlungsfelder. Sie verweisen darauf, was bereits passiert ist und worauf die Landesregierung in Zukunft setzen soll. Das kann man aus unserer Sicht so machen. Mit den Handlungsfeldern geben Sie der Landesregierung Eckpfeiler oder Pflöcke mit auf den Weg, um die Parzellen abzustecken, auf denen das Feld der Integration bestellt werden soll.

Allerdings haben Sie vergessen, der Landesregierung die genauen Maße und die Größe des Feldes mitzuteilen. Anders ausgedrückt: Es wird nicht deutlich, ob der Integrationsplan und dessen Ziele mit einigen Tausend, Millionen oder Milliarden Euro gedeckt ist. Natürlich kann ein umfassender Integrationsplan nicht im Detail auf jeden einzelnen Euro heruntergebrochen werden. Aber es wäre doch wünschenswert, wenn zumindest eine Perspektive deutlicher würde.

Ach ja: Mit dem Nachtragshaushalt 2016 stellen Sie Mittel für die Integration bereit. Für das Integrationsministerium und das Schulministerium sind es zusammen 5,7 Millionen €. Wenn das allerdings der Rahmen für den Integrationsplan sein soll, dann können Sie es auch gleich bleiben lassen.

(Beifall von den PIRATEN)

Darüber hinaus haben Sie vergessen, einen zeitlichen Rahmen zu setzen. Ein „Wir setzen auf mehr Schutz der Frauen bis 2020“ hilft uns nicht weiter. Viele Themen müssen jetzt unmittelbar umgesetzt werden, hätten eigentlich schon vor Monaten auf den Weg gebracht worden müssen. Es bleibt jetzt keine Zeit für Fernziele oder irgendwelche Arbeitskreise, die sich womöglich erst einmal monatelang in das Thema einarbeiten müssen, bevor sie zu einem Ergebnis kommen.

Meine Damen und Herren, bei der Integration sind alle gefordert: der Bund, das Land und natürlich die Kommunen. In Ihrem Integrationsplan stellen Sie viele Forderungen Richtung Bund. Das ist nicht falsch, aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht in ein endloses Triangel-Pingpong zwischen den drei Playern kommen, wenn es um die Bereitstellung von finanziellen Leistungen geht.

In besonderen Zeiten ist es unumgänglich, gemeinsam die Ärmel hochzukrempeln und aufzuhören mit dem Totschlagargument: „Das ist Sache der Kommunen; da dürfen wir nicht ran“ oder: „Das ist Sache des Bundes; da warten wir mal, bis das Kleingeld vom Himmel fällt“. – Sie sind auch aufgefordert, Ihren Beitrag zu leisten. Integration als gemeinsames Projekt von ganz Deutschland und der Kampf gegen rechts als gemeinsames Ziel aller demokratischen Parteien – das ist das, was wir brauchen.

(Beifall von den PIRATEN)

Betrachten wir nun die einzelnen Handlungsfelder. Grundsätzlich setzen wir Piraten uns für eine ganzheitliche Integration ein. Dazu zählen selbstverständlich die Unterstützung beim Spracherwerb, bei der Vermittlung von Kita- und Schulplätzen, bei Qualifizierungsmaßnahmen, bei der Suche nach Ausbildungsplätzen, bei der Wohnungssuche oder auch beim Arztbesuch. Die Liste ist natürlich noch viel länger. Da aber bereits viel Richtiges gesagt wurde, möchte ich Ihnen die drei Handlungsfelder nennen, die für uns Piraten die Voraussetzung für das Gelingen eines Integrationsplans sind.

Erstens setzen wir auf die Einrichtung eines eigenen Ministeriums für Integration, Flucht und Einwanderung sowie auf die Gründung einer interministeriellen Arbeitsgruppe mit dem Thema „sozialer Wohnungsbau“. Die Aufgabe des neuen Ministeriums sollte unter anderem lauten: Suche nach und Bereitstellung von menschenwürdigen Unterkünften, Etablierung von Mindeststandards in diesen Unterkünften in ganz NRW, Sicherstellung der sozialen, rechtlichen, medizinischen und psychologischen Betreuung in den Unterbringungseinrichtungen, Unterstützung der Kommunen bei der Vermittlung von Schul- und Kitaplätzen, Einführung von Deutschkursen als Standard und Unterstützung bei der Vermittlung in Arbeit und Ausbildung. Dabei soll das Ministerium natürlich eng mit den Trägern der Flüchtlingshilfe zusammenarbeiten.

Die interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des neuen Ministeriums sorgt darüber hinaus dafür, dass es ab 2017 keine Unterbringung in Zelten und Turnhallen mehr gibt, dass über die vorhandenen Förderprogramme hinaus weitere Sozialwohnungen geschaffen werden und dass Grundstücke erschlossen werden, die sich für den Bau von Wohnungen für Flüchtlinge in modularer Holzbauweise sowie für Neubauten eignen.

Meine Damen und Herren, der zweite Gelingensfaktor ist das Bekenntnis zu folgendem Satz: Deutschland ist ein Aufnahmeland. – Um diesen Satz zu leben, müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. Wir benötigen eine rechtliche und tatsächliche Gleichstellung aller Migranten, um echte Integration überhaupt zu ermöglichen.

(Beifall von den PIRATEN)

Denn der Zugang zum Berufs- und Ausbildungsmarkt, zu sozialen, berufsfördernden und Familienleistungen sowie zu vielen anderen Teilhabemöglichkeiten ist leider immer noch abhängig vom Aufenthaltsstatus, von der Aufenthaltsdauer in Deutschland und vom Herkunftsland.

Damit gibt es also Flüchtlinge bzw. Menschen zweiter Klasse. Für die gilt: kein Integrationskurs, kein Familiennachzug, Wohnsitzauflagen und Residenzpflicht, eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt und zur Ausbildungsförderung, kein Zugang zu SGB II und SGB XII, kein Kinder- und Elterngeld, und bei Nichtausreise innerhalb einer vom Ausländeramt gesetzten Frist erhalten sie nur noch die lebensnotwendigsten Leistungen.

Meine Damen und Herren, es hilft nicht, dass wir mit Asylrechtsverschärfungen vortäuschen, dass viele dieser Menschen zweiter Klasse bald das Land verlassen werden. Das ist nämlich falsch. Die meisten werden nicht ausreisen. Zügig abschieben ist ein Märchen.

Oder: Wie sieht es denn mit der Arbeitserlaubnis aus? Was ist mit der Vorrangprüfung? Wieso ist das Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer immer noch umstritten? Auch und insbesondere an dieser Stelle muss ein umfassender Integrationsplan ansetzen, wenn wir es ehrlich meinen.

(Beifall von den PIRATEN)

Drittens setzen wir auf politische Bildung, und zwar für alle. Eine starke Zivilgesellschaft und ein konsequentes Vorgehen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind die Voraussetzung für ein integrationsfreundliches Klima. Es ist noch nicht zu spät. Es ist zwingend notwendig, sowohl den 25-jährigen Arbeitslosen und die 65-jährige Dame mit der kleinen Rente als auch die Neubürger zu erreichen.

Ich erzähle Ihnen mal von einer Begebenheit vor ein paar Tagen am Infostand. Da kam eine ältere Dame zu uns. Die war aufgebracht. Die war außer sich. Die war nur am Schimpfen, fast am Schreien. Es wäre doch alles zu viel und man würde ihr dann irgendwie Geld wegnehmen. Man wäre ja auch überhaupt nicht mehr sicher auf den Straßen und so weiter und so fort.

Wir haben angefangen, uns mit ihr zu unterhalten. Ja, es wird so sein. Auch diese Dame wird zukünftig kein „Refugees-Welcome“-T-Shirt tragen. Aber sie wurde sehr ruhig, während wir uns unterhalten haben, und sie sagte gegen Ende: Hm, da muss ich doch über die eine oder andere Sache noch einmal in Ruhe nachdenken. – Sie ging weg mit einem Lächeln.

Warum erzähle ich Ihnen das? – Es zeigt, dass wir um jeden kämpfen müssen, der in die rechte Ecke abrutscht, und das nicht nur an unseren Infoständen in den Fußgängerzonen, sondern auch mit strukturellen Maßnahmen. Je mehr Geld wir für diese strukturellen Maßnahmen investieren, desto besser.

(Beifall von den PIRATEN)

Deshalb fordern wir auch, die Mittel der Landeszentrale für politische Bildung weiter anzuheben. Der entsprechende Antrag liegt Ihnen vor. Der wird ja mit überwiesen. Also müssen wir jetzt heute nicht auf Gedeih und Verderb irgendetwas ablehnen, liebe Jutta.

Meine Damen und Herren, die drei Gelingensfaktoren für uns Piraten sind also erstens die Einrichtung eines eigenen Ministeriums und einer interministeriellen Arbeitsgruppe, zweitens die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung aller Migranten – das kommt Ihnen sicherlich bekannt vor, denn das ist auch die Kernbotschaft des Kühn-Memorandums – und drittens politische Bildung für alle!

Neben diesen drei Schwerpunkten haben wir noch viele Einzelaspekte, die wir Ihnen als Tischvorlage in einem Änderungsantrag vorbereitet haben. Ich denke, dass wir damit eine gute Grundlage auch für die Anhörung und die Arbeit im Ausschuss haben werden.

Meine Damen und Herren, zum Schluss müssen wir aber auch noch einen Blick darauf richten, mit welchen Vorzeichen der Integrationsplan hier in NRW nun beraten wird. Wir befinden uns in einer Zeit, in der man bei keiner Partei mehr klar sehen kann, wofür sie eigentlich steht. Das Rechts-Links-Schema ist zerbrochen. Kanzlerin Merkel wird rechts von dem grünen Politiker Boris Palmer überholt. Darin zeigt sich auch, dass wir bei dem Zuwanderungsthema nicht mehr von verschiedenen politischen Strömungen reden können, sondern eher von einem Wasserfall reden müssen, der nur noch in eine Richtung fließt und alles hinunterspült, was wir bisher erreicht haben.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Das ist ein bisschen übertrieben, oder?)

Darüber hinaus legt sich das Asylpaket II wie eine braune Dunstwolke über sämtliche Integrationsbemühungen. Die Forderungen dieses Asylpaketes sind in einer ähnlichen Form und teilweise sogar im Wortlaut im Wahlprogramm der NPD aus dem Jahre 2013 nachzulesen. Ja, Sie haben richtig gehört: NPD, eine Partei, die gerade vom Bundesverfassungsgericht vermutlich verboten wird.

Da frage ich mich, ob die Position, den Familiennachzug auszusetzen, auch vom Bundesverfassungsgericht verboten wird.

Es wundert mich nicht, dass auch der Kinderschutzbund das Asylpaket kritisiert und Herrn Gauck auffordert, es nicht zu unterzeichnen.

Auch die Bundesärztekammer kritisiert das Paket als inhuman und lebensgefährlich.

Dass diese dort getroffenen Maßnahmen so menschenverachtend und falsch sind, zeigt auch, dass der Menschenrechtsbeauftragte Christoph Strässer von der SPD von seinen Ämtern zurückgetreten ist.

Wie sollen denn Ihrer Meinung nach Integration und das Einleben von jungen Männern gelingen, wenn ihre Frauen und Kinder nicht nachkommen können? Wie soll Ihrer Meinung nach Integration gelingen, wenn die jungen Männer wissen, dass sich ihre Frauen und Kinder auch in seeuntüchtige Boote setzen und versuchen, unter Einsatz ihres Lebens nach Europa zu gelangen? Wie soll Integration gelingen, wenn diese Frauen und Kinder es weiter versuchen und weiter dabei sterben? Wie soll dann Integration gelingen?

Ich kann nicht verstehen, dass Sie in einer Art Zustimmung durch Schweigen, liebe SPD und Grüne, im Bundesrat nichts gegen dieses Asylpaket getan haben. Sie hätten zumindest versuchen können, es in den Vermittlungsausschuss zu bringen. Aber Sie haben gar nichts getan.

Meine Damen und Herren, zusammenfassend kann man sagen: NRW und auch Deutschland benötigen dringend einen Integrationsplan. Der hier vorliegende Plan ist ein Anfang mit vielen richtigen Aspekten. Allerdings fehlt ein finanzieller und zeitlicher Kompass.

Wir stehen für eine konstruktive Opposition und sind bereit, einen gemeinsamen Integrationsplan zu verabschieden, sofern unsere vorgetragenen Positionen berücksichtigt werden. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Brand. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Schmeltzer, Sie haben zunächst, wie ich fand, einen recht langatmigen Rechenschaftsbericht vorgetragen, aber dann einen richtigen und wichtigen Satz gesagt: Wir dürfen Flüchtlinge und andere Hilfsbedürftige nicht gegeneinander ausspielen. – Ich möchte Sie herzlich bitten, das auch Ihrem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel zu vermitteln.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Das ist nämlich genau das, was er Tag für Tag betreibt.

Meine Damen und Herren, für die Freien Demokraten ist das Ziel von Integration nicht Gleichmacherei. Für uns ist nicht die Herkunft oder der Glaube entscheidend, sondern die Haltung und die Achtung vor dem Grundgesetz.

Meine Damen und Herren, für uns ist entscheidend, wer und was jemand ist, und nicht, was er zu Mittag isst.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Das mit einem schönen Gruß nach Schleswig-Holstein: Die Werte des Grundgesetzes werden nicht in deutschen Kantinen verteidigt.

(Beifall von der FDP, der CDU und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Meine Damen und Herren, es ist unsere Aufgabe hier im Parlament, den Rahmen für Wertevermittlung und für Integration zu setzen und zu zeigen, wo die Leitplanken sind und wie es vorangehen kann.

Wir als Freie Demokraten haben das gemacht. Allein zwischen Mai und September 2015 habe ich einige Punkte herausgearbeitet und gesehen, wie Rot-Grün hier im Hause darauf reagiert hat:

Landesprogramm für Sprach- und Integrationskurse – abgelehnt; Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration zu entwickeln und dem Landtag ein Gesamtkonzept vorzulegen – abgelehnt; Abbau bürokratischer Hemmnisse bei der Arbeitsmarktvermittlung und Erleichterungen bei der Aufnahme von Ausbildungen – abgelehnt; Flüchtlingen ab dem ersten Tag in der Kommune einen kostenlosen und verpflichtenden Sprachkursus zur Verfügung zu stellen – abgelehnt; zusätzlich Lehrer, Kitapersonal und Sozialarbeiter einzustellen, um das Recht auf Bildung von Flüchtlingskindern zu ermöglichen – abgelehnt;

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Integration von Flüchtlingen zu einem Schwerpunkt der Kommunalen Integrationszentren zu machen – abgelehnt; Wertevermittlung schon in den Landeseinrichtungen zu beginnen – abgelehnt.

Meine Damen und Herren, das ist kein konstruktiver Umgang mit Vorschlägen aus der Opposition, die eigentlich unter Demokraten eine Selbstverständlichkeit sein müssten.

(Beifall von der FDP und der CDU)

All diese Punkte finden sich jetzt übrigens in Ihrem Konzept wieder. Es geht uns nicht darum, dass wir jetzt beleidigt sind, dass Sie vor einem halben, teilweise einem dreiviertel Jahr unsere Vorschläge abgelehnt haben. Das Problem ist vielmehr, dass wir alle zusammen in Nordrhein-Westfalen Zeit verloren haben – viel wertvolle Zeit, viele Monate, in denen wir längst die Integrationsarbeit hätten voranbringen können.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Die „Rheinische Post“ bringt es heute auf den Punkt, wenn sie schreibt:

„Deshalb ruft jetzt ein breites Bündnis – bestehend aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund, Unternehmer NRW, der Industrie- und Handelskammer, dem Verband Freier Berufe und dem Westdeutschen Handelskammertag – die Landesregierung zum Handeln auf. In einem Appell an die Staatskanzlei, das Schul-, Arbeits- und Wirtschaftsministerium … fordert das Bündnis Maßnahmen, um junge, aber nicht mehr schulpflichtige Flüchtlinge in eine Ausbildung zu bringen. Dabei kommt das Bündnis zu einem verheerenden Urteil: Demnach fehlten ‚bisher systematische und verbindliche Angebote, die den Spracherwerb, die Berufsorientierung und den Erwerb des Schulabschlusses ermöglichen‘.“

Genauso ist es. Wir hätten schon im Sommer gemeinsam so viel auf den Weg bringen können. Aber Sie haben sich unseren Initiativen verweigert, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Jetzt kommen Sie in der Gönnerpose und laden die Opposition zur Mitarbeit ein, dieselbe Opposition, Herr Römer, die Sie hier vor Monatsfrist als Rechtspopulisten geschmäht haben –

(Beifall von der FDP und der CDU)

Rechtspopulismus für Forderungen, die am nächsten Tag von Ihren eigenen Ministerpräsidenten im Bundesrat vertreten wurden, Rechtspopulismus für Forderungen, die jetzt der EuGH bestätigt hat.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind nicht nachtragend, wenn es wirklich um die Sache geht. Es ist aber inakzeptabel, wenn wir nur als Kulisse dienen sollen, wenn es Ihnen gerade gefällt, wenn auf Flüchtlingsgipfeln Gemeinsamkeiten beschworen werden, aber tags darauf jeder konstruktive Vorschlag der Opposition wieder ignoriert wird.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Dabei hätte es Ihnen manches erspart, wenn Sie unsere Vorschläge ernst genommen hätten. Wir haben auf dem Flüchtlingsgipfel die speziellen Probleme mit allein reisenden jungen Männern aus Nordafrika angesprochen. Sie haben das abgetan. Die Konsequenzen sind bekannt.

Wir haben Ihnen eine Bundesratsinitiative zur Lösung des Antragsstaus beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angeboten. Sie haben das ignoriert.

(Zuruf von Marc Herter [SPD])

Stattdessen haben Sie uns beschimpft, um von Ihrer eigenen Konzeptionslosigkeit abzulenken.

Herr Römer, ich sage Ihnen ganz ehrlich, für mich wäre es gerade an dieser Stelle guter Stil gewesen, wenn Sie die Größe gehabt hätten, sich hier bei den Oppositionsparteien CDU und FDP für die letzte Plenarwoche zu entschuldigen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Es gibt einzelne Abgeordnete aus Ihren Reihen, die diese Größe hatten.

Ich sage aber auch dazu, wir wissen alle, wie schwer es ist, Fehler zuzugeben. Das geht, glaube ich, uns allen so. Deswegen haben wir in Ihrem Antragstext eine sehr bemerkenswerte Zeile gefunden, in der Sie die gute Integrationsarbeit und die gute Integrationspolitik von CDU und FDP in den Jahren 2005 bis 2010 ausdrücklich hervorheben. – Wenn Sie dann mit einer solchen Aussage kommen, werten wir das einfach mal als Entschuldigung für das, was in der letzten Plenarwoche gewesen ist. Wir nehmen die Entschuldigung an und sagen Ihnen: Wir sind bereit, gemeinsam an einer Konzeption zu arbeiten.

Meine Damen und Herren, wir als FDP haben daher, weil es uns um die Sache geht – Frau Altenkamp ist ja dankenswerterweise auch darauf eingegangen –, noch einmal all die Punkte aufgeschrieben, die uns wichtig sind. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Es gibt da auch für uns Prioritäten. Wir setzen Prioritäten auf Sprache, Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarktintegration und Wertevermittlung. Das ist das, was wir in den Vordergrund rücken wollen. Darüber wollen wir auch mit Ihnen sprechen und fachlich debattieren.

Frau Kollegin Velte und Frau Kollegin Altenkamp haben angekündigt, dass sie unseren Argumenten gegenüber offen sind. Ich hoffe, dass dies kein Lippenbekenntnis ist. Wir werden Sie beim Wort nehmen. Wenn wir ernsthaft gemeinsam darüber diskutieren, was wir für die Menschen und die Kommunen, aber vor allem auch für die Flüchtlinge vor Ort an Integration leisten können, haben Sie uns an Ihrer Seite. Wenn Sie allerdings in die Diktion der letzten Plenarwoche zurückfallen, dann machen Sie bitte Ihr Konzept alleine. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. – Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Kampmann.

(Zuruf: Ministerin Löhrmann!)

– Frau Ministerin Kampmann ist gemeldet. Ich kann nur das wiedergeben, was man uns vonseiten der Landesregierung mitteilt.

(Ministerin Sylvia Löhrmann: Ich dachte, das wäre angekommen!)

Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Sylvia Löhrmann, Ministerin für Schule und Weiterbildung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Stamp, es gibt – damit möchte ich an Ihre Ausführungen anschließen – ein sehr schönes Zitat, das ich, glaube ich, als Lieblingszitat sogar mit Herrn Pinkwart gemeinsam habe. Es stammt von Victor Hugo und lautet:

„Es gibt nichts Mächtigeres als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Vielleicht ist ja heute – die Debatte stimmt mich eigentlich zuversichtlich – in Anknüpfung an die Integrationsoffensive von 2001 die Zeit in Nordrhein-Westfalen reif. Auch die damalige Integrationsoffensive ist durch unterschiedliche Konstellationen gewachsen. Vielleicht können wir heute hier den Startschuss geben – wissend, dass wir nicht bei null anfangen –, dass dieses Parlament und diese Landesregierung gemeinsam einen zukunftsfähigen Integrationsplan für Nordrhein-Westfalen ausarbeiten. Vielleicht ist die Zeit dafür reif. So habe ich die meisten der Rednerinnen und Redner auch verstanden. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle auch ausdrücklich bedanken.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir alle haben wahrscheinlich am Sonntagabend intensiv Fernsehen geguckt. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Gedanken der Kanzlerin aufgreifen, der mir neben dem Satz aufgefallen ist, den Ministerin Kampmann gestern schon zitiert hat – das war eigentlich mein Lieblingssatz –:

„Man ist nicht Politiker, dass man die Welt beschreibt und sie katastrophal findet.“

Die Kanzlerin hat aber auch noch einen anderen erwähnenswerten Satz gesagt:

„Wir schaffen das, und wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden.“

Das finde ich auch; denn dadurch wird deutlich, dass die Aufgabe, mit der wir im Moment konfrontiert sind, groß ist. Wir sollten uns doch alle davor hüten, zu sagen, dass wir jetzt schon ganz genau wissen, was zu jedem Zeitpunkt an welcher Stelle zu tun ist. Dass wir das nicht können, sollten wir ehrlichweise einräumen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Die Landesregierung – Herr Kuper, das will ich noch einmal an Ihre Adresse gerichtet sagen – hat immer offen gesagt: Wenn es Fehler gibt, dann räumen wir sie ein, und dann arbeiten wir daran, damit sie sich nicht wiederholen. – Das haben wir im administrativen Verfahren getan. Außerdem wird das, bezogen auf die Silvesternacht, parlamentarisch aufgearbeitet.

Ich wünsche mir und wir wünschen uns aber – deswegen bin ich auch für die Wendungen dankbar, die die Debattenbeiträge genommen haben –, dass wir uns doch in einem hoffentlich einig sind, und zwar darin, dass die Integration von Anfang an das Gebot der Stunde ist. Das haben alle Fraktionen deutlich gemacht. Das soll hier heute das Signal sein.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Frau Brand, ja, ich finde, dass vier Kategorien wichtig sind. Ganzheitlich und vernetzt sind das eine, systematisch und nachhaltig das andere. Auch da kann, glaube ich, keine Farbe für sich in Anspruch nehmen, zu sagen: Wir hatten da schon immer auf ewig recht; wenn es nur nach uns gegangen wäre, wäre alles richtig gewesen. – Ich glaube, dass die in diesem Hause versammelte Kompetenz dazu beitragen kann, dass dieser Integrationsplan gelingt und dass er mit dem, was wir erarbeiten, Substanz hat.

Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen uns über die wesentlichen Punkte verständigen. Das wäre dann auch ein Beitrag dazu, dass unsere Gesellschaft zusammenbleibt und dass wir die Kräfte, die jetzt zusammenbleiben wollen, stärken. Wir sollten auch daran arbeiten, diejenigen, die sich zurückgesetzt fühlen, für die starke demokratische Kultur zurückzugewinnen, die Nordrhein-Westfalen auch hat und die zumindest mich stolz darauf macht, Nordrhein-Westfälin zu sein. Ich bin stolz darauf, dass wir hier mit vielen Dingen anders umgehen,

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

damit unsere Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet.

Die Willkommenskultur unserer Zivilgesellschaft muss unser Vorbild sein und bleiben. Wir müssen die Willkommenskultur in eine Willkommensstruktur überführen.

Ich finde es auch immer wieder ermutigend, dass in Bezug auf Integration nicht nur die humanitäre Frage – das ist richtig und wichtig; dies ist das Gebot und der Auftrag unseres Grundgesetzes – betont wird; denn die Integration ist auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft. 2016 muss das Jahr der gelingenden Integration werden.

Ich will in dem Zusammenhang den Düsseldorfer IHK-Chef Berghausen zitieren, der gestern in der „WZ“ noch einmal sehr herausgestrichen hat, dass Zuwanderung Chancen eröffnet. Ich zitiere ihn:

„Mit den Zuwanderern kommen jetzt die Kinder zu uns, die wir vor 20 Jahren nicht bekommen haben. Wir sollten aufhören, die Flüchtlinge vor allem als Problem zu sehen. Diese Menschen bieten uns die Chance, den Fachkräftemangel zu lindern. Es lohnt sich, Zeit und Geld in die Migranten zu investieren. Das rentiert sich langfristig für die Betriebe und die Gesellschaft insgesamt.“

Das zeigt doch, dass wir hier auf der einen Seite unsere Zivilgesellschaft, die Kirchen, die Gewerkschaften und die Verbände an unserer Seite haben, auf der anderen Seite aber auch die wirtschaftspolitisch aktiven Kräfte, die deutlich machen, dass wir hier insgesamt eine Zukunftsaufgabe haben, aber auch eine Aufgabe, die sich sehr lohnt.

Meine Damen und Herren, nicht nur Nordrhein-Westfalen, sondern die ganze Republik braucht einen Integrationsplan.

(Beifall von Michele Marsching [PIRATEN])

Deutschland ist – auch darüber sind wir uns hier im Hause einig – Einwanderungsland. Ich danke Herrn Laschet dafür, dass er diese Position immer offensiv vertreten hat. Das haben die anderen Parteien auch getan. Es ist aber bundesweit noch nicht angelegt. Dafür müssen wir weiter werben.

Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, sondern wir müssen so schnell wie möglich die zu uns kommenden Menschen integrieren. Minister Schmeltzer hat den Bogen zur Einwanderungspolitik in Nordrhein-Westfalen schon gespannt.

Mich haben viele Debatten der letzten Zeit auch immer wieder an 1993 erinnert, an Solingen. Sie wissen, dass ich aus Solingen komme. Vor einigen Jahren haben wir an dieses Ereignis von vor 20 Jahren erinnert. Wir haben uns damals alle miteinander in die Hände versprochen, dass sich das, was 1993 zu Brandsätzen und zu Übergriffen geführt hatte, nicht wiederholen darf.

Wir sehen jetzt in der ganzen Republik – auch in Nordrhein-Westfalen, aber besonders in ostdeutschen Ländern –, dass sich das wiederholt. Das dürfen wir nicht zulassen.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Eine Aussage passt auch in die heutige Zeit. Max Frisch hat über die damalige Zeit gesagt: Arbeitskräfte wurden gebraucht. Menschen sind gekommen. – Ja, auch jetzt sind Menschen gekommen. Viele wollen, dass aus diesen Menschen gute Arbeitskräfte werden können. Die positive Weiterentwicklung dieses Zitats von Frisch ist unser Auftrag.

Meine Damen und Herren, was sind die Kernpunkte, die jetzt für unseren Integrationsplan anstehen? – Ich will hinzufügen: Er wird ergebnisoffen entwickelt, weil es natürlich der Wunsch ist, dass man ernst genommen mitgestalten und mitarbeiten kann. Das fordern Herr Dr. Stamp und Frau Brand. Herr Kuper hat das zwar nicht gesagt, aber ich nehme an, dass das auch von der CDU-Fraktion so gedacht war.

Ja, wir brauchen eine effizientere Verwaltung. Verfahren müssen beschleunigt werden, um Perspektiven und Klarheit für die Betroffenen zu schaffen.

Wir brauchen eine ausreichende Anzahl niedrigschwelliger Sprach- und Integrationskurse für alle Flüchtlinge.

Wir brauchen die Anpassung aller Angebote der gesamten Bildungsbiografie. Wir brauchen die Kapazitäten, und wir müssen an der Qualität arbeiten. Wir brauchen umfangreiche Arbeitsmöglichkeiten. Nichts ist schlimmer, als – wie in manchen Fällen passiert – jahrelange Untätigkeit.

Ja, gelingende Integration verhindert Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Es war doch auch eine bemerkenswerte Aussage – nicht nur dass die Umfragen für Nordrhein-Westfalen zeigen, dass hier die Bereitschaft, Migranten aufzunehmen, zum Teil größer als in anderen Bundesländern ist –, dass die Menschen, die konkrete Erfahrungen mit Flüchtlingen haben, der Integration und der Flüchtlingspolitik gegenüber positiver eingestellt sind als diejenigen, die überhaupt keinen Kontakt mit Zugewanderten haben. Auch das sollte uns doch ermutigen.

Ich möchte abschließend an die Bundesratsdebatte am vergangenen Freitag erinnern; auch darauf hat Kollege Schmeltzer schon hingewiesen. Ich war überrascht, wie positiv der von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz eingebrachte Antrag aufgenommen worden ist, welch breite Mehrheit er gefunden hat und wie er unterstützt worden ist, etwa von Frau Kramp-Karrenbauer aus dem Saarland und auch aus Berlin, also auch aus Ländern, in denen eine Große Koalition arbeitet.

Alle Länder sind sich einig, dass Land und Kommunen gefordert sind, dass es aber auch in der Integration darauf ankommt, dass sich auch der Bund zukünftig stärker an dieser Aufgabe beteiligt. Das ist ganz klar deutlich gemacht worden.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es ist doch auch bemerkenswert, dass es einen Brief von Herrn Finanzminister Söder und unseres Finanzministers an Herrn Bundesfinanzminister Schäuble gibt, in dem zwei Länder, A- und B-Länder, deutlich machen: Integration können die Länder allein nicht schaffen. Wir in NRW leisten schon jetzt einen Beitrag. Auf einen Bundeseuro kommen schon jetzt zwei Landeseuro.

Die Integrationspolitik, mit der wir jetzt herausgefordert sind, ist nicht durch landesgesetzliche oder kommunale Entscheidungen ausgelöst, sondern sie ist ausgelöst durch bundes- und europapolitische und weltweite Entscheidungen. Deswegen ist hier der Bund auch stärker in der Verantwortung. Das haben wir auch so konstruktiv und nicht absolutistisch formuliert. Wie kämen wir dazu.

(Zuruf von Armin Laschet [CDU])

Ich würde mir wünschen, dass sich auch die Union hier an der Seite der Länder mit dafür einsetzt, dass wir nicht nur eine Flüchtlingspauschale bekommen – auch dafür ist lange gekämpft worden –, sondern dass wir weitere Unterstützung bei der Integration erhalten, damit wir gemeinsam Integration für die Zukunft unseres Landes und der Menschen, die zu uns kommen, gut hinbekommen. – Herzlichen Dank für die Debatte. Ich glaube, es könnte hier heute einen guten Auftakt für einen wichtigen Prozess geben.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin Löhrmann. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Yetim.

Ibrahim Yetim (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde gern ganz kurz auf zwei Vorredner eingehen.

Herr Kuper, als Sie mit Ihrer Rede angefangen haben, war ich ein bisschen irritiert, weil ich dachte, dass wir jetzt über das Thema Integration sprechen und nicht über das, was Sie uns über viele Monate hinweg vorgeworfen haben, ohne zu erkennen, wie die Situation im Land ist.

Sie haben wieder von einem Organisationsversagen und über die Kosten der Flüchtlingsaufnahme gesprochen, über all das, was wir eigentlich schon längst abgearbeitet haben.

Herr Minister Schmeltzer hat gerade darauf hingewiesen: Angesichts einer Zahl von über 330.000 Menschen, die nach Nordrhein-Westfalen gekommen sind, von denen wir über 230.000 Menschen noch bei uns im Land haben und die bei uns bleiben werden, angesichts der Anstrengungen, die nötig waren, um diese Menschen unterzubringen, ihnen Schutz zu geben, ihnen etwas zu essen zu geben, ihnen ein Dach über den Kopf zu garantieren, von einem Organisationsversagen zu sprechen, halte ich für komplett falsch.

Eher sehe ich, dass unsere Behörden, dass die Menschen im Land, die Ehrenamtler, die kommunalen Verwaltungen, die Behörden, die Bezirksregierungen und auch das Land einen hervorragenden Job gemacht haben. Denn die Menschen sind alle untergekommen. Keiner musste draußen bleiben. Keiner hat gehungert. Deswegen ist der Vorwurf, Herr Kuper, heute nicht mehr richtig.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Armin Laschet [CDU])

Wenn man das rückblickend betrachtet, stellt man fest: Bei über 330.000 Menschen, die zu uns gekommen sind, war das von uns eine sehr gute gemeinschaftliche Leistung.

Herr Kuper, Sie haben gerade davon gesprochen, dass wir alles tun müssen, um den sozialen Frieden in Nordrhein-Westfalen aufrechtzuerhalten. – Ja, genau. Da sind wir auf einer Linie. Ich war am Montag in Dresden und hatte mir vorgenommen, auf jeden Fall einmal zu den – wenn man sie so nennen will – Demonstranten zu gehen; ich habe mir das angeguckt und hatte nachher das Gefühl, ich müsste mich duschen.

Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin wirklich heilfroh, dass wir es in Nordrhein-Westfalen bis jetzt geschafft haben, den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten. Den werden wir aber nur dann aufrechterhalten, wenn wir uns hier einig sind und wenn wir in der Integrationspolitik versuchen, an einem Strang zu ziehen.

Ich will, Herr Kuper, abschließend zu Ihrem Beitrag aus der „Rheinischen Post“ zitieren – wenn ich darf, Herr Präsident. Die „Rheinische Post“ ist nicht gerade ein sozialdemokratisches Sprachrohr, aber doch eine seriöse Zeitung. Ich zitiere:

„Auch werden die Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen gut untergebracht. Die Zeltstädte, die andere Länder hilflos errichten, sucht man hier vergebens. Nordrhein-Westfalen zahlt überdurchschnittliche Hilfen an die Kommunen und reagiert vorausschauend mit mehr Lehrern und Fachkräften. Klar, man kann alles immer noch besser machen. Aber im Großen und Ganzen macht Jäger beim Thema Flüchtlinge einen guten Job.“

Ich füge hinzu: Die Landesregierung macht hier einen hervorragenden Job.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Sehr geehrter Herr Kollege Stamp, die Prioritäten, die Sie genannt haben, sind auch unsere: Bildung, Soziales, Gesundheit, Wohnen, Arbeit. Ich denke, Sie haben verfolgt – das haben Frau Löhrmann und Minister Schmeltzer gerade noch einmal dargestellt –, was wir alles schon auf den Weg gebracht haben. Das war auch immer die Diskussion, die wir im Zusammenhang mit den Anträgen, die Sie auf den Tisch gelegt haben, hatten, zu denen ich Ihnen immer gesagt habe: Lassen Sie uns über die Sachen reden, die noch offen sind.

(Serap Güler [CDU]: Haben Sie nie getan!)

– Noch bei der letzten Obleuterunde habe ich das getan, Frau Güler. Ich kann mich sehr gut daran erinnern. – Wir haben immer gesagt, Herr Stamp: Lassen Sie uns über die Sachen reden, die noch offen sind.

Jetzt sind wir, glaube ich, an einem Punkt angelangt, wo wir das wirklich durchziehen können. Es gibt bei den unterschiedlichen Anträgen, die hier vorliegen, viele Gemeinsamkeiten. Es gibt ein paar Vorschläge, die ich gut finde, Frau Güler. Das heißt, was Sie über die Antragsfristen für die Kitaplätze sagen, finde ich gut; darüber können wir reden. Das finde ich vernünftig; das sollten wir tun. Es gibt bei der FDP den Vorschlag, niedrigschwellige Spielgruppenangebote zu machen, aber auch den Vorschlag – das finde ich auch sehr gut, Herr Stamp –, Nachverhandlungen mit den Krankenkassen zur Gesundheitskarte zu führen. All das ist völlig okay. Lassen Sie uns darüber reden. Vielleicht schaffen wir es ja, an der Stelle zu einer gemeinsamen Offensive zu kommen.

Ich habe nicht den Eindruck, dass eine der Fraktionen, die hier im Landtag vertreten sind, ernsthaft vorhat, die Integration der Flüchtlinge zu einem Thema zu machen, aus dem man parteipolitisch Kapital schlagen will. Den Eindruck habe ich nicht. Wir sollten eigentlich daran arbeiten, dass das so umgesetzt wird, dass wir versuchen, gemeinsam zu Lösungen zu kommen; denn viele von denen, die jetzt da sind, werden bleiben.

Frau Löhrmann hat es gerade noch einmal angesprochen: Die Fehler der 60er, 70er sollten wir nicht wiederholen. Ich kenne aus eigener Erfahrung die Fehler, die damals gemacht worden sind, und zwar von beiden Seiten; das sage ich an der Stelle immer sehr deutlich. Es sind Fehler von der aufnehmenden Gesellschaft gemacht worden, aber auch von denjenigen, die zu uns gekommen sind, die nämlich nicht frühzeitig genug erkannt haben, dass sie hierbleiben werden, und die deswegen für Bildung und für Integrationsmaßnahmen keinen Sinn hatten, was aus dem Blickwinkel derjenigen heraus, die da waren, völlig verständlich ist. Aber diese Fehler sollten wir auf gar keinen Fall wiederholen.

Ich finde, nach einem Jahr, nach einem sehr schwierigen Jahr, sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, wo wir über Integrationskonzepte diskutieren können. Ich finde nicht, dass der Zeitpunkt schon zu spät ist; vielmehr ist er genau richtig. Wir haben die Menschen erst einmal versorgt und können jetzt darüber reden, wie wir sie bei uns integrieren.

Ich will Ihnen zum Schluss sagen, Herr Stamp, liebe CDU: Unser Leitmotiv, das der SPD, ist,

(Armin Laschet [CDU]: Mit „d“ geschrieben!)

dass wir bei unserer Politik nicht zwischen dem „Wir“ – das heißt, den bereits hier lebenden Menschen – und den Flüchtlingen unterscheiden, sondern dass wir eine Politik für alle gesellschaftlichen Gruppen machen, für Arbeitnehmer, für Familien, für junge Menschen, also für alle, die in diesem Land leben. Das geschieht aus dem Blickwinkel heraus, dass die Menschen, über die wir jetzt reden, irgendwann auch einer dieser Gruppen zugehörig sein und zu uns gehören werden. Deswegen erhoffe ich mir, dass wir eine Gemeinsamkeit herstellen können. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Yetim. – Für die CDU-Fraktion spricht Frau Kollegin Güler.

Serap Güler (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Umarmungsstrategie der Landesregierung und vor allem der SPD ist sicher pressewirksam. Da nehme ich ausdrücklich das Engagement von Frau Löhrmann aus, die uns hier schon sehr ernsthaft vermittelt hat, dass die Grünen an einer gemeinsamen Integrationspolitik sehr wohl nach wie vor Interesse haben. Diesen Eindruck haben wir bei der SPD nicht.

(Britta Altenkamp [SPD]: Frau Güler, das ist doch auch durchsichtig, oder?)

Diesen Eindruck haben wir bei der SPD nicht. Wir fragen uns, warum es denn im Vorfeld nicht möglich gewesen ist, aus diesem Antrag einen gemeinsamen Antrag im Sinne des Integrationskonsenses von 2001 zu machen, zumal Herr Yetim jetzt sogar von „gemeinsam“ sprach. Die Frage müssen Sie sich gefallen lassen;

(Beifall von der CDU und der FDP)

denn inhaltlich finden wir uns an mehreren Stellen in Ihrem Antrag wieder. Viele Ihrer Forderungen sind ja jene, die wir in der Vergangenheit an Sie gestellt haben und die hier von Ihnen abgelehnt worden sind.

Frau Altenkamp, wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen, lassen Sie uns bei dem Thema auf parteipolitische Spielchen verzichten, dann muss ich wirklich lachen.

Konkretes und recht aktuelles Beispiel: Noch in der letzten Plenarsitzung hat meine Fraktion zusammen mit der FDP hier einen Antrag eingebracht. Da ging es um das Thema Wertevermittlung. Ein zentraler Bestandteil dieses Antrags war die Aufstockung der Orientierungskursstunden innerhalb der Integrationskurse. Ein Minister Schmeltzer hat sich hier hingestellt und gesagt: Brauchen wir alles nicht. Dafür ist der Bund zuständig, nicht wir, Frau Güler; wir sind die falschen Adressaten. – Herr Yetim hat sich hier hingestellt und gesagt: Ist doch schon alles auf dem Weg. Wir machen doch; wir tun doch.

Sie lehnen unsere Anträge immer wieder ab – das ist nur ein Beispiel –, bringen es dann selbst als eigene Anträge ein und fordern von uns, keine parteipolitischen Spielchen zu betreiben. Das finde ich schon bemerkenswert.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

Dieser Umgang, Frau Altenkamp, macht vor allem eines deutlich:

(Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

Vorschläge der Opposition interessieren Sie nicht im Geringsten, und das ist nicht unbedingt die nötige Vertrauensbasis für eine gute Zusammenarbeit.

(Beifall von der CDU – Britta Altenkamp [SPD]: Sie sind weder kompromissfähig noch kompromisswillig!)

Sie bekunden hier, dass Ihnen die gute Tradition in Nordrhein-Westfalen im Sinne des integrationspolitischen Konsenses wichtig sei. Herr Römer hat uns über die Presse wissen lassen, dass der Konsens mit der Opposition für ihn wichtig sei, weil dieser die Akzeptanz von Flüchtlingen stärke. – Dies ist zwar erfreulich, spiegelt aber nicht die Realität im federführenden Integrationsausschuss wider. Dort hat uns Herr Kollege Yetim deutlich gemacht, dass er an einer Gemeinsamkeit nicht interessiert ist. Alles, was die Opposition vorschlage – das hat Herr Stamp gerade auch schon gesagt –, sei entweder bereits erledigt oder schon auf dem Weg.

Wenn sich Herr Yetim jetzt hierhin stellt und sagt: „Frau Güler, ich habe Ihnen doch noch letztens im Ausschuss gesagt: ,Lassen Sie uns doch über die Dinge reden, die noch nicht auf dem Weg sind‘„, dann stimmt das nicht; denn weder Frau Brand noch Herr Stamp noch meine Person oder sonst jemand von den Oppositionsparteien haben das von Herrn Yetim in dieser Weise im Ausschuss in letzter Zeit mitbekommen.

(Vereinzelt Beifall von der CDUDr. Joachim Stamp [FDP]: Das kam von Frau Velte! Sie hat es gesagt!)

– Das ist, glaube ich, schon deutlich geworden.

Wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben: „Mit unserem Integrationsplan machen wir uns auf den Weg“, dann heißt das doch erst einmal, dass vieles anscheinend doch nicht erledigt ist.

Herr Yetim, wenn ich Ihre Auslegungen jetzt einmal wirklich positiv bewerte, dann muss ich sagen,

(Britta Altenkamp [SPD]: Dass es Ihnen schwerfällt!)

dass Sie von Ihrer eigenen Integrationspolitik keine Ahnung haben. Sie wissen selbst nicht, was schon alles auf dem Weg ist, was schon alles erledigt wurde und was nicht. Ahnungslosigkeit lasse ich noch gelten. Wenn ich es allerdings böse bewerte, dann muss ich sagen, dass Sie es zwar besser wussten, Ihre Mehrheit hier im Haus aber dafür eingesetzt haben, gute Ideen abzubremsen, und zwar nur, weil sie von der Opposition stammen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Umso erstaunlicher ist es, wenn Sie sich jetzt hierhin stellen und sagen: Lasst uns alle gemeinsam an einem Strang ziehen. – Glauben Sie mir, das ist nicht glaubwürdig.

Sie haben bisher alle Bemühungen, zu gemeinsamen Anträgen zu kommen, trotz der wirklich ernst gemeinten Vermittlungsbemühungen des Ausschussvorsitzenden Arif Ünal abgelehnt, bei dem ich mich noch einmal herzlich bedanken möchte.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Deshalb lautet meine Bitte an Herrn Römer, an Frau Altenkamp, dass Sie sich vielleicht erst einmal untereinander einig werden, welchen Kurs Sie hier als SPD-Fraktion fahren möchten. Ob es eine Gemeinsamkeit mit der Opposition geben soll oder nicht, müssen Sie erst mit Herrn Yetim klären. Dann sind wir gern zu Gesprächen bereit.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Wir erwarten allerdings bei einer Gemeinsamkeit auch, dass auf die Belange der Opposition eingegangen wird. Zu sagen: „Hier haben wir eine Liste von Forderungen, jetzt macht mal mit“, ist mit uns nicht zu machen.

Deshalb haben wir auch einen eigenen Antrag in die heutige Sitzung eingebracht, in dem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Ein wichtiger Punkt für uns ist dabei die Verbindlichkeit. Auch Sie schneiden das in Ihrem Antrag an. Dort heißt es – Zitat –: „Wir fordern diese Bereitschaft auch ein.“ Was allerdings folgt, wenn diese Bereitschaft nicht vorhanden ist, bleibt in Ihrem Antrag offen. Wir setzen uns deshalb ganz konkret für Integrationsvereinbarungen ein, die ein fester Bestandteil eines gemeinsamen Integrationsplanes werden müssen.

Ein Zweites kommt hinzu: Ein Landesintegrationsplan braucht eine Konzentration auf die Zuständigkeiten des Landes. Der Schwerpunkt muss auf dem liegen, was wir als Land leisten können und was unsere Aufgabe ist; denn dafür sind wir schließlich alle hier, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Der größte Unterschied zwischen dem Aktionsplan Integration der schwarz-gelben Landesregierung und einem Integrationsplan, wie Sie ihn sich vorstellen, ist jetzt schon offensichtlich: Der Aktionsplan konzentrierte sich auf das, was wir selbst zu meistern in der Lage waren. Er war nicht auf den Bund angewiesen. Ihr Plan hingegen wird nur aufgehen, wenn der Bund mehr Mittel zur Verfügung stellt; denn eine ganze Reihe von Forderungen in Ihrem Antrag richtet sich an den Bund.

Ein Integrationsplan für NRW braucht auch die Konzentration auf das Wesentliche. Ein erweitertes Angebot der Verbraucherberatung ist schön. Die Vermittlung von Kompetenzen in der Umwelt- und Verbraucherbildung ist zweifelsohne wichtig, aber nicht prioritär. Denn ob die Integration der Flüchtlinge gelingt, entscheidet sich nicht an einem Handytarif oder daran, dass die Neuankömmlinge frühzeitig lernen, ob sie ihre Cola-Dose nun in die gelbe, grüne oder blaue Tonne schmeißen müssen, sondern vielmehr daran, ob sie beispielsweise eine Ausbildungsstelle bei uns bekommen. Denn spätestens seit gestern wissen wir – darauf ist Herr Stamp bereits eingegangen –, dass Nordrhein-Westfalen auch auf dem Ausbildungsmarkt die rote Laterne hält, weshalb ein breites Bündnis die Landesregierung jetzt zum Handeln aufruft.

Ein weiterer wichtiger Punkt – insofern freuen wir uns, dass Sie das selbst als zentralen Aspekt dargestellt haben – ist die Wertevermittlung: Was sind unsere Werte? Was hält unsere Gesellschaft zusammen?

In diesem Zusammenhang denke ich an Frau Kampmann, die sich in der letzten Plenarsitzung hierhin stellte und sagte: Das machen wir schon. Die Landeszentrale für politische Bildung hat mehrere Angebote, wenn es um die Wertevermittlung für Flüchtlinge geht.

(Werner Jostmeier [CDU]: Nichts! Gar nichts!)

Wir haben uns das einmal angeschaut. Ja, Frau Kampmann, unter diesen Angeboten finden sich in der Tat auch ein NRW-Puzzle, eine Broschüre zum sicheren Babyschlaf sowie ein Angebot der Forstämter für Flüchtlingskinder, das es ihnen ermöglichen soll, die Wälder unseres schönen Bundeslandes kennenzulernen.

Das alles mag wichtig sein, aber lassen Sie uns, um wirklich voranzukommen, uns auf das Wesentliche konzentrieren. Wir sind für Gespräche bereit. Aber gerade die Beispiele zum letzten Thema, der Wertevermittlung, machen deutlich, dass wir anscheinend doch andere Vorstellungen haben. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Güler. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Beer.

Sigrid Beer (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Güler, Ihr Beitrag gibt mir die Gelegenheit, noch einmal das Verfahren zu erläutern, und vielleicht beleuchtet das noch einmal vieles von dem, was hier geäußert worden ist.

Dieser Antrag ist so angelegt, dass wir ihn heute nicht beraten, weil wir die Diskussion über die einzelnen Themen in den Fachausschüssen mit Ihnen und mit Experten und Expertinnen, die wir dazu einladen, intensiv führen wollen. Ein offeneres Verfahren als das, was wir heute so in die Debatte eingebracht haben, gibt es nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Frau Güler, dann wird auch in einzelnen Punkten noch einmal darum zu ringen sein, was Priorität hat und was auch für den Lebensalltag der Menschen wichtig ist. Vielleicht sei mir nur eine kleine Bemerkung zur Frage der Handytarife erlaubt: Es ist zum Teil unanständig,

(Beifall von den GRÜNEN)

wie die Geflüchteten zurzeit über den Tisch gezogen und ausgenommen werden und dass es sogar in den Flüchtlingsheimen Menschen gibt, die versuchen, ihnen Beraterverträge für das Beantragen von Kindergeld mit mindestens 400 € in Rechnung zu stellen. Lassen Sie uns auch darauf einen Blick werfen; denn das ist keine Bagatelle oder Petitesse.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das hat seinen Bestand neben den anderen Themen, die Sie zu Recht genannt haben. Aber genau deswegen lautet unser Vorschlag – ich bitte heute die Obleute im Integrationsausschuss, genau so zu beschließen; mein Kollege Arif Ünal wird das auch so ansprechen –, dass in den Fachausschüssen mit den Menschen, die im Land hauptamtlich und ehrenamtlich die Arbeit tragen, Gespräche dazu stattfinden können, damit wir das Thema entfalten.

Wir haben am 20.02. hier als Fraktion einen großen Integrationskongress veranstaltet, und dieser hat gezeigt, dass gerade dieses Bedürfnis besteht, mit uns darüber zu reden. Insofern rate ich uns, in der Gemeinsamkeit der Demokraten und Demokratinnen das Zeichen zu setzen, dass wir gemeinsam in diese Debatte hineingehen, dass wir uns den Anforderungen und Problemlagen stellen. Integration ist kein Zustand. Integration ist ein Prozess, und da werden wir jeden Tag aufs Neue herausgefordert.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Dann gehört auch dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen – und das gilt für Herrn Stamp genauso wie für Frau Güler oder Herrn Kuper –: Wir müssen gemeinsam herausarbeiten und klarlegen, wo die Zuständigkeiten liegen. Integration kann nur gemeinsam auf allen Ebenen gelingen. Da ist der Bund mit in den Blick zu nehmen. Da sind die Länder und wir als Land mit in den Blick zu nehmen. Da sind die Kommunen mit in den Blick zu nehmen. Das gehört zusammen, und dann muss man auch sauber trennen. Wir müssen uns gegenseitig stützen, statt „Schwarzer Peter“ zu spielen und Verantwortung hin- und herzuschieben – das haben Sie heute Morgen leider versucht; das ist nicht zuträglich –, und endlich einen gemeinsamen Blick entwickeln.

Der Antrag im Bundesrat – die stellvertretende Ministerpräsidentin hat darauf hingewiesen – ist auf große Zustimmung gestoßen. Auch in der Ministerpräsidentinnen- und Ministerpräsidentenkonferenz und im Austausch mit der Bundeskanzlerin ist deutlich geworden, dass es eines Integrationspaketes bedarf, und das ist auch mit einer Arbeitsgruppe versehen. Daher sollten wir nicht so tun, als ob der Bund mit der ganzen Sache nichts zu tun hätte.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Wir haben als Land unsere Hausaufgaben gemacht. Ich will darauf hinweisen: 4 Milliarden € sind nicht Nichts. Das ist die Verantwortung des Landes, die wir sehen und die wir übernommen haben. Also noch einmal: Integration ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Daran arbeiten wir weiter, und das hat auch der Finanzminister betont. Daher wundere ich mich, welche Töne Sie zum Teil heute Morgen angeschlagen haben; das war nicht ganz vermittelbar.

Gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, gilt auch für das Engagement in der Zivilgesellschaft. Ich meine die vielen Menschen, die in beeindruckender Weise Unterstützung leisten. Diese Menschen gehören zum demokratischen Rückgrat unserer Gesellschaft. Sie brauchen es und sie verdienen es, dass wir ihre Arbeit unterstützen, dass wir mit ihnen hier gemeinsam diskutieren, um dann zu einer Umsetzung und zu einem breit getragenen Integrationsplan für Nordrhein-Westfalen zu kommen.

Dabei ist auch ganz klar: Integration kann nur gemeinsam unter den Menschen gelingen, und damit meine ich die, die da sind, und die, die ankommen. Toleranz und Respekt müssen auf Gegenseitigkeit beruhen, und die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist die Basis und die Richtschnur für alle.

Deswegen ist es gut, wenn wir die Anhörung auf den Weg bringen. Es ist auch gut, wenn in dieser Debatte Themen oben auf die Agenda gesetzt werden, die sowieso sozialpolitisch und gesellschaftspolitisch behandelt werden müssen. Ich will das noch einmal betonen: Die fast 5.800 Lehrerinnen und Lehrer kommen allen Kindern zugute. Wenn wir uns für sozialen Wohnungsbau und mehr bezahlbare Wohnungen in diesem Land einsetzen, dann kommt das allen Menschen in NRW zugute. So werden wir das für jedes Feld durchdeklinieren, und dafür stehen wir als rot-grüne Koalition. Ich hoffe, dass Sie das genauso unterstützen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Was wir jetzt anstrengen, was wir jetzt investieren, kommt allen Menschen in NRW zugute, und das muss das Credo sein, das wir gemeinsam für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hier auf den Weg bringen. Denn dieser gemeinsame Prozess kann dann ein starkes gemeinsames Signal sein auch gegen die, die die repräsentative Demokratie verachten, die fremden- und menschenfeindliche Parolen auf den Straßen brüllen und ehrenamtliche Helferinnen als nützliche Idioten beschimpfen.

Ich will auf die „Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt“ hinweisen. Sie beruht auf Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie wird getragen von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, dem Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutschen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem DGB, dem Deutschen Kulturrat, dem Deutschen Naturschutzring, dem Deutschen Olympischen Sportbund, dem Koordinationsrat der Muslime und dem Zentralrat der Juden in Deutschland. Ich zitiere aus dem Aufruf dieser Allianz:

„Die menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen, ihre Integration und die Verhinderung von sozialer, kultureller und gesellschaftlicher Spaltung sind eine Gemeinschaftsaufgabe. Bund, Länder und Kommunen, Wirtschaft und Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Organisationen der Wohlfahrtspflege sowie die gesamte Zivilgesellschaft müssen auch weiterhin Verantwortung tragen. Wir sind überzeugt, dass wir die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, gemeinsam bewältigen können.“

Wir als rot-grüne Regierungsfraktionen teilen diese Überzeugung. Deswegen haben wir diesen Antrag auf den Weg gebracht, und wir meinen es ernst, meine Damen und Herren. Nehmen Sie das bitte ernst! Lassen Sie uns gemeinsam die notwendigen Schritte für die Aufgaben beschreiben und um die besten Lösungen ringen. Das erwarten die Menschen in Nordrhein-Westfalen von diesem Haus. Deswegen sollte dieses Signal und keine Irritation heute von hier ausgehen.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Beer. – Nun spricht für die Landesregierung noch einmal Herr Minister Schmeltzer.

Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Reden in den letzten knapp zwei Stunden sehr intensiv Gehör geschenkt. Ich sehe sehr wohl in den Diskussionsbeiträgen, die aus dem Parlament kommen, und auch aus den Änderungsanträgen, die ich jetzt zwischendurch quergelesen habe, sehr konstruktive Ansätze, dass – das wurde in vielen Redebeiträgen deutlich, aber leider nicht in allen – sehr intensive Bemühungen bestehen, an das anzuschließen, was 2001 im Parlament – ich kann das beurteilen, weil ich schon dabei war – beraten und beschlossen wurde.

Wer sich die Integrationsoffensive von 2001 ansieht und bis zum Schluss intensiv durchliest, wird feststellen, dass an der einen oder anderen Stelle auch zum Ausdruck kommt, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen seitens der Fraktionen gegeben hat. Sie wurden in dem damaligen Antrag genau festgehalten, damit man deutlich macht, dass es hier und da unterschiedliche Ansichten gibt.

Diese Gemeinsamkeiten von 2001, 2006 und 2012 waren gute Grundlagen dafür, dass wir in der heutigen Zeit, die wir letztes Jahr um diese Zeit nicht vorhersehen konnten, gemeinsam einen Plan angehen, wie es vielfach diskutiert wurde.

Ich will nur auf einige wenige Punkte eingehen. Sehr beeindruckt – ich meine das nicht hämisch und schon gar nicht ironisch – haben mich die Ausführungen vom Kollegen Stamp. Viele von uns wissen, dass der Kollege Stamp neben seiner Abgeordnetentätigkeit sehr aktiv in Sachen Flüchtlingsarbeit unterwegs ist. Davor gilt es, den Hut zu ziehen. Er hat noch einmal deutlich gemacht, dass hier tatsächlich etwas Konsensuales die Zielrichtung sein soll.

Ich will das nicht alles wiederholen und auch überhaupt nicht eine kritische Auseinandersetzung beginnen. Ich will aber etwas ansprechen – Herr Kollege Stamp, das soll nicht belehrend klingen; ich will das ausdrücklich dazusagen –, nämlich dass einige Wege verdammt lang sind. Das ärgert mich persönlich auch; ich sage das ganz deutlich. Sie haben unter Punkt 16 in Ihrem Änderungsantrag unter anderem – ich nenne das abgekürzt – die 3-plus-2-Regelung angesprochen. Sie wird schon seit Frühjahr bzw. frühem Sommer 2015 an vielen Stellen diskutiert. Die vielen Wege der 3-plus-2-Regelung wurden in der Wirtschaft, in der Politik, auf der Arbeitsebene der Ministerien und in der ASMK diskutiert. In der Großen Koalition hat es dann die Einigung gegeben.

Wenn Sie meiner Rede gelauscht haben – Herr Stamp, ich bin überzeugt, dass Sie das getan haben –, wissen Sie: Ich habe mich auf die Statusfragen zurückgezogen, bei denen man sich jetzt – so nenne ich das mal – auf Bundesebene kebbelt. Dabei gibt es also wieder ein Hindernis. Deswegen war mein Appell an den Kollegen Laschet, auf die Unionsfraktion in Berlin Einfluss zu nehmen, dass so etwas wegkommt. Die Einigung, dass man das will, dauert zu lange. In der ASMK haben alle Bundesländer bis auf ein Bundesland, das ich nicht namentlich nennen will – jeder kann sich seinen Teil denken –, frühzeitig eine Einigung herbeigeführt.

Ich will auch noch einmal deutlich machen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass vieles – das ist jetzt zum Ausdruck gekommen – natürlich vom Bund abhängig ist. Ich habe es begrüßt und ich bleibe bei diesem Begrüßen, dass einiges in der Bund-Länder-Koordinierung bzw. der Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit der Bundeskanzlerin sowie den Regierungschefinnen und Regierungschefs vereinbart wurde. Aber vieles funktioniert nur in einem koordinierten Verfahren. Wenn die Zahnräder nicht ineinandergreifen, funktioniert die Uhr nicht. Deswegen ist es gut, dass dort jetzt endlich Bewegung hineinkommt. Es ist gut, dass es den Entschließungsantrag im Bundesrat gegeben hat. Es ist gut, dass es den Aufschlag mit diesem sehr umfangreichen Antrag gegeben hat, der eine Einladung mit fünf Handlungsfeldern ist, über die man sich streiten kann.

Streit ist okay in diesem Zusammenhang. Deswegen ist es gut, dass die Fachausschüsse darüber beraten. Deswegen ist es nicht gut, Frau Kollegin Güler, dass ich diesen Kompromisswillen ausschließlich bei Ihnen eben nicht gehört habe. Da ging es um ein pressewirksames Unterstellen einer Umarmungsstrategie der SPD.

Ich erinnere an die Integrationsausschusssitzung am 13. Januar, die leider unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat, weil wir zu einem Zeitpunkt tagten, zu dem die Presse nicht zu uns kommt. Ich habe dort vorgestellt, was wir für die Integration machen. Ich habe im Übrigen – was Sie eben gesagt haben, ist die Unwahrheit – vorgestellt, was wir auf den Weg bringen in Sachen Integrationskursen, in Sachen Öffnung, in Sachen Qualität, in Sachen Quantität. Sie haben mich anschließend in dieser Sitzung gelobt. Ich musste die Frage beantworten, was ich gemacht habe, dass mich Frau Güler lobt. Sie haben mich gelobt und gesagt, die Inhalte seien richtig. – Richtig ist auch: Die Pressemitteilung, die eine halbe Stunde später herauskam, enthielt exakt das Gegenteil von dem, was Sie im Integrationsausschuss gesagt haben.

(Zurufe von der SPD)

Daher: Pressewirksam in der Integrationspolitik sind nur Sie, Frau Güler. Das ist nicht gut für einen Konsens, den wir anstreben.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Güler?

(Michele Marsching [PIRATEN]: Zwischenfrage? In der Unterrichtung?)

Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales: Nein, nein, nein.

Vizepräsident Oliver Keymis: Keine Zwischenfrage. – Bitte schön.

Rainer Schmeltzer, Minister für Arbeit, Integration und Soziales: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Plan geht nur auf, wenn der Bund mehr Mittel zur Verfügung stellt. Das hat Frau Güler eben gesagt. – Richtig, Frau Güler! Dann sagen Sie Ihrem Bundesfinanzminister, er solle das nicht blockieren. Er blockiert die Mittel, die der Bund, die Länder und die Kommunen dringend benötigen. Er sagt: Finanziert das aus euren eigenen Ressorts. – Er sagt: Kommunen, ihr bekommt nicht mehr. – Die KdU-Mittel müssen erhöht werden, wenn die Flüchtlinge in den SGB?II-Bereich kommen. Sie gehen auf dem Zahnfleisch.

(Beifall von der SPD)

Sagen Sie nicht hier im Parlament, der Bund müsse mehr geben. Sagen Sie das Ihrem Finanzminister im Bund; das ist die richtige Adresse.

Meine Damen und Herren, die Diskussion, die in den anschließenden Ausschusssitzungen geführt werden wird, wird sehr umfangreich werden. Ich habe in der Unterrichtung Verschiedenes vorgestellt. Ich will das kurz wiederholen, weil Herr Kuper gesagt hat, wir hinkten hinterher.

Wir sind die Einzigen mit einem Teilhabe- und Integrationsgesetz mit vorausschauender, aktivierender und unterstützender Integrationspolitik.

Wir sind das einzige Bundesland, das eine integrationspolitische Infrastruktur mit den kommunalen Integrationszentren aufgebaut hat. Das hat kein Bundesland. Das haben sie noch nicht einmal auf dem Plan.

Wir sind die Einzigen, die einen intensiven Dialog mit den muslimischen Gemeinden führen, und wir haben das bundesweit mit auf den Weg gebracht. Dafür war man uns dankbar.

Wir aus Nordrhein-Westfalen waren es, die zentrale integrationspolitische Initiativen auf den Weg gebracht haben. Ich denke nur an die Öffnung der Integrationskurse für Asylbewerber. Ich denke nur an die Verbesserung der Ausbildungs- und Arbeitschancen für Asylbewerber und Geduldete, „3 plus 2“ war im Übrigen auch eine Initiative von Nordrhein-Westfalen. Ich denke an den Landesintegrationsrat, den es in dieser Form in keinem anderen Bundesland gibt. Ich denke natürlich an die Migrantenselbstorganisation in ihrer Rolle als Interessenvertretung, die wir permanent stärken und stützen.

Ich denke aber auch an die Sprachkurse, die in dieser Form ebenfalls kein anderes Bundesland hat, an die Basissprachkurse, die wir über „Early Intervention NRW+“ auf den Weg gebracht haben. Ich denke an die alltagesorientierten Sprachkurse aus dem Ressort der Kollegin Löhrmann. Ich denke an die Integration Points. Wir werden gefragt: Wie habt ihr das mit den kommunalen Spitzenverbänden und mit der Regionaldirektion hinbekommen? Wenn es nur eine BA-Angelegenheit wäre, hätten wir es in 16 Ländern. Aber wir haben es nur in Nordrhein-Westfalen.

Ich denke an das Programm von Mike Groschek „Hilfen im Städtebau für Kommunen zur Integration von Flüchtlingen“. Ich denke an die elektronische Gesundheitskarte. Jeder dritte Flüchtling kommt in diesen Genuss. Ich denke an die Defizitbehandlung aus dem Ressort der Kollegin Kampmann, wenn es um Brückenprojekte und Ähnliches geht. Ich denke an die Strukturen für Beratung, Sprache und Fachkurse bei der Kollegin Schulze. Ich denke an die 5.700 Lehrerstellen.

Herrn Kollegen Kuper sehe ich jetzt nicht mehr. – Entschuldigung, Herr Kollege Kuper. Ich hatte Sie im rechten Winkel gesucht. Dass Sie so weit nach links gerutscht sind, hätte ich nicht vermutet.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Das sind alles Dinge, die wir schon auf den Weg gebracht haben. Lassen Sie uns dort anknüpfen. Lassen Sie uns eine Diskussion in allen Ausschüssen führen,

(Zuruf von der CDU)

streitig und kritisch, ja – aber lassen Sie uns an 2001, an 2006 und an 2012 anknüpfen. Das waren gute Jahre für die Integration in Nordrhein-Westfalen.

Ich gehe davon aus: Wir werden auch ein gutes Jahr 2016 mit einem gemeinsamen Integrationsplan hinbekommen, den dieses Haus gemeinsam mit der Landesregierung erstellt. Das ist ein gutes Zeichen für das Land Nordrhein-Westfalen und ein gutes Zeichen in alle anderen 15 Bundesländer. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Schmeltzer. – Für die FDP-Fraktion hat sich noch einmal Herr Kollege Dr. Stamp zu Wort gemeldet.

Dr. Joachim Stamp (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hörte gerade schon einen Seufzer. Deswegen sage ich Ihnen, dass ich meinen Beitrag ganz kurz halten möchte.

Herr Schmeltzer, Sie haben eben einen Punkt angesprochen, den ich für uns doch noch einmal geradeziehen möchte. Es geht um die Bleiberechtsregelung in Ausbildung „3 plus 2“. Das ist eine der Forderungen gewesen, die wir hier aufgestellt haben und die von Rot-Grün im vergangen Jahr abgelehnt worden ist. Wenn wir zu gemeinsamen Ergebnissen kommen wollen, muss sich das ändern. Wir brauchen einen fairen Umgang miteinander. Dann können wir uns darüber unterhalten. – Danke schön.

(Beifall von Dirk Wedel [FDP])

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. – Jetzt hat sich Frau Kollegin Güler zu Wort gemeldet.

Serap Güler (CDU): Herr Präsident, liebe Kollegen! Herr Minister Schmeltzer, dass Sie das, was Sie in der ersten Runde schon gesagt haben, hier noch einmal erwähnen müssen, zeigt eigentlich, wie es um die Integrationspolitik in unserem Land wirklich bestellt ist. Wenn Sie in die zweite Runde gehen und dann doch nur Ihre erste Rede wiederholen

(Minister Rainer Schmeltzer: Quatsch!)

– das haben Sie getan –, zeigt das Ihre Einfallslosigkeit, die mittlerweile auch zu einem Zeichen der Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen geworden ist.

Sie stellen sich hierhin und sagen: Frau Güler, Sie sagen die Unwahrheit. – Das heißt im Klartext, dass ich lüge. Dann müssen Sie auch sagen, wo, Herr Minister.

(Minister Rainer Schmeltzer: Das habe ich gesagt!)

– Herr Minister Schmeltzer, Sie sagten gerade, ich sage die Unwahrheit. Ich sage nicht die Unwahrheit, nur weil ich anderer Meinung bin als Sie. Ich habe auch Ihren Plan nicht kritisiert. Ich habe gesagt, wir haben darin viele Anträge von uns gefunden, weshalb ich ihn schon automatisch nicht kritisieren würde.

Ich bitte Sie, sich auf Ihre eigenen Kompetenzen zu konzentrieren. Machen Sie nicht immer die Hand Richtung Berlin auf. Schauen Sie auf Ihre eigenen Kompetenzen und darauf, was wir hier selbst leisten können – es sei denn, Sie sind sich darüber im Klaren, keine eigenen Kompetenzen zu haben. Das hieße aber, dass Sie dieses Land Nordrhein-Westfalen integrationspolitisch kleiner machen, als wir es sind.

(Beifall von der CDU – Zuruf von Ingrid Hack [SPD] – Sigrid Beer [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

 – Frau Beer, ich lasse Ihre Zwischenfrage gerne zu. Ich möchte nur den Satz zu Ende sprechen.

Was die kommunalen Integrationszentren betrifft, Herr Schmeltzer: Diese haben Sie mehrmals erwähnt.

(Zuruf von der SPD)

Keiner bestreitet, dass sie eine gute Arbeit leisten. Aber ich möchte an dieser Stelle mal Elisabeth Lindenhahn zitieren. Das ist eine Ihrer Parteifreundinnen aus dem Kreis Borken, die sich entsetzt darüber gezeigt hat, wie groß die bürokratischen Hürden bei den Kommunalen Integrationszentren sind. Vielleicht setzen Sie sich mal dafür ein, dass die Arbeit der Menschen vor Ort, die mit den Kommunalen Integrationszentren arbeiten, erleichtert wird,

(Zuruf von Marc Herter [SPD])

statt sich hierhin zu stellen, sich aufzublasen und über „Integration Points“ und „Early Intervention“ zu sprechen. Das sind alles Dinge, die Sie nicht erfunden haben, die nicht auf die Landesregierung zurückzuführen sind! Das waren Ideen der Arbeitsagentur. Sie schmücken sich hier mit fremden Federn. Das ist ein Punkt, den wir nicht einfach so stehenlassen wollen.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Jetzt bin ich mit meinen Ausführungen fertig und für eine Zwischenfrage bereit.

Vizepräsident Oliver Keymis: Es gibt keine Zwischenfragen in einer Unterrichtung. Wir haben uns gerade noch einmal kundig gemacht.

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

– Frau Beer weiß Bescheid. – Aber Ihre Redezeit ist abgelaufen, Frau Güler.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vielen Dank für Ihren Beitrag. – Als nächste Rednerin für die SPD-Fraktion hat sich Frau Kollegin Altenkamp zu Wort gemeldet.

Britta Altenkamp (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von Ihnen hier eingeforderte faire Umgang, Herr Dr. Stamp, ist genau das, was wir mit dem sehr breiten Prozess vorhaben. Es geht tatsächlich darum, die Dinge miteinander zu bereden,

(Zuruf von der CDU)

Ideen zu haben und zu äußern. Es geht nicht darum, zu sagen, wer es erfunden hat. Das ist die hier geäußerte Sorge. Das sagen wir Ihnen auch zu.

Frau Güler, wenn ich Ihnen hier so zuhöre und Sie beobachte, kann ich nur eines sagen: Ich bin mir ziemlich sicher, wären Sie 2001 schon im Parlament gewesen, hätten wir keine gemeinsame Integrationsoffensive vereinbaren können; denn so, wie Sie mit Argumenten der Gegenseite umgehen, ist es sehr, sehr schwierig, überhaupt zu versuchen, Kompromisse zu finden.

(Zuruf von Serap Güler [CDU])

Kompromisse miteinander einzugehen bedeutet nicht, immer nur darauf zu beharren, dass man der Erste war, der etwas gesagt hat. Es bedeutet, irgendwann zu erkennen, dass der wichtigere Punkt die Gemeinsamkeit ist.

(Zuruf von der CDU: Und das von Ihrer Seite!)

Frau Güler, ich frage Sie ganz ehrlich: Sind Sie dazu bereit oder nicht? – Wenn Sie nicht dazu bereit sind, können Sie sich bei dem Kollegen Solf oder anderen erkundigen: Es hat auch schwierige Zeiten gegeben, bis wir zu dieser Integrationsoffensive 2001 gekommen sind. Es hat mit uns allen gemeinsam heftige Diskussionen darüber gegeben, wie wir uns mit dem Aktionsplan verhalten. Dennoch haben wir es geschafft. Die Frage, die ich Ihnen heute ganz persönlich stelle, lautet: Sind Sie dazu bereit, Kompromisse zu schließen? – Dieser Frage müssen Sie sich stellen, bevor Sie in diesen Prozess gehen.

Frau Güler, eines will ich Ihnen auch noch sagen. Sie können sich hier aufregen und sich über den Minister echauffieren. Das bleibt Ihnen unbenommen. Das ist Ihre Aufgabe hier im Parlament.

Aber eines bleibt auch: Der Satz, dass ohne den Bund nichts geht und der Erfolg dieses Plans ohne den Bund nicht zu machen ist, kam von Ihnen. Sie können das gleich im Protokoll noch einmal nachlesen.

(Zuruf von Minister Rainer Schmeltzer)

Insofern kann es vielleicht sein, dass Sie bereuen, diesen Satz gesagt zu haben. Tatsache ist aber jedenfalls, dass der von Ihnen kam. Und wissen Sie was, Frau Güler? Das war fast das einzig Konstruktive und Richtige in Ihrem Wortbeitrag. Deshalb lege ich Wert darauf, dass es dabei bleibt.

(Beifall von der SPD – Zuruf von Minister Rainer Schmeltzer)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Altenkamp. – Es liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor. Damit kommen wir zu drei Abstimmungen.

Erstens stimmen wir über den Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 16/11225 ab. Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, diesen Antrag an den Integrationsausschuss zu überweisen. Die abschließende Abstimmung soll dort auch über den Entschließungsantrag 16/11299 – Neudruck – in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer stimmt dieser Überweisungsempfehlung zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist beides nicht der Fall. Dann sind der Antrag Drucksache 16/11225 und der Entschließungsantrag Drucksache 16/11299 - Neudruck - einstimmig an den Integrationsausschuss überwiesen.

Zweitens stimmen wir über den Antrag der Fraktion von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 16/11229 ab.

Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung dieses Antrags an den Integrationsausschuss – federführend –, an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales, den Ausschuss für Bauen und Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr, den Ausschuss für Frauen, Gleichstellung und Emanzipation, den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend, den Hauptausschuss, den Ausschuss für Europa und Eine Welt, den Haushalts- und Finanzausschuss, den Innenausschuss, den Ausschuss für Innovation, Wissenschaft und Forschung, den Ausschuss für Kommunalpolitik, den Ausschuss für Kultur und Medien, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Schule und Weiterbildung, den Sportausschuss, den Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sowie an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk. Die abschließende Aussprache und Abstimmung soll nach Vorlage der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses erfolgen.

Der Änderungsantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/11318 soll gemäß § 82 Abs. 4 unserer Geschäftsordnung ebenfalls an die Ausschüsse verwiesen werden.

Wer stimmt diesem Vorgehen so zu? – Gibt es dazu Gegenstimmen im Hohen Haus? – Gibt es Enthaltungen? – Beides war nicht zu erwarten, und damit ist das einstimmig so beschlossen.

Drittens stimmen wir über den Antrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/11218 ab. Hier haben sich alle fünf Fraktionen des Landtags darauf verständigt, den Antrag an den Integrationsausschuss – federführend –, an den Hauptausschuss sowie den Ausschuss für Schule und Weiterbildung zu überweisen. Im federführenden Ausschuss soll dann in öffentlicher Sitzung die abschließende Abstimmung erfolgen. Wer stimmt diesem Verfahren zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist einstimmig auch hier so verfahren.

Ich rufe auf:

2   Nordrhein-Westfalen muss umgehend Alternativen und Begleit-Maßnahmen zur Elektroauto-Kaufprämie initiieren

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11288

Die Fraktion der Piraten hat mit Schreiben vom 29. Februar 2016 gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung eine Aussprache zu diesem Thema beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktion der Piraten Herrn Kollegen Bayer das Wort. Bitte schön.

Oliver Bayer (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Besucher hier und am E-Stream, Sie können auch gerne hier bleiben, es sei denn, Sie müssen jetzt schon auf die Autobahn, um sich vor dem Stau dort hinzustellen, oder Ihr Elektroauto aufladen.

Wir haben jährlich 50.000 Verkehrstote in Deutschland, und zwar durch Autoabgase, Feinstaub, und es kommen weitere Luftschadstoffe vor allem aus Dieselmotoren hinzu. In NRW gibt es ein um Vielfaches mehr Verkehrstote durch die Emissionen aus Verbrennungsmotoren als durch Verkehrsunfälle. Könnte es also ein legitimes Ziel der Politik sein, verhindern zu wollen, dass allein in NRW eine ganze Großstadt an den Folgen des Autoverkehrs stirbt, weil für sie eine Verkehrswende ein Jahrzehnt zu spät kommt? Das ist eine Frage. Das gehört auf den Tisch.

Was sind denn die Ziele? Was sind denn die Möglichkeiten? Wo ist der politische Wille? Hat NRW hierzu etwas zu sagen? Natürlich hat NRW etwas zu sagen, also raus damit! Welche Priorität hat das Ziel Gesundheitsschutz, und welche Prioritäten haben Umweltschutz oder Klimaschutz? Der spürbare Beitrag des Verkehrssektors steht beim Klimaschutz noch aus, und NRW hat ja das Klimaschutzgesetz.

Was ist mit einer dauerhaft finanzierbaren Verkehrsinfrastruktur, die gleichzeitig zu den Verkehrsmitteln und der Gesellschaft der Zukunft passt? Was ist mit sozialen Zielen? Es sollte kein Luxus sein, den eigenen Häuserblock zu verlassen und von A nach B zu kommen. Doch ein eigenes Elektroauto ist Luxus.

Was ist mit der Wirtschaftsförderung? Wen oder was fördern ist das Ziel? Man könnte Mobilitätsanbieter fördern, Bus und Bahn, Hersteller umweltfreundlicher Busse, die Elektromobilität auf der Schiene und die Unternehmen, die die Ladeinfrastruktur bereitstellen. Man könnte auch den Radverkehr ausbauen und mittelständische Fahrrad- und E-Bike-Hersteller in NRW fördern. Eine Wirtschaftsförderung für neue Geschäftsfelder wäre vor allem ein neuer, nachhaltiger Fokus der Verkehrsinfrastruktur auf Carsharing, Fahrrad, Bus und Bahn.

Nun ist es ja nicht so, dass die Automobilindustrie in Deutschland keine politische Unterstützung bekäme. Leider ist die Unterstützung von der Lenkungswirkung her jedoch fatal: Die Pendlerpauschale führt zur Zersiedelung, die Steuer- und Firmenwagenpolitik zu einer Konzentrierung auf dicke Autos als Verkehrsmittel. Noch immer wird ausgerechnet der umweltschädlichste Treibstoff, der Diesel, indirekt subventioniert – auch unter Berücksichtigung der Kfz-Steuer ist für Dieselfahrzeuge deutlich weniger als für Benziner zu zahlen. Deshalb ist es übrigens auch richtig, an dieser Stelle höhere Steuern zu erheben, wie Bundesumweltministerin Barbara Hendricks vorschlägt.

Weil die Steuerpolitik unsere Autobauer in eine Sackgasse geführt hat, werden aus Deutschland unter Duldung von NRW weiterhin strengere Emissionsgrenzwerte in der EU torpediert. Es gibt Kuriositäten wie einen Konformitätsfaktor bei den RDE-Emissionsmessungen. Aktuell werden in Berlin von der Ausländermaut bis PPP immer neue Dinge erfunden, die gar keine Lösung für unsere Verkehrsprobleme darstellen, aber jede vernünftige Debatte überdecken – geradeso, als wolle man gar nichts ändern.

Ich würde es verstehen, wenn dann alles so bleiben könnte, wie es ist. Das kann es aber nicht, denn sonst haben wir bald keine vernünftige Verkehrsinfrastruktur, keine nennenswerte Autoindustrie mehr, keine gute Lebensqualität in Städten, und alle Klimaschutzziele wären verfehlt.

Die größte Subventionssackgasse, die die Innovationskraft des ganzen Verkehrssektors auf Jahre gelähmt hat, war jedoch die Abwrackprämie 2009. Die war völlig unverantwortlich. Lassen Sie uns daher in Nordrhein-Westfalen einmal mutig sein, damit die aktuelle Debatte nicht nur in einem weiteren, vor allem schädlichen Lobbygeschenk endet.

Die Bundesregierung macht sich seit Jahren nur lächerlich und verbrennt das Thema. Dass die aufgerufenen Ziele offen belächelt werden, ist Konzept. Wer glaubt denn wirklich an 1 Million Elektroautos bis 2020, die dann alle auch noch auf der Busspur fahren dürfen? Wir sind so weit, dass überhaupt niemand mehr erwartet, dass Deutschland etwas anderes tut, als Diesel schönzureden – trotz Dieselgate und einem Bruch, der eigentlich heilend hätte wirken müssen. Doch jetzt wird die Elektrokaufprämie konkret. Oder? Doch wenn alles so läuft wie immer, dann gibt es die Umweltprämie von 5.000 € natürlich als Tankgutschein.

Meine These: Damit sich die Verantwortlichen nicht völlig zum Obst machen, wird eine Kaufprämie kommen. Sicher wird es da Mitnahmeeffekte geben. Es wird Leute geben, die sich dadurch erst einen Zweitwagen an- und die ÖPNV-Monatskarte abschaffen. Aber keine rationale Förderung ist so sexy wie ein Schnäppchen. Natürlich könnte man das Geld viel besser und nachhaltiger investieren. Aber in diesem Land funktioniert Verkehr emotional. Und Schnäppchen sind auch immer emotional. Hey, ein Schnäppchen; ein dreißigteiliges Grillset – brauche ich nie, sieht aber toll aus –, jetzt im Winter 50 % billiger! Es ist natürlich immer schlecht, wenn man das Schnäppchen verpasst und nachher gar keine Lust mehr auf das Produkt hat. Aber der Staat schenkt mir etwas. Da bin ich doch nicht blöd. Da will ich zugreifen – ob ich nun Topverdiener bin oder mir gerade so ein E-Bike leisten kann.

An der Stelle müssen wir herangehen. Fast alle Ziele, die ich anfangs genannt habe, werden erreicht, wenn die Zahl der Autos mit Verbrennungsmotoren abnimmt, und zwar egal, ob sie durch ein Elektroauto, ein Fahrrad oder ein ÖPNV-Monatsticket ersetzt werden. Genau dem muss auch eine Umweltprämie gerecht werden.

(Beifall von den PIRATEN)

Es muss also zum Beispiel auch eine Prämie für das Fahrrad geben.

Für einen ähnlichen psychologischen Effekt und mit deutlicher Fokussierung auf die Ziele inklusive einer umfassenden modernen Verkehrswende habe ich natürlich noch einen weiteren Vorschlag: „Bus- und Bahn fahrscheinfrei“ bis 2020! Das wäre in der Praxis nicht nur günstiger, sondern auch deutlich realistischer, was die erwartete Wirkung betrifft, selbst bei einem massiven Ausbau des ÖPNV, wenn es nicht durch eine Umlage finanziert würde. Natürlich kommt es in allen Fällen vor allem auf das komplette Maßnahmenpaket an, also die Begleitmaßnahmen, die NRW direkt angehen und mit hoher Priorität vorantreiben muss. Am Paket und an der konsequenten breiten Umsetzung hängt es, ob überhaupt Effekte erzielt und politische Ziele erreicht werden.

Ich komme zum Schluss. Es macht also zum Beispiel keinen Sinn, entgegen gerichtete Maßnahmen wie die Dieselförderung aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil! Eine der wichtigsten Maßnahme des Staates ist der Aufbau einer Ladeinfrastruktur. Dazu komme ich gleich noch; denn dazu hatten wir 2014 schon einen Antrag. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Bayer. – Die SPD-Fraktion wird nun von Frau Kollegin Blask vertreten.

Inge Blask (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Automobilindustrie in Deutschland ist die größte Branche des verarbeitenden Gewerbes und mit jährlich weit über 20 Milliarden € Aufwendungen für Forschung und Entwicklung eine tragende Säule des Innovations- und Technologiestandortes Deutschland. Will sich die deutsche Automobilindustrie als Leitanbieter im Automobilbereich behaupten und die Wertschöpfung und damit die Arbeitsplätze in Deutschland erhalten, muss die Entwicklung hin zu mehr Elektromobilität in Deutschland beschleunigt werden. Deutschland muss sich zu einem Leitmarkt für Elektromobilität entwickeln. Das nützt nicht nur dem Wirtschaftsstandort, sondern auch dem Klimaschutz.

Die Große Koalition in Berlin hat im Koalitionsvertrag als Ziel bestätigt, 1 Million Elektrofahrzeuge bis 2020 in den deutschen Straßenverkehr zu bringen. Dazu bedarf es dringend eines konkreten industriepolitisch flankierenden Maßnahmenpaketes auf der Bundesebene, das auch den anstehenden Strukturwandel in der Automobilzulieferindustrie begleitet. Die Option einer Kaufprämie, Investitionen in die Infrastruktur und steuerliche Abschreibmöglichkeiten in der Form, wie sie der Bundesrat in einem Gesetzentwurf gefordert hat, sind derzeit in der bundespolitischen Diskussion.

Im Februar zum Beispiel hat der Bundesrat der Ladesäulenverordnung zugestimmt. Das ist ein wichtiger Punkt beim Thema „Infrastruktur“. Auch beim Steuerrecht müsste man etwas verändern, damit das Laden beim Arbeitsgeber für Arbeitnehmer steuerfrei bleibt. An vielen Punkten gilt es also, die Stellschrauben in Richtung Elektromobilität zu drehen. Entscheidende Weichenstellungen erfolgen somit auf der Bundesebene.

Meine Damen und Herren, die Kaufprämie ist ein Faktor für die Verbreitung von Elektrofahrzeugen und die Akzeptanz bei ihren Käufern. Genauso wichtig ist es aber, dass die Rahmenbedingungen für die Elektromobilität möglichen Käuferinnen attraktiv erscheinen, damit diese sich für ein Elektrofahrzeug entscheiden. Die Menschen in Nordrhein-Westfalen müssen das Elektrofahrzeug als verlässlichen Verkehrsträger wahrnehmen.

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Piraten, in Ihrem Antrag fordern Sie das Land Nordrhein-Westfalen auf, tätig zu werden. Sie übersehen aber, dass viele der von Ihnen geforderten Maßnahmen sich in vielfacher Weise bereits in der Umsetzung oder Entstehung befinden. Wir in Nordrhein-Westfalen haben unsere Hausaufgaben dazu gemacht; denn in Nordrhein-Westfalen besteht seit 2009 der sogenannte Masterplan Elektromobilität, der 2014 erneuert wurde, nachdem bereits zahlreiche Maßnahmen umgesetzt bzw. erreicht werden konnten.

Ziel des Masterplans ist es, die gute Ausgangsposition des Landes zu stärken und Nordrhein-Westfalen als bundesweiten Vorreiter in Sachen Elektromobilität zu etablieren. Hierfür werden Aktivitäten und Maßnahmen in den Dimensionen Forschung und Entwicklung, Systeminnovation und Kommunikation sowie bei den Rahmenbedingungen definiert.

Der 2014 aufgestellte Masterplan Elektromobilität geht detailliert auf alle Teilbereiche der Elektromobilität ein. Hierfür wurden zunächst umfangreiche Analysen erstellt, auf deren Grundlage konkrete Handlungsempfehlungen in den vier relevanten Handlungsfeldern erarbeitet und für die Umsetzung priorisiert und zeitlich eingeordnet wurden. So ist es unerlässlich, Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Elektromobilität für alle Beteiligten attraktiv ist. Kernziele hierbei sind die Schaffung elektromobilitätsfreundlicher Rahmenbedingungen und der Aufbau einer adäquaten Ladeinfrastruktur.

Im Bereich der Forschung und Entwicklung wurde festgestellt, dass bereits an vielen Themen und an vielen Orten in Nordrhein-Westfalen erfolgreich zur Elektromobilität geforscht wird, aber auch noch viele Forschungsfragen offen sind.

Ziel ist es, NRW als Innovationsstandort Elektromobilität zu stärken. Zudem muss Elektromobilität als gesamtheitliche systemische Lösung betrachtet werden.

Ziel ist es, die Anzahl der Elektrofahrzeuge zu erhöhen und das Gesamtsystem Elektromobilität zu demonstrieren. Dies erfolgt unter anderem in der geförderten Modellregion Rhein-Ruhr, in der insbesondere erprobt wird, was Nutzer von Elektrofahrzeugen erwarten und wie der ÖPNV durch Elektromobilität ergänzt werden kann. Wir erwarten, dass das Land Nordrhein-Westfalen in eine Fahrzeugförderung für Elektrobusse einsteigt.

Auch im Bereich der Kommunikation wurden Handlungsempfehlungen ausgesprochen; denn Kommunikation sorgt in der Öffentlichkeit für eine breite Akzeptanz des Themas und bietet dem Fachpublikum Unterstützung bei der Vernetzung.

Liebe Piraten, wie Sie sehen, ist das Land Nordrhein-Westfalen bereits sehr aktiv im Bereich der Elektromobilität. Alle Ebenen haben ihren Beitrag zu leisten. Der Bund ist unserer Meinung nach hier noch in der Pflicht. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Blask. – Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Kollege Rehbaum.

Henning Rehbaum (CDU): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wilhelm II., der letzte deutsche Kaiser, kam im Jahr 1988 an die Macht.

(Zuruf von der FDP: 1888!)

Im gleichen Jahr wurde das weltweit erste Elektroauto in Coburg gebaut. Das war nur zwei Jahre, nachdem Carl Benz das erste Auto mit Verbrennungsmotor gebaut hatte. Die Gründe, warum sich der Verbrennungsmotor durchsetzte, waren damals die gleichen, aus denen auch heute das Elektroauto weit hinten liegt: zum Ersten die längere Reichweite und zum Zweiten, dass ein Verbrennungsmotor keine Ladezeiten hat.

Die CDU-geführte Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, mehr Elektroautos auf die Straßen zu bringen. Hier darf nicht die Ideologie vorne anstehen. Vielmehr sind pragmatische Lösungen gefragt.

(Beifall von der CDU)

Um dieses Ziel zu realisieren, müssen die Reichweiten von Elektroautos vergrößert, die Ladezeiten drastisch verkürzt, die Ladeinfrastruktur verbessert und Privilegien im innerstädtischen Bereich geschaffen werden. Letzteres ist deswegen so wichtig, weil im innerstädtischen Bereich und im Nahverkehr die Entfernung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Hier können wir im Grunde mit der heutigen Technik erreichen, dass wesentlich mehr elektrobetriebene Fahrzeuge auf die Straßen kommen.

Mit dem Elektromobilitätsgesetz der Bundesregierung wurden bereits im vergangenen Jahr zusätzliche Anreize für Elektromobilität geschaffen. Kommunen können jetzt entscheiden, wie sie Elektroautos vor Ort begünstigen wollen. Dies geht zum Beispiel durch kostenfreies Parken oder spezielle Zufahrtsrechte – wobei man natürlich sagen muss, dass bei kostenfreiem Parken den Kommunen auch Einnahmen entgehen. Hier liegt die Verantwortung bei den Kommunen. Es muss ein verantwortungsvoller Kompromiss erzielt werden.

Wir können davon ausgehen, dass, verbunden mit einer steigenden Auswahl an E-Modellen und einer anwachsenden Zahl an Elektroautos auf den Straßen, auch der Absatz weiter ansteigen wird. Steigt die Stückzahl, sinkt der Preis.

Um die Attraktivität der Elektromobilität zu steigern, müssen deutlich mehr Ladestationen an Bundesfernstraßen entstehen. Nur wer die Sicherheit hat, sein Auto auf Fernreisen auch aufladen zu können, wird sich mit dem Elektroauto aus seiner Stadt herausbewegen. Insbesondere die Dichte an Schnellladestationen, die eine Batterie in ein bis zwei Stunden aufladen können, muss erhöht werden.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Bundesregierung seit Jahren die Batterieforschung auf vielfältige Weise fördert; denn langfristig müssen wir Batterien haben, die es ermöglichen, ohne Zwischenhalt auch weite Strecken zu fahren.

Im Batterieforschungszentrum der Universität Münster fördert der Bund hierfür das Elektrolytlabor. Kernstück des Labors ist eine Anlage zur schnellen automatischen Bewertung neuer Elektrolyte für Batteriezellen.

Das größte Potenzial für E-Mobilität sehen wir derzeit im innerstädtischen Verkehr. Besonders im städtischen ÖPNV kann man hier einiges erreichen; denn die Verkehrsstruktur mit Stop-and-go-Verkehr und systematisch kalkulierbaren Wartezeiten ist wirklich dazu geeignet, elektrische Fahrzeuge einzusetzen.

(Beifall von der CDU)

Ähnliche Verkehrsstrukturen haben auch Taxen, Kommunal- und Entsorgungsfahrzeuge und Paketdienste. Auch im Carsharingbereich gibt es im Grunde systematische Warte- bzw. Standzeiten, die man als Ladezeiten nutzen kann.

Optimal dafür ausgestattet sind Städte mit Straßenbahnen; denn hier ist bereits ein wichtiger Bestandteil der Ladeinfrastruktur vorhanden, nämlich ein flächendeckendes Netz an Gleichstromversorgung. Da sind wir in Nordrhein-Westfalen mit zwölf Städten, die Straßenbahnverkehr haben, plus einer Stadt mit O-Bus-Verkehr, nämlich Solingen, und Wuppertal mit der Schwebebahn sehr gut ausgestattet. Insofern haben wir wesentlich bessere Voraussetzungen für Elektromobilität im Nahverkehr als andere Bundesländer.

Prof. Müller-Hellmann vom VDV hat hier schon vor Jahren wegweisende Konzepte für die Nutzung der Gleichstrominfrastruktur als Ladeinfrastruktur für Elektromobilität vorgestellt. Das Potenzial ist an dieser Stelle durchaus groß. Ein Gelenkbus braucht ungefähr das Zehnfache an Energie wie ein normaler PKW. Wenn wir es also schaffen, 1.000 Busse in Nordrhein-Westfalen zu Elektrobussen zu machen, hat das den gleichen Umwelteffekt wie 10.000 Elektro-Pkw.

(Beifall von der CDU)

Wir haben an dieser Stelle also kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.

Wir haben aber auch die Sorge, dass Nordrhein-Westfalen seine Chancen bei der Elektrifizierung des städtischen Nahverkehrs verschläft. Osnabrück zum Beispiel plant gerade die komplette Umstellung des Busfuhrparks in einen Elektrofuhrpark bis zum Jahr 2020. Es darf uns bei der Elektromobilität nicht passieren, dass andere Länder schon wieder mit einem Zukunftsthema an uns vorbeiziehen.

Der Einsatz von Fahrzeugen muss genauso wie die Produktion und die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen deutlich stärker forciert werden. Nordrhein-Westfalen hat dafür gute Voraussetzungen und mit den Großstädten auch ein Potenzial. Die Landesregierung muss jetzt Gas geben, um in Nordrhein-Westfalen die Elektromobilität im ÖPNV ins Rollen zu bringen. Wir wollen Marktführer für Elektro-ÖPNV werden.

(Beifall von der CDU)

Öffentliche Stellen müssen ihren Fuhrpark nach Fahrzeugen durchforsten, die kompatibel für den Elektromobilitätseinsatz sind. Da ist ein riesiges Potenzial. Was wir nicht brauchen, sind Verbote, Gängelung und Bestrafung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor; denn das wäre Gift für das Wirtschaftswachstum und Gift für Arbeitsplätze.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir wissen noch, welche Schwierigkeiten Besitzer älterer Autos und Handwerker mit ihren Fahrzeugen bei der Einrichtung der Umweltzonen im Ruhrgebiet hatten.

Wir brauchen auch keine künstliche Konkurrenz von e-mobilen Fahrzeugen und Busverkehr. Der Horror für jeden Busfahrer und die Fahrgäste ist ein Elektrofahrzeug, das die Busspur versperrt und verstopft und dadurch den ÖPNV ins Stocken bringt.

Wir brauchen vernünftige Ladeinfrastruktur und eine sukzessive Öffnung dieser Struktur für weitere Dritte wie Taxis, Lieferwagen, Kommunalfahrzeuge und Carsharing.

Die CDU-Fraktion hat im Rahmen der Beratung des Haushalts 2016 bereits einen konkreten Vorschlag für mehr Elektromobilität gemacht. Wir haben neben der Erhöhung der Organisationspauschale für Bürgerbusse auch die Einführung eines gesonderten Tatbestandes für reine Elektrokleinbusse im Bürgerbusverkehr gefordert. Dass Rot-Grün dies selbst bei einem derartig übersichtlichen Projektvolumen abgelehnt hat, zeigt, dass Sie im Grunde keinen Mut und keinen Willen zu neuen Wegen haben.

Wenn eine Landesverwaltung für rund 18 Millionen Einwohner gerade einmal 13 reine Elektrofahrzeuge im Bestand hat, kann man nur sagen: Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen liegt im elektromobilen Dornröschenschlaf.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Der Innovationsakku der Regierung Kraft hat mal wieder keinen Saft.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Rehbaum. – Nun kommt für die grüne Fraktion Herr Kollege Klocke ans Pult.

(Karl Schultheis [SPD]: War das lyrisch gemeint? – Gegenruf von Christof Rasche [FDP]: Die ganze Aktuelle Stunde ist das!)

Arndt Klocke (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde gern mit einem Zitat einsteigen, weil uns der Kollege Voussem am Anfang auch immer mit philosophischen Zitaten beglückt. Das ist jetzt nicht philosophisch, aber es ist ein Zitat, und zwar von Jürgen Fenske, Vorstandsvorsitzender der KVB und Präsident des VDV, also des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen. Er sagte in Köln vor drei Wochen bei der Vorstellung der ersten acht vom Land mit geförderten E-Busse Folgendes – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

„Wir werden die Energiewende und die Klimaschutzziele nur erreichen, wenn wir auch die Verkehrswende schaffen. Dafür brauchen wir die E-Mobilität.“

(Beifall von den GRÜNEN und von Minister Johannes Remmel)

Das ist für einen Sozialdemokraten ein kluger Satz, wie ich finde, der auch die entsprechende Zielrichtung vorgibt.

Heute fallen 20 % der klimaschädlichen Emissionen im Verkehrssektor an. Insofern ist das eine Aufgabe, die sich wirtschaftspolitisch, verkehrspolitisch und auch umweltpolitisch stellt.

Herr Kollege Rehbaum, in Ihrer Rede habe ich eben viele vernünftige Ansatzpunkte gehört. Ich würde mir, ehrlich gesagt, wünschen, dass Sie eine solche Rede dann einmal beim CDU/CSU-Kongress in Berlin halten. Denn die Politik, die in Berlin zum Thema „Elektromobilität“ gemacht wird, ist nicht ausreichend. Wir wollen nicht alles nach Berlin schieben. Aber wenn ich mir das Elektromobilitätsgesetz ansehe, das Sie eben positiv erwähnt haben – Sie haben die Fördermechanismen genannt, also dass E-Pkw jetzt auch auf der Busspur fahren können, manche Parkplätze kostenlos nutzen können etc. –, dann kann ich nur sagen: Das ist doch völlig unzureichend.

Ohne ein vernünftiges Förderprogramm, das monetär hinterlegt ist – ob es eine reine Kaufprämie ist, ob es eine Bonus-Malus-Regelung ist, ob man steuerliche Privilegien für Käufer von E-Autos schafft –, ohne solche Qualifikationen und Möglichkeiten einer weitergehenden Förderung wird es nicht den Push in der deutschen Automobilindustrie geben. Davon bin ich fest überzeugt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das, was in diesem Gesetz steht, ist auf jeden Fall nicht hinreichend.

Bevor vonseiten der FDP darauf eingegangen wird – Herr Rasche ist gleich dran; sein Spezialpunkt bei jeder Rede in letzter Zeit ist ja Kritik an den Grünen –, möchte ich sagen: Ich bin völlig davon überzeugt, dass wir in den nächsten 20, 30 oder 40 Jahren zahlreiche und ausreichend Pkws auf unseren Straßen haben werden. Es geht überhaupt nicht um ein Gegeneinander. Die Zukunft liegt in einem modernen, guten Mobilitätsmix.

Dazu gehört aber auch, dass wir Elektromobilität breiter denken. Zur Elektromobilität gehören die Förderung und der Ausbau des ÖPNV. In diesem Bereich wird Elektromobilität schließlich schon mehr als 100 Jahre gelebt. Dazu gehören auch Fahrräder. Wir haben einen absoluten Boom bei Elektrofahrrädern: über 2 Millionen verkaufte E-Bikes und Pedelecs auf unseren Straßen ohne 1 Cent Förderung.

An dieser Stelle muss man die verschiedenen Dinge durchdeklinieren. Ich bin nicht der größte Freund einer reinen Kaufprämie. Aber für mich ist klar: Es muss eine steuerliche Förderung und Anreize geben.

Wir müssen uns auch die Bereiche ansehen, in denen es sich lohnt, Elektromobilität einzusetzen. Das betrifft insbesondere die Lieferverkehre, in deren Rahmen zum Beispiel Lieferwagen kontinuierlich in den Innenstädten unterwegs sind. Das betrifft Carsharing, Taxiunternehmen etc. Überall da, wo Pkws kontinuierlich auf unseren Straßen unterwegs sind, rechnet sich Elektromobilität auch umweltpolitisch.

Ich bin kein großer Freund davon, zu sagen: Es reicht aus, wenn wir die heutigen Pkws mit Verbrennungsmotoren durch Elektro-Pkws ersetzen. – Die Straßen werden genauso voll sein, die Stausituation wird sich nicht ändern, und der Rohstoffeinsatz bei der Herstellung dieser Pkw ist hoch. Aber da, wo der Staat handeln kann, sollte er das tun.

Es geht darum, dass wir die Lieferverkehre insbesondere auf der letzten Meile auf Elektromobilität umstellen, und darum, dass wir entsprechende Lademöglichkeiten schaffen. Der Kollege Rehbaum hat es eben schon angesprochen. Das ist das A und O. Wir müssen Ladesäulen installieren – auch für unsere Elektrofahrräder.

Damit könnten wir, finde ich – Herr Präsident, das sage ich auch als Anregung –, direkt hier im Hohen Haus anfangen. Unternehmen und Institutionen, die sich durch moderne Mobilität auszeichnen, haben entsprechende Lademöglichkeiten. Ich würde mir wünschen, dass der Landtag entsprechende Möglichkeiten für E-Pkws und für E-Bikes einrichtet, damit diese während der Plenarsitzungen bzw. während der Arbeitszeit aufgeladen werden können. Ich fände es gut, wenn das Landtagspräsidium sich dafür einsetzen würde.

(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

Ganz klar ist: Die Automobilindustrie hat diesen Innovationsmarkt verschlafen. Ich erinnere mich an einen Bundesparteitag der Grünen im Jahr 2000 in Münster. Da gibt es ja immer einen Markt der Möglichkeiten. Ungewöhnlich für einen grünen Parteitag war, dass mehrere Automobilhersteller anwesend waren: BMW, VW etc. Ich habe damals für die Fraktionsvorsitzende der Grünen gearbeitet und erinnere mich noch ganz genau daran, dass VW und BMW bei einem Messerundgang sagten: In fünf Jahren sind die E-Pkws und die Wasserstofffahrzeuge marktreif; bis 2010 haben wir 20 % Elektromobilität auf unseren Straßen.

Jetzt sind wir im Jahr 2016. Es gibt seit 2009 das Förderprogramm der Bundesregierung für 1 Million E-Mobile auf unseren Straßen, und wir sind heute nicht einmal bei 25.000 verkauften Fahrzeugen. Das macht deutlich, dass sowohl die deutsche Automobilindustrie hier geschlafen hat und diesen Innovationsmarkt nicht für sich erkannt hat als auch die entsprechende Anreizförderung nicht ausreichend ist.

Deswegen muss doch unser Appell in Richtung Bundesregierung sein, bei einem zweiten Elektromobilitätsgesetz gut zu überlegen, welche Anreizmechanismen hier geschaffen werden.

Es geht auch noch einmal der Appell an die deutsche Automobilindustrie: Wenn ihr nicht wie die deutschen großen Energieversorger enden wollt, also mit einem großen Problem im Innovationsbereich und was die Arbeitsplätze angeht, dann geht es heute darum, die Chance zu nutzen, mit guten Angeboten im Bereich von E-Autos die Zukunftsmärkte zu erschließen.

Das muss, finde ich, am Ende der Appell sein. Das richtet sich sowohl an den Bund mit guten Vorschlägen als auch an die deutsche Automobilindustrie. Wir brauchen hier Innovationen. Das werden wir aus Nordrhein-Westfalen auch entsprechend unterstützen und begleiten. – Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Klocke. – Als nächster Redner spricht für die FDP-Fraktion Herr Rasche.

Christof Rasche (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Arndt Klocke, ich stelle schon einmal die Unterschiede zwischen FDP und Grünen dar. Aber deswegen ist doch nicht alles schlecht, was ihr macht –

(Zurufe von den GRÜNEN: Oh! – Arndt Klocke [GRÜNE]: Schönen Dank!)

ein bisschen viel vielleicht, aber nicht alles.

(Beifall von der FDP)

Wir gehen schon vernünftig miteinander um. Das bleibt auch so.

Ich würde mir auch wünschen, dass man seitens der Grünen den VDV nicht nur in diesem einen Punkt hier thematisiert und zitiert, sondern in vielen Punkten, bei denen der VDV völlig anders denkt als die Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die FDP steht der Elektromobilität grundsätzlich positiv gegenüber, hat jedoch große Zweifel an der Wirksamkeit einer Kaufprämie. Die Zweifel werden von vielen Experten nicht nur aus der Wirtschaft, sondern auch aus der Wissenschaft geteilt.

Dazu kommt, dass die FDP die Finanzierung der Kaufprämie über eine erhöhte Dieselsteuer grundsätzlich ablehnt. Diese würde erneut Mittelstand und Handwerk in Nordrhein-Westfalen stark treffen. Das wird sicherlich gleich Wirtschaftsminister Duin hier an diesem Rednerpult bestätigen.

Zudem werden die E-Mobilitätsziele der Bundesregierung auch durch diese Subventionen bei Weitem nicht erreicht. Dazu müssen andere Fragestellungen gelöst werden, die sich vor allem auch an der Nachfrage orientieren.

Wir erleben das doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Beispiel der Erdgasfahrzeuge. Mit rund 900 Tankstellen gibt es in Deutschland eine hervorragend ausgebaute Infrastruktur. Trotzdem stagniert in diesem Bereich der Markt, weil die Autofahrer zu wenig über die Vor- und Nachteile der Erdgasmobilität wissen. Die Angst, unterwegs liegenzubleiben, ist einfach zu groß. Bei der Elektromobilität ist sie leider noch viel größer. Dort müssen wir einfach mehr informieren.

Für E-Mobilität gibt es heute kein tragfähiges Geschäftsmodell, und die Zukunft der Mobilität verändert sich rasend schnell. Auch ist vollkommen unklar, welche Infrastruktur wir tatsächlich benötigen. Wichtig wären daher Anreize für den Ausbau der halböffentlichen Ladeinfrastruktur. Es fehlt bisher eine intelligente automotivgerechte Fertigungstechnologie in Deutschland. Da sind uns andere Länder in Europa, aber auch darüber hinaus weit voraus.

Die Probleme bezüglich der Speicherbarkeit von Strom sind bei E-Autos die gleichen wie bei der Stromerzeugung durch Wind und Sonne. Die mangelnde Speicherkapazität bleibt die Achillesferse der Elektromobilität. Hier muss die Forschungsförderung in Bezug auf Batterietechnologie erheblich ausgebaut werden. Herr Rehbaum hat zwar eben aufgezeigt, was in Münster geschieht. Das reicht aber bei Weitem nicht aus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es noch einmal: Grundsätzlich steht die FDP der Elektromobilität positiv gegenüber. Sie wird sich aber nur durchsetzen, wenn wir die bestehenden Probleme lösen. Eine Erhöhung der Dieselsteuer zur Finanzierung einer Kaufprämie für E-Mobilität lehnt die FDP ab. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Rasche. – Die Landesregierung wird nun durch Herrn Minister Duin vertreten.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von den Piraten geforderten Maßnahmen sind – darauf ist gerade schon hingewiesen worden, unter anderem von der Kollegin Blask – in vielfacher Weise in der Umsetzung und auf den Weg gebracht. Der Masterplan Elektromobilität zeigt, dass in NRW mit einem umfassenden Bündel an Maßnahmen die Elektromobilität gefördert wird.

Insbesondere auch für einen wirksamen Klimaschutz ist das Thema „Mobilität“ insgesamt von wesentlicher Bedeutung. Der Verkehr mit den Handlungsfeldern Personenverkehr, Wirtschaftsgüterverkehr, Fahrzeugtechnik, Kraftstoffe sowie Verkehrsinfrastruktur ist auch deshalb einer der großen Sektoren im Klimaschutzplan. Die dort festgeschriebenen Strategien und Maßnahmen beinhalten ebenfalls in erheblichem Umfang die Stärkung der Elektromobilität in Nordrhein-Westfalen.

Unter anderem ist es unser Ziel, im Rahmen einer klimaneutralen Landesverwaltung den Elektromobilitätsanteil an der Fahrzeugflotte deutlich zu erhöhen.

Wir befürworten außerdem unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes die Minderung der verkehrsbedingten Luftschadstoffbelastung durch Maßnahmen zur Förderung der Elektromobilität.

Die Kaufprämie spielt in Ihrem Antrag sozusagen die auslösende Rolle. Das gilt auch für die Debatte, die wir dazu gerade in Berlin beobachten.

Nordrhein-Westfalen hat stets betont – und untermauert dies auch mit intensiven Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie mit der Förderung des Infrastrukturausbaus –, dass eine Kaufprämie nicht das entscheidende Element für die Akzeptanz und Verbreitung von elektromobilen Fahrzeugen sein wird. Vielmehr müssen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass Elektromobilität als verlässlicher Verkehrsträger wahrgenommen wird. Eine Kaufprämie wäre daher aus unserer Sicht eine finanzielle Ergänzung und nicht der entscheidende Startschuss für die Elektromobilität.

Die Piraten fordern in ihrem Antrag eine ganze Reihe von Maßnahmen, zum Beispiel zum Thema „alternative Antriebe und Verkehrsmittel“. Die Landesregierung engagiert sich seit Jahren nicht nur für das Thema „Elektromobilität“, sondern sieht das Thema der nachhaltigen Mobilität – das haben ja viele Redner für sich auch in Anspruch genommen – in einem größeren Zusammenhang. In den Landesförderwettbewerben wurden zahlreiche Vorhaben zu den Themen „Elektromobilität“, „Wasserstoff“, „Brennstoffzelle“ und entsprechende Infrastrukturvorhaben gefördert.

Mit der aktuellen Förderrunde der Leitmarkt und Klimaschutzwettbewerbe wird allen Interessierten in NRW weiter eine Möglichkeit zur Vernetzung und Förderung geboten. Aktuell werden innovative Ideen unter anderem im Bereich der Wasserstoff- und Brennzellentechnik sowie im Mobilitätsbereich im Förderwettbewerb HydrogenHyway.NRW gesucht.

Mit dem Netzwerk Mobilität der EnergieAgentur.NRW steht darüber hinaus ein etablierter Netzwerkpartner zur Verfügung, der NRW als attraktiven und führenden Standort für alle Aktivitäten im Bereich zukunftsfähiger Kraftstoffe und entsprechender Antriebe der Zukunft präsentiert.

Ein zweiter Punkt, den Sie in Ihrem Antrag aufgreifen, ist das Thema „Umweltboni/Umweltmali“. Sofern sich Umweltmali auf Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote für Fahrzeuge mit bestimmten Antriebsarten beziehen sollten, besteht für die Landesregierung keine rechtliche Handhabe, Maßnahmen, die über die sogenannte Kennzeichnungsverordnung hinausgehen, zu ergreifen. Die Landesregierung beabsichtigt im Übrigen auch nicht, die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel vorzuschreiben.

Im Weiteren gehen Sie auf die Innovation der mittelständischen Automobil-, Fahrrad- und E-Bike-Hersteller ein. Die nordrhein-westfälische Landesregierung ist sich des Potenzials der Elektromobilität als Wirtschaftsfaktor, als wichtiges Innovationsfeld und als Baustein einer klimaschonenden Mobilität der Zukunft für NRW sehr bewusst. Deswegen fördern wir die Elektromobilität seit vielen Jahren.

Mit den Förderwettbewerb „ElektroMobil.NRW“, aber auch den aktuellen Wettbewerben Produktion.NRW, IKT.NRW, Mobilität & Logistik. NRW, die mithilfe der EU-Mittel durchgeführt werden, wurden zahlreiche Projekte gefördert. Mit einem Fördervolumen von 110 Millionen € wurden Projekte mit einem Gesamtvolumen von knapp 150 Millionen € finanziert.

Bekannteste Beispiele für die Fördermaßnahmen sind sicherlich die Unterstützung und Realisierung des Streetscooters in Aachen, die mittlerweile weit über Deutschland hinaus bekannten Kompetenzzentren Batterie-, Fahrzeugtechnik und Infrastruktur sowie das erst vor Kurzem eingeweihte Forschungszentrum Elektromobilitätslabor Aachen, wo die mittelständische Industrie ihre Anwendungen und Prototypen testen kann. Ich durfte beim Startschuss dabei sein. Kollege Schultheis, wir haben uns vor Ort von der Innovationsfähigkeit dieses Labors überzeugen können.

Eine Erfolgsstory ist auch die Modellregion Elektromobilität Rhein-Ruhr. Im Rahmen der Modellregion und darüber hinaus werden diverse Flotten mit Elektrofahrzeugen auf den nordrhein-westfälischen Straßen betrieben.

Die notwendige korrespondierende Ladeinfrastruktur in Städten und Kommunen wird direkt parallel dazu aufgebaut. Wir fördern im Rahmen unseres Nahmobilitätsprogramms im Zusammenhang mit Fahrradabstellanlagen im öffentlichen Verkehrsraum auch Ladestationen für Elektrofahrräder. – Das wurde noch eingefordert. Es ist bereits auf dem Weg und Realität.

Beim Thema „Ladeinfrastruktur“ hat der Bundesrat erst jüngst die Ladesäulenverordnung beschlossen. Teil 2 wird für November erwartet. Die Bundesländer sind sich einig, dass ein Ausbau der Ladeinfrastruktur nur in enger Abstimmung funktionieren kann. Nur so wird gesichert sein, dass in allen Regionen der Bundesrepublik elektromobile Fahrzeuge an allen Säulen verlässlich aufgeladen werden können.

Wir engagieren uns stark in diesem Bereich und werden uns an einem für dieses Jahr geplanten Bund-Länder-Programm Normalladeinfrastruktur – das ist der Aufbau von Ladesäulen auf öffentlichen Flächen – beteiligen.

Im kommenden Jahr plant das Bundesverkehrsministerium ein Programm zum Schnellladen an Hauptverkehrstrassen. Auch hier nehmen wir bereits intensiv an der Erarbeitung dieses Programms teil.

ElektroMobilität.NRW als Kompetenzzentrum im Land berät zudem Privatpersonen, aber auch Kommunen und die Wirtschaft hinsichtlich der Anforderungen und Möglichkeiten der Ladeinfrastruktur. Diese Maßnahmen wirken sich nicht nur positiv auf den Ausbau des Infrastrukturnetzes aus, sondern stärken auch die nordrhein-westfälische Wirtschaft. Denn von dem Ausbau der Ladeinfrastruktur in NRW profitieren in ganz besonderem Maße die in Nordrhein-Westfalen angesiedelten Hersteller.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Landesregierung bereits seit vielen Jahren das Thema „Elektromobilität“ nicht nur im engeren Sinne unterstützt und der Antrag der Piraten somit an der falschen Stelle ansetzt. Ergänzende, begleitende Maßnahmen müssen in NRW nicht erst noch gestartet werden. Sie laufen bereits – und das erfolgreich. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Duin. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Hovenjürgen das Wort.

Josef Hovenjürgen (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Minister Duin, niemand ist in der Lage, Stillstand so schön zu beschreiben wie Sie.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Insofern kann ich nur sagen: Ja, die Landesregierung kann sicherlich ein ganzes Stück mehr tun. Das einzig Richtige am Piraten-Antrag ist, den Finger noch mal in die Wunde zu legen. Das, was Sie hier vorgetragen haben, war nicht unbedingt das, was man als Fingerzeig in die Zukunft erleben konnte.

Die CDU hat hier ja keinen besonderen Nachholbedarf, sondern hat im Gegenteil schon 2009 im Rahmen der schwarz-gelben Landesregierung den Masterplan „Elektromobilität NRW“ auf den Weg gebracht, um Batterietechnik, Fahrzeugtechnik, Infrastruktur und Netze zusammen mit relevanten Akteursgruppen zu entwickeln. Leider ist dieses Ziel danach seitens der Landesregierung nicht mehr mit dem nötigen Herzblut verfolgt worden. Das kann man schon daran erkennen, meine Damen und Herren,

(Zuruf von Michael Hübner [SPD])

dass es gar keine Bestrebungen gibt, als Landesregierung mit gutem Beispiel voranzugehen und etwa den eigenen Fuhrpark zu überprüfen. Kollege Rehbaum hat dies bereits ausgeführt.

Wenn man mit Menschen in der Wirtschaft redet, kann man erkennen, dass man zu wenig Unterstützung bekommt und zu wenig an die Hand genommen wird, um zu sagen: Lasst uns diese Ziele gemeinsam mit einer Landesregierung, die etwas erreichen will, vorantreiben.

Vielleicht sei mir der Hinweis gestattet, dass ich für eine erfolgreiche Elektromobilität auch eine intakte Verkehrsinfrastruktur brauche. Verschiedene Dinge gehören also in der Gesamtsituation einer Landespolitik zusammen, und darauf sollte man achten.

Wir waren vor Kurzem bei der E-world, und wenn man dort mit betroffenen Firmen redet, wird einem bewusst, was in diesem Land nicht richtig läuft und woran es krankt. Als bei der E-world gesagt wurde, natürlich sei man etwa mit der Umsetzung der Energiewende nicht glücklich, der Bund müsse da mehr tun, habe ich versucht, ein Stückchen Verständnis für die Bundespolitik zu erreichen, und gesagt, schließlich gebe es 16 Bundesländer, und jedes versuche, eine Energiewende zu betreiben. – Dafür erntete ich heftigen Widerspruch, es gebe nur 15 Landesenergiewenden; denn in Nordrhein-Westfalen gebe es gar keine.

Herr Minister Remmel, das ist vielleicht der Beleg dafür, dass Sie irgendwann einmal die Bereitschaft haben müssen, im Verantwortungsbereich Ihrer Politik endlich Rahmen zu setzen, damit wir es in Nordrhein-Westfalen bei der Entwicklung zum Beispiel der Energiewende nicht Gerichten überlassen müssen, welche Maßstäbe angelegt werden dürfen.

Hier darf eine Politik auch durchaus führen, und hier muss man den Mut haben, letztendlich eine gemeinsame, in der Regierung erarbeitete Zielsetzung auch in Gesetzgebung zu fassen. Das haben Sie bis heute nicht getan. Das, was wir in Nordrhein-Westfalen im Bereich der Energiewende etc. erleben, wird von Gerichten herbeigeführt. Die Rahmenbedingungen werden von der Justiz gesetzt, aber nicht von der politischen Führung.

Insofern, meine Damen und Herren, nimmt die Ministerpräsidentin zur Kenntnis – vielleicht kann sie das auch am Krankenbett; wir wünschen ihr natürlich gute Besserung –, dass es Sinn macht, die Energiepolitik in einem Haus zu bündeln. Mittlerweile komme ich zu dem Schluss, dass diese Energiepolitik im Hause Duin vielleicht doch besser aufgehoben wäre als im Hause Remmel. Insofern gebe ich die Empfehlung: Dort eine vernünftige und gute Politik zu machen, wäre sicherlich auch im Bereich von Elektromobilität erfolgreicher.

Ich will meine Redezeit nicht unnötig weiter in Anspruch nehmen. Die Landesregierung kann besser werden, sie muss besser werden. Elektromobilität ist ein Stiefkind in Nordrhein-Westfalen. Also Landesregierung: Kommen Sie in die Hufe. Füllen Sie endlich das, was wir auf den Weg gebracht haben, mit Leben. Seien Sie mutig, setzen Sie Ziele und schaffen Sie gesetzliche Rahmenbedingungen. Fangen Sie endlich an, zu arbeiten. Dann kommen wir in Nordrhein-Westfalen weiter. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Hovenjürgen. – Für die SPD-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Thiel das Wort.

Rainer Christian Thiel (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Debatte besteht eigentlich im Wesentlichen darin, dass jeder einmal etwas zu dem Thema sagt. Damit wird auch eine gewisse Bandbreite beim Thema „E-Mobilität“ deutlich. Der Kollege Hovenjürgen bemühte sich – nachdem von der CDU dazu schon etwas gesagt wurde –, dann noch einmal ein bisschen Zwietracht bei Rot-Grün zu thematisieren. Dieses Bemühen hat, glaube ich, wenig Erfolg gehabt. Es war auch mehr ein Pflichtbeitrag. Im Bereich der E-Mobilität aber sind wir damit sicherlich nicht weitergekommen.

Bei Ihrem Kollegen von der CDU stimmen die Bilder ja auch nicht. Bei E-Mobilität in die Hufe zu kommen, das stelle ich mir schwierig vor.

(Beifall von der SPD – Zurufe von der CDU)

Ihr Kollege sprach auch von „Gas geben bei der E-Mobilität“. Das ist vielleicht auch nicht das richtige Bild. Wir sind da also sicherlich, glaube ich, noch ein bisschen dabei, für das Thema die richtigen Bilder zu finden.

Auf jeden Fall ist es gut, dass wir heute über E-Mobilität bzw. darüber reden, wie der Verkehrssektor endlich seinen Beitrag zur CO2-Minderung leisten kann. „Die Energiewende auf deutschen Straßen ist bisher nicht mehr als ein Wunschdenken“, schreibt das „Handelsblatt“ dazu. Dass auch die Autobranche einen Beitrag leisten muss, ist längst überfällig. Der Verkehrssektor verursacht immerhin 80 % der CO2-Emmissionen. Er liegt aktuell sogar über den Ausgangswerten von 1990. Sein Beitrag zur CO2-Einsparung beträgt also weniger als null.

Wenn zukünftig 95 g CO2-Ausstoß je gefahrener Kilometer gelten sollen, brauchen wir Innovationen bei der Antriebstechnik und nicht Manipulationen bei der Software. Bisher gibt es lediglich 23.500 E-Autos. In diese Zahl eingeschlossen sind – das muss dazu ja auch sagen – Autos mit Hybridantrieb. Der Anteil bei den Neuzulassungen beträgt 0,7 %. Es besteht also Handlungsbedarf.

Volkswagen, Daimler und BMW drängen auf Kaufanreize, um das Geschäft anzukurbeln. Eine Prämie von 5.000 € soll den Anteil der E-Autos erhöhen. Ob das nachhaltig wirkt, ist eine durchaus berechtigte Frage. Die E-Autos von BMW haben derzeit eine geringe Reichweite. Das einzige E-Auto, das BMW im Angebot hat, hat eine Reichweite von lediglich 160 km. Hohe Preise und eine noch durchaus fragwürdige Umweltbilanz sind keine guten Verkaufsargumente. Dass man erst einmal über 40.000 km fahren muss, um den CO2-Mehraufwand bei der Herstellung zu kompensieren, zeigt, dass hier noch eine Herausforderung gegeben ist.

Der Kollege Klocke hat deutlich darauf aufmerksam gemacht: Die Automobilbranche muss in diesem Bereich innovativ werden. Sie muss, was das Antriebssystem angeht, insgesamt neue Dinge auf den Markt bringen. Ob das allein die E-Mobilität sein wird, wird man sehen. Wahrscheinlich wirkt eine Kaufprämie besonders bei den Hybridantrieben; denn eine E-Mobilitäts-Infrastruktur fehlt noch. Darum sollen ja auch 15.000 Ladestationen entstehen.

NRW – darauf ist eben aufmerksam gemacht worden – hat bereits einen Masterplan E-Mobilität, der explizit ein Fokusthema in der Strategie der Landesregierung darstellt. Richtigerweise – ich sage das auch in Richtung Piraten, die sich das einmal genauer angucken sollten – wird die E-Mobilität als Gesamtsystem betrachtet. Es reicht eben nicht aus, gute technische Einzelsysteme zu entwickeln. Minister Duin hat es bereits gesagt: In der Modellregion Rhein-Ruhr erfolgt bereits eine systemische Betrachtung in der Praxis. Dabei geht es um die Frage, wie all das zusammen im Gesamtsystem Verkehr wirkt.

Großen Handlungsbedarf gibt’s beim Thema „Batterie“. Die Batterien müssen effizienter und billiger werden. Es geht dabei um folgende Punkte: bessere Energiedichte, Leistungsdichte, Lebensdauer, Kosten, Sicherheit und letztlich auch Recycling. Man stelle sich nur einmal vor, dass all die 44 Millionen Pkws, die wir haben, große Batterieblöcke hätten. Dann hätten wir, was das Thema „Recycling“ angeht, eine große Herausforderung vor uns. Das alles muss noch mit bedacht werden.

Auch die Enquetekommission zur Zukunft der chemischen Industrie Nordrhein-Westfalens hat zum Thema „Elektrochemie“ gute Handlungsfelder angesprochen. Der Aufbau von Batterieforschungszentren ist hier schon genannt worden, und die Einrichtung eines Zentrums für Elektrochemie ist bereits in der Umsetzung. Die Vernetzung bestehender Einrichtungen zu einem Cluster Energieforschung NRW wird gefördert bzw. ist auf den Weg gebracht. Der Klimaschutzplan NRW greift das Thema „E-Mobilität“ – das betrifft sowohl die Strategie als auch die Maßnahmen – ebenfalls auf. Ich nenne einmal ein paar Beispiele: Maßnahme 84, Fortschreibung des Masterplans E-Mobilität, Forschung und Entwicklung zur E-Mobilität und alternative Antriebe mit geeigneten Projekten in den Leitmarktwettbewerben, und so weiter und so fort.

Die Situation in NRW, meine Damen und Herren, ist so, dass die Initiative aus Berlin, den Markthochlauf der E-Mobilität zu fördern, hier auf eine gute Voraussetzung trifft und auch zum Umsetzungsplan NRW zur E-Mobilität – denn den gibt es auch – gut passt. Es gibt also nicht nur einen Masterplan, sondern auch einen konkreten Umsetzungsplan, der übrigens, wenn ich das richtig wahrgenommen habe, vorsieht, dass die Landesflotte 10 % E-Mobilität erreichen soll.

(Minister Johannes Remmel nickt.)

– Der Herr Minister nickt. Ich liege damit also nicht völlig verkehrt.

E-Mobilität hat Potential, kann Innovationen antreiben, kann ein Baustein umweltgerechter Mobilität sein, die als Mobilitätsystem insgesamt gesehen werden muss, und ist wirtschaftlich sicherlich auch interessant. Gut gemacht, bedarf es weder Kaufprämien noch Malussysteme, die andere Nutzungen bestrafen. Das wollen wir nicht. Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben, wie sie ihre Mobilität zukünftig organisieren und den Zukunftsentwicklungen entsprechend anpassen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Was wir wollen, ist: mehr bewegen, und zwar mit Strom. – Schönen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Thiel. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort Herrn Kollegen Priggen von Bündnis 90/Die Grünen. Bitte.

Reiner Priggen (GRÜNE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Rehbaum, ich fange für Sie mit einem Zitat von Kaiser Wilhelm an. Das musste ich eben nachgucken. Es gibt das berühmte Zitat von ihm:

„Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“

– Wir wissen, dass sich der Mann da geirrt hat.

Ich möchte es trotzdem erwähnen, weil die Diskussion um Motoren spannend ist: Die älteste Motorenfabrik der Welt war und ist bis heute in Nordrhein-Westfalen, in Köln-Deutz. Die Deutzer Motorenwerke, 1864 von Otto gegründet, produzieren seit 151 Jahren Motoren. Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach haben da gearbeitet. Auch Ettore Bugatti hat dort gearbeitet und in Köln-Mülheim in einem Keller ein Rennauto entwickelt. Es besteht also eine uralte lange Tradition.

Trotzdem kann man das Gefühl bekommen, dass die Hochphase der Verbrennungsmotoren aufhört und wir uns in der Übergangssituation in Richtung Elektromobilität befinden. Wir wissen, dass die Verbrennungsmotoren technisch hervorragend sind. Aber wir kennen die großen Probleme, die wir gerade in den Ballungsräumen, in den Städten mit den Stickoxydbelastungen haben. Wir wissen, dass wir sie kaum wegbekommen.

Bei großen Motorenherstellern – wir sind neulich noch einmal bei den Deutzer Motorenwerken gewesen – geht mittlerweile die Hälfte der Kosten eines Motors in die Abgasbehandlung. Das heißt: Das Problem stellt sich uns, und es stellt sich uns immer stärker.

Deswegen ist es richtig, wenn man noch dazu weiß, dass ein Elektromotor ungefähr achtmal so lange wie ein Verbrennungsmotor hält, sich damit zu befassen. Wenn wir wissen, dass die Motorenherstellung und alles, was mit den Fahrzeugen zusammenhängt, der industrielle Kernbereich in der Bundesrepublik ist, stellt sich jetzt die Frage: Sind wir fit genug in diesem Bereich, oder kommen die neuen Techniken woanders her?

Nicht umsonst kommt der modernste und attraktivste Elektro-Pkw nicht von Mercedes, er kommt auch nicht von Porsche, sondern er kommt von Tesla, von einem Unternehmen, das mit Autoherstellung nichts zu tun hatte. Es ist nicht ganz aus der Welt, sich vorzustellen, dass Elektrofahrzeuge in unseren Ballungszentren unter Umständen demnächst von Apple oder Google kommen. Das wäre katastrophal gerade für unsere Automobilindustrie und die Arbeitsplätze, die daran hängen.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier Startschritte machen und nicht die Augen zumachen vor dem Hintergrund des Skandals bei Volkswagen – des Betrugsskandals – um die Täuschung mit den Emissionswerten. Es wäre wichtig, dass unsere Autoindustrie Angebote auf den Markt bringt, die alltagstauglich sind und die für diejenigen, die die Autos kaufen sollen, akzeptabel sind.

Da gibt es das Hochpreissegment von Tesla, und es gibt das, was in Aachen mit dem Streetscooter entwickelt wurde, ein Niedrigpreissegment für kürzere Strecken, was den Nachteil der Elektromobilität, nämlich die Reichweite, aufgreift, sodass es die Probleme nicht gibt.

Das, was wir machen müssen, ist, Einsatzmöglichkeiten bei uns zu nutzen: bei Bussen, bei Lieferfahrzeugen, bei Taxen, bei Pendlerfahrzeugen. Meines Erachtens werden wir nicht darum herumkommen, einen Anreiz zu setzen. Ich halte auch die Überlegung einer Anschaffungsprämie für richtig, um überhaupt in den Markt Bewegung hineinzubringen und dafür zu sorgen, dass unsere Autohersteller Angebote bringen. Sonst kaufen wir die Autos nachher woanders. Das wäre für das, was wir an Arbeitsplätzen in dem Bereich brauchen, jedenfalls die allerschlechteste Lösung.

Deswegen muss man die Bundesregierung natürlich daran messen, wenn sie sagt, 1 Million Elektrofahrzeuge bis 2020, und nicht meint, dass das Fahrräder sein sollen. Dann muss die Bundesregierung das auch irgendwann mit Maßnahmen hinterlegen. Das ist die Forderung. Wie das im Detail aussieht, wie diese Anreize aussehen sollen, darüber kann man streiten. Aber ohne die Anreize werden unsere großen Autounternehmen keine vernünftigen Angebote machen.

Zusätzlich müssen wir die Hausarbeit machen, nämlich Ladestationen und alles andere entwickeln, auch in den Kommunen. Wir müssen Parkhäuser haben, in denen man ein Fahrzeug aufladen kann, so wie wir es hier im Haus wahrscheinlich bekommen werden. Wir haben gehört, das Präsidium ist entsprechend am Arbeiten. Das alles sind vernünftige Begleitschritte. Auch die Standardisierung gehört dazu. Trotzdem braucht es den Schub, wenn wir nicht das, was an Arbeitsplätzen in dem Bereich daran hängt, verlieren wollen.

Deswegen ist die Aktuelle Stunde richtig gewesen. Es muss diskutiert werden. Wir werden auch in diesem Bereich vorangehen müssen, weil wir ansonsten genau diese Arbeitsplätze verlieren werden und sie woandershin abgeben werden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Priggen. – Für die Fraktion der Piraten spricht noch einmal der Kollege Bayer.

Oliver Bayer (PIRATEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Blask hat den Masterplan erwähnt, ein Sammelsurium, der immerhin einmal alles zusammenfasst.

Ja, natürlich brauchen wir ein Gesamtkonzept, Herr Thiel. Aber genau das sehe ich nicht. Wo ist denn der „Wums“, die Priorität? Selbst wenn ein Masterplan alles enthalten würde, muss man ihn doch sehen. Es müssen ihn doch alle im Land wahrnehmen, damit so ein Masterplan auch funktioniert.

Klar ist: Einen Batterietechnologiestandort im Energieland NRW kann man zwar als Politik initiieren, aber der funktioniert nur mit einer ganz außerordentlichen Kraftanstrengung, die ich hier längst nicht sehe.

Bei den Energielieferanten zum Elektroantrieb stellt sich die Frage, wenn es darum geht, Akkus auszuwählen: Welche Akkus? Gibt es vielleicht ganz neue Akkus oder gibt es Brennstoffzellen? Ich sehe da durchaus noch Luft für Anbieter außerhalb von Asien. Aber ich weiß, Energieland steht hier leider für veraltete Technik und Braunkohle.

Das, was vor allem wichtig ist, ist: Der Rest der Politik muss zu dem Plan passen und das Ganze annehmen. Das heißt: Die Verkehrspolitik muss darauf abgestellt sein, die Wirtschaftspolitik ebenso. Wenn es um landeseigene Gebäude und Grundstücke geht, muss man an dieser Stelle anfangen, vor allem wenn es um Lademöglichkeiten geht.

Wir haben hier im Landtag bereits 2014 über Elekt-romobilität gesprochen. Es gab einen Antrag der CDU „Elektromobilität ermöglichen“. Dazu gab es eine Anhörung, die sehr gut war. Es ging bei dem Antrag der CDU erst einmal um öffentliche Fuhrparks. Aber bei der Anhörung sahen die Experten die Elektromobilität als Teil eines neuen Energie- und Mobilitätsgesamtsystems an, und hervorgehoben wurde die große Relevanz einer Ladeinfrastruktur und von Ladestationen.

Daher kam dann 2014 auch unser Antrag mit dem schönen Titel „Vorweggehen beim Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge“. Hauptmaßnahme dabei war, landeseigene Gebäude und Parkflächen massiv auf Elektrofahrzeuge auszurichten und 10 % der dortigen Parkplätze mit Ladestationen auszustatten.

Hätten wir damals begonnen, wären wir heute schon weiter. Aber die Landesregierung tat da bisher nichts. Selbst wenn man auf Standards warten wollte, könnten die Vorbereitungen ja längst laufen. Wer auf andere wartet, kann eben leider nicht vorweggehen und fährt hinterher; so einfach ist das.

Sowohl Frau Blask als auch – deutlicher – Herr Rehbaum und Herr Klocke haben erwähnt, dass eigentlich der öffentliche Verkehr und andere Verkehrsmittel als Autos im Mittelpunkt stehen müssen und dass Nordrhein-Westfalen da auch eine Stärke hat, die man fördern kann. Bahnen werden ja meistens schon elektrisch betrieben. Die Umrüstung der Busse bzw. der ÖPNV-Flotte von Diesel auf diverse Elektrovarianten, und zwar als Landesprogramm, das wäre ein Konzept.

Bei Fahrrädern gibt es einen Hype. Bei der Politik geht es in Bezug auf die Fahrräder jetzt vor allem darum, diesen Hype nicht abzuwürgen, sondern mit der Verkehrsinfrastruktur zumindest hinterher zu gehen. Carsharing, Lieferverkehre, Taxis – es wurde alles genannt.

Momentan sieht es jedoch, vor allem bei den Automobilen, so aus: „Vorsprung durch Technik“ ist eine Werbeslogan, und dabei bleibt es dann leider auch. Die deutsche Automobilindustrie fährt augenscheinlich hinterher. Der Dieselgateskandal hat deutlich gemacht, dass rückwärtsgewandtes Management und die Politik zusammen die wirtschaftlichen Chancen verspielen. Merke: Eine Industrie, die das Betteln nötig hat, ist bereits tot.

Ich habe – wie Herr Klocke – Elektromobilität lange nicht als Feld der Politik gesehen. Einfach Autos mit Verbrennungsmotoren durch solche mit Elektromotoren zu ersetzen, löst die meisten Verkehrsprobleme – von Feinstaub zum Beispiel einmal abgesehen – nicht. Platzbedarf, Staus, Infrastrukturprobleme, das alles bleibt bestehen.

Aber – das geht an Herrn Rasche – es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Elektromotoren und Erdgas, nämlich: Bei den Elektromotoren handelt es sich um eine völlig andere Technologie. Man braucht die ganzen Erfahrungen der alten Autoindustrie überhaupt nicht mehr. Getriebe, Antrieb, Motor – alles ist überflüssig. Damit wird die Elektromobilität zusammen mit dem autonomen Fahren zum Killer-Feature für eine Verkehrswende oder eben nur für neue Marktteilnehmer, die unsere Bewegungsdaten verkaufen. Das liegt dann ganz bei der Politik.

Tesla kann das neue Apple sein, natürlich, kann aber auch das neue Netscape sein. Die Ausgangssituation für die Netscape-Herausforderer hier in Deutschland ist eigentlich ganz gut. Sie müssten nur „all in“ für eine Verkehrswende gehen, eine allumfassende moderne Verkehrswende, das ist die Chance. Die Chance wäre jetzt da. Der Mut fehlt leider offensichtlich.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Und die Zeit auch, Herr Kollege.

Oliver Bayer (PIRATEN): Mir fehlt auch die Zeit. So fährt Deutschlands Branche momentan der Sache hinterher. Das ist sehr schade.

Sehr schade ist auch, dass ich jetzt noch viele Umweltmali aufzählen könnte, die auf jeden Fall auch zum Gesamtkonzept gehören. Es geht nicht um eine Förderung in allen Bereichen, sodass man Verbrennung und Elektromobilität fördert; das bringt natürlich nichts. Man muss sich schon für eines entscheiden. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Kollege Bayer. – Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Remmel das Wort.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie haben es erwarten können – Reizreaktionsschema –, wenn Herr Hovenjürgen in diesem Parlament irgendetwas zur Energiewende sagt, dass das nicht unwidersprochen bleiben kann. So sehr ich Herrn Hovenjürgen auch außerhalb des Parlaments als redlichen Menschen schätze, so muss ich hier doch sagen:

(Heiterkeit bei der CDU)

Herr Hovenjürgen, dass Sie nicht rot angelaufen sind, als es darum ging, die Erfolge der schwarz-gelben Landesregierung in Sachen Energiewende hervorzuheben, erstaunt mich schon. Was das mit Ehrlichkeit und Redlichkeit zu tun hat, weiß ich nicht. Mir scheint es so zu sein, dass Sie offensichtlich auch einen Auftrag Ihrer Fraktion haben, sozusagen als vertuschungspolitischer Sprecher

(Widerspruch bei der CDU)

über die Schandtaten Ihrer Regierung hier hinwegzusehen.

Ich muss deshalb daran erinnern: Es war einer Ihrer Minister, der damals erklärt hat, die Windenergie in Nordrhein-Westfalen kaputt machen zu wollen. Das Ergebnis dieser Politik haben wir dann auch in schwarzen Zahlen mitbekommen: 2010 war der Windausbau irgendwie bei 90 MW.

Wir sind derzeit wieder bei 400 MW, und wir haben es geschafft, den Ausbau in diese Richtung zu bringen. Wir sind 2015 als Bundesland auf Platz 2 hinter Schleswig-Holstein. Es ist eine gewaltige Anstrengung, die wir hinter uns haben,

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

und das, meine Damen und Herren, trotz Ihrer Politik, die Sie an der Stelle jedenfalls in die Grütze gefahren haben.

(Zurufe von Josef Hovenjürgen [CDU] und von Christof Rasche [FDP])

Auf diesem Weg würden wir gerne weitergehen, Herr Hovenjürgen.

Sie mahnen an, dass wir landesgesetzliche Regelungen treffen sollen. Bitte sagen Sie uns, welche wir treffen sollen. Zurzeit behindern uns eher die bundespolitischen Diskussionen. Herr Hovenjürgen, da wären Sie sehr gefragt, bundespolitisch das eine oder andere auch im Zusammenhang mit diesem Thema zu bewegen.

Es war Ihr Bundesumweltminister, der Kollege Altmaier, der 2013 bei der letzten EEG-Novelle die Mieterstrommodelle kaputt gemacht hat mit einer Sonnensteuer, einer Umlage, die er eingeführt hat, und einer drastischen Verringerung der Möglichkeiten, Solaranlagen auch in Mietwohnungen unterzubringen und damit Elektromobilität sozusagen im Quartier zu unterstützen und zu fördern. Es ist auch Ihre Bundestagsfraktion, die zurzeit mit kruden Vorstellungen über Obergrenzen für Onshore – Wind an Land – Ausbaumöglichkeiten in unserem Bundesland zu behindern versucht.

Also, da wäre Ihre Unterstützung dringend gefragt, auch wenn es darum geht, erneuerbare Energien für Elektromobilität zu verwenden.

Ich möchte aber auch ein paar grundsätzliche Anmerkungen machen, wenn es um die Förderung dieses – für den Klimaschutz, aber auch für den Gesundheitsschutz in unseren Städten – wichtigen Feldes geht. Ich hätte die Bitte, für Nordrhein-Westfalen zumindest, über Elektromobilität auch als emissionsfreie Mobilität zu reden und das technikoffen zu diskutieren; denn wir haben in Nordrhein-Westfalen mit einer über 240 km langen Wasserstoffinfrastruktur durchaus große Chancen für eine andere technische Entwicklung der Mobilität.

Wir haben nämlich die Chance, in der Verknüpfung industrieller Prozesse Wasserstoff auch aus dem Bereich der erneuerbaren Energien umgewandelt als Treibstoff für Mobilität zu gewinnen. Auch in diesem Bereich gibt es bereits viele Forschungseinrichtungen und eine vorhandene Infrastruktur, um diese Technologie voranzubringen.

Im Übrigen haben wir ein Netzwerk in Nordrhein-Westfalen, das Wasserstofftechnologie befördert. Ich glaube, dass Wasserstoff auch ein technischer Pfad sein kann, zukünftig emissionsfreie Mobilität zu gestalten.

Ich möchte noch auf ein Paradoxon hinweisen, das uns zurzeit sehr bewegt. Auf der einen Seite müssen wir die Grenzen insbesondere der Gesundheitsbelastung der Menschen durch Stickoxide beachten. Dafür haben wir Umweltzonen eingerichtet und Maßnahmen zur Luftreinhalteplanung ergriffen. Wir stehen vor Vertragsverletzungsverfahren, die die Europäische Union angestrengt hat.

Auf der anderen Seite stehen uns kaum Mittel zur Verfügung, um Maßnahmen oder Instrumente auf den Weg zu bringen, die dazu dienen, die Gesundheit der Menschen besser zu schützen, was jedoch notwendig wäre. Deshalb brauchen wir neue Instrumente, neue Technologien wie E-Mobilität oder Wasserstoffmobilität, um emissionsfreie Innenstädte zu schaffen. Hierfür allerdings setzen die Bundesregierung und auch die Europäische Union meines Erachtens zu geringe Rahmenbedingungen.

Wenn es so weitergeht, werden wir in naher Zukunft Vertragsverletzungsverfahren führen und Zahlungen leisten müssen, ohne im Gegenzug Förderungen für erneuerbare Energie und emissionsfreie Mobilität zu erhalten. Das ist einfach irrsinnig, und deshalb besteht die dringende Notwendigkeit, dass uns die Bundesebene hilft, um aus dieser Umklammerung zu kommen.

Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der uns in der Tat sehr nachdenklich machen sollte. Im Übrigen ist es nicht so, Herr Bayer, dass wir uns nicht für Standards einsetzten. Es ist diese Landeregierung, die sich in Brüssel dafür eingesetzt hat, den wichtigen Standard für die E-Mobilität – dabei geht es um die Frage, welche Steckerkonfiguration eingeführt wird – auf den Weg zu bringen. Wir haben hierbei insbesondere nordrhein-westfälische Unternehmen im Blick gehabt, die jetzt aufgrund der Standardsetzung eine große Chance haben – jedenfalls auf dem europäischen Markt gerade im Bereich der Elektromobilität –, die wichtige Zulieferkomponente, nämlich die Steckerkonfiguration, tatsächlich in einer breiten Marktdurchdringung sicherzustellen.

Ich hatte vor ein paar Monaten einen sehr interessanten Abend mit Vertreterinnen und Vertretern aus der zweiten Reihe der Automobilindustrie und der Automobilzuliefererindustrie. Was die Kolleginnen und Kollegen dort sehr beschäftigt hat, war nicht die Frage, wie das mit der Energie- und dem Klimaschutz weitergeht, sondern sie hat vielmehr die Frage sehr beschäftigt, die eben auch schon Thema war: Was ist, wenn sich Google, wenn sich Amazon, wenn sich die Datenunternehmen dafür interessieren, sozusagen die industriellen Kernbereiche der Automobilindustrie oder auch sonstige industrielle Kernbereiche zu übernehmen?

Das muss uns doch in der Tat hellwach machen. Das muss uns so wach machen, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir es schaffen können, ähnlich wie bei der Energiewende, einen Systemwechsel bzw. eine Transformation hinzubekommen. Ich meine, es reicht nicht aus, nur über Förderprämien nachzudenken. Vielmehr müssen wir auch Hersteller an der Hand haben, die Elektrofahrzeuge in Deutschland produzieren. Insofern ist auch die Zulieferindustrie in Nordrhein-Westfalen darauf angewiesen, hier eine Orientierung und Richtungsvorgabe zu haben.

Deshalb sollte sich Förderpolitik auf Bundesebene auch darauf ausrichten, dass es zukünftig Herstellerinnen und Hersteller am Markt gibt, die Elektrofahrzeuge in den Markt einführen können.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Ihre Redezeit, Herr Minister.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Deshalb lassen Sie uns schauen, wo eine solche Förderung in der Welt gut funktioniert. Es gibt gute Beispiele, bei denen die Adressaten unter den Herstellern gesucht werden und ein entsprechender gesetzlicher Anspruch besteht, einen Anteil von E-Mobilität in den Markt einzufügen. Ein Beispiel, in dem das funktioniert, ist Kalifornien. Warum sollte das nicht auch in Europa oder der Bundesrepublik funktionieren?

Das heißt, nicht diejenigen, die die Autos kaufen, sind die Adressaten, sondern diejenigen, die sie herstellen; denn diese müssen ein Interesse daran haben, sich am Markt platzieren zu können. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister. – Für die CDU-Fraktion hat sich noch einmal Herr Kollege Hovenjürgen zu Wort gemeldet.

(Wolfgang Jörg [SPD]: Das Beste zum Schluss! – Gegenruf von Lutz Lienenkämper [CDU]: Das stimmt allerdings!)

Josef Hovenjürgen (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Remmel, es ist sicherlich richtig, dass wir uns als Union in Sachen Windkraft zu Zeiten Oliver Wittkes – den meinen Sie schließlich – anders verbal artikuliert haben. Aber sicher und richtig ist auch, dass wir uns korrigiert haben und auch bereit sind, konsequent zu agieren.

Diese Konsequenz fehlt Ihnen leider in Ihren Handlungssträngen; denn Sie bringen keine Rechtssicherheit in die Planungsabläufe zum Beispiel der Windkraftentwicklung in Nordrhein-Westfalen.

(Minister Johannes Remmel: Das sind doch Ihre Bürgermeister!)

Wenn wir über die Situation reden, wie wir heute Windkraft entwickeln, dann reden wir über Anlagen, die eine Leistungsfähigkeit von 3 MW und eine Gesamthöhe von circa 200 m haben. Das sind BImSchG-Anlagen. In diesem Bereich sind Sie zum Beispiel nicht willens, klare Regeln zu schaffen. Vielmehr erfolgen in Nordrhein-Westfalen Einzelfallprüfungen.

(Minister Johannes Remmel: Welche denn?)

Das heißt, jede einzelne Anlage muss separat geprüft werden, und am Ende kann sich kein Investor sicher sein, ob er das Ziel erreichen kann.

Wenn wir über Planungszeiten reden, dann reden wir von Planungszeiten zwischen fünf bis acht Jahren in einem BImSchG-Verfahren. Da braucht Herr Hübner auch nicht mit dem Kopf zu schütteln, denn das kann ich aus eigener erlebter Realität bestätigen.

Eines ist auch richtig: …

(Minister Johannes Remmel: Wir sind schneller als in jedem anderen Bundesland!)

– Sie sind nicht schneller als in jedem anderen Bundesland.

(Minister Johannes Remmel: Doch! Den Vergleich machen wir!)

Der Ausbau ist langsamer als in jedem anderen Bundesland, Herr Remmel,

(Minister Johannes Remmel: Das stimmt doch nicht!)

und am Ende können sich die Investoren nicht auf Sie verlassen, weil keine klaren Rechtsrahmen gelten. Dinge wie der dreifache Anlagenabstand zu Wohnbebauung sind ein erklagter Rechtsfakt. Die Unterschreitungsmöglichkeit auf den zweifachen Abstand bei Gutachten, die belegen, dass keine nachteilige Wirkung für die Wohnbebauung zu erwarten ist, ist ein erklagter Rechtsfakt. Es gibt kein durch die Regierung vorgegebenes rechtliches Handeln, sprich kein Gesetzeswerk. Sie überlassen es vielmehr Gerichten, auszutarieren, was in Nordrhein-Westfalen möglich ist, und das ist ein Versagen von Politik, und zwar Ihrerseits, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU – Minister Johannes Remmel: Ihr habt doch den Abstand eingeführt, nicht wir!)

Deswegen sage ich es noch einmal: Machen Sie Ihre Hausaufgaben, und zeigen Sie nicht permanent mit dem Finger auf andere. Sie haben durch Ihr Haus den Konflikt, der zwischen den Klimaschützern und den Umweltschützern besteht, bis heute nicht gelöst.

Dieser Konflikt verschärft sich im Übrigen. Denn wir erleben mittlerweile, dass auch Umweltverbände gegen Windparks klagen. Im Übrigen frisst da die Revolution ihre Kinder. Sie hatten sie sehr wahrscheinlich mit dem Verbandsklagerecht ausgestattet, um im Bereich der konventionellen Landwirtschaft agieren zu können. Dass es jetzt auch noch an den Bereich der regenerativen Energien geht, ist sehr wahrscheinlich nicht in Ihrem Sinne.

Also noch einmal ganz klar und deutlich, Herr Remmel: Das, was Sie hier abliefern, ist im Vergleich zu anderen Bundesländern zu wenig. Das müssen Sie sich gefallen lassen. Also, zeigen Sie nicht mit dem Finger auf Amtsvorgänger. Schließlich sind Sie seit sechs Jahren für das, was hier im Land passiert, verantwortlich.

(Minister Johannes Remmel: Das war ja auch eine gute Zeit!)

Sie haben bis heute keine Rechtssicherheit oder Grundlagen geschaffen.

Und auch mit Blick auf das angestrebte Bieterverfahren sage ich Ihnen eines ganz deutlich: Das wird das Ende der Bürgerwindparks und damit einer größeren Akzeptanz vor Ort sein, weil die Risiken, die in diesen Verfahren liegen, nicht kalkulierbar sind. Letztendlich werden nur noch Großinvestoren dieses Risiko mit Windkraftanlagen eingehen können. Denn die Menschen, die vielleicht bereit wären, sich vor Ort zu engagieren, sehen sich mit nicht mehr kalkulierbaren Risiken konfrontiert, und ihnen fehlen, weil Nordrhein-Westfalen sie nicht gesetzt hat, die Rahmenbedingungen, um selbst aktiv zu werden.

Es gibt also viel zu tun. Fangen Sie endlich an.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Hovenjürgen. – Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache und damit diese Aktuelle Stunde.

Ich rufe auf:

3   Lage und Perspektiven der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen

Große Anfrage 18
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/10146

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 16/11081

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die CDU-Fraktion Herrn Kollegen Wüst das Wort. Bitte.

Hendrik Wüst (CDU): Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Üblicherweise steht am Anfang der Debatte über die Beantwortung einer Großen Anfrage der Dank – der Dank an das Ministerium, an die Mitarbeiter, die die viele Arbeit in der Regel geleistet haben, und das in der Regel auch gewissenhaft und ausführlich. Dieser Dank fällt mir dieses Mal nicht ganz so leicht, obwohl ich nicht in Abrede stellen will, dass auch hier Arbeit geleistet wurde. Ich glaube allerdings, dass man sich bei der Beantwortung Großer Anfragen schon einmal mehr Mühe gemacht hat, um nicht zu sagen, dass hier partieller Komplettausfall, was die Leistung angeht, festzustellen ist.

Darüber wird noch einmal zu sprechen sein, was den Umgang der Regierung mit dem Parlament angeht. Es ist jedenfalls kein angemessener Umgang mit einem wichtigen Thema. Als Parlament beschränken wir uns, was die Großen Anfragen betrifft. Seit gestern ist die 20. Große Anfrage in dieser Wahlperiode auf dem Markt. Man kann also nicht sagen, wir würden inflationär von diesem Instrument Gebrauch machen. Die Regierung hat viel Zeit für die Erstellung ihrer Antwort, und wir nutzen dieses Verfahren in der Regel dafür, um komplexe Fragestellungen umfassend sachlich zu erörtern.

Die Zeit ist offensichtlich nicht genutzt worden, um umfassend Grundlagen für eine solche Erörterung zu schaffen.

Schlimmer noch: Die Beantwortung der Großen Anfrage macht deutlich, dass in der Landesregierung offensichtlich nahezu kein Wissen über die Situation der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen vorhanden ist. Die Antworten strotzen vor Ahnungslosigkeit, und man muss den Verdacht haben, dass kein sonderlich großes Interesse daran besteht, sich fundiert mit der Situation der Freien Berufe im Land auseinanderzusetzen.

Man kann fast schon Ignoranz vermuten gegenüber fast einem Drittel der Selbstständigen in unserem Land, einem Beschäftigungsfaktor, der fast so stark ist wie der im Handwerk. Da wäre mehr Mühe angemessen gewesen. Man muss den Verdacht haben, dass die Fragen an Kammern und Verbände weitergereicht wurden, und wenn dann vielleicht nicht alles in dem Maße zurückkam, wie es eine ordentliche Beantwortung nötig gemacht hätte, wurde nicht nachgefragt, sondern gesagt: Das schreiben wir mal rein, da soll der Wüst mal gucken, wie er damit klarkommt.

Ich nehme als Beispiel Seite 28 der Antwort. Mit unserer Frage 41 wollen wir wissen:

„Wie und mit welchem Inhalt hat sich die Landesregierung bei den Verhandlungen von Ceta eingebracht, um die Interessen der Freien Berufe zu stärken?“

Antwort:

„Die Landesregierung hat ihre Interessen gegenüber der Bundesregierung und den für die Verhandlungen zuständigen Stellen eingebracht und vertreten.“

Es ist also nicht einmal der Versuch unternommen worden, etwas über Inhalte zu sagen.

Wir wollten wissen, wie viele Freiberufler, zum Beispiel Ärzte in Krankenhäusern oder Ingenieure bei der Verwaltung, es in Nordrhein-Westfalen gibt. Antwort? – Fehlanzeige.

Sie wissen nicht, wie hoch der erwirtschaftete Anteil der Freien Berufe am Bruttoinlandsprodukt in NRW ist. Und wenn man dann nach der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der Freien Berufe im Land fragt, kommt die scharfsinnige Antwort: Die wirtschaftliche Lage ist in den Freien Berufen in allen Bundesländern nicht deutlich unterschiedlich. – Sie erfolgt also getreu dem Motto: Frankfurt/Oder, Bielefeld, Münster, Kevelaer, Schmallenberg – irgendwie alles gleich. Mailand oder Madrid? Hauptsache, Italien.

(Beifall von der CDU)

Mir stellt sich die Frage, wie man auf einer so dünnen Wissensbasis überhaupt vortragen kann, man wolle Politik im Sinne der Freien Berufe machen, weil sie ja so wichtig seien. Wenn man so wenig weiß, kann es mit der Politik und der positiven Wirkung derselben nicht weit her sein.

Wir wollten beispielsweise in Frage 15 wissen, welche Maßnahmen Sie ergreifen, um die flächendeckende Versorgung mit freiberuflichen Dienstleistungen im ländlichen Raum sicherzustellen. Wahrscheinlich hat man nicht einmal die Frage richtig gelesen, sondern sich nur gedacht: Ah, Freie Berufe, ländlicher Raum, da geht es bestimmt um Ärzte. – Und genau so ist die Antwort ausgefallen: Es geht in der Antwort nur um Ärzte. Es geht nicht um Ingenieure, Rechtsanwälte und Ähnliches. Man muss sich schon wundern.

Manches geht schlicht am Thema vorbei. Wenn wir beispielsweise fragen: „Wie will die Landesregierung die Attraktivität von Ausbildungsberufen bei Freiberuflern (z. B. PTA)“ – das steht für Pharmazeutisch-Technischer Assistent – „steigern?“, kommt der Hinweis auf „Kein Abschluss ohne Anschluss“. Dass Sie es mit der Streichung des Ausbildungszuschusses fast geschafft hätten, diese Ausbildung in Nordrhein-Westfalen plattzumachen, greifen Sie in Ihrer Antwort mit keinem Wort auf.

Ich muss leider sagen, dass diese wurstige Art der Beantwortung des Umgangs zwischen Regierung und Parlament und auch der Bedeutung der Freien Berufe mit 660.000 Mitarbeiterin in Nordrhein-Westfalen unwürdig ist.

Die Freien Berufe sind ein starker Wirtschaftsfaktor. Sie sind aber noch mehr. Sie sind nämlich auch ein starker Teil der Mitte der Gesellschaft. Subsidiarität und Selbstverantwortung sind die Stichworte, die wir in Sonntagsreden hören und auch selbst hochhalten. Dann muss man aber auch etwas dafür tun, und wenn man wissen will, was man dafür tun muss, muss man den Status quo kennen und sich auch mit den Details auseinandersetzen.

Das ist hier nicht ausreichend erfolgt. Vielleicht war viel zu tun. Vielleicht wurde die Bedeutung nicht ganz erkannt. Oder es ist jemandem durchgerutscht. Ich weiß es nicht.

Es reiht sich nahtlos ein in den fahrlässigen Umgang mit anderen wirtschaftspolitischen Themen. Bei den Start-ups geht nicht viel voran. Die Emscher-Lippe-Region tritt auf der Stelle. Wir haben Probleme in großen Teilen der energieintensiven Industrie. Ich sage nur: Stahl. All das ist eine Kette von Themen, bei denen man sich fragen muss: Warum passiert hierbei nicht mehr?

Heute soll es nur um die Freien Berufe gehen. Man könnte hier noch viel schlimmer motzen usw. Wir könnten noch ein paar andere Anfragen auf welchem Weg auch immer stellen, Kleine Anfragen und Ausschussanfragen. Dann schicken wir sie wieder an die Regierung. Die Regierung schickt sie wieder an die Verbände und Kammern. Dann stehe ich wieder hier und bin unzufrieden, weil auf dem Weg irgendwie etwas verloren geht.

Ich schlage Folgendes vor und mache das auch formal über den Weg der Obleutebesprechung: Wir nehmen all die Fragen mit in die nächste Sitzung des Wirtschaftsausschusses. Dann laden wir eine abgestimmte Liste von Verbänden zu einem Expertengespräch ein, wie wir es immer machen. Wir müssen keine große Anhörung durchführen. Dann stellen wir die Fragen selbst. Denn mir geht es nicht darum, der Landesregierung ständig zu sagen: Die Frage habt ihr wieder nicht ordentlich aufgearbeitet. Wir wollen ein paar Antworten haben. – Dann können wir es uns etwas einfacher machen und müssen die Landesregierung nicht wieder bemühen. Der erste Versuch dieses Bemühens war offensichtlich nicht sonderlich erfolgreich. Das ist mein Vorschlag. Der ist etwas außergewöhnlich, aber vielleicht kann man ihm einmal nähertreten. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Wüst. – Für die SPD-Fraktion spricht als Nächste Frau Kollegin Müller-Witt.

Elisabeth Müller-Witt (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst auch von meiner Seite ganz herzlichen Dank an das Ministerium für die Beantwortung der Großen Anfrage. Ich habe Verständnis dafür, wie die Beantwortung ausgefallen ist, denn Antworten können nur so gut sein, wie es der Fragenkatalog ist. Der Fragenkatalog war nicht entsprechend qualitätsvoll.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Was ist das denn für eine Logik? – Gegenruf von Michael Hübner [SPD]: Wenn Ihr Plattitüden austeilt, gibt es Plattitüden zurück! – Gegenruf von Lutz Lienenkämper [CDU]

Mit der Großen Anfrage zur Lage und den Perspektiven der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen wurde der Fokus auf eine keineswegs homogene Gruppe von Berufen gelenkt. Den Freien Berufen ist zwar gemein, dass sie eine Dienstleistung erbringen, aber damit endet schon fast die Gemeinsamkeit. Nach Deneke zeichnen sich die Freien Berufe dadurch aus, dass der Freiberufler bzw. die Freiberuflerin eine persönliche ideelle Leistung in beruflicher Unabhängigkeit erbringt, die weder delegierbar noch vervielfältigbar ist.

Der Dienstleistungssektor, zu dem die Freien Berufe gehören, erlangt auch im Industrieland Nordrhein-Westfalen nicht zuletzt aufgrund des stetigen Wandels von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft immer größere Bedeutung. Dabei ist gerade im Industrieland Nordrhein-Westfalen festzustellen, dass trotz oder auch gerade wegen des immer noch hohen Industriebesatzes die Gründerzahlen für Freie Berufe zu den höchsten in der Bundesrepublik gehören, was unter anderem wohl auch der dichten Hochschullandschaft geschuldet ist. Lediglich die Stadtstaaten Berlin und Hamburg liegen hierbei laut der jüngsten Veröffentlichung des BFB noch vor Nordrhein-Westfalen.

Dies spricht aus meiner Sicht für zweierlei: Zum einen heißt es, dass sich Industriegesellschaft und Freie Berufe respektive Dienstleistungsgesellschaft nicht per se gegenseitig ausschließen, sondern im Gegenteil zu Synergieeffekten führen können. Freie Berufe benötigen den industriellen Kern als Ort der Wertschöpfung. Sie existieren mit der produzierenden Wirtschaft in Form einer Symbiose.

Zum anderen zeigen die beeindruckenden Gründerzahlen im Segment der Freien Berufe auch, dass die Voraussetzungen für Gründungen hier im Land besonders gut sein müssen und dass die Landesregierung gute Arbeit macht.

Nach jüngsten Erhebungen kommen statistisch in Nordrhein-Westfalen auf jeden der rund 358.000 selbstständigen Freiberufler inzwischen fast zwei sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Beschäftigte, die im Bereich der Freien Berufe angestellt sind, stellen einen nicht zu vernachlässigenden Beschäftigungseffekt dar.

Wenn man sich die Zahlen etwas genauer anschaut, ist festzustellen, dass sich in den einzelnen Berufsgruppen auch die Veränderungen in unserer Wirtschaft widerspiegeln. So macht selbstverständlich Wirtschaft 4.0 vor traditionellen Berufsfeldern der Freien Berufe nicht halt. Während zum Beispiel die Zahl der Apothekerinnen und Apotheker unter anderem aufgrund des stetig wachsenden Onlinehandels in diesem Segments und der Erlaubnis des Betreibens von Filialen rückläufig ist, sind andererseits in der Kreativwirtschaft zahlreiche neue Berufsfelder entstanden. Gerade sie tragen in erheblichem Maße zur fortgesetzten Erfolgsgeschichte der Freien Berufe insgesamt bei.

Dabei unterscheiden sie sich nicht nur in ihrem Berufszweck, sondern auch in der Organisation des Berufsstandes. Während die sogenannten alten Freien Berufe durch gesetzliche Berufszugangsregeln und bewährte Selbstverwaltungsstrukturen in Form von Kammern, die auf die Einhaltung von Regeln achten, aber auch als Standesvertretung im weitesten Sinne verstanden werden und selbstverwaltet organisiert sind, haben sich die Vertreter der neuen Berufsfelder keine vergleichbaren Strukturen gegeben.

Was aber bislang alle gemeinsam auszeichnete, war der Fokus auf einen Qualitätswettbewerb im Gegensatz zu einem Wettbewerb im marktwirtschaftlichen Sinne über Preise. Auch diese Abgrenzung droht zunehmend zu verschwinden.

Die Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen – unabhängig davon, wie sie sich selbstverwaltet organisieren oder nicht – haben einen von ihnen unmittelbar erwirtschafteten steigenden Anteil am Bruttosozialprodukt. Darüber hinaus tragen sie über nicht unerhebliche Multiplikatoreffekte auch mittelbar zum Wirtschaftswachstum bei. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die neu hinzugekommenen Berufsfelder der Medien- und Kreativwirtschaft, eines Wachstumsmarktes, der nicht von ungefähr einer der acht Leitmärkte in NRW ist. Laut Wirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalen handelt es sich um einen bedeutenden Leitmarkt, der neben den anderen im Fokus der Landespolitik steht.

Das heißt: Trotz des Strukturwandels bei einigen wenigen traditionellen Berufsfeldern sind die Freien Berufe einer der Wachstumsmotoren unseres Landes – vielleicht weil sie sich kein Verharren in alten Strukturen leisten können, wenn sie weiter im Qualitätswettbewerb bestehen wollen.

In ihren Anstrengungen werden die Freien Berufe konsequent durch die Landespolitik unterstützt. So profitieren die Freien Berufe bei den Gründungen durch die Unterstützung durch die STARTER-CENTER NRW sowie durch die Beratungs- und Finanzierungsangebote der NRW.BANK und der Bürgschaftsbank, welche auch über die Gründung hinaus den Ausübenden der Freien Berufe zur Seite stehen.

Insgesamt ist festzustellen, dass Nordrhein-Westfalen gute Voraussetzungen für die Freien Berufe bietet. Dies schlägt sich nicht zuletzt in der Erfolgsbilanz der Freien Berufe in NRW nieder.

Deshalb begrüßt die SPD-Fraktion die Gelegenheit, diese Erfolgsbilanz in einer Plenardebatte diskutieren zu können. Wir werden uns sicherlich auch nicht verweigern, das im Ausschuss zu vertiefen.

Mit dem Komplex der regulativen Fragen und der europapolitischen Dimensionen wird sich gleich meine Kollegin Inge Blask befassen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Witt. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Frau Kollegin Dr. Beisheim das Wort.

Dr. Birgit Beisheim (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung der Freien Berufe wurde durch meine Vorrednerin bereits hervorgehoben. Ich möchte gerne ergänzen, dass der Verband der Freien Berufe aus seinem Selbstverständnis heraus nicht ohne Grund die Gemeinwohlorientierung als eines der tragenden Grundprinzipien der Freiberuflichkeit hervorhebt.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Initiativen der Freien Berufe zur Integration von Flüchtlingen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt beitragen. So engagieren sich beispielsweise die Kassenärztlichen Vereinigungen in Nordrhein-Westfalen und alle Heilberufe-Kammern in der Versorgung von Flüchtlingen und in der sozialen und beruflichen Integration. Die gesellschaftliche Verantwortung wird also erkannt und übernommen. Dafür möchte ich meinen Dank aussprechen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den PIRATEN)

Herr Wüst, wenn ich auf die Debatten der letzten vier Jahre in diesem Hohen Hause zur Wirtschaftspolitik zurückblicke, bestand bis auf die auch in Ihrem Beitrag wieder aufgewärmten Evergreens und das immer wieder vorangestellte Tariftreue- und Vergabegesetz Konsens im Bereich „Handwerk“.

(Zuruf von Hendrik Wüst [CDU])

Es bestand Konsens im Bereich „Förderung der Freien Berufe“. Ich denke mir, dass wir diesen Konsens nicht aufkündigen werden. Es ist heute genau ein Jahr her, dass wir an dieser Stelle fraktionsübergreifend einen Antrag verabschiedet haben, in dem wir die Unterstützung der Freien Berufe nach vorne gestellt haben. Gemeinsam haben wir verabredet, uns dafür einzusetzen, die Qualität der Dienstleistung und der Ausbildung auch künftig im bisherigen Maße weiterzuführen.

Ich habe noch einmal im Plenarprotokoll nachgelesen und muss sagen, dass die damalige Analyse meiner Kollegin Schneckenburger bezüglich der Risiken aus Freihandelsabkommen wie TTIP oder TiSA immer noch richtig ist. Ebenso teile ich die Einschätzung des Verbandes der Freien Berufe in dieser Angelegenheit. Ich zitiere:

„Denn nach wie vor ist nicht gesichert, dass die Schutzvorschriften für Kunden, Mandanten und Patienten, der kontinentaleuropäische präventive Rechtsansatz oder auch hohe Ausbildungsstandards erhalten bleiben.“

Um es ganz deutlich zu sagen: Reglementierungen dürfen nicht allein aus traditionellen Gründen aufrechterhalten werden, sondern bedürfen einer regelmäßigen Prüfung, ob sie noch zeitgemäß sind und ob ihre positiven Auswirkungen die Beschränkungen noch rechtfertigen.

Doch um die große Bedeutung der Freien Berufe für Nordrhein-Westfalen zu erhalten, dürfen wir ihre Leistungsfähigkeit nicht gefährden. Denn die Freien Berufe haben wegen ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Eigenständigkeit und des Willens zur persönlichen Verantwortung eine große Bedeutung in unserem Land, insbesondere für die flächendeckende Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel im Bereich der Medizin. Sie sind quasi Garant der Daseinsvorsorge.

Laut einer Studie des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn aus dem letzten Jahr weist das Gründungsgeschehen seit dem Jahr 2012 eine steigende Tendenz aus. Eine große Bedeutung haben dabei die urbanen Räume. Den vordersten Platz belegt dabei Bonn. Doch die Frage, warum und wieso bestimmte Städte bevorzugt werden und welche Probleme es in den ländlichen Räumen gibt, wird auch in dieser Studie aus dem Jahr 2015 nicht beantwortet. Es wird der Hinweis gegeben, es fehle das Datenmaterial.

Herr Wüst, deshalb ist es auch keine Arroganz, wie Sie es der Landesregierung unterstellen. In der Beantwortung dieser Anfrage wird vielmehr darauf hingewiesen, dass an einigen Stellen schlichtweg fundiertes Datenmaterial fehlt. Es ist unvollständig. Deshalb sollten wir zukünftig überlegen, an der einen oder anderen Stelle die Datenerhebung zu intensivieren, um die vorhandenen Förderinstrumente schärfen, die tatsächlichen Bedürfnisse besser erfassen und die Förderinstrumente daraufhin anpassen zu können.

Insgesamt zeigen die Antworten der Landesregierung, dass sie die Bedeutung der Freien Berufe für Nordrhein-Westfalen nicht nur erkannt hat, sondern diese durch ihre aktive Politik fördert und stützt. Sie kommt ihrer Verpflichtung aus Artikel 25 der Landesverfassung nach.

Herr Wüst, ich habe aufgrund meiner Erfahrung zumindest die Hoffnung, dass wir in dieser Sache weiterhin an einem Strang ziehen. Ich halte Ihren Vorschlag für zielführend; denn wir brauchen verbessertes Datenmaterial, um gemeinsam zu besseren Fördermöglichkeiten und Perspektiven der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen kommen zu können. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Beisheim. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Bombis.

Ralph Bombis (FDP): Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! Das Landeswassergesetz hat vordergründig mit den Freien Berufen herzlich wenig zu tun. Folgerichtig kommt das Wort in der Großen Anfrage der CDU und auch in der Beantwortung durch die Landesregierung gar nicht vor. Ich komme später noch einmal darauf zurück, warum das Landeswassergesetz doch etwas mit den Freien Berufen zu tun hat.

Ich möchte zu Anfang meiner Rede aber – wie es Herr Wüst bereits getan hat- hervorheben: Es ist gut, dass wir uns mit der Thematik befassen. Eine Viertelmillion Freiberufler in NRW und vor allen Dingen ihre hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Fachkräftenachwuchs verdienen das.

600.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeiten in diesem Bereich. Jeder einzelne Freiberufler schafft also noch einmal mehr als zwei Arbeitsplätze. Dazu kommen 120.000 Auszubildende, die einen hervorragenden Einstieg in das Berufsleben gewählt haben.

Dieses sehr erfolgreiche deutsche Ausbildungswesen mit seinen hohen Standards und Zukunftsstrukturen steht für eine hervorragende Qualität und damit für ein hohes Vertrauen der Menschen in unserem Land in diese Berufsgruppen und ihre Dienstleistungen. Freiberufler sind eben nicht nur Zahlen im Wirtschaftssystem, sondern sie sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft.

Die Qualität und die Anforderungen an Freiberufler bzw. die Voraussetzungen, die sie erfüllen müssen, sind in Deutschland traditionell sehr hoch. Das hat auch seine Berechtigung: Niemand möchte im Krankheitsfall von einem schlecht ausgebildeten Arzt behandelt werden. Wer ein Bauvorhaben plant, muss sich darauf verlassen, dass der Architekt sein Handwerk versteht. Bei einem Rechtsstreit möchte sich niemand von einem Rechtsanwalt vertreten lassen, der sich in der deutschen Rechtsordnung nicht auskennt.

Ich möchte deswegen als ersten Punkt für unsere Fraktion festhalten, dass wir eindeutig für den Erhalt dieser hohen Ausbildungs- und Qualitätsstandards in den Freien Berufen einstehen. Eine Absenkung solcher Standards ist mit der FDP-Fraktion nicht zu machen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP)

Es ist gut, dass wir in diesem Bereich in diesem Hause bisher fraktionsübergreifend einen Konsens haben.

Darüber hinaus will ich aber noch einen zweiten und einen dritten Punkt festhalten. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung – auch das ist, ebenso wie viele andere Punkte, in der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage sehr dünn beschrieben, wie der Kollege Wüst zu Recht angemerkt hat – und der Wirtschaft 4.0 – was in der Großen Anfrage seitens der Landesregierung immer noch als „Industrie 4.0“ bezeichnet wird; es ist deutlich mehr – und auch des demografischen Wandels ist unbestreitbar, dass sich die Freien Berufe weiterentwickeln werden und sich auch weiterentwickeln müssen.

Wir sagen deswegen: Gerade, weil Veränderungen notwendig sind, dürfen wir – ich sage das besonders auch aus Sicht der Liberalen – keine falsch verstandenen Deregulierungen vornehmen, die am Ende nur dazu führen, dass wir schlechtere Standards, weniger Arbeitsplätze, eine schlechtere Dienstleistungsqualität haben. Aus Sicht der Freien Demokraten möchte ich aber auch ausdrücklich festhalten: Bürgerinnen und Bürger in Deutschland verdienen diese hohen Standards.

Ich will noch auf einen dritten Punkt eingehen. In der Antwort auf die Große Anfrage hebt die Landesregierung – ich zitiere – „die Bedeutung der Freiberufler für eine prosperierende Wirtschaft, aber auch für eine intakte und zukunftsfähige Gesellschaft“ hervor. Das ist richtig. Es ist aber auch schnell geschrieben. Wenn dann aber die Frage nach der spezifischen bürokratischen Belastung durch die Politik gestellt wird, antwortet die Landesregierung, dass sich ihr der Sinn dieser Frage nicht unmittelbar erschlösse. Damit kommen einige Zweifel an der Richtigkeit und vor allen Dingen an der Aufrichtigkeit der vorherigen Aussage auf.

Wir sagen als Freie Demokraten ganz klar: Dieses Bekenntnis der Landesregierung zu den Freien Berufen darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Auch die heutige Debatte – deswegen ist es richtig, dass wir dieses Thema noch einmal in den Ausschuss nehmen – darf nur der Auftakt für Taten sein, die wir zur Stärkung der Freien Berufe erwarten, indem sich die Landesregierung zum Beispiel dafür einsetzt, dass die fatalen Pläne der Bundesregierung für eine Erbschaftsteuer nicht in die Tat umgesetzt werden, denn das würde auch die Freien Berufe und ihre Strukturen unmittelbar gefährden.

(Beifall von der FDP)

Wir erwarten außerdem vollen Einsatz zur Stärkung der erfolgreichen Selbstverwaltung der Freien Berufe durch ihre Kammern und ihre Versorgungswerke.

Schließlich erwarten wir mehr Mut beim Bürokratieabbau und weniger Elan beim Aufbau neuer bürokratischer Hürden und Belastungen. Denn nur dann ist – mit Blick auf das vorherige Zitat – zu erhoffen, dass sich dieser Landesregierung der Sinn von Bürokratieabbau vielleicht doch noch einmal irgendwann erschließt.

Es reicht eben nicht, ein Mittelstandsgesetz zu verabschieden, mit dem man angeblich auch gegen bürokratische Belastungen arbeiten will, und dann – damit komme ich auf das Landeswassergesetz zurück – zum Beispiel ein Gesetz wie dieses, von dem die IHK in Nordrhein-Westfalen sagt, dass es die mittelständischen Betriebe in unserem Land im Vergleich zu anderen Bundesländern belastet, nicht einmal der in diesem Mittelstandsgesetz vorgesehen Clearingstelle vorzulegen.

Das reicht nicht, meine Damen und Herren. Hier erwarten wir von der Landesregierung mehr. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege, Entschuldigung, ich wollte Sie nicht unterbrechen; mir war nicht klar, dass Sie sofort zum Ende kommen. – Die Kollegin Müller-Witt würde Ihnen gerne noch eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese am Ende noch zulassen?

Ralph Bombis (FDP): Aber selbstverständlich.

Präsidentin Carina Gödecke: Wunderbar. Vielen Dank.

Elisabeth Müller-Witt (SPD): Herr Kollege Bombis, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie sprechen immer wieder von Bürokratieabbau. Das ist ein gängiges, geliebtes Schlagwort, das überall als Allzweckwaffe eingesetzt wird. Sie haben zum Schluss ein Beispiel aus dem Mittelstand gebracht. Bringen Sie aber bitte einmal ein Beispiel für überbordende Bürokratie im Bereich der Freien Berufe und dazu, was dort konkret unternommen werden sollte!

Ralph Bombis (FDP): Ich glaube, Frau Müller-Witt, dass die Freien Berufe selber – sei es im Bereich der Steuerberater, der Rechtsanwälte und vor allem der Arztpraxen – diese Fragen sehr wohl beantworten können.

Was die Fragen nach der Abrechnung und dem Punktesystem angeht: Es ist konkret. Die Abrechnungen – sie wurden eben schon angesprochen – in den Arztpraxen: Reden wir doch einmal mit den Ärzten darüber, was wir da verändern können!

(Zuruf von der SPD)

Sie wollten ein konkretes Beispiel. Das ist ein konkretes Beispiel. Und ich freue mich auf die Diskussion.

(Unruhe – Zurufe von der CDU)

– Jetzt beruhigen Sie sich doch mal! Ich bin gefragt worden; dann lassen Sie mich doch auch antworten, lieber Herr Kollege. Sie müssen nicht direkt aufjaulen, wenn Sie getroffen werden. Wir können das gern im Ausschuss noch vertiefen. Ich bin der festen Überzeugung, wir werden noch viele andere Beispiele haben. Sie wollten von mir ein Beispiel hören, das war eines. Viele andere werden folgen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP – Zuruf von der SPD: Sagen Sie mal ein Beispiel!)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bombis. – Für die Piraten spricht Herr Kollege Dr. Paul.

Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Irgendwie habe ich das Gefühl, wir haben es gerade mit so einem Sturm im Wasserglas zu tun. Wir beschäftigen uns jetzt mit dieser Großen Anfrage der CDU, für die ich mich genauso wie für die Antwort der Landesregierung bedanke. Die erste und einzige Erkenntnis zunächst einmal aus der Antwort der Landesregierung besteht darin, dass wir ein Erkenntnisproblem haben.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass, wenn es andersherum gewesen wäre, wenn unter einer schwarz geführten Regierung die SPD diese Anfrage gestellt hätte, Ihre Antwort, Herr Wüst, besser ausgefallen wäre. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Aber viel besser!)

– Ja, ja. – Es gibt nämlich ein ganz pragmatisch vorliegendes einheitliches statistisches Erfassungssystem für die Freien Berufe leider nicht. Die Freien Berufe stellen eine äußerst vielfältige heterogene Gruppe dar – das wurde schon gesagt –: Selbstständige wie abhängig Beschäftigte, die „Katalogberufe“, die gesetzlich definiert sind und Kammern besitzen, aber eben auch artverwandte Tätigkeiten, zum Beispiel in den Heilberufen oder in der Kreativwirtschaft, die zu den Freien Berufen zählen, solange sie nicht einem Gewerbe zugeordnet sind.

(Zuruf von Lutz Lienenkämper [CDU])

Als Konsequenz aus der sehr heterogenen Gesamtlage konnten daher verständlicherweise – ich muss das noch einmal einräumen – nur fragmentarische Zahlen für einzelne Bereiche von der Landesregierung zusammengetragen werden.

Diesen Gesamtzustand müssen wir gemeinsam ändern. Von daher macht es auch tatsächlich Sinn, Herr Wüst, im Ausschuss darüber noch einmal zu reden und zu schauen, wie man dort zu Zahlen kommt. Denn wir haben es mit gewaltigen Veränderungen im Rahmen der digitalen Revolution zu tun, mit Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn die Politik dort ihre Kennzahlen nicht kennt, kann man natürlich nicht sinnvoll irgendwelche Gesetze beschließen. Von daher ist es ein Grundproblem, das ich jetzt nicht unbedingt der rot-grünen Landesregierung direkt anlasten möchte. Das ist eine Sache der Zeit.

Das zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass die Zahl der Freiberufler in der Kreativwirtschaft in Nordrhein-Westfalen noch nicht einmal erfasst ist. Aber ich denke, trotz der dünnen Datenbasis besteht vermutlich Konsens in diesem Haus, dass die Freien Berufe eine wichtige Funktion in der Wirtschaft erfüllen und ihre Bedeutung in Zukunft eher gewaltig zunehmen als schrumpfen wird.

Das möchte ich kurz begründen. Was zeichnet die Freien Berufe aus? Im Partnerschaftsgesellschaftsgesetz § 1 Abs. 2 ist festgehalten, dass sie

„auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit zum Inhalt“

haben. Es handelt sich meist um die eigenverantwortliche Erbringung dieser Dienstleistung für einen Auftraggeber, der aber oft selbst nicht in der Lage ist, die Qualität dieser Leistung auch zu beurteilen.

Ein Industrieprodukt – das wissen wir alle –, das fehlerhaft ist – es ist ja gerade passiert –, kann man im Zweifel zurückgeben. Auf die Leistungsfähigkeit eines Arztes oder eines Rechtsanwalts muss man vertrauen dürfen. Es handelt sich daher auch in hohem Maße um Vertrauensgüter. Dieses Vertrauen darf auch nicht durch einen Dritten missbraucht werden. Ärzte und Rechtsanwälte, die zu den Berufsgeheimnisträgern gehören, haben sich daher deutlich gegen die erneute Einführung der Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen.

Wir Piraten hätten uns gewünscht, die Kollegen von CDU und SPD hätten diese Kritik dahin gehend berücksichtigt, die anlasslose Komplettüberwachung ein für allemal zu begraben.

(Beifall von den PIRATEN)

Denn leider gibt es neben dem Staat auch noch kriminelle Privatpersonen, die Zugriff auf die Daten haben wollen. Wir sind ja erst wieder Zeugen geworden. Gestern ist der Fall der Krankenhäuser debattiert worden. Das Vertrauen der Patienten in die sichere Speicherung ihrer sensiblen Daten wird dadurch sicher erschüttert. Darüber hinaus fragen sich auch viele Freiberufler, wie sie IT-Sicherheit gewährleisten können. Dazu gibt es, Herr Minister, einige Informationsangebote der Landespolitik. Ich denke aber, die müssten in ihrer Qualität und in ihrem Umfang noch deutlich ausgeweitet werden. Die Digitalisierung macht ja auch vor den Freien Berufen nicht halt.

Das Thema ist für mich durchaus auch emotional besetzt, weil ich von 1994 bis 1998 selbst zu dieser Berufsgruppe gehört habe: erfolgreiche Selbstständigkeit im Bereich IT-Beratung, Buchautorenschaft usw. Ich möchte Ihnen einmal durch ein Beispiel verdeutlichen, was dort los ist, gerade in diesem Kreativbereich. Da fragt mich ein potenzieller Kunde: Herr Dr. Paul, kennen Sie sich aus mit der norwegischen Simulations-Software Powersim? Ich möchte ein Managementseminar auf der Grundlage dieses Simulators anbieten. Ich habe dann geantwortet: Nein, aber wenn Sie das möchten, kenne ich mich morgen damit aus.

Viele agieren auch so in diesem Markt. Also: Nachts wird gelernt, tagsüber wird gearbeitet, und geschlafen wird kaum. Das ist gerade im Kreativbereich, im IT-Bereich ein unglaublicher Durchsatz an Information, die immer wieder umgewälzt wird, die in einigen Fällen – ich hatte damals Kurse zum Thema Multimedia gegeben; das Wort benutzt heute kaum jemand mehr – irgendwann wieder in den gesellschaftlichen Orkus fällt, weil andere Dinge in den Vordergrund treten.

Also, die Nachfrage nach hochqualifizierten Dienstleistungen, gerade durch die digitale Revolution, wo die Kernleistung oft in der Lösung von kreativen und komplexen Fragestellungen liegt, die sich eben nicht algorithmisieren lassen, wird in Zukunft steigen. Auch andere Faktoren wie beispielsweise der demografische Wandel, der die Bereiche Pflege und Gesundheit beeinflusst, wirken sich sicher positiv aus.

Die wachsende Bedeutung der Freien Berufe lässt sich bereits aus den Daten der Großen Anfrage absehen – wohlgemerkt, aus den dünnen Daten. Wie gesagt: Vorsicht mit den Zahlen! Eine Zunahme von selbstständigen Rechtsanwälten von 110 % seit 1991 ist nicht automatisch eine positive Entwicklung. Sie kann ebenso bedeuten, dass die Gesellschaft mehr Mittel für Rechtsangelegenheiten aufwenden muss oder es weniger angestellte Rechtsanwälte gibt. Ich will mit dem Beispiel nur sagen, dass es zu Verschiebungen auf den Tätigkeitsmärkten kommt. Da muss die Politik die Zahlen einfach kennen. Das noch einmal als Aufruf.

Übrigens wird auch in manch anderen Bereichen der Wirtschaft der angebliche Fachkräftemangel bemüht, um vor den selbstgemachten unattraktiven Rahmenbedingungen abzulenken.

Ich bin aber überzeugt, dass wir die Sorgen um den Fachkräftenachwuchs bei einigen der Freien Berufe ernst nehmen müssen.

Alles in allem liegen die Freien Berufe im Trend der heutigen Wissensökonomie. Es gibt aber auf internationaler Ebene noch einige Irritationen. Zum einen geht es um die Transparenzinitiative der Europäischen Union. Wir Piraten stehen der derzeit laufenden Überprüfung der Regulierungsfragen nicht pauschal ablehnend gegenüber, die Qualität der Dienstleistungen muss aber gesichert bleiben.

Zum anderen wird das Freihandelsabkommen TTIP auch von den Freien Berufen mit großer Sorge betrachtet, und das zu Recht. Die Auswirkungen des geplanten Abkommens auf die Dienstleistungsbranche sind nach wie vor nicht absehbar. Die mangelnde Transparenz mit ihrer neuesten Verbesserung mit diesen Leseräumen für einzelne Abgeordnete, die danach den Text des Abkommens tanzen können, ist nach wie vor ein Schandfleck für unsere Demokratie.

(Beifall von den PIRATEN)

Da werden gewählte Volksvertreter von der Rezeption der Verträge ausgeschlossen oder eingeschränkt. Für uns Piraten ist sicher, was diese Standards angeht: Einem „Race to the bottom“ der Qualitätsstandards zwischen den Kontinenten werden wir uns nicht anschließen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Für die Landesregierung spricht jetzt Herr Minister Duin.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man Zuschauerinnen und Zuschauern und Zuhörern erklären will, warum Herr Wüst am Anfang hier so reagiert hat, wie er das auf die Beantwortung der Großen Anfrage getan hat, muss man das wie folgt erläutern: Wenn Herr Wüst mich fragt, wie spät es ist, dann schaue ich auf die Uhr und sage ihm: Es ist 14:16 Uhr. – Dann entgegnet Herr Wüst: Das mag ja alles sein, aber du hast nicht gesagt, wie viele Sekunden. – Wenn du ihm die Sekunden auch noch nachlieferst, dann sagt Herr Wüst: Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, wie spät es in New York, Rio, Tokio ist. – Es geht hier offensichtlich nur noch um Kritik um der Kritik willen.

Da Sie ja Wert darauf gelegt haben, dass Sie hier richtig zitiert werden, möchte ich darauf hinweisen, dass Sie eines gesagt haben – und da möchte ich meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium ausdrücklich im Schutz nehmen –: Die Beantwortung Ihrer Fragen war alles andere als „wurschtig“, sondern ist nach allen fachlichen Kriterien ordentlich gemacht worden. Wenn etwas mittlerweile in diesem Hause wurschtig ist, dann ist es der Umgang der CDU mit wirtschaftspolitischen Fragestellungen. Das kann man meines Erachtens festhalten, das haben wir gestern auch erlebt.

(Beifall von der SPD)

Zurück zu den Freien Berufen, die eigentlich der Anlass dieser Debatte sind und die wenig Anlass geben, sich in einen parteipolitischen Streit zu begeben. Darauf komme ich zum Schluss noch einmal zurück. Klar ist, diese Große Anfrage hat zunächst einmal einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Wert. Denn mit so einer Debatte über die Freien Berufe kann man als Parlament und als Landesregierung zeigen, dass die Freien Berufe nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive, sondern insbesondere wegen gesellschaftlicher, wegen gesundheitspolitischer, rechtspolitischer und vieler weiterer Aspekte zu schätzen sind.

Aber man kann natürlich sachliche und politische Schlüsse ziehen. Einer der zu ziehenden Schlüsse ist – und damit müssen wir uns abfinden –, dass die Freien Berufe teilweise ein ziemlich unbekanntes Wesen sind, das sich der Erfassung durch die amtliche Statistik manchmal entzieht. Es gibt, wenn man sich damit befasst, eine ganze Reihe von Einzelpublikationen zu den Freien Berufen, aber es gibt eben keine Erfassung im Sinne eines statistischen Gesamtwerkes. Und an diese Grenze ist auch die Beantwortung der Großen Anfrage 18 geraten, die nur auf die Daten zurückgreifen konnte, die den einzelnen Ressorts der Landesregierung auch zur Verfügung stehen.

Man kann sich an dieser Stelle die Frage stellen, ob man, eventuell auch gemeinsam, noch einen weitergehenden Untersuchungsauftrag formulieren sollte. Ich denke da beispielsweise, Herr Bombis, an die intensive Arbeit der Enquetekommission „Handwerk“ des NRW-Landtags, von der uns allen ja viele positive Eindrücke berichtet werden. Aber ob der Erkenntnisgewinn zum Thema Freie Berufe auch im Verhältnis zum Aufwand dann deutlich höher wäre als bei der vorliegenden Antwort auf die Große Anfrage, da habe ich meine Zweifel.

Ich hoffe, dass wir uns in einem einig sind, weil das gerade ja noch einmal thematisiert worden ist: Wir sollten die Antworten auf die Große Anfrage nicht als Anlass dazu nehmen, noch mehr amtliche Statistik bei den Freien Berufen einzufordern. Ich denke, dass hier überhaupt nicht irgendein politisches Steuerungserfordernis liegt, das noch mehr Bürokratie rechtfertigen würde, um noch ein paar Daten mehr zu haben. Ich hoffe, dass wir uns in diesem Punkt einig sind.

Wir haben gerade gesehen, dass Herr Bombis von dem Thema Bürokratie nur so eine ungefähre Ahnung hat, weil er bei der ersten Nachfrage schon so blank war wie nie.

(Beifall von der SPD)

Sie wissen, dass ich Sie als häufigen Redner hier auch zu den wirtschaftspolitischen Fragen schätze. Aber so blank wie bei der Nachfrage der Kollegin Müller-Witt habe ich Sie noch nie erlebt. Bei aller Liebe, über das Wassergesetz können wir ja lange streiten, aber wenn Sie eine Debatte über eine Große Anfrage zu den Freien Berufen zum Anlass nehmen müssen, um das Wassergesetz heranzuziehen, würde ich Ihnen empfehlen, alle Freien Berufe einzuladen, um mit denen über das Wassergesetz zu diskutieren. So neben der Sache habe ich selten etwas erlebt.

(Beifall von der SPD)

Kommen wir zurück zu den Antworten. Denn einige Einzelerkenntnisse sind dann doch wichtig und erfreulich. Ich will jetzt gar nicht auf die Themen Justiz, Gesundheit oder Bauen, weil das die Kolleginnen und Kollegen machen können, eingehen.

Für mich als Wirtschaftsminister steht die Frage im Vordergrund, welche Bedeutung die Freien Berufe in ihrer Gesamtheit haben. Da ist zunächst einmal die grundsätzliche Eigenschaft der Freien Berufe, der Gesellschaft einen Mehrwert durch die kompetente, durch die persönliche Leistung zu erbringen für die oftmals sehr individuellen Fragen der Menschen, der Unternehmen und auch der Verwaltung und der Landesregierung.

Deswegen ist es sehr erfreulich, dass die Zahl der selbständigen Freiberuflerinnen und Freiberufler zwischen 1991 und 2015 deutlich zugenommen hat. Ein Plus von 153 % ist ein beeindruckender Wert nicht nur für die Freiberufler selbst, sondern auch für die Gesamtwirtschaft.

Es ist in der Debatte gerade schon betont worden, dass Nordrhein-Westfalen weiterhin ein Land der Industrie ist, was gerade in den letzten Jahren sehr deutlich hervorgetreten ist, dass man mit einem so hohen Anteil sehr besser durch die wirtschaftlichen Krisen kommt. Der Zuwachs bei den Freien Berufen ist jedoch ein wichtiger Hinweis darauf, dass wir eben auch einen starken Dienstleistungssektor haben, der insbesondere durch Neugründungen sehr belebt wird. Diese Dienstleistungen unterstützen dann eben auch die Industrie.

Herr Dr. Paul hat ja gerade ein ganz konkretes Beispiel dazu im Bereich der Kreativwirtschaft bzw. der IT-Wirtschaft genannt, um diese vermeintlich konventionelle Industrie dann auch im Bereich der Transformation entsprechend in Stellung zu bringen.

Da sind Freie Berufe häufig ganz wesentlich, um das überhaupt zu schaffen.

Es freut mich auch, dass wir feststellen konnten, dass Nordrhein-Westfalen im Bundesvergleich sehr attraktiv für Freie Berufe ist. Das Institut für Mittelstandsforschung in Bonn weist für 2014 nach, dass von den 81.100 freiberuflichen Gründungen 21.700 in NRW erfolgten. Das sind rund 27 %, also ein deutlich überproportionaler Anteil. Entsprechend liegen wir bei der Anzahl freiberuflicher Gründungen auf 10.000 Einwohner hinter Berlin und Hamburg auf dem ersten Platz unter den Flächenländern.

Diese Werte sehe ich als deutlichen Beleg für die große Bedeutung der Freien Berufe in NRW. Mit Freude sehe ich, dass deren Entwicklungsdynamik in Verbindung mit dem Strukturwandel erfolgt und diesen befeuert. Freie Berufe entwickeln sich dort am besten, wo große Unternehmen und Verwaltungen, aber auch herausragende öffentliche und private Einrichtungen für Forschung, Medien und Kultur sind. Deshalb sind die Freien Berufe in NRW besonders stark in den Metropolregionen an Rhein und Ruhr vertreten; ich nenne hier Bonn, Köln und Düsseldorf.

Welche Schlüsse ziehen wir aus der Bedeutung der Freien Berufe? Auch hier will ich nicht auf die einzelnen Aspekte der Fachkolleginnen und Fachkollegen in der Landesregierung eingehen. Aber ich will noch einmal sehr klar untermauern, dass wir in Fragen der Freien Berufe in diesem Parlament einen Konsens hatten: Wir halten Kurs beim Schutz der Freien Berufe gegen Deregulierungsinitiativen aus Brüssel, zum Beispiel die Transparenzinitiative. Der Landtag hat hierzu – Frau Dr. Beisheim und andere haben darauf hingewiesen – mit dem Antrag „Europäisches Semester kritisch begleiten – Freie Berufe in Nordrhein-Westfalen unterstützen“ im vergangenen Jahr ein klares Zeichen gesetzt.

Ich will das Beispiel, das ich damals benutzt habe, gerne noch einmal aufgreifen, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer verstehen, worum es geht. Stellen Sie sich einen Patienten mit einem schräg liegenden Weisheitszahn auf dem Weg zum Zahnarzt vor. Mit geschwollener Wange ist nicht mehr viel zu verhandeln.

Es geht eben nicht um den Kauf eines Haushaltsgerätes, für das ein Preis-, ein Qualitätsvergleich möglich ist, auf deren Grundlage man dann noch bei verschiedenen Händlern vielleicht verhandeln kann. Der Patient mit dem Weisheitszahn muss davon ausgehen können, dass Preis und Leistung stimmen, aber auch davon, dass jemand auf die Fortbildung des Zahnarztes achtet, dass es bei einem möglichen Kunstfehler, den man ja nicht ausschließen kann, Schlichtungs- und Haftungsmechanismen gibt. Er muss vor allem wissen, dass er es mit jemandem zu tun hat, der einem Berufsethos der persönlichen und qualifizierten Leistungserbringung unterliegt. Das haben wir damals in einem großen Konsens im Landtag zum Ausdruck gebracht. Dazu stehen wir Gott sei Dank ohne Zahnschmerzen auch weiterhin.

Ich bin sicher, dass uns die Debatte, die im Ausschuss angestoßen worden ist, weitere Erkenntnisse bringen wird, wenn wir mit den einzelnen Gruppen aus den Freien Berufen diskutieren.

Ich bin ebenfalls fest davon überzeugt, dass sich die Unterstützung der Freien Berufe in Nordrhein-Westfalen wenig für großen Streit eignet, sondern dass wir gut daran tun, wenn wir so wie vor einem Jahr bei dem Antrag gegen die Transparenzinitiative seitens der EU einen möglichst breiten Konsens zur Unterstützung von Freien Berufen in Nordrhein-Westfalen haben. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Duin. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Frau Kollegin Blask das Wort.

Inge Blask (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Freiberufler sind als Ärzte, als Altenpfleger, als Dozenten, als Journalisten oder als Künstler tätig. Das zeigt die Vielfalt. Mit ihren Tätigkeiten tragen die Menschen in Freien Berufen zur Entwicklung und zur Sicherung unseres Gemeinwesens bei und versorgen die Bevölkerung mit notwendigen Dienstleistungen von hoher Qualität.

Die Freien Berufe haben eine lange Tradition und folgen den festen Prinzipien der Eigenverantwortung, Gemeinwohlverpflichtung, Unabhängigkeit, Professionalität und Selbstkontrolle, die sie bei aller Unterschiedlichkeit verbindet.

Die Freien Berufe stellen in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor dar, der in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat. Deutschlandweit sind in den Freien Berufen aktuell über 4,6 Millionen Erwerbstätige als Selbstständige, Beschäftigte oder Auszubildende tätig.

Der Antwort auf die Große Anfrage ist zu entnehmen, dass in Nordrhein-Westfalen mehr als 270.000 Menschen als Freiberufler tätig sind. Hinzu kommen noch einmal knapp 600.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die im Bereich der Freien Berufe in NRW angestellt sind. Dementsprechend stellen die Freien Berufe einen wichtigen Faktor für die Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen dar, aber auch für das Leben aller Bürgerinnen und Bürger.

Wie der Antwort auch zu entnehmen ist, ist sich die Landesregierung ihrer wichtigen Rolle bei den Freien Berufen bewusst und arbeitet daran, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Der Minister hat es gerade schon erwähnt: Die Europäische Kommission hatte analysiert, dass in Deutschland die politischen Maßnahmen zur Belebung des Wettbewerbs in den Freien Berufen und das Produktionswachstum bei den freiberuflichen Dienstleistungen zu gering seien und entsprechend Spielraum bestehe, um die Entwicklung der Beschäftigung in den Freien Berufen zu verbessern. So seien insbesondere Architekten, Ingenieure und Anwälte zu stark reguliert, und der Preiskampf durch die entsprechenden Gebührenordnungen eingeschränkt. Im Hinblick auf die Zutrittsschranken zu den verschiedenen Berufen seien zudem die Pflichtmitgliedschaften in Berufsverbänden bzw. in Kammern zu überdenken oder die Zulassungsvoraussetzungen zu lockern.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat daraufhin auf der Grundlage unseres hier beschlossenen Antrags über den Bundesrat gegenüber der Europäischen Kommission die Sicherung der bewährten Berufszugangsregelung in Deutschland eingefordert und nutzt alle Möglichkeiten, sich für den Erhalt der Kammern sowie der bestehenden Kosten- und Honorarordnungen zu engagieren, um negativen Entwicklungen für die Freien Berufe entgegenzuwirken.

Vor dem Hintergrund, dass die anerkannt hohe Qualität der Freien Berufe in Deutschland und der Verbraucherschutz im europäischen Binnenmarkt erhalten bleiben und nicht geschwächt werden dürfen, beobachtet die Landesregierung ebenfalls gemeinsam mit dem Verband der Freien Berufe Initiativen auf europäischer Ebene, die das Fremdkapitalverbot und das System der Kosten- und Honorarordnungen der Freien Berufe infrage stellen, um frühzeitig zu reagieren.

Da die Bedeutung einer schnellen Internetverbindung für die Erbringung der freiberuflichen Dienstleistungen bereits heute wichtig ist und zukünftig noch zunehmen wird, haben wir im vergangenen Jahr mit Freude vernommen, dass das Land Nordrhein-Westfalen Mittel in Höhe von insgesamt einer halben Milliarde Euro für den Breitbandausbau zur Verfügung stellen wird. Dies kommt auch den Freien Berufen im Land Nordrhein-Westfalen zugute.

Als SPD-Fraktion unterstützen wir ausdrücklich das Engagement der Landesregierung bei der Sicherung der Freien Berufe. Die Beantwortung der Großen Anfrage macht aber deutlich, dass in Nordrhein-Westfalen gute Voraussetzungen für eine positive Entwicklung der Freien Berufe bestehen und dass sich die Landesregierung für die Freien Berufe engagiert. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Blask. – Für die CDU-Fraktion hat Herr Kollege Hausmann jetzt das Wort.

Wilhelm Hausmann (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftspolitik muss die besondere Stellung der Freien Berufe berücksichtigen. Mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von jährlich 4 % verfügen sie über eine ausgesprochene Gründungsdynamik. Angesichts dieser Bedeutung ist es auch ein Armutszeugnis der rot-grünen Landesregierung, dass die Freien Berufe ihr offenbar nicht so wichtig sind, was wir an der Dünnheit der Beantwortung unserer Großen Anfrage ja gesehen haben.

(Beifall von der CDU)

Dabei sind die Freien Berufe – wie der Kollege Bombis deutlich ausgeführt hat – durch staatliche Regulierungen beaufschlagt – wie auch der gesamte Mittelstand. Wer von Ihnen hat schon einmal die Unterlagen für ein VOF-Bewerbungsverfahren ausgefüllt? Wer das gemacht hat, wird ganz klar wissen, was ich damit meine, glaube ich.

Meine Damen und Herren, Freie Berufe sind auch ein Job- und Konjunkturmotor. Sie sind auch persönliche Arbeitgeber, die direkt für die Arbeitnehmer ansprechbar sind. Freie Berufe wie zum Beispiel beratende Ingenieure stellen der Wirtschaft flexibel und kostengünstig Know-how auf höchster Stufe zur Verfügung.

Was auch noch einmal ganz besonders hervorzuheben ist: Die Verbindung zwischen Hochschulen und Freien Berufen scheint für die Landesregierung in NRW auch überhaupt noch nicht im Blickfeld zu liegen. Hier werden Chancen verpasst, um Synergien zwischen Lehre und Praxis zu schaffen. Die damit verbundene praxisorientierte und anwendungsnahe Arbeit ist ohne diese Zusammenarbeit überhaupt nicht zu denken. Der Wandel und der Austausch zwischen Berufswelt und Hochschule werden vielfach erst durch die Freien Berufe gewährleistet. Aber das ist bei Ihnen anscheinend noch nicht angekommen.

Freie Berufe integrieren den Verbraucherschutz von vornherein mit in das Berufsbild. Das ist hier auch schon einmal deutlich geworden. Von der Qualität der freiberuflichen Arbeit hängt dabei sehr viel ab. Das ist mehr als ein nur mit Geld zu bemessender Wert. Es geht um Gesundheit, Recht, Freiheit, Kunst und Werte, die sich nicht in barer Münze aufrechnen lassen. Freiberufler erbringen zum Teil Dienstleistungen in unmittelbaren und höchstpersönlichen Lebensbereichen. Das erfordert ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Freiberuflern, Klienten, Patienten oder auch Mandanten. Die Werte wie Qualität, Vertrauen und Verbraucherschutz sind hier nicht wegzudenken.

Deshalb sind die Freien Berufe ein verlässlicher Partner für Verbraucher und Wirtschaft. Aber wo bleibt die Unterstützung vonseiten der Landesregierung gerade bei solchen Themen wie zum Beispiel der Altersversorgung durch die Versorgungswerke?

(Lothar Hegemann [CDU]: Richtig!)

Meine Damen und Herren, die Ziele der Politik für die Freien Berufe müssen formuliert werden. Das wäre die Chance gewesen, die in der Beantwortung der Großen Anfrage gelegen hat.

Das bestehende System – um einmal einige Ziele vorzuformulieren – der Kosten- und Honorarordnungen der Freien Berufe darf nicht infrage gestellt werden, da sie eine qualitativ hochwertige Leistungserbringung zu bezahlbaren Preisen sicherstellen.

Die Landesregierung ist hier in der Pflicht, sich auf Bundesebene und gegenüber der Europäischen Kommission dafür einzusetzen, dass diese Sicherung eines hohen Qualitäts- und Leistungsniveaus erhalten bleibt. Dazu gehört auch der Einsatz für den Erhalt einer qualifizierten Berufsausbildung, zum Beispiel auch im Rahmen des dualen Systems. Zusätzlich müssen die bewährten berufsständischen Regelungen für den Zugang zu bestimmten Berufen wie Steuerberater, Architekt und Rechtsanwalt erhalten bleiben.

Das alles spiegelt sich leider nicht in der Beantwortung wider, obwohl ich sagen muss, Herr Minister: Bei Ihrer Antwort konnte man zumindest – das können Sie notfalls auch einmal als Lob auffassen – sehen, was in der Beantwortung der Anfrage möglich gewesen wäre.

Der Kollege Wüst hat es angesprochen: Dass das noch einmal im Ausschuss aufgegriffen wird und dass gerade diese Themen, die Sie zumindest mündlich ja hier angeschnitten haben, noch einmal mit in die Betrachtung einfließen, ist durchaus eine realistische Chance, um hier ein Bild zu korrigieren, das durch diese – ich darf es wiederholen – Wurstigkeit in der Beantwortung entstanden ist.

Dieses Bild muss unbedingt korrigiert werden; denn die Freien Berufe haben es verdient, dass wir uns hier auf politischer Ebene ernsthaft und sinnvoll mit der Zukunft der Freien Berufe auseinandersetzen und diese Themen, von denen ich einige angeschnitten habe, auch mit einer klaren Stellungnahme beantworten, damit diejenigen, die hier Freie Berufe ergreifen, auch wissen, dass die Politik hinter ihnen steht und dass sie ihr Berufsleben auf ihre Berufsbilder vernünftig gründen können. – Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hausmann. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.

Ich stelle fest, dass die Antwort auf die Große Anfrage hier zur Kenntnis genommen und debattiert wurde und die Große Anfrage 18 damit dann auch erst einmal erledigt ist.

Ich rufe auf:

4   Gleichstellungspolitik an die Wirklichkeit anpassen – Männer auch bei der Novelle des Landesgleichstellungsgesetzes gleichberechtigen

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11221

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat für die antragstellende Fraktion der FDP Frau Kollegin Schneider das Wort.

Susanne Schneider (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist in Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzes verankert. Deshalb ist es für mich unbegreiflich, dass es in der heutigen Zeit noch immer verboten ist, dass Männer als Gleichstellungsbeauftragte arbeiten. Hiermit wird doch unterstellt, dass es Männern an Objektivität und Einfühlungsvermögen fehlt, was aber Frauen aufgrund des Geschlechts automatisch zugestanden wird. Dabei ist es doch unsere Pflicht, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern.

Männer durchleben und erleben derzeit einen Wertewandel – in etwa so, wie wir Frauen dies bereits seit Jahrzehnten spüren und erfahren. Dafür muss jeder für sich persönlich, aber auch die Gesellschaft eine Antwort finden. Mit anderen Worten: Moderne Gleichstellungspolitik muss nicht nur die geschlechterspezifischen Probleme von Frauen berücksichtigen, sondern gleichermaßen auch die von Männern. Deshalb stellen wir heute diesen Antrag.

Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Der öffentliche Dienst kann auch dabei helfen, dass wir die einzementierten Rollenzuschreibungen überwinden. Mit einer echten Gleichstellung der Geschlechter im Rahmen der Landesgleichstellungsgesetznovelle kann die öffentliche Verwaltung in NRW eine besondere Vorbildfunktion einnehmen und damit sogar ein Zeichen zum Beispiel für die freie Wirtschaft setzen.

Präsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Schneider, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Es gibt bei Herrn Kollegen Rüße den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Susanne Schneider (FDP): Ja, gerne.

Präsidentin Carina Gödecke: Entschuldigung; das war unser Fehler, dass wir nicht erst hingeguckt haben. Offensichtlich hat jemand den Knopf gedrückt; vielleicht mit einer Mappe, die hingelegt wurde. Wir haben die Zeit für Sie noch nicht angehalten; aber Sie bekommen sie selbstverständlich obendrauf, Frau Kollegin Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Das jetzige Landesgleichstellungsgesetz ist über 17 Jahre alt und bedarf dringend einer Novellierung, die dem gesellschaftlichen Status quo entspricht. Das heißt: keine einseitige, nur auf Frauen ausgerichtete Gleichstellungspolitik. Es bedarf einer Politik für alle Geschlechter, bei der jegliche Diskriminierung verhindert wird.

Die FDP-Landtagsfraktion möchte natürlich auch einen frauenpolitischen Ansatz. Aber wir verstehen hierunter nicht, wie die Landesregierung das tut, die Gleichstellung als Gleichmacherei, sondern wir haben eine chancengerechte Gleichberechtigung im Sinn.

Sehr geehrte Damen und Herren, missbrauchen Sie die Gleichstellungspolitik nicht als Verteilungskampf zwischen den Geschlechtern! Machen Sie Schluss damit! Die anstehende Überarbeitung des Landesgleichstellungsgesetzes ist die Gelegenheit für Sie, sich neu und zeitgemäß aufzustellen.

(Zuruf von Michael Hübner [SPD])

Unser Antrag zielt auf eine Gleichstellungspolitik der gerechten Chancen von Frauen und Männern ab. Da dies nicht automatisch passiert, müssen in der Novelle des Landesgleichstellungsgesetzes drei Leitplanken eingezogen werden.

Erstens ist das die Anreicherung des Amtes der Gleichstellungsbeauftragten mit Aufgaben, die zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern führt.

Das Land Niedersachsen hat in seiner Novelle des Landesgleichstellungsgesetzes die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit in den Zielkanon aufgenommen. Regelungen zur Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit gelten für Frauen und Männer gleichermaßen. Aufgabe von Gleichstellungsbeauftragten ist es nun, beide Geschlechter in ihrem Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe und auf Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit zu unterstützen. Die Dienststellen sind im Interesse der Verbesserung der Verwaltungsentscheidungen verpflichtet, männliche und weibliche Sichtweisen und die Erfahrungen aus einem Leben mit Kindern in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Das ist innovativ und würde auch Nordrhein-Westfalen weiterbringen.

Zweitens. Auch Männer müssen für das Amt des Gleichstellungsbeauftragten zugelassen werden. Das wäre aus unserer Sicht zeitgemäß;

(Ministerin Barbara Steffens: Sie haben es immer noch nicht verstanden!)

denn der Vierte Bericht zur Umsetzung des Landesgleichstellungsgesetzes zeigt ganz deutlich, dass von unseren Landesbeschäftigten bereits jetzt mehr als die Hälfte Frauen sind.

Drittens. Wir brauchen zur Stärkung der Funktion der oder des Gleichstellungsbeauftragten ein Wahlrecht für alle Bediensteten in allen öffentlichen Einrichtungen und Gebietskörperschaften. Damit würden wir mehr Demokratie zulassen und eine bessere Identifizierung mit dem Gleichstellungsbeauftragten erreichen.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, wir wollen die Gleichberechtigung aller Geschlechter in allen öffentlichen Einrichtungen des Landes und der Kommunen fördern.

Wir wollen für alle öffentlichen Landeseinrichtungen und Gebietskörperschaften eine große Gestaltungsfreiheit zum Wohle der Menschen in Nordrhein-Westfalen.

Wir wollen eine Gleichstellungspolitik, die Männer und Frauen nicht gegeneinander ausspielt, sondern Männern und Frauen gleichermaßen Chancen bietet.

Nehmen Sie das als Hausaufgabe für die dringend notwendige Novellierung des Landesgleichstellungsgesetzes mit. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Schneider. – Für die SPD-Fraktion hat Frau Kollegin Kopp-Herr jetzt das Wort.

Regina Kopp-Herr (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den FDP-Antrag las, wusste ich, ehrlich gesagt, nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Aber er stimmt mich eher traurig, weil der Antrag die Realität verkennt.

Vorab sei angemerkt: Der Weg hin zur Gleichberechtigung ist untrennbar mit der Geschichte der Sozialdemokratie verbunden, ob es um das Durchsetzen des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen ging oder den Art. 3 Abs. 2 unseres Grundgesetzes, den Frau Schneider auch angesprochen hat und den allen voran Elisabeth Selbert durchsetzte. Es waren Frauen, in dem Fall Sozialdemokratinnen, die für ihre Rechte eintraten und oftmals für sie kämpfen mussten.

Um bei der Gleichberechtigung zu bleiben: Diese ist mit dem gerade genannten Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes de jure vollzogen. Das gilt de facto aber bei Weitem nicht für die Gleichstellung. Hier sind Frauen nach wie vor strukturell benachteiligt – trotz des staatlichen Auftrags im Grundgesetz, gegen diese Benachteiligung anzuarbeiten.

Es ist mir sehr wichtig, diese Begrifflichkeiten ganz klar zu definieren, da das in dem FDP-Antrag ein bisschen durcheinandergeht.

Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass es gerade in den vergangenen 40 Jahren viele Maßnahmen und Initiativen gegeben hat, die diesen grundgesetzlichen Auftrag aufgegriffen und umgesetzt haben.

Dennoch lässt sich in der durch das MGEPA in Auftrag gegebenen Studie „Bestandsaufnahme zur Repräsentation von Frauen in wesentlichen Gremien öffentlicher Organisationen in Nordrhein-Westfalen – eine Bestandsaufnahme“ des Juniorprofessors Ulf Papenfuß von der Universität Leipzig schwarz auf weiß detailliert nachlesen, dass die Gleichstellung von Frauen nach wie vor ein weites Arbeitsfeld ist.

Bereits in der Zusammenfassung der Studie ist das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung zu lesen: Frauen sind in wesentlichen Gremien und Organisationsgruppen unterrepräsentiert. Von einer geschlechterparitätischen Gremienbesetzung kann nicht die Rede sein. Die Realität hinkt den politisch formulierten Zielen des zurzeit gültigen Landesgleichstellungsgesetzes hinterher.

Untersucht wurden etwa die Aufsichtsgremien und Geschäftsleitungen von kommunalen, gemischt-öffentlichen und Landesunternehmen, von 43 Kammern, allen 106 Sparkassen sowie Gremien der Hochschulen, zum Beispiel Fachbereichsräten. All dies können Sie auf Seite 2 des Gutachtens nachlesen.

Dort sind auch folgende Zahlen zu finden, die auf den ersten Blick verdeutlichen, wie viele Frauen in den gerade genannten Gremien vertreten sind. Nur einige Beispiele: Frauen in Aufsichtsräten öffentlicher Unternehmen auf Landesebene 25,3 %, Frauen in Aufsichtsräten kommunaler Unternehmen 10,1%, Frauen in Verwaltungsräten von Sparkassen 17,1 %, Frauen in Sparkassenvorständen 2,7 %, Frauen in Hochschulräten 41,7 % – ein deutlich erfreulicheres Ergebnis.

Und da kommen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag um die Ecke und fordern eine Gleichberechtigung – Sie meinten sicher die Gleichstellung – von Männern im LGG, verbunden mit der Forderung, Männern die Bewerbung für das Amt der Gleichstellungsbeauftragten zu ermöglichen!

Das ist einfach absurd – nicht nur angesichts der oben genannten Zahlen, sondern auch angesichts der Aufgabe einer Gleichstellungsbeauftragten, die tatsächliche Durchsetzung des im Grundgesetz formulierten Auftrags der Gleichberechtigung, die auch für Frauen im realen Leben erfahrbar sein muss, zu erreichen.

Darüber hinaus habe ich in Ihrem Antrag nach einem Beispiel gesucht, das aufzeigt, in welchem Gremium Männer unterrepräsentiert sind. Meine Suche war allerdings vergeblich.

Ich möchte noch etwas anderes aus Ihrem Antrag aufgreifen. In der Tat ist es erfreulich, festzustellen, dass sich die Arbeits- bzw. Lebenswelten von Frauen und Männern wandeln. Das geschieht zunehmend und stetig. Ja, das ist richtig. Es geschieht aber sehr langsam. Im Übrigen ist das ein Gegenstand der Enquetekommission „Zukunft der Familienpolitik in Nordrhein-Westfalen“, die sich sehr ausführlich diesem Thema widmet.

Wir brauchen also einen langen Atem, um den weiten Weg hin zu einer gelebten Partnerschaft zu gehen, in der sich Frauen und Männer für Fürsorge und Erwerbsarbeit gleichberechtigt verantwortlich fühlen. Das betrifft auch die geschlechterparitätische Besetzung von Aufsichtsräten und sonstigen Gremien. Dazu brauchen wir die nötigen gesetzlichen Instrumente, aber auch handelnde Personen, die gelebte Gleichstellung zur Haltung machen und entsprechend handeln.

Die jetzige Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben dies in den vergangenen sechs Jahren mit unterschiedlichen Maßnahmen an den Start gebracht. Ich nenne in diesem Zusammenhang zum Beispiel eine geschlechtergerechte Berufswahlorientierung, die Kompetenzzentren Frau und Beruf, die Genderstrategie der Landesregierung, die anstehende Novellierung des Landesgleichstellungsgesetzes und, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, seit 2010 auch den Aktionsplan im Bereich LSBTTI, …

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Regina Kopp-Herr (SPD): … der im vergangenen Jahr eine erste Bilanz aufzeigte und gleichzeitig fortgeschrieben wurde. Weiterhin ist zu erwähnen, dass das Land NRW der Charta der Vielfalt beigetreten ist.

Damit beschreiten wir den richtigen Weg. Ihr Antrag bedeutet Rückschritt. Deshalb lehnen wir ihn ab.

Ich sage etwas frech – das kann ich mir nicht verkneifen –, ein bisschen polemisch und deutlich überspitzt: Wenn wir, die Frauen, das Amt des Papstes geknackt haben, dann können wir uns um die Gleichstellung der Männer ernsthafte Gedanken machen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Kopp-Herr. – Für die CDU-Fraktion hat jetzt Frau Kollegin Scharrenbach das Wort.

Ina Scharrenbach (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich den Antrag der FDP gesehen habe, habe ich gedacht: Na ja; jetzt greift die FDP eine Sorge aus Teilen der Gesellschaft auf, die da heißt: Die Feminisierung der Republik greift um sich.

Meine Damen und Herren, wir sprechen darüber, dass Frauen inzwischen in Unternehmen, in Parteien und in der Gesellschaft überhaupt in Führungspositionen unterwegs sind. Man muss sich aber nicht um eine Feminisierung der Republik Sorgen machen. Vielmehr geht es um eine Hinwendung zum Normalen; denn Frauen und Männer sind in der Gesellschaft gleich verteilt. Das Verhältnis beträgt ungefähr 50:50.

Wir sollten uns deshalb auf den Weg machen, Frauen in Führungsposition entsprechend aufzubauen, sie darauf vorzubereiten und sie ihren Qualifikationen entsprechend – das ist das Entscheidende; es kommt auf die Qualifikation für eine bestimmte Position an – auch in diesen Positionen zu verankern.

(Gerda Kieninger [SPD]: Gut, dass die Männer alle so qualifiziert sind!)

– Für die Männer gilt das mit den Qualifikationen gleichermaßen, Frau Kieninger. Da haben wir überhaupt keinen Dissens. – Insofern ist das eine Hinwendung zum Normalen.

Wenn man sich den Antrag der FDP bzw. das, was sie darin fordert, anschaut, muss man, offen gesagt, feststellen: Offensichtlich kennen Sie die Inhalte des Landesgleichstellungsgesetzes nicht so, wie es denn sein müsste.

(Beifall von der SPD)

Denn das heutige Landesgleichstellungsgesetz ermöglicht es insbesondere den kommunalen Verwaltungen, einen Chancengleichheitsplan sowohl für Frauen als auch für Männer gleichermaßen aufzustellen. Mit bestem Beispiel geht da nämlich die Landeshauptstadt Düsseldorf voran, bei der es das seit Jahren sehr erfolgreich gibt. Sie gliedert die Funktionsbereiche in ihrer Verwaltung auf und fragt dann: Welches Geschlecht ist unterrepräsentiert? – Das Geschlecht, das unterrepräsentiert ist, wird dann entsprechend gefördert, sodass man zu höheren Anteilen kommt.

Wenn man denn diesen Chancengleichheitsplan kommunal haben möchte, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dann kann man das in den kommunalen Stadträten und in den Kreistagen entsprechend beantragen. Da würde es nämlich hingehören.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich bin ja auch Fraktionsvorsitzende meiner CDU in der Stadt Kamen. Wir haben den Antrag gestellt, den Frauenförderplan zu einem Chancengleichheitsplan weiterzuentwickeln, mit dem auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Männer wie Frauen gleichermaßen berücksichtigt werden soll und der auch die Förderung der Teilzeit für Männer im öffentlichen Dienst vorsieht. Bedauerlicherweise hat die SPD, die bei uns die Mehrheit hat, diesen Antrag abgelehnt.

(Zurufe von der SPD und den PIRATEN: Oh!)

– Unverständlicherweise. Ich merke an Ihren Reaktionen, dass Sie diese Beschlussfassung, die da kommunal von der SPD vorgenommen wurde, auch nicht nachvollziehen können. – Sie merken aber, dass das Landesgleichstellungsgesetz allen Beteiligten die Möglichkeit gibt, das zu verankern.

Wir warten – das wissen Sie; die CDU hat das immer wieder vorgetragen – auf die Neufassung des Landesgleichstellungsgesetzes. Ein Referentenentwurf sollte ursprünglich schon im Dezember 2015 eingebracht werden. Er liegt noch nicht vor.

Die FDP hat hier, kurz gesagt, folgende Fragen zur Befassung aufgerufen: Soll es, was den Gleichstellungsbeauftragen angeht, für die Kommunen eine Pflicht- oder Kann-Regelung geben? Soll es eine Gleichstellungsbeauftragte oder einen Gleichstellungsbeauftragten geben? – Wir werden diese Fragen im Zusammenhang mit der Neufassung des Landesgleichstellungsgesetzes diskutieren. Frau Ministerin wird – das hoffe ich jedenfalls – gleich noch etwas zum Zeitablauf sagen.

(Ministerin Christina Kampmann: Aber natürlich!)

– Das ist ja hervorragend.

Insofern werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten, weil der wesentliche Punkt, Chancengleichheit herzustellen, heute bereits im Gesetz enthalten ist. Es liegt in der Verantwortung der Funktionsträger vor Ort, diese Chancengleichheit in ihren Verwaltungen zu denken sowie umzusetzen und sie in den Förderplänen entsprechend zu beschreiben, herauszukristallisieren und auch von den einzelnen Beschäftigten zu fordern.

Das Landesgleichstellungsgesetz wird novelliert werden. Ich bin sehr gespannt, wie sich die einzelnen Kolleginnen und Kollegen dazu einlassen werden, wie wir denn in Zukunft in Nordrhein-Westfalen Gleichstellung möglicherweise gemeinsam denken, um damit auch der Forderung gerecht zu werden, dass sich am Ende sowohl 50 % Männer als auch 50 % Frauen gleichberechtigt in Verwaltungen und Führungspositionen wiederfinden. Ich bin sicher, dass wir das ordentlich auf den Weg bringen werden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Scharrenbach. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Kollegin Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Frau Scharrenbach, dass Sie der Kollegin Schneider einmal das LGG erläutert haben. Vielleicht fragt sie das nächste Mal vorher nach. Dann müssen wir uns hier nicht mit solch unsinnigen Anträgen beschäftigen.

Sie schlagen hier die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in der Gesellschaft vor. Ja, dieses Ziel teilen wir alle miteinander. Dieses Ziel ist schon im Landesgleichstellungsgesetz festgeschrieben. Daran wird sich bei der Novellierung auch nichts ändern. Sie werden darin weiterhin die Gleichberechtigung von Frauen und Männern finden.

Sie schreiben aber nichts Konkretes. Sie schreiben allerlei wolkige Sachen auf, die unbedingt eingelöst werden müssten. Aber dann nennen Sie mir doch einmal einen konkreten Punkt, an dem Männer wirklich so schrecklich benachteiligt werden.

(Dietmar Schulz [PIRATEN]: Ich weiß auch keinen!)

Frau Kollegin Kopp-Herr hat es auch schon gemacht. Aber fangen wir doch einmal mit ein paar Fakten an. Wir haben demnächst den Equal Pay Day. Frauen verdienen nach wie vor weniger: 22 % unbereinigte Lohnlücke, 8 % bereinigte Lohnlücke.

(Ralf Witzel [FDP]: Das ist doch eine aggregierte Betrachtung!)

– Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, wenn Sie irgendetwas dazu beizutragen haben. – Die bereinigte Lohnlücke beträgt 8 %. Wenn Sie das auf den Lebensverlauf hochrechnen, kommen wir bei der Rente zu einem sogenannten Gender Pension Gap von fast 60 %. Damit sind wir EU-weit am Ende, am Schluss. Dazu kommt von Ihnen kein Wort. Keine konkrete Fragestellung zu nichts!

(Beifall von den GRÜNEN)

Sie haben es schlicht nicht verstanden. Sie weigern sich auch – das sehe ich nicht zuletzt an den Anmerkungen von Herrn Witzel – konsequent, das zu verstehen.

(Zurufe von der FDP: Oh! Oh! – Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

– Ja, genau; glauben Sie keiner Statistik, die Sie nicht selbst gefälscht haben. Dann zeigen Sie mir doch die Daten, nach denen Frauen in diesem Land genauso viel verdienen wie Männer. Aber das können wir gerne herstellen, wenn Sie auf Bundesebene, wo Sie zwar nicht im Parlament vertreten sind, aber eine Bundespartei haben, auch die Initiative für ein Transparenzgesetz unterstützen, damit wir nämlich genau diese Transparenz schaffen. Dann wird auch Ihnen klar werden, dass Frauen und Männer in diesem Land für die gleichen Tätigkeiten nicht gleich bezahlt werden.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN – Dietmar Schulz [PIRATEN]: Manchmal, nicht immer!)

– Ich habe es aufgegeben. Frau Schneider versteht es nicht. Sie verstehen es nicht.

(Ralf Witzel [FDP]: Sie wissen es nicht! – Dr. Gerhard Papke [FDP]: Vielleicht liegt es an Ihnen!)

– Nein, ich glaube nicht, dass es an mir liegt. Das glaube ich nicht. – Herr Witzel, ich lade Sie ein: Kommen Sie doch am 8. März 2016 hier zu der großen Veranstaltung und diskutieren mit uns gemeinsam. Kommen Sie am Equal Pay Day zu den vielen Aktionen, die es geben wird. Da werden die Frauen es Ihnen noch einmal erläutern.

Ich habe noch einen Fernsehtipp für Sie. Auf der Seite zum Equal Pay Day finden Sie einen wirklich interessanten Film der Satiresendung „Die Anstalt“. Dieser Film erklärt sehr anschaulich, woher die Ungerechtigkeiten in der Lebensverlaufsperspektive zwischen Männern und Frauen rühren. Das könnte vielleicht auch bei Ihnen helfen.

Was sind notwendige Forderungen, die in Ihrem Antrag nicht enthalten sind? Dazu zählen zum Beispiel gendersensible Pädagogik und gendersensible Berufswahlorientierung. Sie haben ja recht damit, dass wir die Gleichstellung von Frauen und von Männern fördern müssen. Das bedeutet, dass auch Jungs das Recht haben, für sich Berufsfelder zu entdecken, die sie bislang nicht entdeckt haben. Deswegen brauchen wir diese Dinge als konkrete Forderung. Wir brauchen auch eine Kultur, in der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht allein als Frauenproblem abqualifiziert wird und in der es auch Männern möglich ist, Pflegearbeit zu übernehmen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Wir hatten gerade den Equal Care Day, der zum ersten Mal am 29. Februar 2016 stattgefunden hat. Dabei wurde noch einmal sehr deutlich, dass 80 % der Fürsorgearbeit nach wie vor von Frauen erledigt werden. Aber da haben Sie sicherlich auch ein paar Zahlenkorrekturen für mich. Ich bin gespannt.

(Zuruf von Ralf Witzel [FDP])

Diese Dinge brauchen wir, um eine vernünftige Kultur herbeizuführen – beispielsweise auch bei der Frage von Gender-Mainstreaming-Beauftragten in der eigenen Verwaltung. Die Landesregierung hat in jedem Haus sogenannte Gender-Mainstreaming-Beauftragte. Darüber ist bereits berichtet worden, auch in unserem Ausschuss. Das sind zum Teil auch Männer. Zum Beispiel im Emanzipationsministerium ist der Gender-Mainstreaming-Beauftragte ein Mann.

Das heißt im Grunde genommen: Ihr Antrag ist dadurch obsolet, dass es a) im LGG bereits festgeschrieben ist, b) überflüssig ist und c) an überhaupt keiner Stelle inhaltlich substanziell ist. Dementsprechend werden wir den Antrag in dieser Form ablehnen.

Ich finde es ein bisschen schade, dass Frau Scharrenbach nach der durchaus nachvollziehbaren Argumentation, warum Ihr Antrag nicht besonders stichhaltig ist, am Ende gesagt hat, dass ihre Fraktion sich enthalten werde. Konsequent wäre es gewesen, dann zu sagen: Diesem Antrag stimmen auch wir als CDU-Fraktion nicht zu. – Aber so ist es leider nicht. – Danke.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Paul. – Für die Piraten spricht jetzt Herr Kollege Olejak.

Marc Olejak (PIRATEN): Liebes Kollegium! Vorweg teile ich schon einmal unser Abstimmungsergebnis mit. Ich sage einfach einmal: Nein. – An dieser Stelle möchte ich auch noch ganz herzlich das Präsidium begrüßen und mich dafür bedanken, dass ich die Gelegenheit habe, als Träger eines XY-Chromosoms hier sprechen zu dürfen.

Ich muss ganz ehrlich sagen: Für die Äußerungen von Frau Scharrenbach bin ich extrem dankbar – bis auf die abschließende Ankündigung einer Enthaltung. Es wurde tatsächlich alles von allen gesagt.

Für eine ergebnisoffene Diskussion oder Debatte hätte ich mir von vornherein gewünscht, wenn sich die FDP-Fraktion gefragt hätte: Was hat das Gleichstellungsgesetz des Landes NRW eigentlich seit 1999 bewirkt? Welche Ergebnisse bei der Umsetzung des Verfassungsauftrages und bei der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichstellung konnten in NRW seitdem erreicht werden? Wird eine professionelle wissenschaftliche Studie zu der Analyse der Stärken und Schwächen des Gesetzes durch die Landesregierung eingeleitet, oder wurde dies bereits getan, wie dies zum Beispiel Bayern bei der Novellierung seines Gesetzes getan hat? Korrekterweise kam da ja auch schon der Verweis auf die MGEPA-Studie.

Daher muss ich ganz einfach sagen: Sie gehen nicht einmal darauf ein, was heute mit den Menschen mit einem selbst bestimmten Geschlecht ist. Wollen Sie Bluttests einführen, um zu überprüfen, ob diese Männer Männer sind oder ob diese Frauen Frauen sind? Das Ding ist einfach für die Tonne; es tut mir leid. – Einen schönen Tag!

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Olejak. – Ich würde gerne klarstellen, dass die Redner und Rednerinnen von den Fraktionen festgelegt werden und nicht vom Präsidium; nicht dass irgendwo ein falscher Eindruck in diesem Haus hängenbleibt. – Für die Landesregierung erhält jetzt Frau Ministerin Steffens das Wort.

Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich jetzt alle Redner außer denen der FDP-Fraktion Revue passieren lasse, dann gibt es, glaube ich, eine relativ breite Kenntnis und Übereinstimmung über die Notwendigkeit eines Gleichstellungsgesetzes und auch darüber, was mit einem Gleichstellungsgesetz eigentlich geregelt wird.

Frau Schneider, dass wir als Landesregierung Jungen- und Männerpolitik betreiben und dass wir gezielte Förderung in vielen Bereichen unterstützen, haben wir nicht erst bei Ihrem Antrag 2014 hier deutlich gemacht und klargestellt, sondern haben es auch an vielen anderen Stellen immer wieder thematisiert.

Es ist richtig, wir brauchen in vielen Bereichen einen differenzierten Blick auf politische Maßnahmen. Aber das machen wir mit dem Gender Mainstreaming. Im Rahmen von Gender Mainstreaming werden die individuellen Bedarfe berücksichtigt und damit auch die individuellen politischen Antworten geliefert; denn klar ist: Rollenstereotypen der beiden Geschlechter müssen überwunden werden. Dafür brauchen wir andere Konzepte.

Aber das Thema „Landesgleichstellungsgesetz“ und „Gleichstellungspolitik“ ist ein anderes. Es ist, glaube ich, auch heute wieder deutlich geworden: Das Prinzip, das dahintersteht, ist bei der FDP-Fraktion überhaupt nicht klar geworden. Es geht nämlich darum, strukturelle Diskriminierung zu überwinden. Strukturelle Benachteiligung von Frauen wird mit Ihrem Antrag eindeutig negiert. Die Förderung von Männern und Frauen im öffentlichen Dienst, die gefordert wird, ist sozusagen das Gegenteil von dem gleichstellungspolitischen Auftrag, strukturelle Diskriminierung zu durchbrechen.

Die Daten – es gab ja eben Zwischenrufe vonseiten der FDP-Fraktion –, die mit dem Landesgleichstellungsbericht noch einmal vorgelegt worden sind, sind eindeutig.

(Unruhe)

– Es ist extrem laut.

Präsidentin Carina Gödecke: Ja, da hat die Ministerin recht. Es ist relativ laut. Der Geräuschpegel entsteht nicht durch die Kolleginnen und Kollegen, die bereits im Raum sind, sondern eher durch diejenigen, die hereingekommen, um gleich abstimmen zu können. Wenn Sie die Gespräche einstellen könnten, wäre das sehr freundlich.

Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter: Der Landesgleichstellungsbericht hat es, was die Umsetzung angeht, noch einmal vorgelegt: Frauen sind vor allem in gut bezahlten und einflussreichen Positionen nach wie vor erheblich unterrepräsentiert, und das ist ein Zeichen einer strukturellen Benachteiligung und kein individuelles Problem von einzelnen Frauen.

Schauen wir uns die Zahlen an: 31,7 % Frauenanteil in Führungspositionen im Bereich der Ministerien, des Landesrechnungshofs, der Landesdatenschutzbeauftragten und der Landtagsverwaltung. Der Anteil ist zwar geringfügig gestiegen, aber trotzdem handelt es sich bei 31,7 % um eine strukturelle Benachteiligung. Genauso ist es bei der Referatsleitung, bei der der Frauenanteil bei 34,8 % liegt, oder in den Aufsichtsgremien der Landesunternehmen mit einem Frauenanteil von 25,3 % oder in den Aufsichtsgremien der Kommunalverwaltung mit einem Frauenanteil von 22 %.

Das zeigt also, an all den Stellen liegt eine strukturelle Benachteiligung vor. Deswegen liegt der Fokus des Landesgleichstellungsgesetzes nach wie vor auf der Beseitigung der strukturellen Benachteiligung von Frauen. Das ist letztendlich das, was wir mit dem Landesgleichstellungsgesetz und mit der dazu vorliegenden Novelle erreichen wollen.

Dabei ist uns ein zweiter Punkt sehr wichtig, nämlich dass ein solches Gleichstellungsgesetz verfassungskonform sein muss. Das müsste eigentlich auch ein Anliegen der FDP-Fraktion sein.

Schauen wir uns an, was im Bund war: Die Bundesregierung hat ein neues Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst vorgelegt, das zuerst durchgängig auf die Förderung von Männern und Frauen ausgerichtet war. Auch die Quotenregelung bei der Einstellung und Beförderung sollte auf Männer ausgedehnt werden. Was aber ist geschehen?

In der Anhörung zum Gesetzentwurf haben viele eindringliche Hinweise klar und deutlich gemacht, dass dieses Vorhaben nicht verfassungskonform ist, weil es nämlich genau nicht die strukturelle Benachteiligung im Fokus hat; denn eine strukturelle Benachteiligung von Männern im öffentlichen Dienst liegt in der Form nicht vor.

Deswegen hat die Bundesregierung die Ausrichtung auf Männer relativiert. So gibt es zum Beispiel eine Quotenregelung für Männer nur noch in den Bereichen, in denen neben der Unterrepräsentanz auch eine strukturelle Benachteiligung vorliegt. Da die Unterrepräsentanz von Männern regelmäßig eine Folge anderer Ursachen ist, etwa dass die Bezahlung nicht die ist, die Männern gerne hätten, liegt in den Teilen, die gerade unser Landesgleichstellungsgesetz betrifft, keine strukturelle Benachteiligung vor.

Ein Letztes, worauf ich hinweisen möchte – weil das auch der Wunsch von Frau Scharrenbach war –, ist Folgendes: Wir werden jetzt mit dem Landesgleichstellungsgesetz in das Kabinett gehen. Wir werden zu dem Referentenentwurf direkt nach der Verabschiedung die Verbändeanhörung einleiten. Sie bekommen natürlich parallel zur Verbändeanhörung den Entwurf des Gleichstellungsgesetzes. Das heißt, Sie haben dann noch die Osterpause über Zeit, sich intensiv damit zu beschäftigen. Ich hoffe, dass all die Punkte, die dann wirklich diskussionsrelevant sind, auch gemeinsam im Ausschuss diskutiert werden.

In diesem Sinne: Der Antrag der FDP-Fraktion hat mit dem, was an Bedarfen und Herausforderungen da ist, nichts zu tun. Aber die Diskussion zum Gleichstellungsgesetz sollten wir sehr intensiv gemeinsam führen. – Danke.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir sind damit am Schluss der Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung.

Die antragstellende Fraktion der FDP hat direkte Abstimmung beantragt. Wir kommen somit zur Abstimmung über den Inhalt des Antrages in der Drucksache 16/11221. Wer dem seine Zustimmung geben kann, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer kann dem nicht zustimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag in der Drucksache 16/11221 mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der Fraktion der Piraten, des fraktionslosen Abgeordneten Schwerd bei Enthaltung der CDU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt.

Ich rufe auf:

5   Kleine und mittlere Schlachthöfe in NRW stärken – die Vorteile einer dezentralen Struktur erhalten und fördern!

Antrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/11230

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die SPD-Fraktion dem Kollegen Meesters das Wort.

Norbert Meesters (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nun kommen wir zu einem sinnvollen und notwendigen Antrag. Unser Bundesland ist neben Niedersachsen das Zentrum der landwirtschaftlichen Tierhaltung in Deutschland. Über 7 Millionen Schweine, 11,5 Millionen Hühner und gut 1,3 Millionen Rinder wurden – Stand 2013 – in Nordrhein-Westfalen gehalten. Wir wissen, dass sich die Erwartungen der Menschen an die Landwirtschaft, an die Produktion und Verarbeitung unserer Lebensmittel in den vergangenen Jahren immer weiter verändert haben. Die Erwartungen sind hoch.

(Unruhe)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Verehrte Kolleginnen und Kollegen …

Norbert Meesters (SPD): Meine Erwartung ist auch hoch, dass die Kollegen etwas ruhiger sind.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege, Moment mal eben. – Diejenigen, die jetzt – aus welchen Gründen auch immer – den Plenarsaal verlassen müssen, bitte ich, das geräuschlos zu tun. Ansonsten hat der Redner die allgemeine Aufmerksamkeit verdient. – Bitte schön, Herr Kollege Meesters.

Norbert Meesters (SPD): Danke schön. – Die Erwartungen sind hoch. War es früher wichtig, dass möglichst viel und möglichst reichhaltiges Essen auf den Tisch kommt, hat sich im Laufe der Zeit ein anderes, tiefergehendes Verständnis für eine gesunde Esskultur entwickelt. Die meisten Menschen legen großen Wert darauf, dass Lebensmittel qualitativ hochwertig produziert werden, dass sie sicher sind und dass der Tierschutz besonders beachtet wird und im Einklang mit der Umwelt gewirtschaftet wird – so nachzulesen unter anderem im aktuellen Situationsbericht zur Landwirtschaft des Deutschen Bauernverbandes.

Diese Erwartungshaltung der Verbraucher betrifft neben den pflanzlichen Lebensmitteln auch immer stärker die fleischproduzierende Wirtschaft. Nicht nur, dass die Tierhaltung immer weiter verbessert werden soll und wird, auch die Schlachtung soll nach angemessenen Qualitätsstandards ablaufen. Denn auch bei der Schlachtung hat es eine dramatische Entwicklung weg von einer regionalen Verwertung hin zu einigen wenigen Großbetrieben gegeben. So schlachten zum Beispiel die drei größten Schlachtbetriebe 55 % aller Schweine in Deutschland. Auch das kann man im Situationsbericht des Deutschen Bauernverbandes nachlesen.

Das sind drastische Entwicklungen, denn ein Großteil der heimischen kleinen und mittleren Schlachtbetriebe hat seine Arbeit mittlerweile eingestellt, und die Abhängigkeit der Landwirte von den großen Schlachtbetrieben wächst. Schlachtung findet in einem großindustriellen Rahmen statt. Und was ist zu tun, wenn man sich nicht damit abfinden will?

Wir müssen feststellen, dass es viele Probleme gibt, denen sich die kleineren Betriebe heute stellen müssen. Es sind die bürokratischen Hemmnisse, die ihnen das Leben schwer machen. Hinzu kommen Probleme bei der tierärztlichen Versorgung gegenüber den Großbetrieben, die ständig einen Arzt vor Ort haben, sowie ein steigender Fachkräftemangel.

Dabei sind es gerade die regionalen Schlachthöfe, die aufgrund ihrer Nähe für eine Verkürzung der Transportwege sorgen. Dadurch vergeht weniger Zeit bei der Verarbeitung, und auf Phosphatzusätze kann durch die Warmverarbeitung verzichtet werden. Damit lassen sich sowohl die Wertigkeit als auch die Transparenz für den Verbraucher durch diese Schlachthöfe verbessern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist klar, dass die kleineren und mittleren Schlachtbetriebe ein wichtiger Baustein für den Erhalt und Ausbau der regionalen Wertschöpfungskette sind. Regionale Vermarktung, enge Verbindungen zwischen Lebensmittelproduzenten und den verarbeitenden Betrieben, die kurzen Transportwege, aber auch der Aspekt der guten Arbeit und Ausbildung in den Regionen – all dies müssen wir fördern, weil immer mehr Menschen Wert auf die Produkte der klassischen bäuerlichen Landwirtschaft legen.

Wir sind als Politik gefordert, die Rahmenbedingungen für diese Betriebe und damit die Produktionskette zu verbessern. Dabei reicht es nicht, alleine das nationale Verbot, Fleisch in Schlachträumen zu zerlegen und zu verarbeiten, für kleine und mittlere Betriebe aufzuheben, wie nun auf Bundesebene geschehen.

Mit unserem Antrag legen wir Vorschläge auf den Tisch, die weitergehend und zielführend sind. Dazu zählen der Abbau und die Vereinheitlichung der Regelungen im Rahmen des Hygienepaketes der EU und ein entsprechender Informationsfluss an Veterinäre und Veterinärbehörden. Zudem müssen wir Wege finden, die Schlachtbetriebe besser mit den Viehbetrieben in Kontakt zu bringen. Wir müssen die regionale Wertschöpfungskette in den Vordergrund stellen. Wir müssen Vermarktungsstrategien für landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne der kleineren und mittleren Betriebe entwickeln und die Schaffung unverwechselbarer Regional- und Qualitätskriterien unterstützen; denn gerade lokale Produkte und Marken werden von den immer besser informierten Kundinnen und Kunden geschätzt.

Ich freue mich nun auf die Beratung im Ausschuss und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Meesters. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Rüße.

Norwich Rüße (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der eine oder andere Zeitgenosse hat sich aktuell mehr den Kopf darüber zerbrochen, ob wir Schnitzel in den Verfassungsrang heben oder nicht. Das wollen wir mit unserem Antrag jedoch ausdrücklich nicht thematisieren.

Wir möchten mit unserem Antrag vielmehr kleine und mittlere Schlachtbetriebe stärken und hierzu auf zwei wesentliche Herausforderungen eingehen. Die erste Herausforderung ist, dass wir feststellen müssen, dass es in Nordrhein-Westfalen immer weniger Schlachtbetriebe gibt und dass sich die Schlachtung in den letzten 30 Jahren auf ganz wenige Unternehmen konzentriert hat.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren Antrag aus dem Jahr 2014, den wir alle gemeinsam getragen haben, und in dem es um die Schafhaltung ging. Damals haben wir gesagt, wir wollen die Schafhaltung in Nordrhein-Westfalen stärken und weiterhin ermöglichen. Eines der Probleme, das die Schafhalter mir gegenüber immer wieder geschildert haben, war, dass sie gar nicht mehr wüssten, wo sie hinfahren sollen, um ihre Schafen schlachten zu lassen, da das in bestimmten Regionen Nordrhein-Westfalens nicht mehr möglich sei.

Die zweite Herausforderung, vor der wir stehen – darauf ist Herr Kollege Meesters bereits eingegangen –, ist die der veränderten gesellschaftlichen Erwartungen an Lebensmittel, insbesondere an Fleisch. Immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher möchten gerne wissen, woher das Fleisch kommt, das sie essen. Sie wollen, dass das Fleisch regional ist, und erwarten eine bestimmte Qualität.

Mit Blick auf diese gestiegenen Anforderungen in Bezug auf das Tierwohl, nicht so lange Tiertransporte sowie die Schlachtung ist eine dezentrale Schlachtstruktur – und darum geht es; wir wollen wieder mehr Dezentralität erreichen – eine gute Möglichkeit, alle diese Ansprüche zu erfüllen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dabei wird aber gerne die Möglichkeit vergessen, dass kleine Schlachthöfe mit kurzen Wegen uns besondere Möglichkeiten in der Fleischverarbeitung bieten. Warmfleischverarbeitung ist eine Spezialität, die zur Folge hat, dass man dem Fleisch insbesondere bei der Wurstverarbeitung weniger Konservierungs- und Hilfsstoffe zufügen muss.

Angesichts der Preiskrise, die wir gerade beim Schweinefleisch erleben – zurzeit liegt der Preis für das Kilo Schweinefleisch bei 1,30 €; davon kann kein Bauer leben –, sind wir der Meinung, dass sich mit einer dezentralen regionalen Struktur zwar nicht alle Probleme lösen lassen werden, aber wir machen ein Angebot an die Landwirte, eine solche Struktur zu nutzen und darüber vielleicht auch eine bessere Wertschöpfung zu erreichen.

Im Vorfeld zu diesem Antrag haben wir eine Veranstaltung durchgeführt, bei der wir uns intensiv mit den Betreibern kleiner Schlachthöfe sowie mit kleineren Fleischereimeisterbetrieben unterhalten und diese gefragt haben: Was braucht ihr denn? Wie müssen wir uns aufstellen, damit ihr eure Betriebe vernünftig führen könnt?

Das Ergebnis ist dieser Antrag, den wir hier heute vorlegen und den wir auch mit Ihnen im Ausschuss weiter diskutieren wollen; ich hoffe, dass wir das intensiv machen.

Die Probleme sind im Antrag genannt. Wir haben in der Branche einen eindeutigen Fachkräftemangel. Es gibt den Wunsch nach Unterstützung im Bereich Ausbildung, Weiterbildung und Qualifizierung.

Ein ganz wichtiger Punkt ist die Frage der Gebühren. Die kleinen Schlachthöfe sagen, die Gebührenstruktur und insbesondere die Unterschiede von Kreis zu Kreis, die teilweise erheblich sind, machen ihnen erheblich zu schaffen.

Herr Meesters hat das Problem der Umsetzung des EU-Hygienepakets vor Ort angesprochen. Wir müssen schauen, wie wir für die kleineren Betriebe, ohne irgendwelche Zugeständnisse im hygienischen Bereich zu machen, zu Vereinfachungen kommen können.

Letztendlich – das ist ein Punkt im Antrag, der mir besonders wichtig ist – müssen wir auch schauen, wie wir die kleinen Schlachthöfe mit Blick auf den Tierschutz unterstützen können. Wie bekommen wir eine optimale Schlachtung auf diesen Schlachthöfen hin?

Ich werfe eine Frage in den Raum: Warum soll ein Jäger nicht ein Rind auf einer Weide schießen dürfen? Warum soll dies weniger tiergerecht sein als der Tod des Rindes in einem Schlachthof, zu dem es noch transportiert werden muss? Dass ein Jäger ein Rind auf der Weide schießt und die Tötung und Zerlegung anschließend hygienisch einwandfrei ablaufen, ist sicherlich ein Punkt, den wir aufgreifen müssen, und solche Dinge sollten nicht durch behördliche Auflagen verhindert werden.

Ich glaube, dass wir an der Stelle mutiger sein müssen und auch etwas machen können. Unser Antrag ist ein Angebot an alle Fraktionen, gemeinsam zu beraten, wie wir in allen Bereichen der Landwirtschaft – das gilt auch für den Milchbereich; über den sprechen wir später – kleine, regionale Verarbeitungsstrukturen ermöglichen können.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Ihre Redezeit.

Norwich Rüße (GRÜNE): Ich komme zum Schluss. – Landwirte, die das machen wollen, sollen es können. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rüße. – Für die CDU-Fraktion spricht der Kollege Fehring.

Hubertus Fehring (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr Meesters hat schon gesagt, dass wir es endlich wieder mit einem interessanten Antrag zu tun haben. Das finde ich auch. Und auch die Ausführungen des Kollegen Rüße, dass man die Tiere sinnvollerweise vielleicht sogar auf der Weide schießt, finde ich überlegenswert; darüber könnte man nachdenken.

Die von Ihnen beschriebenen Zahlen und Fakten in dem Antrag kann ich teilen, möchte aber darauf hinweisen, dass bei den Produktionsbedingungen nicht „großer Schlachthof gleich negativ, kleiner Schlachthof gleich gut“ gilt. Ich denke, die Fachleute unter Ihnen wissen, dass das Schlachten für die Tiere nie angenehm ist,

(Heiterkeit)

und wer einmal eine Hausschlachtung erlebt hat, der weiß, wie den Tieren, aber auch dem Bauern und dem Metzger zumute war. Das war nicht immer einfach.

Wenn wir als Politik trotz der bekannten Situation – das haben meine Vorredner auch schon dargestellt – das Überleben und den Weiterbetrieb von kleinen Schlachthöfen wünschen, dann müssen wir auch bereit sein, zu helfen.

(Beifall von der CDU und den GRÜNEN)

Herr Rüße hat zu Recht auf die hohen Kosten der Fleischbeschau hingewiesen, die alle Kleinen trifft; die Großen sind da wesentlich besser dran. Ein kleines Beispiel: Ein Schwein von 100 kg Gewicht bringt dem Landwirt, wenn er Glück hat, inklusive Mehrwertsteuer 150 bis 160 €. Allerdings kostet allein die Fleischbeschau in einem kleinen Schlachtbetrieb 16,65 €. Über 10 % des Erlöses für dieses 100-kg-Tier – Herr Hegemann, davon könnte man eine ganze Zeit lang gut essen –

(Heiterkeit)

kostet allein die Fleischbeschau. Es kann sich also jeder lebhaft die Diskrepanz vorstellen.

(Lothar Hegemann [CDU]: Das verbitte ich mir! Ich esse kein Schweinefleisch! – Heiterkeit)

Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Bundesminister eine Verbesserung eingebracht hat; die gilt dann wohl ab März dieses Jahres. Die kleinen Schlachtstätten dürfen jetzt in einem Raum töten und verarbeiten. Das ist auch so ein Unsinn, der seinerzeit im Rahmen der Hygienevorschriften der EU eingeführt worden ist. Das wäre so ein Punkt, den wir gemeinsam knacken müssten. Da bin ich bei Ihnen, wenn es darum geht, dem kleinen Metzger bei all den Punkten, die er zu berücksichtigen hat, zu helfen.

Ein weiterer Punkt – das soll demnächst in Niedersachsen gelten; ich hoffe, unser Landwirtschaftsminister macht es nicht – ist die Einführung der Gebührenpflicht bei den Betriebskontrollen. Eine Kontrolle soll 100 € kosten, und wenn dann demnächst bei der Lebensmittelüberwachung auch noch hinzukommt, dass auch die Probe vom Betrieb bezahlt wird – pro Probe macht das 500 €, und die Proben finden zweimal im Jahr statt –, dann ist der kleine Betrieb 1.200 € los. Dann müssen wir eine Regelung finden, wie wir helfen können.

Ein anderes Beispiel: Der kleine Metzger muss, obwohl er an der öffentlichen Wasserversorgung angeschlossen ist, jährlich eine Wasserprobe ziehen lassen. Das kostet ihn 100 €. Wenn das die große Westfleisch macht, zahlt sie wahrscheinlich auch nur 100 €.

Warum muss der kleine Metzger noch heute, wenn er ein Fell abgibt, eine Dokumentation beilegen? Das stammt noch aus den BSE-Zeiten. Darüber müssten wir auch einmal nachdenken.

Warum muss der Metzger, sein Sohn, der Gehilfe oder wer auch immer einen Sachkundenachweis vorlegen, obwohl er die Meisterprüfung und die Gesellenprüfung abgelegt hat? Das kostet auch 280 €.

Das sind Dinge, bei denen wir sicherlich hervorragend helfen können. Aber dann muss die Landesregierung in diesem Falle auch Geld in die Hand nehmen. Die Dinge, die Sie in Ihrem Antrag beschreiben, lesen sich zwar ganz toll. Echte Hilfe bedeutet aber auch, dass wir substanziell helfen.

Das wünsche ich mir, zumal Sie, Herr Rüße, auch gesagt haben, dass es ein Thema ist, das wir nicht strittig behandeln müssen. Ich hoffe, dass wir im Ausschuss gemeinsam etwas erreichen, von dem unsere Kleinbetriebe und Metzgereien letztendlich einen Vorteil haben. Dann haben wir in diesem Hause endlich mal etwas Vernünftiges auf die Reihe gekriegt.

(Beifall von der CDU und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Fehring. – Ich bedanke mich auch beim Kollegen Hegemann für seine Langmut und übergebe jetzt das Wort an den Kollegen Höne von der FDP-Fraktion.

Henning Höne (FDP): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch seitens der Freien Demokraten kann ich sagen, dass die grundsätzliche Stoßrichtung, die Rahmenbedingungen gerade für kleine und mittlere Schlachtbetriebe zu verbessern, unterstützt wird. Das tragen wir gerne mit.

Nicht so ganz klar ist uns, warum man nicht eigentlich vonseiten der regierungstragenden Fraktionen

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

mit Blick auf alle Branchen oder zumindest auf mehr Branchen überlegt, wie man kleinen und mittleren Unternehmen helfen kann.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Noch mehr Anträge stellen?)

Unnötige Bürokratie und unnötige Auflagen gibt es an vielen Stellen. Oft genug streiten Sie das an dieser Stelle ab.

(Beifall von Thomas Nückel [FDP] und Josef Hovenjürgen [CDU])

Aber immerhin beraten wir diesen Punkt. Dann wollen wir das gerne besprechen.

Unserer Meinung nach gibt es noch einige Punkte zu klären; man braucht sich bloß in die Details des Antrags anzuschauen. Sie machen zum Beispiel – ich zitiere –

„fehlende Information und Kenntnisse seitens der Landwirte/Metzger und seitens der“

– kommunalen –

„Veterinäre“

dafür verantwortlich, dass es praxisferne Regelungen und Bürokratie gibt bzw. dass diese entstehen. Wir meinen: Das ist nicht nur zu pauschal, sondern das zeugt auch von einem Misstrauen gegenüber den Akteuren vor Ort. Das wird den Beteiligten vor Ort nicht gerecht. Wir zumindest glauben nicht, dass sich gerade die Akteure vor Ort mehr Bürokratie und mehr Regelungen wünschen und ausdenken.

Dann kann ich Ihnen eines auch nicht ersparen, was der Kollege Fehring gerade schon angesprochen hat: Wem schaden denn die gerade in Vorbereitung befindlichen, die gerade geplanten und vom Umweltminister gewünschten Gebühren für Regelkontrollen bei Metzgereien, Bäckereien und Co.? Schaden sie eigentlich den großen Playern in diesem Bereich, oder schaden sie gerade kleinen und mittleren Betrieben?

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Diese Frage muss dann schon erlaubt sein.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Ja!)

Zumindest müsste an dieser Stelle mehr Stringenz herrschen.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Sie können das ja diskutieren!)

Sie können nicht auf der einen Seite Schutzpatron der kleinen und mittleren Schlachtbetriebe spielen, aber dann an anderer Stelle über die Gebühren für Regelkontrollen gerade kleinere und mittlere Betriebe belasten.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Das wissen wir ja beide nicht!)

Das ist nicht glaubwürdig, Herr Kollege Rüße.

(Beifall von der FDP und Josef Hovenjürgen [CDU])

Es gibt viele Möglichkeiten, die Branche und gerade kleine sowie mittlere Betriebe zu unterstützen. Angesprochen wurde zum Beispiel schon die Anpassung des EU-Hygienerechts, also die Frage der Zerlegung und der Weiterverarbeitung innerhalb der Schlachträume. Kann man da das Verbot für kleine Betriebe aufheben? Das ist nur ein Beispiel, viele weitere sind gerade schon von den Kollegen genannt worden. Ich will sie hier nicht wiederholen. Ich glaube, dass inhaltlich an vielen Stellen Einigkeit besteht.

Das Land sollte weitere Möglichkeiten prüfen. Das sollten wir im Ausschuss gemeinsam tun. Daran arbeiten wir gerne mit.

Einen Punkt will ich ansprechen, bei dem wir Zweifel haben, ob es rechtlich möglich ist, das zu unterstützen. Herr Rüße, Sie haben die Gebühren angesprochen. Ich selbst bin Kreistagsmitglied, und die Westfleisch hat einen großen Standort in Coesfeld. Das heißt: Wir diskutieren das Thema natürlich regelmäßig – bei der Frage der Gebühren für die Fleischbeschau und natürlich bei der Unterscheidung je nach Stückzahl. Aber es ist so – das sagen Sie selbst in Ihrem Antrag –, dass die Gebühren den anfallenden Kosten entsprechen müssen. Es ist klar, dass wir bei höheren Stückzahlen entsprechende Skaleneffekte haben, die sich in den Gebühren wiederfinden müssen – so zumindest das heute gültige Gebührenrecht, was sich eigentlich bewährt hat. Das ist sicherlich ein schwieriger Punkt, einer der großen Knackpunkte.

Meine Damen und Herren, die Verbraucher werden sensibler für den Wert und den Entstehungsprozess von Lebensmitteln. Das ist, wie ich meine, eine sehr begrüßenswerte Entwicklung, weil ich damit persönlich die Hoffnung verbinde, dass auch der Druck seitens der Verbraucher auf die Branche steigt, mehr darauf zu achten und mehr Wertschätzung im Besonderen allen Beteiligten und den Tieren, den Lebewesen, entgegenzubringen.

(Beifall von Norwich Rüße [GRÜNE])

Dieser Antrag kann einen Anteil daran haben, diese richtige und begrüßenswerte Entwicklung zu unterstützen. Darum freuen wir uns auf die weiteren konstruktiven Beratungen im Ausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Höne. – Für die Fraktion der Piraten spricht der Kollege Rohwedder.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Im vorliegenden Antrag wird gefordert, kleine und mittelständische Schlachtbetriebe zu unterstützen. Das findet auch unsere Zustimmung. Denn damit stützen wir regionale Wertschöpfungsketten und erreichen kurze Transportwege für Schlachttiere.

Für die Verbraucher bedeutet die regionale Schlachtung mehr Transparenz. Das Schlachtvieh kommt vorwiegend aus einem Umkreis von etwa 20 km, und durch die Warmverarbeitung kann auf den Zusatz von Phosphat bei der Wurstherstellung komplett verzichtet werden.

Die Vorteile und die Notwendigkeit einer dezentralen Schlachthofstruktur sind bisher vor allem bei Insidern bekannt. Das sollte geändert werden, und das kann es wohl auch, wenn die Inhalte tatsächlich umgesetzt werden. Die regionale Schlachtung ist bisher noch kein sonderlich bekanntes Verkaufsargument, für das die Betriebe höhere Verkaufserlöse bekommen. Viele Verbraucher zeigen aber sehr wohl die Bereitschaft, höhere Preise für artgerechtere Tierhaltung, für Tier- und Umweltschutz zu bezahlen.

Dazu ist es notwendig, dass die Mehrkosten für die regionalen Schlachthöfe in einem Gesamtkonzept für artgerechtere Haltung und das Tierschutzkonzept insgesamt kommuniziert werden. Das in Nordrhein-Westfalen existierende Konzept „Nachhaltige Nutztierhaltung“ bietet dafür den Rahmen. Denn zu einer nachhaltigen Nutztierhaltung gehört am Ende natürlich auch die tierschutzgerechte regionale Schlachtung, Verarbeitung und Vermarktung.

Trotz der seit Jahrzehnten EU-weit betriebenen Zentralisierung von Schlachthöfen gibt es bei uns etwa 450 kleinere und mittlere Schlachtstätten, darunter solche, die saisonal oder nur an einem Tag oder an zwei Tage in der Woche schlachten. Für diese kleinen Schlachtbetriebe, die vor allem von Biolandwirten bzw. bäuerlichen landwirtschaftlichen Betrieben genutzt werden, sind die behördlichen Rahmenbedingungen besonders schwierig. Das wurde hier schon ausgeführt; darauf gehe ich nicht im Detail ein. Aber hier eine Unterstützung und gegebenenfalls eine Förderung zu erreichen, ist auch in unserem Sinne. Der Antrag findet daher unsere Zustimmung.

Eine persönliche Bemerkung zum Abschluss: Ich wohne in Dortmund. In ganz Dortmund ist kaum mal eine geräucherte Schweinebacke aufzutreiben. Ich hoffe sehr, dass sich das ändert, sodass ich nicht mehr bis nach Hamburg oder Schleswig-Holstein fahren muss, um mal ein vernünftiges Stück Fleisch zu bekommen. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN – Josef Hovenjürgen [CDU]: Geben Sie mal eine Anzeige auf: Suche Leute mit Schweinebacke!)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rohwedder. Bei Ihren Einkaufsbemühungen in Dortmund wünschen wir Ihnen natürlich alle viel Erfolg.

(Heiterkeit)

Für die Landesregierung spricht Herr Minister Remmel.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht ist der aktuelle Vorschlag der CDU in Schleswig-Holstein auch die richtige Lösung, um in Dortmund das Angebot für Herrn Rohwedder zu komplettieren.

(Heiterkeit – Hendrik Schmitz [CDU]: Sehen Sie: Gar nicht so dumm der Vorschlag!)

Aber in der Tat, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben alle Rednerinnen und Redner die Problematik dargestellt sowie richtige und wichtige Vorschläge gemacht. Insofern unterstützt die Landesregierung voll und ganz das, was die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag dargelegt haben.

Wenn man eine Tierhaltung haben möchte, die nachhaltig organisiert ist, die regional organisiert ist und die biologisch und ökologisch organisiert ist, dann reicht es nicht aus, auf der einen Seite Wünsche von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu formulieren und auf der anderen Seite die Landwirte dazu aufzufordern, genauso zu produzieren.

Was oft fehlt und in den letzten Jahren und Jahrzehnten weggefallen ist, ist das, was dazwischen liegt, nämlich eine möglichst regionale Verarbeitung.

Zu einer solchen Verarbeitung gehören auch der Metzger vor Ort, der vielfach durch den Supermarkt oder den Discounter ersetzt worden ist, und der regional orientierte und überhaupt noch vorhandene Schlachthof. In den letzten Jahrzehnten hat es auf diesem Gebiet eine Entwicklung gegeben, die nicht so einfach wieder zurückzudrehen ist.

Die vorhandenen Strukturen zu stützen und an der einen oder anderen Stelle neue Möglichkeiten zu eröffnen, um die Wertschöpfungskette in den Regionen zu halten und nachhaltige Tierhaltung regional abzusichern und zu unterstützen, ist ein lohnenswerter Ansatz.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine Zahl nennen, die für Nordrhein-Westfalen auch ökonomisch interessant ist. 65 % der Wertschöpfung der landwirtschaftlichen Betriebe in Nordrhein-Westfalen kommen über die Nutztierhaltung. Wenn wir den Anspruch haben, stärker regional zu agieren, spielen gerade regionale Schlachthöfe eine besondere Rolle. Hier gibt es Anknüpfungspunkte, um die erzeugungsnahe Wertschöpfungskette, die Regionalität, die Spezialitäten aus der Heimat und die tiergerechte Erzeugung in Einklang zu bringen. Das ist auch Gegenstand der Brancheninitiative „Tierwohl“ und verschiedener anderer Labelinitiativen, die gerade an dieser Stelle einen besonderen Schwerpunkt setzen.

Wir als Landesregierung versuchen durch die Initiative „Meisterwerk NRW“, die Strukturen auch in der Vermarktung zu unterstützen. Das Projekt ist von unserem Haus initiiert worden, um insbesondere die Betriebe des Fleischerhandwerks, des Bäcker- und des Brauhandwerks dadurch zu unterstützen. Das sind nämlich Handwerkskünste, die verloren zu gehen drohen. Solche Künste brauchen die Unterstützung. Unser Land ist ein Land der Handwerkerinnen und Handwerker. Was wäre das Quartier, was wäre das Dorf und was wäre der Stadtteil ohne den Metzger und den Bäcker? Das sind Meisterwerke in Nordrhein-Westfalen, oft mit speziellen Produkten, die auch beworben und vermarktet werden sollen.

Hier hat es in den letzten Jahren fatale Entwicklungen gegeben. Strukturen sind weggebrochen. Zu einem örtlichen Metzger gehört eben auch der regionale Rohstoffbezug. Meistens fördert es auch das Überleben dieser Betriebe, wenn sie darauf verweisen können, woher das Tier kommt, wer es geschlachtet hat und wo es auf der Weide gestanden hat. All das sollte in einem solchen System, welches stärker in Richtung Tierschutz geht, auch stärker durch uns unterstützt werden.

Ich bin sehr damit einverstanden, die vorgeschlagenen Verbesserungen im Einzelnen fachlich zu erörtern. Ich würde auch darauf setzen, die in der Debatte oder in der Diskussion im Ausschuss angeführten Punkte sehr intensiv zu untersuchen und zu erörtern, damit wir dann zu einer guten gemeinsamen Lösung kommen.

Das Ziel ist klar. Manchmal ist das eine oder andere auf der Wegstrecke nicht ganz so einfach. Aber ich hoffe, durch diese gemeinsame Initiative werden wir hier noch einiges bewegen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Minister. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/11230 an den Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – federführend – sowie an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. – Wer dem seine Zustimmung geben kann, den bitte ich um ein Handzeichen. – Wer kann dem nicht seine Zustimmung geben? – Wer enthält sich? – Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

6   Dem Ungleichgewicht im Milchmarkt begegnen – Dumpingpreise verhindern – Gründung einer gemeinsamen Vermarktungsplattform vorantreiben

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11223

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die CDU-Fraktion Frau Schulze Föcking das Wort.

Christina Schulze Föcking (CDU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Milchbauern und nicht nur die, sondern insgesamt die Landwirte, stehen derzeit mit dem Rücken zur Wand. Die Lage sowohl auf dem nationalen als auch dem europäischen Milchmarkt und auf dem Weltmilchmarkt ist extrem angespannt. Vor 25 Jahren bekamen die Landwirte noch rund 80 Pfennige pro Liter Milch ausgezahlt. Heute sind es im Durchschnitt nur noch 27 Cent oder weniger. Das ist mehr als ein Drittel weniger. Die schwächelnde Nachfrage in China sowie das Russlandembargo führen in Verbindung mit dem Auslaufen der Milchquote nach wie vor zu einem Überangebot an Milch.

Das Besondere an der Milchproduktion ist, dass erstens es sich bei unverarbeiteter Milch um ein sehr schnell verderbliches Produkt handelt, zweitens die Vielzahl der Milcherzeugerbetriebe – betriebswirtschaftlich gesehen völlig sinnvoll – weiterhin voll produziert, solange der Milchpreis ihre variablen Kosten deckt und drittens dieses Angebot auf dem wichtigsten, dem heimischen Markt im Wesentlichen durch den Flaschenhals des Lebensmitteleinzelhandels muss. Damit kommen wir zu dem Problem.

Unsere Milcherzeuger sehen sich fünf großen Abnehmern gegenüber. Diese fünf großen Abnehmer haben 85 % des gesamten Milchmarkts unter sich. Mehr als 70.000 Bauernfamilien stehen dem gegenüber. Das ist ein völliges Ungleichgewicht der Kräfte. Hinzu kommt, dass Wirtschaftsminister Gabriel der Fusion von Tengelmann und Edeka zugestimmt hat. Die Marktmacht des Lebensmitteleinzelhandels wird also noch erdrückender.

Wie weit der Einfluss der Großen reicht, sieht man an dem Druck, den Lidl ganz aktuell auf die Milcherzeuger und Molkereien ausübt.

(Beifall von der CDU)

Bis ins kleinste Detail wird zukünftig von Lidl vorgeschrieben, wie die Milcherzeuger ihren Betrieb zu führen haben und was im Einzelnen zu dokumentieren ist. Ein paar Cent mehr auf den Basispreis dafür oder Unterstützung für das, was die Landwirte bereits von sich aus in Richtung Nachhaltigkeit unternommen haben, bleiben aus. Gespräche im Vorfeld hat es nicht gegeben. Für mich ist das alles sehr unverständlich.

Meine Damen und Herren, wir verfolgen mit unserem Antrag einen anderen Ansatz. Wir wollen das gegenseitige Ausspielen beenden und dem Ungleichgewicht im Milchmarkt begegnen. Wir fordern die Landesregierung mit diesem Antrag auf, die Initiative zu ergreifen und die Akteure der NRW-Milchwirtschaft an einen Tisch zu holen.

(Beifall von der CDU)

Andere Länder wie beispielsweise Sachsen-Anhalt machen das bereits. Dort überlegt man gemeinsam, wie man den Landwirten helfen kann. Das könnte auch in NRW Schule machen – schön wär’s. Es geht konkret darum, die Bereitschaft der Akteure und die kartellrechtlichen Möglichkeiten auszuloten, um durch eine gemeinsame Vermarktungsplattform die Angebotsseite in die Lage zu versetzen, mit dem Lebensmitteleinzelhandel auf Augenhöhe zu verhandeln und zu diskutieren.

Der Lebensmitteleinzelhandel tritt selbstbewusst auf. Warum nicht auch die andere Seite am Verhandlungstisch? Rechtlich ist das möglich, und genau das sollten wir auch ausschöpfen. Unsere Vorschläge sind zum Nutzen der Erzeuger und der Verbraucher, denn eines ist doch klar:

Dieser ständige Unterbietungswettbewerb hat die Betroffenen längst an ihre Grenzen gebracht. Wir haben in Deutschland den Mindestlohn, aber in der Milchwirtschaft und auch in vielen anderen Bereichen der Landwirtschaft zahlen die Landwirte obendrauf. Es kann nicht sein, dass die Erzeuger von unseren hochwertigen Nahrungsmitteln, an deren Qualität uns allen gelegen sein sollte, dauerhaft Verluste machen. Auch unsere Landwirte brauchen einen auskömmlichen Stundenlohn.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Wir brauchen daher dringend gerechte Preise sowie eine angemessene Anerkennung für die Arbeit. Lassen Sie uns zusammen das tun, was wir hier in Nordrhein-Westfalen tun können, und ein Zeichen für unsere heimische Milchwirtschaft setzen.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Lehnen Sie unseren Vorschlag daher bitte nicht von vornherein ab, sondern lassen Sie es uns zum Wohle der Menschen und Landwirte in unserem Land probieren.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Schulze Föcking. – Für die SPD-Fraktion spricht Frau Kollegin Watermann-Krass.

Annette Watermann-Krass (SPD): Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der CDU fordert: Jetzt kümmert euch mal endlich! Jetzt müssen Regeln auf den Tisch! – Es waren viele warme Worte, die Sie hier an die Milchbauern und -bäuerinnen richten, Frau Schulze Föcking. An anderen Stelle hören wir wiederum immer nur: Der freie Markt wird es richten – und wir würden mit den ganzen Verboten im Land doch dazu beitragen, dass es alles so schwierig sei.

Der Antrag, der hier heute gespielt wird, gehört ja zu einer Kampagne.

(Zuruf von Christina Schulze Föcking [CDU] – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU] – Zuruf von der FDP: Anträge werden gestellt!)

– Nein, in sieben anderen Bundesländern ist ein ähnlicher Antrag gestellt worden, aber dadurch wird das auch nicht besser. – Dass sich die CDU hier mit warmen Worten schützend vor den kleinbäuerlichen Betrieb stellt, das ist wirklich ein doppeltes Spiel, denn gerade Sie haben doch dem Motto „Wachsen oder Weichen“ das Wort geredet. Dieses Motto haben Sie viel zu lange

(Zuruf von der FDP)

unterstützt.

(Beifall von der SPD)

Ihre Forderung nach einer Bündelung des Angebotes …

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Es ist das Gleiche!)

– Sie sind gleich dran – … und der Gründung einer Vermarktungsplattform für verschiedene Milchprodukte, wie Sie das nennen, geht doch an dem eigentlichen Problem völlig vorbei. Das Problem, das wir haben, ist doch: Wir haben einfach zu viel Milch. Trotz Quote haben die Bauern zu viel gemolken und mussten Strafe dafür zahlen.

(Zuruf von Christina Schulze Föcking [CDU])

Auch jetzt haben Sie zu viel Milch.

(Zurufe von der CDU)

– Ja, aber deswegen ist doch diese Schlussfolgerung: „Wir brauchen eine Vermarktungsplattform“ eine falsche.

Sie haben recht: Der Preis ist desaströs; er liegt unter 28 Cent. Bei jedem Liter Milch ergibt das eine Unterdeckung von 10 bis 15 Cent – für viele Milchbauern ist das existenzbedrohend –, und das scheint sich in absehbarer Zeit offenbar auch nicht zu ändern.

Wir haben hier im Haus ein Fachgespräch mit Milchbauern, aber auch Genossenschaften, also Leuten aus der Milchwirtschaft, geführt. Es gab in diesem Gespräch zwei interessante Hinweise:

Die Molkerei FrieslandCampina hat – das ist bekannt – über einen gewissen Zeitraum eine Bonuszahlung geleistet. Sie hat den Landwirten mehr Geld angeboten, wenn sie nicht mehr lieferten. 60 % der Lieferanten haben sich dem angeschlossen. Ein anderes gutes Beispiel kam von der Upländer Molkerei. Sie vermarktet überwiegend Biomilch, aber auch da wurde noch einmal klar dargestellt: Sie sind eng bei dem Erzeuger, und das führt dazu, dass diese einen Auszahlungspreis von 49 Cent behalten.

Das zeigt, dass die Molkereien, wenn sie wirklich aktiv dazu beitragen wollen, die Milchmengen auch steuern können. Das ist technisch, finanziell und rechtlich möglich.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Ich wünsche mir in diesen Molkereigenossenschaften selbstbewusste Genossinnen und Genossen in den Aufsichtsräten, damit endlich zukunftsorientierte neue Wege beschritten werden und unsere bäuerlichen Familienbetriebe eine Zukunft in diesem Land haben. Wir müssen endlich festgefahrene Denkmuster überwinden und, wie es uns einige Molkereien auch vorleben, etwas Neues wagen.

Ein schlechtes Beispiel – auch Sie werden heute die Fachpresse gelesen haben – kommt aus dieser besonderen Veranstaltung vom Deutschen Milchkontor. Das ist eine Molkerei aus meinem Kreis, dem Kreis Warendorf, die ständig gewachsen ist. Sie von der CDU behaupten, wenn Marktmacht gebündelt würde, könnten wir ganz anders gegenüber den Verhandlern auftreten. Ja, was lehrt und denn dieses Beispiel? – Das Deutsche Milchkontor hat den niedrigsten Auszahlungspreis.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Peinlich ist das!)

Wie man jetzt lesen kann, ist es auf einer außerordentlichen Genossenschaftsversammlung weder gelungen, eine Mengensteuerung noch eine Lockerung der Kündigungsfristen bei den Lieferverträgen für die Milchviehbetriebe zu erreichen.

Zum Schluss: Wir sind ja – zumindest einige – auf dieser schönen Busreise nach Österreich unterwegs gewesen und haben uns Regionen angesehen, in denen Genussangebote präsentiert wurden. Wir waren auch in einer Molkerei. Das Auffällige daran war, dass es eine Molkerei war, die 13 verschiedene Milchprodukte in ihrem Sortiment hatte. Sie hatten aber auch Klassifizierungen.

Da gab es etwa Heumilch. Es war für diese Molkerei überhaupt kein Problem, verschiedene Milch einzusammeln und gesondert zu klassifizieren.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Kollegin, ich habe ein Problem mit der Redezeit.

Annette Watermann-Krass (SPD): Ich komme zum Schluss. – Wir lehnen Ihren Antrag natürlich ab. Auf jeder Agrarministerkonferenz sind mögliche Kriseninstrumente im Milchsektor übrigens auch Thema. Insofern kann ich nur sagen: Ich glaube, wir müssen über ganz andere Dinge nachdenken, als Sie in Ihrem Antrag beschrieben haben. – Herzlichen Dank.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Abgeordnete Busen.

Karlheinz Busen (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation der Milchbauern ist natürlich exemplarisch für die Probleme der Landwirte. Der Kostendruck, die völlig überzogenen Auflagen, die Regulierung durch die rot-grüne Landwirtschaftspolitik

(Norbert Meesters [SPD]: Das ging ja schnell!)

in Nordrhein-Westfalen und die teils völlig unrealistischen Erwartungen der Verbraucher tragen erheblich zu der schlechten Situation bei.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Wiederholen macht es nicht richtiger!)

Es ist schon bemerkenswert, wenn man von Familienbetrieben hören muss: Da uns die Politik durch Kontrollwahn, Auflagen und Förderung des Preiskriegs den KO gibt, werden wir unseren Betrieb aufgeben müssen.

Solche Signale der Hilflosigkeit müssten uns allen eine Warnung sein.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Die Familien auf den Höfen in unserem Land sind Leid gewohnt, aber inzwischen ist das Rad deutlich überdreht. Besonders deutlich wird dieses Dilemma bei der Milch. Gerade die Standardwaren H-Milch, Trinkmilch, einfacher Goudakäse oder Butter und Magerquark sind einfach in der Herstellung, und die Hersteller sind austauschbar. Daher ist der Preis das einzige Verkaufsargument, solange die Zahl der potenziellen Anbieter viel größer ist als die der Abnehmer.

Wir haben im Lebensmitteleinzelhandel in den vergangenen Jahren eine nahezu beispiellose Konzentration erlebt. Frau Schulze Föcking hat es vorhin angeschnitten: Fünf Unternehmen vereinen 85 % des Milchmarktes. Die Molkereien haben kaum Ausweichmöglichkeiten. Auf der einen Seite stehen fünf große Handelsunternehmen, auf der anderen Seite stehen mehr als 7.000 Anbieter. Das führt natürlich zu einem großen Ungleichgewicht in der Verhandlungsposition.

Verschärft wird diese Situation zudem durch die Entscheidung von Sigmar Gabriel, eine weitere Konzentration auf dem Lebensmittelmarkt gegen den Willen des Bundeskartellamts per Ministererlass zuzulassen.

(Henning Höne [FDP]: So ist es!)

Ein weiterer Schlag ins Genick unserer Landwirte.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Gemeinsames Auftreten gegenüber dem Lebensmitteleinzelhandel, wie es in diesem Antrag von der CDU gefordert wird, löst allein nicht die strukturellen Probleme am Milchmarkt.

Zu überprüfen wäre auch, ob das Genossenschaftsrecht noch zeitgemäß ist. Die Rechte der Mitglieder gegenüber den Genossenschaftsvorständen müssen wieder gestärkt werden. Das würde den Landwirten bei Verhandlungen mit den Molkereigenossenschaften zugutekommen.

Aber wenn sich durch den Antrag der CDU für die Landwirte eine Chance bietet, bessere Erlöse für die Milchbauern abzusichern, dann wäre es sträflich, nicht wenigstens den Versuch zu unternehmen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Das sagt übrigens auch der Präsident des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt. Daher können wir dem Antrag zumindest als Versuch zur Verbesserung der Situation unserer Bauern zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Busen. – Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Kollege Rüße.

Norwich Rüße (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war zunächst einmal ein bisschen überrascht, dass Sie diesen Antrag gestellt haben. Denn ich habe versucht, mich zu erinnern, wann die CDU den letzten Antrag zur Landwirtschaft gestellt hat. Das ist nämlich schon ein bisschen länger her. Aber schön, dass Sie das mal wieder tun. Ich finde es auch gut, dass wir hier über die erneute Milchkrise in der Landwirtschaft miteinander diskutieren können. Das ist wichtig, weil es in der Tat ein Problem ist, das die Landwirte, die Milchbäuerinnen und Milchbauern intensiv bewegt.

Gut ist auch, dass wir darüber reden, weil ich glaube, dass wir damit zwei Dinge sichtbar machen können.

Erstens. Frau Schulze Föcking, Sie machen mit Ihrem Antrag deutlich, dass wir einen Bundeslandwirtschaftsminister haben, der nichts auf die Kette kriegt. Es ist auch kein Wunder, dass ihn draußen eigentlich niemand kennt. Wenn Sie die Bauern und Bäuerinnen draußen fragen, wie der Bundeslandwirtschaftsminister heißt, dann haben die meisten ein Problem und wissen es nicht.

Zweitens. Wir können in der Debatte hier noch einmal deutlich unsere unterschiedlichen Ansätze und Erklärungsmuster darlegen und klarmachen, warum es zu dieser erneuten Milchkrise gekommen ist.

Ich will deshalb zwei, drei Worte über die Krise an sich verlieren. Wir haben 2009 eine Milchkrise gehabt, wir haben 2012 wieder ein tiefes Tal gehabt, und wir haben jetzt schon wieder einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Das heißt: In nicht einmal einem Jahrzehnt drei absolute Tiefphasen, obwohl Ihre Agrarpolitik den Bäuerinnen und Bauern eine rosarote Welt versprochen hat: Sie könnten am Weltmarkt profitieren. Der Milchpreis werde nach oben gehen, weil die Weltbevölkerung wachse, was unglaubliche Chancen eröffnete.

Dann auch immer diese Schimäre, der Russlandboykott, das Russlandembargo sei schuld. Wenn Sie auf die in Deutschland vorhandene Statistik schauen, dann stellen Sie fest: Die Exporte brummen durchaus noch. Der Verlust des russischen Marktes ist kompensiert worden. Die Exporte sind auf einem hohen Niveau.

Damit sind wir beim eigentlichen Problem: Es ist einfach die Milchmenge, die am Markt viel zu groß ist. Wenn wir einmal genau hinschauen, sehen wir: Bis ungefähr 2007 lag die Milchproduktion in Deutschland jährlich immer zwischen 26 bis 27 Millionen t Milch. Ab 2007 – das kommt ungefähr hin – wurde den Bauern geraten: Los, Schleusen auf, Milch produzieren auf Teufel komm raus, der Weltmarkt wird es schon schaffen und wird alles abnehmen!

2010 hatten wir 29 Millionen t Milch, 2012 waren es dann schon 31 Millionen t Milch, und jetzt, 2015, sind wir bei knapp 32 Millionen t Milch. Und in diesem Jahr wird die Steigerung so weitergehen, weil natürlich die Bäuerinnen und Bauern verzweifelt versuchen, Geld auf ihre Höfe zu holen, indem sie noch mehr Masse produzieren.

Wir müssen mit einem Satz noch einmal ganz deutlich sagen, wie viel Verlust im Moment eingefahren wird. Wenn wir davon ausgehen, dass den Bäuerinnen und Bauern ungefähr zehn Cent pro Kilo Milch fehlen, dann reden wir in Deutschland zurzeit über 3 Milliarden € Jahr für Jahr – 2015 und 2016 wird es genauso kommen –, die den Bäuerinnen und Bauern fehlen.

Dann kommen Sie hier mit einer Vermarktungsplattform, die das Problem lösen soll. Das greift doch viel zu kurz. Diese Vorstellung, dass man damit wirklich etwas erreicht, ist doch abstrus.

Wir haben doch am Milchmarkt – darauf wurde hingewiesen – längst das Deutsche Milchkontor, auch ein großer Marktteilnehmer. 20 % der deutschen Milchmenge werden über das Deutsche Milchkontor abgewickelt. Das DMK ist ein Gigant am Milchmarkt, aber ein Gartenzwerg bei den Auszahlungspreisen, meine Damen und Herren.

Ich will deshalb noch einmal ganz klar feststellen: Die Verhandlungsposition ist nicht wegen der kleinen Molkereien so schlecht, die Verhandlungsposition ist deshalb schlecht, weil die Menge viel zu groß ist. Es ist zu viel Milch am Markt, und genau das Problem müssen wir angehen. Wir bekommen es aber nicht durch eine Vermarktungsplattform in den Griff.

Das Problem ist auch: Warum zahlt diese Großmolkerei DMK den schlechten Preis? – Weil sie nämlich, das hat Herr Busen schön angedeutet, nur auf Standardware, auf Massenware setzt und nicht in Richtung Spezialisierung geht, wie wir es bei anderen Molkereien haben. Vielleicht kann eine große Molkerei das auch so nicht leisten.

Ich denke, Ihr Antrag zeigt eigentlich nur eins: Ihr Antrag zeigt, dass das agrarpolitische Credo Ihrer Partei „Weltmarkt, Weltmarkt, Weltmarkt“ krachend zusammengebrochen ist.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Bäuerinnen und Bauern müssen jetzt die Zeche dafür zahlen, und das nicht nur im Milchbereich.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Ich habe Ihren Antrag gelesen. Er war einseitig, und nur diese Vermarktungsplattform reicht überhaupt nicht aus. Ich finde, das zeigt, dass Sie von Milchpolitik weit entfernt sind.

Und was mich am meisten wundert, ist, dass Sie ja noch nicht einmal mehr die Unterstützung des Raiffeisenverbandes haben. Selbst die sagen, dass diese Vermarktungsplattform der falsche Weg sei. Selbst von der Seite bekommen Sie keine Unterstützung. Meine Unterstützung und die meiner Fraktion haben Sie auch nicht. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rüße. – Für die Piratenfraktion spricht Herr Kollege Rohwedder.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Es gibt seit April 2015 keine Milchquote mehr. Das hat dazu geführt, dass immer mehr Milch produziert wird und die Preise für Milch unter die Erzeugerpreie gefallen sind. Die Milchbauern bangen um ihre Existenz. Im September 2015 gab es eine große Demonstration der Milchbauern in Brüssel. Die haben den Einsatz von Kriseninstrumenten inklusiv freiwilliger Lieferverzichte gefordert.

Der EU-Milchmarkt ist überschwemmt, die Preise sind abgestürzt. In einigen Ländern sind sie schon nah an der 20-Cent-Marke pro Liter. Und ohne eine Reduktion der Produktion wird sich der Markt weiter rapide verschlechtern. Ein Großteil der Michbauern fordert einen EU-weiten Produktionsrückgang. Dazu soll ein Marktverantwortungsprogramm kommen, das unter anderem Bonuszahlungen für freiwillige Produktionskürzungen der Erzeuger vorsieht.

Nationale Ansätze können laut European Milk Bord die Lage nicht stabilisieren, genauso wenig können das regionale ausschließlich in Nordrhein-Westfalen.

Ähnliche Programme fordert auch der Bund der Deutschen Milchbauern. Der hat schon seit Längerem ein Milchmarktkrisenmanagementkonzept entwickelt, unter anderem mit einer privaten Lagerhaltung und noch einigen weiteren Schritten.

Diese vorhandenen Vorschläge und ihre möglichen Kombinationen sind es allemal wert, untersucht und erprobt zu werden. Denn die erscheinen mit den bestehenden Instrumenten machbar. Für die Erzeuger geht es um die Existenz der Höfe, für die Verbraucher um eine EU-weite regionale und gesunde Lebensmittelproduktion, und für die EU um einen stabilen und wettbewerbsfähigen Milchsektor.

Dazu braucht man politische Mehrheiten in der EU und keine Anträge auf regionaler Ebene, wie hier von der CDU vorgeschlagen. Denn EU-weit hat die Politik, vor allem die der CDU in Deutschland, Berlin und in der EU, wo die konservativen Politiker die Mehrheit haben, eine starke Exportorientierung mit Mengenanstieg verfolgt. Sie haben das Fiasko, vor dem Sie jetzt stehen, durch Ihren Marktradikalismus selbst verursacht. Das ist absolut schiefgegangen und muss nun auch auf EU-Ebene wieder korrigiert werden. Alleine werden die Länder, die Einzelstaaten und auch die Bundesländer, keine langfristige und nachhaltige Lösung erreichen.

Selbst die Verbände der Milchviehhalter lehnen nationale Alleingänge als nicht zielführend ab, und da sind Alleingänge von Bundesländern noch viel weniger zielführend. Insbesondere der EU-Agrarkom-missar Phil Hogan und der deutsche Agrarminister Christian Schmidt – falls Sie nicht gewusst haben sollten, wie er heißt – müssen hier ihre Haltung aufgeben. Denn die Maßnahmen wie beispielsweise die private Lagerhaltung, die man seit letztem Jahr einsetzt, konnten angesichts eines weltweit überfluteten Milchmarktes keine stabilisierende Wirkung bringen. So wird die Kritik an dieser aktuellen marktliberalen Exportpolitik auch immer lauter.

Das sollte auch die CDU hier im Landtag zur Kenntnis nehmen, und ihre Freunde in der Bundespolitik, den Agrarminister, und in der EU entsprechend auffordern, Konzepte mit den Milchbauern zusammen zu erstellen, um die bäuerlichen Milchbetriebe zu erhalten.

Der EU-Agrarkommissar Phil Hogan ist Mitglied der EVP. Im Europäischen Parlament stellt die EVP seit 1999 die größte Fraktion. Derzeit gehören 216 Abgeordnete der EVP-Fraktion an, darunter die Europaparlamentsmitglieder von CDU und CSU. Schildern Sie denen die Probleme und lassen Sie sich auch von denen auslachen, wenn Sie ihnen mit einer kurzfristigen Vermarktungsplattform nur für Nordrhein-Westfalen kommen. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rohwedder. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Remmel.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Antrag der CDU-Fraktion wird sozusagen das derzeitige Horrorbild, was der Milchmarkt hergibt, richtig beschrieben:

Es gibt kein Marktgleichgewicht; das ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt keine kostendeckenden Milchauszahlungspreise. Es geht sogar noch weiter: Mit dem erzielten Preis kann auch nichts für notwendige Investitionen zurückgelegt werden. Die Betriebe sind in ihrer Existenz bedroht.

In der Tat: Wenn man mit den Michbäuerinnen und Milchbauern spricht, dann tränen einem selbst die Augen, wenn geschildert wird, dass man die Situation, wie sie jetzt ist, vielleicht noch ein halbes Jahr, vielleicht noch ein Jahr wird durchstehen können, aber dann der Betrieb am Ende ist, weil die Einkünfte einfach unterhalb dessen liegen, was für das Überleben des Betriebs als auch für den Lebensunterhalt der Familien notwendig ist. Das ist eine hochdramatische Entwicklung und in der Tat für uns alle alarmierend.

Der Einschätzung kann ich zustimmen, gar keine Frage. Man kann es den Menschen und auch den Bäuerinnen und Bauern nicht erklären, warum auf dem Oktoberfest für einen Liter Bier über zehn Euro gezahlt werden, aber im Supermarkt Milch für unter 60 Cent angeboten wird.

Frau Schulze Föcking hat die Preisentwicklung genannt. Vor 20 Jahren waren es 80 Pfennig, heute sind wir nahe bei 20 Cent. Das stimmt in keiner Weise mit realen Gegebenheiten überein. Das entspricht auch nicht dem Wert des Produkts.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Wenn wir die Milchbäuerinnen und Milchbauern in unserer Region halten wollen, dass sie weiter ihren landwirtschaftlichen Betrieb führen können, dann geht das in erster Linie nur dadurch, dass sie für ihr gutes Produkt einen besseren Preis bekommen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Diesen besseren Preis wird man nur erzielen, wenn es wieder ein Marktgleichgewicht gibt. Das Grundprinzip des Marktes ist, dass Angebot und Nachfrage übereinstimmen müssen. – Sehr geehrte Frau Schulze Föcking, da vermisse ich Ihre Analyse des Marktes. Wir haben hier ein Überangebot. Darüber sprechen Sie überhaupt nicht.

(Zuruf von Christina Schulze Föcking [CDU])

Da muss ich Sie schon fragen, ob Sie in der Vergangenheit einfach nicht wühlen wollen. Gerade Ihre politischen Freundinnen und Freunde haben doch dazu beigetragen, die Quotenregelung auf europäischer Ebene zu beseitigen. Wir kommen auch nicht wieder zurück zu der Quotenregelung. Aber wir brauchen trotzdem Regulierungsinstrumente,

(Zuruf von Christina Schulze Föcking [CDU])

wenn ein Markt nicht funktioniert, um von diesen hohen Mengen herunterzukommen. Dazu kein Wort von Ihrer Seite!

(Zuruf von Christina Schulze Föcking [CDU] – Henning Höne [FDP]: Die Preise!)

Sie antworten auf die hohen Mengen mit dem Hinweis auf die Konzentration im Einzelhandel. Ja, auch das gefällt mir nicht. 80 % sind hier in der Tat konzentriert. Aber es kann doch nicht richtig sein, auf Konzentration mit Konzentration zu antworten. An der Schraube wollen Sie offensichtlich noch weiterdrehen. Es geht doch darum, wenn wir Wertschöpfung erzielen wollen, von dieser Konzentration wegzukommen, gerade die Konzentration der Vermarktungsseite, der Molkereien zu betrachten. Die lassen Sie völlig aus dem Fokus.

Es geht nicht darum, dass mehr Menge angeboten wird, sondern wir müssen davon wegkommen, dass es auch genossenschaftliche Molkereien gibt, die die Bauern am Markt am meisten drücken. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Die Molkereien haben hier eine große Verantwortung wahrzunehmen, was sie derzeit nicht tun, meine sehr geehrten Damen und Herren.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD – Beifall von Hubertus Fehring [CDU])

Wie wollen Sie einer Molkerei, noch dazu einer genossenschaftlichen, die mittlerweile europaweit organisiert ist, den Blick für die deutschen Bauern öffnen? In Irland interessiert es niemanden, wie die Lage der Milchbäuerinnen und Milchbauern in Nordrhein-Westfalen aussieht. Deshalb ist es eine absolute Fehlentwicklung, dass wir uns bei den Molkereien vom Regionalitätsprinzip verabschiedet haben.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

An dieser Stelle sage ich noch einmal ganz klar: Bei den Volksbanken, die ja auch genossenschaftlich organisiert sind, achten wir sehr genau darauf, dass sie das Regionalitätsprinzip nicht verletzen. Aber bei den Molkereien haben wir das vernachlässigt. Wir müssen uns dringend – Herr Busen, ich gebe Ihnen völlig recht – das Genossenschaftsrecht anschauen, um wieder dahin zu kommen, dass sich Genossenschaften in der Region verankert fühlen und auch gegenüber der Region verantwortlich sind.

Es gibt ja gute Beispiele; es ist nicht so, als ob es sie nicht gäbe. Die Molkerei Berchtesgadener Land – wir brauchen gar nicht bis nach Österreich zu fahren – zahlt ihren Milchbauern nach wie vor 40 Cent pro Liter. Sie vermarktet ihre Produkte bundesweit. Es ist eine gute Marke. Ich frage mich, warum sich die Molkereien in Nordrhein-Westfalen nicht anstrengen, beispielsweise auch eine gute Weidemilch vom Niederrhein zu vermarkten.

(Martina Maaßen [GRÜNE]: Genau!)

Das wäre mein Vorschlag für eine Lösung.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dann komme ich zu Ihrem Vorschlag. Wir haben bereits alle Molkereien angeschrieben und ihnen angeboten: Lasst uns in der aktuellen Situation das tun, was FrieslandCampina vorgemacht hat. – FrieslandCampina hat erkannt, dass die Menge zu groß ist, und zahlt den Bauern 1 bis 2 Cent, wenn sie ihre Menge reduzieren. Ich würde dem Bundesminister vorschlagen, ein Programm aufzulegen, über das noch 1 bis 2 Cent aus den öffentlichen Haushalten dazugelegt werden, wenn sie die Menge reduzieren. Das muss der Weg sein.

(Beifall von Norwich Rüße [GRÜNE])

Es geht um Mengenreduzierung, der Preis soll wieder nach oben, und wir müssen uns für unsere Milchbäuerinnen und Milchbauern einsetzen. Dafür brauchen wir keine Steuerung über zusätzliche Vermarktungsinstrumente. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Remmel. – Frau Schulze Föcking hat sich noch einmal für die CDU-Fraktion gemeldet. Geschlagene 42,7 Sekunden bleiben ihr an Zeit. Bitte schön.

Christina Schulze Föcking (CDU): Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Ich zitiere gerne aus einer Pressemitteilung:

„Der Vizepräsident und Milchbauernpräsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Udo Folgart, begrüßt die Initiative von CDU-Agrar-politikern zur Bündelung des Angebots von Milchprodukten:“

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Das ist doch ein Einzelgänger sondergleichen!)

„‚Um bessere Milchpreise im Markt zu erzielen, benötigen wir neue Konzepte,“

Herr Rüße,

„mit denen unsere Molkereien ihre Verhandlungsposition gegenüber den Konzernen des Lebensmitteleinzelhandels stärken können.‘„

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Das ist LPG irgendwo in Brandenburg!)

Liebe Kolleginnen von Rot-Grün, springen Sie endlich über Ihren Schatten! Ehrlich gesagt finde ich es äußerst seltsam, dass diejenigen, die den Landwirten in Nordrhein-Westfalen sonst mit vielen Auflagen wie dem Landesnaturschutzgesetz oder dem Landeswassergesetz

(Stefan Zimkeit [SPD]: Tariftreue!)

das Leben schwer machen, nun nach dem Bund rufen.

(Zurufe von der SPD)

Wir brauchen endlich faire Preisverhandlungen auf Augenhöhe und keine Augenwischerei.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Schulze Föcking. – Für die FDP-Fraktion hat sich Herr Busen noch einmal zu Wort gemeldet. Ihm stehen 1:40 Minuten zur Verfügung. Sie haben das Wort.

Karlheinz Busen (FDP): Danke. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Ihrer Rede nach können Sie ja dem Antrag der CDU zustimmen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie wollen alles versuchen, um den Landwirten mehr Möglichkeiten zu geben, bei den Verhandlungen der Molkereien mitzuwirken. Das Genossenschaftsrecht haben Sie gerade angesprochen. Dann können Sie diesem Antrag, der genau in die Richtung geht, ja auch zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Busen. Kommen Sie noch einmal zurück an das Pult! Es gibt eine angemeldete Kurzintervention zu Ihrem Beitrag von Herrn Kollegen Rüße. – Herr Rüße, aktivieren Sie bitte Ihr Mikrofon, und dann haben Sie 1:30 Minuten.

Norwich Rüße (GRÜNE): Ich bin überrascht, wie viele Hoffnungen Sie mit diesem Antrag verbinden, der nur einen einzigen Punkt enthält, obwohl wir die Diskussion seit Jahren führen und einen vielfältigen Instrumentenkoffer gesehen haben, was alles machbar wäre, um die Lage der Milchviehhalter zu stabilisieren und zu verbessern. Der BDM hat sehr viele Vorschläge gemacht.

Ich bin entsetzt, dass Frau Schulze Föcking ausgerechnet Udo Folgart, den sogenannten Milchpräsidenten, zitiert, der unter den Milchviehhaltern überhaupt keine Unterstützung hat.

(Zuruf von Christina Schulze Föcking [CDU])

Ich bin völlig überrascht

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

und verstehe nicht, wie man einem so schwachen Antrag zustimmen kann wie dem, der uns hier vorgelegt worden ist. Wenn der in die Beratung gegangen wäre, würde ich es noch verstehen. Aber wie man einem so schwachen Ein-Punkt-Antrag zustimmen kann, verstehe ich nicht.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Busen, bitte.

Karlheinz Busen (FDP): Herr Rüße, es geht einzig und allein darum, dass man den Landwirten in dieser Situation den Rücken stärkt. Sie wissen selbst, dass die Quotenregelung es zu nichts gebracht hat, zu gar nichts. Die Milchbauern selbst wollten diese Quote auch gar nicht mehr. Es geht einzig und allein darum, die Familienbetriebe hier zu retten.

(Zuruf von Norwich Rüße [GRÜNE])

Denn die stehen vor dem Ruin.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Da geht es darum, alles auszuschöpfen am Markt, was möglich ist.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wenn wir das Genossenschaftsrecht ändern müssen, dann müssen wir das ändern. Und wenn die Landwirte an irgendeiner Stelle die Macht bekommen, sich stärker durchzusetzen, dann müssen wir dafür sorgen, dass das passiert. Dafür werden wir uns einsetzen. Deswegen ist der Antrag auch richtig und wichtig. Wir können nicht einfach dabei zuschauen, dass die Bauern der Reihe nach pleitegehen. Das kann einfach nicht sein in unserem Land.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Deswegen stimmen wir dem Antrag zu.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Busen. – Nun hat sich noch einmal die Landesregierung zu Wort gemeldet. Herr Minister Remmel.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Herr Busen, ich habe von einer Veränderung des Genossenschaftsrechts in dem Antrag nichts gelesen. Ich bin ja mit Ihnen völlig einer Meinung, wenn es darum geht, beispielsweise die Frage der Pflichtanlieferung bei Molkereien und Genossenschaften zu diskutieren. Ist das wirklich marktgerecht, dass man sozusagen über lange Zeit an einen Abnehmer gebunden wird? Ich meine, nein. Das ist ein Teil des Problems, dass es diese Verpflichtung gibt. Da bin ich sofort dabei. Das ist gar keine Frage.

Aber worum es eigentlich geht und warum ich mich eigentlich noch einmal gemeldet habe: Frau Schulze Föcking, Ihr Verweis auf den Vizepräsidenten des Deutschen Bauernverbandes ist entlarvend, weil Herr Folgart eindeutig für den Teil in der Milchwirtschaft steht, der auf Menge setzt, auf die großen Betriebe.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Genau so ist das! – Beifall von den GRÜNEN)

Das sind nicht die Betriebe, die wir in Nordrhein-Westfalen haben. Insofern vertritt er unsere Interessen und die unserer Milchbauern nicht, sondern hier geht es um einen Verdrängungswettbewerb der Großen gegen die Kleinen. Die Kleinen sollen aus dem Markt gedrängt werden. Das sind gerade unsere Betriebe, die wir hier haben.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Deshalb kämpfen wir für unsere Betriebe. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellende Fraktion der CDU hat direkte Abstimmung beantragt. Wer also stimmt dem Antrag zu? – CDU und FDP. Wer stimmt dagegen? – SPD, Grüne und die Piratenfraktion. Gibt es Enthaltungen? – Es gibt keine Enthaltungen. Damit ist der Antrag Drucksache 16/11223 mit breiter Mehrheit im Hohen Haus abgelehnt.

Ich rufe auf:

7   Geflüchtete Frauen und Kinder nicht vergessen: Schutz vor Gewalt auch in den Landesaufnahmen sicherstellen!

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/10782

Beschlussempfehlung und Bericht
des Integrationsausschusses
Drucksache 16/11191

Der Antrag der Piratenfraktion wurde gemäß § 82 Abs. 2 Buchstabe b unserer Geschäftsordnung vom Plenum an den Integrationsausschuss überwiesen mit der Maßgabe, dass eine Aussprache und Abstimmung erst nach Vorlage einer Beschlussempfehlung erfolgt, die jetzt vorliegt.

Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat nun Frau Kollegin Hack das Wort.

Ingrid Hack (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Schon seit Längerem geht es nun in unseren Diskussionen über das in diesem Hause häufig besprochene Thema der geflüchteten Menschen, der Menschen, die Zuflucht suchen in Deutschland und in NRW, nicht mehr nur um die Unterbringung, um das berühmte Dach über dem Kopf.

Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Piraten, haben – ebenso wie alle anderen Fraktionen in diesem Haus, vor allem aber die Organisationen und Flüchtlingsinitiativen in NRW – darauf aufmerksam gemacht, das Wie der Unterbringung zu thematisieren.

Sie, Kolleginnen und Kollegen der Piratenfraktion, fordern nun mehrere Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vor allem, aber nicht nur für Frauen in den Gemeinschaftsunterkünften des Landes. Ihr Antrag thematisiert mehrere besonders schutzbedürftige Gruppen, anders als man es durch die Überschrift erwarten könnte. Er stellt Forderungen für mehrere Gruppen von Geflüchteten, deren Situation in Gemeinschaftsunterkünften verbesserungswürdig ist. Dabei – das möchte ich hinzufügen – ist es eigentlich egal, ob es sich um eine Landes- oder eine kommunale Unterkunft handelt.

Wir teilen Ihre Auffassung, dass es hier zu Änderungen kommen musste und – das füge ich hinzu – auch schon gekommen ist. Die Landesregierung – dazu wird Minister Jäger ja nachher etwas sagen – hat diese Problematik bereits erkannt und am 22. Dezember 2015 gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen aus Nordrhein-Westfalen einen mehrere Punkte umfassenden Plan vorgestellt, der das Ergebnis mehrmonatiger Zusammenarbeit der Regierung mit diesen NGOs ist.

Festgeschrieben ist, dass die vorhandenen Standards weiterentwickelt werden, um eine den Bedürfnissen der Asylsuchenden entsprechende Unterbringung zu gewährleisten. Das kann – und wir sehen, das ist auch inzwischen so – die von Ihnen geforderte räumliche Trennung von Unterkünften für besonders Schutzbedürftige sein.

In dieser Vereinbarung sind auch Festlegungen für die psychosoziale Beratung für Geflüchtete ebenso wie für die medizinische Versorgung getroffen, die – auch das haben wir ja in mehreren Diskussionen erläutert – in den zurückliegenden Monaten oft nicht ausreichend war oder auch nicht ausreichend schnell erfolgen konnte.

Die Landesregierung hat seinerzeit vereinbart, ein Fachkonzept zur Erkennung und Berücksichtigung der Bedürfnisse besonders Schutzbedürftiger zu erarbeiten. Darin werden Anforderungen und Erkenntnisse ganz unterschiedlicher Bereiche der Landesministerien zusammengeführt: der Polizeiarbeit, des Gewaltschutzes, der baulichen Voraussetzungen für Unterkünfte, um Schutz vor Gewalt, auch häuslicher Gewalt, zu verbessern bzw. sicherzustellen. Das sind nur einige Beispiele aus diesen Verabredungen in dem Konzept.

Die Entwicklung dieses Konzepts ist ein noch laufender Prozess, unter anderem aber – ich erwähnte es bereits – mit dem Ergebnis, dass es inzwischen Landesunterkünfte mit Bereichen ausschließlich für Frauen und Mütter mit Kindern gibt.

Auch in den Kommunen – so erfahre ich es zumindest bei meinen Gesprächen – werden inzwischen häufig reine Frauenwohnbereiche in den Unterkünften geschaffen, wenn das irgend möglich ist. Das begrüßen wir ganz ausdrücklich.

Wir haben heute Morgen in der Debatte zum Integrationsplan manchmal scharf, manchmal rein sachlich darüber gesprochen, dass wir sehr häufig unterschiedliche Ebenen in unserem Staat für unterschiedliche Sachverhalte verantwortlich machen möchten oder das auch tun.

Ich möchte für diesen Antrag noch ergänzen, dass auch auf Bundesebene inzwischen die Bedürfnisse besonders schutzwürdiger Geflüchteter stärker ins Bewusstsein gerückt sind. Mit einem KfW-Kreditprogramm von 200 Millionen € können von den Kommunen bauliche Schutzmaßnahmen durchgeführt werden.

Und das Bundesfamilienministerium – ich will das nur informatorisch weitergeben und mich nicht mit fremden Federn schmücken; aber ich fand das interessant – führt in Zusammenarbeit mit UNICEF mehrere Maßnahmen durch, die bis zu 300 Unterkünfte betreffen, in denen Schulungen und Mentoringmaßnahmen für Fachkräfte und Ehrenamtliche durchgeführt werden können, die das Thema „Schutz von Frauen und Kindern“ haben. Mit Hilfe von UNICEF werden auch kindgerechte Bereiche in den Unterkünften eingerichtet. Das nur als Beispiel.

Ich bin mir sicher, dass wir mit den erforderlichen Verbesserungen, die begonnen worden sind, bei diesem völlig berechtigten Anliegen einen Schritt weiterkommen und dass nicht nur die Regierung selbst, sondern auch wir hier im Parlament und die NGOs den Fortschritt und die Umsetzung überprüfen werden.

Deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Hack. – Für die CDU-Fraktion spricht Frau Dr. Bunse.

Dr. Anette Bunse (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich gefragt, sehr verehrte Piraten: Ist Ihr Antrag jetzt Schnee von gestern? Im Ausschuss sind Sie überstimmt worden. Sie haben auf den 8. März, den Weltfrauentag, verwiesen, ein Zeichen setzen wollen und – für mich unverständlich – auf eine Abstimmung gedrängt. Denn das Spiel endete so, wie man es hätte erwarten können: Der Antrag ist abgelehnt worden, und wir hätten uns sehr gewünscht, dass über den Inhalt, den Frau Hack gerade sehr dezidiert dargestellt hat, in großer Runde und vor allem auch mit Experten hätte diskutiert werden können.

Der Inhalt, wie gesagt und beschrieben, hat sich mit der Situation der besonders schutzbedürftigen Frauen und Kinder in den Flüchtlingsunterkünften beschäftigt. Die Forderungen beruhten unter anderem darauf, ein Gesamtkonzept zu erstellen und vor allem für getrennte Unterbringungsmöglichkeiten für Frauen und Männer bzw. Frauen mit Kindern zu sorgen.

Wir haben uns natürlich gefragt, liebe Piraten: Wer soll das bezahlen? Gott sei Dank sind alle Ihre Gedanken jetzt in den Integrationsplan der Landesregierung eingegangen, und so werden wir wohl doch die Chance haben, in den Ausschüssen und besonders im Integrationsausschuss –hoffentlich; ich gucke Sie in der SPD-Ecke dabei gar nicht an – sehr konstruktiv zu diskutieren und uns auszutauschen. Meine Erkenntnis heute ist: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.

(Zuruf von Martin Börschel [SPD] – Weitere Zurufe von der SPD)

– Ich kann gerne darauf eingehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich sehr bemüht gewesen bin und im Integrationsausschuss darauf hingewiesen habe, dass einzelne Punkte in unseren Anträgen nicht behandelt worden sind. Dann bin ich wie ein Schulmädchen von Ihren Mitstreitern abgekanzelt worden – da vorne sitzt einer –: Das ist doch alles schon erledigt.

Es war noch nicht erledigt. Ich nenne nur ein Beispiel: Wir haben uns Gedanken gemacht, ob es nicht sinnvoll ist, auch für junge Erwachsene für eine Schulpflicht zu sorgen, die ohne Schulabschluss hierhergekommen sind. Ich halte diesen Gedanken für sehr sinnvoll, und man sollte ihm nachgehen. – Vielleicht haben wir heute doch noch die Chance dazu.

Meine Erkenntnis heute: Mit klitzekleinen Trippelschrittchen öffnet sich diese Landesregierung. Zumindest haben sie das heute Morgen mehrfach angedeutet. Unsere Gedanken und die Inhalte unserer Anträge sind nach meiner Auffassung sehr in diesen Integrationsplan eingeflossen. Wir vonseiten der CDU sind sehr bemüht und gehen sehr hoffnungsvoll in diese Ausschusssitzung. Meine heutige Erkenntnis ist: Alles braucht seine Zeit. Vielleicht braucht diese Landesregierung ein bisschen mehr davon. – Die Hoffnung wird sein, dass zum Beispiel das Thema „Wertevermittlung“ am Ende des Jahres in Ihrer Bilanz etwas mehr sein wird als eine Broschüre mit vielen bunten Bildern und Piktogrammen.

Wie gesagt, wir sind sehr hoffnungsfroh und werden uns gerne an diesem Austausch beteiligen.

Ihnen von der Piratenfraktion kann ich einfach nur sagen: Wir werden uns genauso wie im Ausschuss enthalten – aufgrund der unglücklichen Verfahrensweise, aber nicht wegen des Inhalts, den Sie in diesem Antrag thematisiert haben. – Danke.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Dr. Bunse. – Für die grüne Fraktion spricht Frau Paul.

Josefine Paul (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen, die bei uns Schutz vor Krieg, Vertreibung und Gewalt suchen, müssen diesen Schutz auch bekommen. Das gilt nicht nur als globales Grundrecht, sondern es gilt natürlich auch für Gewaltschutz in Einrichtungen und Unterkünften. Da sind wir uns in diesem Hause wohl alle einig, dass das Ansinnen Ihres Antrags vollkommen richtig und berechtigt ist.

In ganz besonderem Maße gilt das für die von Ihnen beschriebenen besonders schutzbedürftigen Gruppen – einschließlich der LSBTTI-Gruppe, die in Ihrem Antrag steht, auch wenn diese Gruppe durch die EU-Aufnahmerichtlinie nicht explizit genannt ist. Nichtsdestotrotz müssen wir auch diese Gruppe mit in den Blick nehmen, und wir brauchen ein ganzes Bündel – darüber haben wir heute Morgen schon bei dem Integrationsantrag diskutiert – an Maßnahmen, um Schutzbedürftige wirksam zu schützen und zu unterstützen.

Das beginnt schon bei der Aufklärung über die Rechte und die Rechtslage in Bezug auf Kinder, Frauen, Gleichstellung und LSBTTI. Denn die Menschen müssen wissen, welche Rechte sie in diesem Land haben und dass Gewalt nicht toleriert wird. Vor allem müssen sie wissen, dass sie sich an die Polizei und an die Unterstützungsstrukturen in diesem Land wenden können und dass diese Strukturen ihnen auch helfen.

Geflüchtete, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden brauchen dafür Handreichungen und Informationen zur geschlechtsspezifischen Flucht, aber auch zu Asylgründen und darüber, dass die Verfolgung aufgrund der sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität ein anerkannter Asylgrund ist, vor allem auch dann noch, wenn die Betroffenen dies erst später angeben, weil sie sich vielleicht zunächst aufgrund von negativen Vorerfahrungen nicht getraut hatten. Es darf ihnen daraus – das ist EU-richterlich so beschieden worden – kein Nachteil erwachsen, dass sie das erst später zu Protokoll gegeben bzw. ihrem Antrag hinzugefügt haben.

In der vergangenen Woche hat der LSVD im Emanzipationsausschuss die Handreichung für die Betreuung und Unterstützung von LSBTTI-Flüchtlingen vorgestellt, die diese in Kooperation mit dem Arbeiter-Samariter-Bund, der Hirschfeld-Eddy-Stiftung im Pari NRW erstellt haben. Diese Initiative ist vorbildlich, weil sie sehr gut auf die rechtlichen Grundlagen hinweist und wie mit speziellen Gruppen, in diesem Fall der Gruppe der LSBTTI-Geflüchteten, umzugehen ist.

Demnächst soll – das finde ich begrüßenswert und vorbildlich – diese Handreichung auch auf ganz Deutschland ausgeweitet werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den letzten Haushalt Mittel eingestellt, um zum einen traumatisierte geflüchtete Frauen zu unterstützen. Wir haben aber auch Mittel eingestellt, um – was auch in Ihrem Antrag gefordert worden ist – die Frauenhausstruktur weiter zu stärken. Nicht zuletzt haben wir Geld eingestellt, um die Beratung und Unterstützung von LSBTTI-Geflüchteten zu fördern.

Darüber hinaus – Frau Hack hat es bereits gesagt – befindet sich die Landesregierung momentan in einem intensiven Abstimmungsprozess, um für die Landeseinrichtungen Gewaltschutzkonzepte auf Grundlage der auch von Ihnen erwähnten Handreichungen und Empfehlungen des Instituts für Menschenrechte zu entwickeln.

Es ist notwendig und wünschenswert, dass diese Konzepte dann auch in den Kommunen übernommen und umgesetzt werden. Denn die Menschen kommen erst in die Landesaufnahmeeinrichtungen und dann in die Kommunen. Es muss ihnen auch da gleicher Schutz zuteilwerden; denn Gewaltschutz ist kein Luxus, sondern eine gesellschaftliche Verpflichtung und Verantwortung. Deshalb ist klar und muss klar sein, dass das Gewaltschutzgesetz auch für Unterbringungen gilt.

Im Einzelfall ist dann zu prüfen, ob Frauen und ihre Kinder in andere Einrichtungen verlegt werden sollten oder ob der Täter weggewiesen werden sollte. Beide Maßnahmen – ich finde, es ist auch für die Behörden wichtig, das noch einmal zu betonen – dürfen sich aber nicht nachteilig auf Asylverfahren auswirken. Also auch deshalb ist mit den Ausländerbehörden noch weiter zu sprechen, damit sich das dann im Hinblick auf die Residenzpflicht nicht negativ auswirkt.

Darüber hinaus brauchen wir – auch da bin ich ganz bei Ihnen – Schutz- und Rückzugsräume in bestehenden Einrichtungen. Das kann – auch Frau Hack hat es schon gesagt – möglicherweise durch eigene Wohnflügel geschehen. Möglicherweise kann es aber auch eigene Einrichtungen dafür geben. Nicht zuletzt brauchen auch die Kinder adäquate Räume, in denen sie spielen, sich bewegen und vielleicht einfach nur mal begegnen können. Dort sollten sie nach den oftmals traumatischen Erlebnissen ihrer Flucht auch tatsächlich Kinder sein können.

Die erste Unterbringung – also das erste Dach über dem Kopf – ist aber nur der erste Schritt. Heute Morgen – ich habe es gerade schon erwähnt – haben wir breit über den Integrationsplan diskutiert. Gleichstellung darf auch hierbei nicht unter den Tisch fallen. Gleichberechtigung von Männern und Frauen, von LSBTTI und Minderheitenschutz müssen selbstverständlicher Teil von Sprach- und Integrationskursen sein. Auch der Bund ist gefragt, an dieser Stelle die Curricula entsprechend anzupassen.

Nicht zuletzt wird bei der großen Aufgabe der Integration beispielsweise auch den kommunalen Integrationszentren eine große Bedeutung zukommen. Auch hier muss die Gleichstellungspolitik in den Arbeitsprogrammen fest verankert sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Piraten, Ihr Anliegen ist berechtigt. Ich glaube, alle im Haus haben deutlich gemacht, dass wir dieses Anliegen teilen. Wir teilen auch das Ziel.

Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass sich die Landesregierung an der Stelle bereits auf den Weg gemacht hat. Um einen von Ihren Punkten aufzugreifen: Ich denke, dass die Landesregierung auch gerne Ihrem Wunsch oder Ihrer Aufforderung nachkommen wird, das Parlament über den Fortgang der weiteren Programme, die entwickelt werden, zu unterrichten; sie sind zum Teil auch schon auf dem Weg. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Paul. – Für die FDP-Fraktion hat Herr Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute Vormittag darüber debattiert, wie wir hier insgesamt möglicherweise wieder zu gemeinsamer Flüchtlingspolitik kommen können. Beim Thema Integration im weitesten Sinne spielt das hier auch eine Rolle. Kollege Kuper hat heute Morgen auch sehr viel über die Unterbringungssituation gesagt.

Ich spreche noch einmal Rot-Grün an: Ich habe hier eben kein stichhaltiges Argument gehört, warum sie dem Antrag der Piraten nicht zustimmen können.

Wir haben – das ist richtig – auch die eine oder andere kleine Nachfrage, die wir noch diskutieren könnten. Im Fachausschuss haben wir uns enthalten; das ist richtig. Ich sage aber an der Stelle ganz ehrlich: Wir haben uns noch einmal darüber beraten und sind der Meinung, dass der übergroße Teil dieses Antrags einfach so ist, dass man ihm eigentlich zustimmen muss. Wenn wir da heute ein Zeichen setzen wollen, werden wir das an dieser Stelle auch tun. Deswegen werden wir dem Antrag der Piraten zustimmen. – Danke schön.

(Beifall von der FDP und den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. – Für die Piratenfraktion spricht Frau Brand.

Simone Brand (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Wir haben im Ausschuss und gerade eben hier und heute viel Gutes zu unserem Anliegen bzw. zu unserem Antrag gehört. Warum wir uns als Fraktion dennoch gegen eine ausgedehnte Beratung in den Ausschüssen mit einer Anhörung entschieden haben, sollte wirklich jedem klar sein.

Wir müssen jetzt handeln. In den letzten drei Jahren haben wir geredet. Ausgearbeitete Vorschläge aus diversen Anhörungen, Anträgen, Gutachten usw. usf. liegen vor. Konzepte wurden vorgestellt, und dennoch geht es, wenn überhaupt, nur in ganz kleinen Schritten voran.

Ja, Sie haben in Ihrem Antrag für einen Integrationsplan zwei bis drei vage Maßnahmen zum Gewaltschutz und zur Umsetzung der EU-Aufnahme-richtlinie für die nächsten Jahre angekündigt. Unsere präzisen Vorschläge hier im Antrag liegen aber auf dem Tisch und sind lange überfällig.

Meine Damen und Herren, unser Antrag „Geflüchtete Frauen und Kinder nicht vergessen. Schutz vor Gewalt auch in den Landesaufnahmen sicherstellen!“ ist aktueller denn je. Denn auch in der Debatte rund um Silvester wurde unser Anliegen sträflich vernachlässigt. Lediglich ein ganz kleiner Punkt wurde von Rot-Grün im Januar verabschiedet. Die Landesregierung sollte ein Gewaltschutzkonzept in Flüchtlingseinrichtungen etablieren.

Es ist übrigens ziemlich erschreckend, dass es das in NRW bisher nicht gibt, zumal das Deutsche Institut für Menschenrechte anlässlich des Weltfrauentags 2015 ein ausgearbeitetes Gewaltschutzkonzept vorgelegt hat, das – so fordern wir in unserem Antrag – jetzt endlich umgesetzt werden muss. Aber machen wir uns nichts vor: Auch am kommenden Weltfrauentag, am nächsten Dienstag, wird es keinen effektiven Gewaltschutz für Kinder und Frauen in den Not- und riesigen Sammelunterkünften geben. Und das ist beschämend!

Nach Silvester waren wir die einzige Fraktion, die ein besonderes Augenmerk auf die prekäre Situation der geflüchteten Frauen und Kinder und besonders schutzbedürftigen Personen in den Not- und Sammelunterkünften gelegt hat. Bereits nach dem ersten Flüchtlingsgipfel in NRW – wir erinnern uns an die Schande von Burbach – haben wir darauf bestanden, dass die Landesregierung ein Konzept zur Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie vorlegt. Das war knapp ein Jahr vor dem gesetzlich festgelegten Stichtag zur Umsetzung. Der war übrigens im Juli 2015.

Bisher liegt aber kein Konzept vor. Stattdessen weiß die Landesregierung nicht einmal, was ein Screening im Zusammenhang mit der Umsetzung bedeutet. Das war das Ergebnis einer Kleinen Anfrage von uns.

Meine Damen und Herren, die jüngsten Vorfälle in Köln zeigen, wie dringend und längst überfällig hier gehandelt werden muss. In Köln gab es mindestens zwei Vorfälle mit Mitbewohnern. Aber es gibt wohl auch Probleme mit Subunternehmen der Adlerwache. Wir wissen aus verschiedenen Antworten der Landesregierung, dass Köln kein Einzelfall ist. In der ZUE Schöppingen wurden Jugendliche durch Bedienstete der Einrichtung sexuell missbraucht. Das zeigt die Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Kollegen Birgit Rydlewski und Frank Herrmann vom September 2015.

Köln zeigt, wie schwierig es für geflüchtete Kinder und Frauen ist, Vertrauen zu fassen und Aussagen gegenüber Polizei, Heimleitern, Stadt und anderen zu tätigen. Die Angst ist nachvollziehbar. Hier muss behutsam vorangegangen werden.

In Köln hat man sofort reagiert. Dort wurden Ombudsstellen geschaffen, verschiedene Unterkünfte nur für Frauen und für besonders schutzbedürftige Personen direkt beschlossen sowie die Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie jetzt in Angriff genommen. Ich kann Ihnen die Anträge und Beschlüsse aus Köln schicken. Vielleicht rekurriert Frau Hack darauf, wenn sie sagt, da sei in Köln schon viel umgesetzt. Ja, das stimmt.

Hier brauchen wir jedoch Nachhilfe. Die aktuellen Entwicklungen erfordern genau die Maßnahmen, die wir im Antrag vorschlagen. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung mahnt zur schnellen Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie und bemängelt den Schutz vor sexuellem Missbrauch von Frauen und Kindern in den Unterkünften. Selbst die EU hat Berlin gerügt, obwohl die Unterbringung Landessache und nicht Bundessache ist. Die Bundesregierung will jetzt etwas gegen rechte Wachleute machen. Immerhin!

Was muss denn noch alles passieren, damit endlich gehandelt wird, und zwar hier in Nordrhein-Westfalen? Hinzu kommt, dass die Vorfälle von Silvester und die politischen Debatten und Schnellschüsse verschiedene Ressentiments gegen geflüchtete Menschen geschürt haben. Statt zu differenzieren, wurde Muslimen durchgehend ein frauenfeindliches Weltbild unterstellt. Sexualisierter Gewalt liegt tatsächlich sehr oft eine antifortschrittliche Rollenzuweisung zugrunde. Aber auch die hiesige Gesellschaft hat mit Sexismus zu kämpfen. Es kommt leider sogar in den besten Familie vor. Das müssen wir als Politik klarstellen. – Vielen Dank.

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Brand. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nordrhein-Westfalen hat im Jahr 2015 320.000 Menschen im Rahmen der Erstaufnahme untergebracht, also fast ein Drittel der Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind.

Das bedeutet, dass wir in Nordrhein-Westfalen – Länder und Kommunen gemeinsam – jeden Tag gegen Obdachlosigkeit gearbeitet haben. Es ist uns gelungen, obwohl es kurze Fristen gab, jedem dieser Flüchtlinge, die morgens kamen, abends ein Bett und ein Dach über den Kopf zur Verfügung zu stellen.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Vor allem den Kommunen!)

– In der Tat; ich bin dafür jedem dankbar, der seinen Anteil daran hatte, Herr Dr. Stamp – den unzähligen Freiwilligen, die dabei geholfen haben, aber vor allem auch den Kommunen, die manchmal innerhalb von Stunden entsprechende Einrichtungen aufgebaut und zur Verfügung gestellt haben.

Das Jahr 2015 war ein Jahr, in dem die Quantität der Unterbringung klar im Vordergrund stand. Jetzt wollen wir mehr Qualität erreichen. Deshalb habe ich Ende letzten Jahres ein Eckpunktepapier gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der NGOs in Nordrhein-Westfalen auf den Weg gebracht. In diesem Eckpunktepapier geht es darum, die Qualität der Unterbringung und die Qualität der Versorgung in allen Bereichen unserer Landeseinrichtungen zu verbessern.

Dazu gehört, wie auch im Piratenantrag gefordert, schutzbedürftige Personen wie Minderjährige, Frauen, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung oder Schwangere mit ihren besonderen Bedürfnissen bei der Unterbringung in den Blick zu nehmen.

Die Qualitätsstandards, die wir in unseren Ausschreibungen für die Betreuungsverbände von Landeseinrichtungen voraussetzen, entsprechen dieser EU-Richtlinie. Dazu zählen insbesondere Hinweise in verschiedenen Ländersprachen, die Berücksichtigung von besonderer Schutzbedürftigkeit bei der Zimmervergabe, die Kompetenz des eingesetzten Personals, eine Asylverfahrens- und Sozialberatung und ein Beschwerdemanagement.

Meine Damen und Herren, das Thema „Schutz vor Gewalt in Flüchtlingsunterkünften“ wird aktuell an ganz vielen Stellen innerhalb der Landesregierung bearbeitet. Zurzeit werden wir diese verschiedenen Elemente zu einem Gesamtkonzept zusammenfügen. Es bedarf dieses Antrages nicht. – Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Jäger. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Damit kommen wir zur Abstimmung.

Der Integrationsausschuss empfiehlt in Drucksache 16/11191, den Antrag Drucksache 16/10782 abzulehnen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag selbst, nicht über die Beschlussempfehlung. Wer stimmt dem Antrag zu? – Die Fraktion der Piraten und die Fraktion der FDP sowie der fraktionslose Kollege Schwerd. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – SPD und Grüne stimmen gegen diesen Antrag. Wer enthält sich? – Es enthält sich die CDU-Fraktion. Damit ist der Antrag Drucksache 16/10782 mit den Stimmen von SPD und Grünen gegen die Stimmen von Piraten und FDP bei Enthaltung der CDU-Fraktion abgelehnt.

Ich rufe auf:

8   Möglichkeiten des Asylgesetzes nutzen, um Kommunen bei der Flüchtlingsaufnahme zu entlasten: „Aktionsplan Westbalkan“ ausweiten – Verteilungsstopp und Rückverlegung von Asylbewerbern ohne Bleibeperspektive durchsetzen

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11226

Ich eröffne die Aussprache und erteile Frau Scharrenbach für die CDU-Fraktion das Wort.

Ina Scharrenbach (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die geringeren Zugangszahlen seit Januar/Februar 2016 im Vergleich zum letzten Quartal 2015 erlauben es, dass wir vom Grunde her Ordnung in das System bekommen, und zwar Ordnung auch in das nordrhein-westfälische Registrierungs- und Verfahrenssystem.

Wir haben Ihnen heute diesen Antrag vorgelegt, weil wir als CDU-Fraktion der Auffassung sind, dass die vielen Ankündigungen, die hier vonseiten des Innenministers über die vergangenen Wochen und Monate im Zusammenhang mit dem Aktionsplan Westbalkan getätigt wurden, dringend der Umsetzung bedürfen. Insbesondere muss der Aktionsplan Westbalkan auf die anderen sicheren Herkunftsstaaten ausgeweitet werden, also auch auf die Asylbewerber, die dem Grunde nach ohne eine Bleibeperspektive in die Bundesrepublik einreisen.

Denn – ich hoffe, darin sind wir uns einig – natürlich gewähren wir als Bundesrepublik Deutschland den Menschen Schutz, die vor Krieg und aus Angst vor Gefahr für Leib und Leben ihr Land verlassen und Schutz suchen. Aber unser Asylrecht bietet – genauso wie die Genfer Flüchtlingskonvention – keinen Menschen Schutz, die ihr Land aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und aus Gründen von Armut eine neue Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland suchen. Deswegen sind wir als CDU-Landtagsfraktion unverändert der Auffassung und erneuern damit hier heute unser Anliegen, dass wir Ordnung und Steuerung auch in das nordrhein-westfälische System bekommen müssen.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU])

Unsere Erwartungshaltung ist, dass die Notunterbringungsplätze in den Landesaufnahmeeinrichtungen, von denen wir ja immerhin 80.000 haben

(Minister Ralf Jäger: 83.000!)

– 83.000; vielen Dank für die Korrektur –, dazu genutzt werden, die Asylsuchenden so lange dort zu behalten, bis denn über ihren Asylantrag entschieden ist, und zwar bezogen auf die Gruppe, die eine geringe bis keine Bleibeperspektive hat bzw. die aus den sicheren Herkunftsstaaten kommt.

Derzeit werden Asylsuchende mit geringer Bleibeperspektive und aus sicheren Herkunftsstaaten nämlich unverändert in die Kommunen überwiesen. Sie verlangen damit von den Kommunen eine Integrationsleistung für einen Personenkreis, bei dem der Asylantrag mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelehnt wird.

Nehmen wir als Beispiel meinen Heimatkreis, den Kreis Unna: Wir haben über 900 Personen im Kreisgebiet, die aus sicheren Herkunftsstaaten kommen. Wir wissen, dass dieser Personenkreis zu über 99 % keine Bleibeperspektive in der Bundesrepublik, in Nordrhein-Westfalen und im Kreis Unna haben wird.

Trotzdem verlangen Sie von den Kommunen, dass Unterbringungskapazitäten für diese Personengruppen zur Verfügung gestellt werden. Sie verlangen, dass sie Schulplätze für diese Personengruppen ebenso zur Verfügung stellen wie Plätze in Kindertageseinrichtungen. Sie verlangen, dass das Ehrenamt – verfasst oder nicht verfasst – selbstverständlich in die Integration dieser Menschen eingebunden wird.

Gleichzeitig ist dieses System aber von einer gewissen Unehrlichkeit geprägt; denn mit der Zuweisung von Menschen in die Kommunen, die dem Grunde nach nicht hierbleiben können, eröffnen wir diesen Menschen eine Perspektive und geben ihnen eine Hoffnung, die de facto nicht da ist.

Herr Minister, meine Damen und Herren von SPD und Grünen, deswegen ist es aus Gründen der Ehrlichkeit richtiger – das ist auch gegenüber den Asylsuchenden selbst ehrlicher –, zu sagen: Diese Menschen bleiben so lange in den Landesaufnahmeeinrichtungen, bis über ihren Asylantrag entschieden ist, und dann werden sie auch aus diesen Landesaufnahmeeinrichtungen zurückgeführt.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Damit erreichen wir gleichzeitig zweierlei: Zum einen bekommen die Menschen, die unter den Asylparagrafen des Grundgesetzes wie auch unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen und denen wir aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen den Schutz der Bundesrepublik Deutschland gewähren, hier eine echte Perspektive, verbunden mit den Möglichkeiten, die die Städte und Gemeinden und damit auch die Ehrenamtlichen vornehmlich schaffen können. Zum anderen entlasten wir die kommunalen Behörden deutlich von der Rückführung abgelehnter Asylbewerber.

Sie wissen – das haben wir hier schon öfter diskutiert –, dass gerade die kommunalen Ausländerbehörden unter der erhöhten Zahl von Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die in der Zukunft durchaus noch schneller getroffen und zahlreicher werden können, ächzen.

Deswegen wäre es ein konsequentes System in Nordrhein-Westfalen zur Ordnung und Steuerung der Asylverfahren, klar zwischen den Menschen zu trennen, die hier natürlich Schutz und Bleibe bekommen sollen, und den Menschen, die nicht unter das Asylrecht fallen, weil Armutszuwanderung in der Bundesrepublik nicht mit Schutz und Hilfe begleitet ist. Das ist ehrlicher für alle Beteiligten im Verfahren und insbesondere auch ehrlicher für diejenigen, die hier Schutz suchen. Deswegen hoffen wir, dass Sie heute diesem Antrag zustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Scharrenbach. – Die SPD-Fraktion wird nun von Herrn Körfges vertreten.

Hans-Willi Körfges (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will an erster Stelle sagen, und zwar aus voller Überzeugung, dass wir natürlich alle ein großes Interesse an zügig und schnell durchgeführten Verfahren haben und dass es für alle Betroffenen – für die Kommunen, aber auch für die Menschen ohne Bleibeperspektive – ein Segen wäre, wenn das alles so funktionieren würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns darüber einig sind, sind wir, glaube ich, hier in einer guten großen Runde. Das sollten wir auch immer wieder bestätigen.

Allerdings warne ich an der Stelle zum wiederholten Male davor, dass man, wenn man sich zu stark auf falsche Dinge bezieht, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Betroffenen Erwartungen weckt, die man dann nachher nicht erfüllen kann. Das führt zu nichts anderem als dazu, dass die Politik insgesamt in Zweifel gezogen wird.

An der Stelle, meine ich, gibt es genug Grund, sich mit dem Anliegen der CDU, das ich nachvollziehen kann, an ein paar Punkten sehr kritisch auseinanderzusetzen; denn Sie begründen das damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Sie von geringeren Zugangszahlen ausgehen und sagen, das sei ja jetzt möglich.

Ich kann nur sagen: Wer sich einmal abends die Nachrichten anschaut und sieht, was sich an den Rändern der EU im Augenblick abspielt und was aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen und nicht billigen kann, den Menschen da angetan wird, der wird einigermaßen sicher sein, dass es sich dabei um eine Momentaufnahme handelt, die im Hinblick auf eine sichere Prognose in keiner Beziehung belastbar ist. Darauf sollte man keine Anträge hier im Haus stützen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Darüber hinaus will ich etwas zu Verfahrensdauern sagen. Sie unterstellen – ich hoffe ja, dass wir tatsächlich dazu kommen; es gibt ja ein paar Anzeichen, die vernünftig sind –, dass die Verfahren jetzt kurzfristig abgeschlossen sein werden.

Ich halte ganz deutlich dagegen; denn alle Statistiken, die wir kennen, zeigen, dass das gerade nicht greift. Ich hoffe, es wird demnächst greifen. Aber im Augenblick zu sagen, das gehe demnächst alles rasend schnell, ist hart an der Wahrheit vorbei formuliert, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist Wunschdenken und leider noch keine Realität. Ich hoffe, dass es beim BAMF in Zukunft wirklich besser und zügiger laufen wird.

Auch das, was hier bezogen auf die Ursachen und Wirkungen beim sogenannten Aktionsplan Westbalkan rückgeschlossen wird, ist, mit Verlaub, bei einer genaueren Nachprüfung nicht mehr aufrechtzuerhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Richtig ist zwar, dass die Anzahl der Menschen, die aus dem Westbalkan zu uns kommen und in aller Regel ohne Bleiberechtsperspektive sind, sich deutlich verringert hat.

Aber wenn daraus abgeleitet Länder zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden – das wird schon deutlich, wenn man sich die zeitliche Abfolge anschaut; dabei ist es auch egal, wie man politisch zu den sicheren Herkunftsländern steht –, werden Ursache und Wirkung verwechselt.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

Ich glaube, wir sollten uns eher bei denjenigen bedanken, die über Aufklärungskampagnen dafür gesorgt haben, dass viele Menschen es unterlassen haben, ihre Existenz aufzugeben und sich auf einen aussichtlosen Weg zu machen. Da waren die Wirkungen zu finden und nicht bei der Erklärung von Ländern zu sicheren Herkunftsländern.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege Körfges, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Scharrenbach?

Hans-Willi Körfges (SPD): Ja, natürlich.

Vizepräsident Oliver Keymis: Das ist nett. – Bitte schön.

Ina Scharrenbach (CDU): Vielen Dank, Herr Kollege Körfges, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Vor dem Hintergrund der von Ihnen ausgeführten Situation zu den sicheren Herkunftsstaaten und des Hinweises, dass die Zugangszahlen deutlich zurückgegangen sind – da gebe ich Ihnen recht –, habe ich folgende Frage an Sie:

Besteht denn Ihrerseits eine Bereitschaft, die Personen aus den bisher erklärten sicheren Herkunftsstaaten, die Sie schon in die Kommunen überwiesen haben, jetzt in die Landesaufnahmeeinrichtungen zurückzuverlegen, damit sie dort auf das Ende des Asylverfahrens warten können?

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Das ist doch unmenschlich!)

Hans-Willi Körfges (SPD): Nein. Das ist zwar eine geschickt gestellte Frage. Sie geht aber von der unrealistischen Voraussetzung aus, dass es kurzfristig irgendwelche ernsthaften Bescheide gibt. Darüber hinaus wissen Sie genau, dass wir hier in Nordrhein-Westfalen ganz anders aufgestellt sind. Ich halte alles, was Sie hier als mögliche Verfahrensbeschleunigungen anführen, für wünschenswert. Das setzt aber voraus, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich beim BAMF wirklich etwas ändert.

Aber ich möchte Ihnen an der Stelle noch aus einem anderen Grund erneut widersprechen. Einfach zu versuchen, das, was sich in Bezug auf den Westbalkan durch Umsortierung der Akten ergeben hat, auf jedes andere Herkunftsgebiet und jede andere Herkunftsregion zu übertragen, blendet aus, dass die Verfahren nicht weniger werden, wenn man intensiv umsortiert. Denn an irgendeiner Stelle bildet sich wieder ein Stau. Insofern gibt es nur eine Möglichkeit: Das BAMF muss endlich vernünftig arbeiten. Da gibt es einen sicheren Weg, glaube ich.

Bezogen auf Nordafrika möchte ich Folgendes sagen: Ich finde es begrüßenswert und unterstützenswert, dass der Bundesinnenminister im Augenblick versucht – aber er versucht es auch nur; der Beweis wurde noch nicht erbracht –, die Rücknahmeverpflichtung der Herkunftsländer auch tatsächlich zu garantieren. Ich habe allerdings noch keinen konkreten Nachweis dafür, dass das auch wirklich funktionieren wird.

Anstatt jetzt die Illusion zu erwecken, dass die Menschen aus Nordafrika ohne Bleibeperspektive tatsächlich zurückgeführt werden, lassen Sie uns doch bitte erst einmal gemeinsam abwarten. Ich hoffe, dass es so sein wird, sehe aber noch nicht, dass es in Algerien, Marokko oder Tunesien tatsächlich zu Laissez-passer-Regelungen kommen wird.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Abwarten!)

Insoweit sind Sie zumindest an der Stelle noch nicht auf der Höhe der Zeit. Ich bin dafür, dass wir gemeinsam im Interesse der betroffenen Menschen, im Interesse der Kommunen und auch im Interesse des Landes an Lösungen arbeiten. Aber ich bitte Sie, davon Abstand zu nehmen, uns hier zum wiederholten Male Scheinlösungen zu präsentieren. – Ich bedanke mich.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Körfges. – Nun spricht für die grüne Fraktion Frau Düker.

Monika Düker (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der CDU sieht vor, den Aktionsplan Westbalkan auf alle Asylbewerber ohne Bleibeperspektive auszudehnen. Übersetzt heißt das konkret: Sie wollen alle, die aus diesen Ländern kommen – wer auch immer das ist –, bis zum Abschluss ihrer Verfahren in den Landeseinrichtungen belassen und zusätzlich diejenigen, die schon in den Kommunen sind, dorthin zurückverlegen.

In diesem Zusammenhang stellen sich für mich ein paar Fragen. Die erste Frage lautet: Welche Menschen gehören eigentlich zu dieser Chiffre „ohne Bleibeperspektive“? Bei den sicheren Herkunftsstaaten ist das noch klar. Das sind zum Beispiel die Menschen aus den Balkanstaaten. Dafür haben wir aber schon eine entsprechende Regelung. In diesem Fall bräuchten Sie den Antrag nicht zu stellen, weil wir diese 1.700 Plätze haben, mit denen genau so verfahren wird.

Aber wer sind denn dann die anderen Menschen ohne Bleibeperspektive? Wenn wir uns die Schutzquoten anschauen, erkennen wir, Frau Scharrenbach, dass diese Frage nicht ganz so einfach zu beantworten ist. Im Jahr 2015 betrug die Gesamtschutzquote 60 %. Im Übrigen betrug die Gesamtschutzquote im Jahre 2005 noch etwas mehr als 6 %.

Betrachtet man die Herkunftsländer Syrien, Irak und Eritrea – die Dublin-Verfahren blende ich aus –, liegt die bereinigte Schutzquote bei nahezu 100 %. Bei den Menschen aus Afghanistan sieht das schon etwas anders aus. Gemäß einer neuen Statistik zu den abgelehnten Asylanträgen – diese empfehle ich als Lektüre; sie liegt dem Bundestag vor – wurden 30,8 % der im Jahr 2014 abgelehnten Asylanträge in 2015 mit einem festen Aufenthaltstitel beschieden. Das heißt: Wir haben sogar eine Schutzquote für diejenigen, deren Asylanträge abgelehnt werden.

Da hört es mit der Chiffre der Bleibeperspektive schon auf. Sie lassen somit die Frage vollkommen offen – das bleibt völlig diffus –, ob der Afghane nun mit dabei ist oder nicht. Wollen Sie die Schutzquote bei 50 % oder bei 60 % ansetzen? Damit ist die erste Frage nicht geklärt. Es bleibt völlig diffus, wohin Sie wollen.

Zweitens ist es nach § 49 Abs. 1 des Asylgesetzes rechtlich gar nicht möglich, diese Menschen ohne die Rücknahmebereitschaft des Herkunftslandes – Herr Kollege Körfges hat bereits darauf hingewiesen –in den Landeseinrichtungen zu belassen. Sichere Herkunftsstaaten und Bleibeperspektive hin oder her: Wenn die Länder sie nicht zurücknehmen, müssen Sie sie verteilen, auch wenn Sie das hier im Antrag so nett beschreiben.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE] und Hans-Willi Körfges [SPD])

Sie können geltendes Recht nicht einfach übergehen.

Meine dritte Anmerkung bezieht sich auf die Rücküberführung aus den Kommunen. Wir wissen, dass es ziemlich viele BüMA-Fälle gibt. Das ist die sogenannte Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender. Sie erhalten Menschen in den Kommunen, die noch keine Asylanträge gestellt haben. Das ist ein Riesenproblem. Diese Menschen – wieder: ohne Bleibeperspektive; wer ist das? – wollen Sie wieder zurück in die Landeseinrichtungen schicken.

In diesem Zusammenhang möchte ich ein weiteres Argument anführen, das man in dieser Hysterie heutzutage gar nicht mehr anführen kann, nämlich ein humanitäres.

Ich kenne solche Fälle. Bei Geflüchteten aus dem Iran gibt es zum Beispiel sehr lange Bearbeitungszeiten. Das sind genau die, die keine Anerkennungsquote von 100 % haben. Das sind lange, komplizierte Verfahren. Ich hatte neulich einen Fall, der trotz BüMA zwei Jahre dauerte. Das ist eine Familie. Das ist in der Tat alles nicht gut. Aber die Kinder gehen zur Schule; sie sind zwei Jahre in der Kommune; das Asylverfahren läuft.

Geflüchtete aus dem Iran haben Ihrer Ansicht nach keine sichere Bleibeperspektive, weil die Schutz-quote nicht bei 100 % liegt. Wollen Sie diese Familie nach zwei Jahren aus der Gemeinde, in die sie fast schon integriert ist und in der die Kinder zur Schule gehen, holen? Wollen Sie die Kinder aus der Schule herausholen und die Familie in einer Landeseinrichtung einsperren und dort kasernieren? Danke schön! Diese Politik wollen wir nicht. Davon halte ich auch nichts. Humanitäre Aspekte müssen hier Geltung haben.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

Zur Mär der sicheren Herkunftsstaaten mit den schnelleren Verfahren – ich habe das hier wiederholt vorgetragen –: Schnellere Verfahren bekommen Sie, wenn die Akte oben auf dem Stapel liegt. Sie bekommen sie aber nicht, wenn Sie die Geflüchteten als Geflüchtete aus einem sicheren Herkunftsstaat einstufen.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

Denn die verkürzten Fristen, die Sie hier beschreiben und vortragen, treten in dem Moment ein, in dem ein Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird. Und das traf zumindest für alle Balkanländer schon zu, bevor sie zu sicheren Herkunftsstaaten tituliert wurden. Das heißt: Sie können sowieso kürzere Fristen bekommen. Soweit ich weiß, werden Anträge von Geflüchteten aus Maghrebstaaten jetzt schon oben auf den Stapel gelegt und prioritär behandelt.

Ich denke, dass hier mal wieder Schein- und Symbolpolitik gemacht wird, die zu nichts führt. Deswegen bitte ich Sie zum wiederholten Male, das zu lassen.

Vizepräsident Oliver Keymis: Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, bevor Sie zum Abschluss kommen?

Monika Düker (GRÜNE): Gerne.

Vizepräsident Oliver Keymis: Frau Scharrenbach hat eine Frage.

Ina Scharrenbach (CDU): Frau Düker, herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. – Nach all dem, was Sie jetzt ausgeführt haben, auch zu Ihrer Haltung zu den sicheren Herkunftsstaaten, möchte ich Sie fragen: Unterstützen Sie eigentlich den Aktionsplan Westbalkan der Landesregierung?

Monika Düker (GRÜNE): Ja.

(Ina Scharrenbach [CDU]: Oh!)

Ich komme zum Schluss. Das Ziel aller Verfahren ist es, zu kürzeren Bearbeitungszeiten zu kommen. Ich finde es unerträglich, dass immer nur die Anträge von Geflüchteten ohne Bleibeperspektive ganz schnell bearbeitet werden, damit wir sie ganz schnell wieder loswerden. Das ist ja alles richtig. Aber wo bleiben denn die Geflüchteten mit einer Bleibeperspektive? Auch für sie ist es aus integrationspolitischer Sicht notwendig, dass sie nicht jahrelang auf eine Bescheidung ihrer Anträge warten müssen. Schließlich haben sie auch ein Recht darauf, dass ihr Antrag bearbeitet und beschieden wird.

(Beifall von Sigrid Beer [GRÜNE])

Das heißt: Für die Lösung des Problems brauchen wir nicht Ihre aufgeblasene Scheinpolitik, sondern für die Lösung des Problems brauchen wir geordnete Verfahren, damit diese Anträge schnell bearbeitet werden. Alle Menschen, ob sie bleiben können oder ob sie nicht bleiben können, müssen schnell wissen, was mit ihnen passiert, um die einen hier zu integrieren und für die anderen Angebote zu schaffen und Rückkehrbrücken in ihre Herkunftsländer zu bauen. Denn wenn man sie baut, gehen die meisten auch freiwillig. Und das ist das, wofür wir Ihren Antrag bestimmt nicht brauchen. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Düker. – Für die FDP-Fraktion spricht nun Herr Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp*) (FDP): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Düker, um auf Ihr letztes Argument einzugehen: Sie haben diejenigen mit hoher Bleibeperspektive angesprochen. Wir haben hier seitens der FDP den Vorschlag für eine gemeinsame Initiative in Richtung Bundesrat für einen eigenen Status für Bürgerkriegsflüchtlinge gemacht. Wir haben sogar einen Vorschlag für einen Gesetzentwurf unterbreitet. Wir haben auch gesagt, dass wir an diesem Vorschlag nicht kleben. Wir haben nur erklärt, dass wir eine vernünftige Initiative brauchen, damit wir diesen Antragsstau beim BAMF abbauen können. Dazu ist von Ihnen bisher aber nichts gekommen.

(Monika Düker [GRÜNE]: Aber das entscheidet Berlin! Das können wir nicht!)

Das muss ich jetzt einfach einmal feststellen.

(Beifall von der FDP)

Insofern bitte ich darum, auch sehr vorsichtig zu sein, wenn es hier an die Adresse der Opposition gerichtet heißt, es gebe keine Vorschläge für diejenigen mit hoher Bleibeperspektive.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Aber Sie wissen doch um die Realisierungschancen auf der Bundesebene! Das ist doch das Problem!)

– Frau Beer, mit Ihnen habe ich jetzt gar nicht gesprochen. Ich habe jetzt Frau Düker angesprochen, weil sie diejenige ist, die bei Ihnen fachlich im Stoff ist.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Aber trotzdem gehört das zur Realität!)

Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch zum Antrag der CDU sprechen. Ich sage zu, dass die FDP-Fraktion ihm zustimmen wird;

(Beifall von der CDU)

denn wir haben uns gefreut, dass Sie in weiten Teilen den Beschluss des letzten Präsidiums der FDP inhaltlich übernommen haben. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie abgeschrieben haben. Das Wording ist ein bisschen anders. Aber inhaltlich ist es das, was wir selber aufgeschrieben haben.

(Hans-Willi Körfges [SPD]: Das macht es nicht besser!)

Es muss nämlich darum gehen, nicht nur diejenigen, die jetzt mit einer geringen Bleibeperspektive – wir sagen nicht: ohne Bleibeperspektive – neu ankommen, in Einrichtungen zusammenzuführen, um von dort aus die Rückführung möglichst zügig vorzunehmen. Das ist übrigens eine Forderung, die wir hier seit über einem Jahr stellen.

Wir wollen darüber hinaus – was hier von den Kollegen angesprochen worden ist, ist völlig richtig –, dass auch diejenigen, die in den Kommunen sind und deren Verfahren noch nicht laufen, in die Landeseinrichtungen zurückgeführt werden. Das ist ein vernünftiger Weg, weil wir die Plätze für diejenigen schaffen müssen, die eine hohe Bleibeperspektive haben und über deren Anträge schnell entschieden werden muss. Genau so hat es Frau Düker gerade gesagt. Im Grunde genommen müsste sie in der Konsequenz unserem Antrag zustimmen.

Wir wissen doch alle, wie es momentan in den Kommunen läuft. Dort findet eine Teilintegration statt. Die Kinder sind in der Schule. Möglicherweise haben die Eltern sogar einen Job gefunden. Dann kommt völlig unerwartet der Abschiebebescheid. Dann haben Sie das Drama in den Kommunen. Die Bürgermeister und die Landräte müssen das dann entsprechend ausbaden und die kommunalen Behörden zum Teil menschliche Grausamkeiten begehen.

All das wollen wir verhindern. Wir wollen zu einem geordneten System zurück, damit diejenigen mit einer geringen Bleibeperspektive gar nicht erst in die Kommunen kommen. Auf diese Weise können Sie viele menschliche Härten vermeiden.

(Beifall von der FDP)

Wir können über alles andere sprechen. Wenn Sie auch auf Bundesebene Partner für Initiativen im Bundesrat suchen, was großzügigere Duldung …

(Stefan Zimkeit [SPD]: Sie sind doch weder im Bundestag noch im Bundesrat! – Sigrid Beer [GRÜNE]: Kinder raus aus den Schulen heißt, Härten zu vermeiden?)

– Hören Sie mir doch erst einmal zu, Frau Beer, bevor Sie hier dazwischenquaken. Ich habe Ihnen gerade gesagt: Wenn Sie darüber sprechen wollen, dass wir vielleicht großzügigere Regelungen finden, wie man bei Kettenduldungen usw. zu Ergebnissen kommt, die mehr Rechtssicherheit schaffen, sodass man im Gegenzug diese Regelungen machen kann, dann können wir uns über alles unterhalten. Ich bitte aber, nicht permanent dazwischenzurufen, ohne entsprechend fachlich im Stoff zu sein. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP – Sigrid Beer [GRÜNE]: Das war fachlich völlig daneben! – Gegenruf von Henning Höne [FDP]: Erst einmal zuhören!)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. Bleiben Sie bitte am Pult. Es gibt eine angemeldete Kurzintervention der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, und zwar von Frau Düker. Bitte schön, Frau Düker.

Monika Düker (GRÜNE): Danke schön. – Ich möchte den geschätzten Kollegen Stamp doch noch fragen, wie er „geringe Bleibeperspektive“ definiert. Ich habe gerade durch Zuruf aus der CDU gehört, das seien die Maghrebländer. Sind das nur die Maghrebländer, oder was ist für Sie eine „geringe Bleibeperspektive“? Gehören für Sie Afghanistan, der Iran usw. dazu, die auch unter 50 % liegen?

Zweitens. Sind Sie mit mir einer Meinung, dass, wenn der Plan der Landesregierung greift, den wir im Innenausschuss verschriftlicht vorliegen haben, demnächst in der Asylstraße die Menschen in EAE und ZUE ungefähr fünf Wochen in den Landeseinrichtungen verbleiben und dass dann alle, wenn das BAMF es schafft, innerhalb von fünf Wochen über einen Asylantrag zu entscheiden, ganz normal aus der Landeseinrichtung zurückgeführt werden können? Da brauchen wir keine Unterscheidung zwischen geringer und nicht geringer Bleibeperspektive,

(Zuruf von Ina Scharrenbach [CDU])

dass die zurückgeführt werden können.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp*) (FDP): Ich habe den letzten Teil Ihrer Kurzintervention akustisch nicht 100%ig verstanden.

(Zuruf von Monika Düker [GRÜNE])

Ich habe Sie so verstanden – Sie können mich ja korrigieren –, dass es Ihnen darum geht, dass unabhängig von der Schutzquote diejenigen, über die innerhalb von fünf Wochen entschieden wird, so schnell wie möglich zurückgeführt werden.

Da sind wir gar nicht auseinander. Es geht einfach darum, dass wir nicht diejenigen in die Kommunen überführen, die eine geringe Bleibeperspektive haben. Sie haben nach einer Definition gefragt. Die will ich Ihnen liefern. Wir sagen: Schutzquote aus Ländern unter 10 %. – Danke.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. – Für die Piratenfraktion hat nun Herr Herrmann das Wort.

Frank Herrmann (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und zu Hause! Heute Morgen haben wir eine recht harmonische Debatte geführt, im Rahmen der Unterrichtung der Landesregierung den Antrag „Ein Aktionsplan für NRW“ besprochen. Das kann man so machen.

Gewünscht hätte ich mir allerdings die Unterrichtung über den tatsächlichen Zustand der Integration, über die Großlager, die Ankunftszentren mit Massenabfertigung, zu den aktuellen Maßnahmen der Landesregierung, die vielen ehrenamtlichen Helferinnen zu unterstützen. Dazu wäre eine Unterrichtung sinnvoll und notwendig gewesen. Dass die Landesregierung lieber über einen Antrag von Rot-Grün spricht, der eigentlich nur zur Ausschussüberweisung ansteht, lässt tief blicken.

Kommen wir nun beim Thema „Integration“ zum Hinterhof, zur schäbigen Seite. Bundestag und Bundesrat haben in der letzten Woche das sogenannte Asylpaket II beschlossen. Es handelt sich dabei um ein Gesetzespaket, das der Bundesregierung wohl von AfD und Pegida in die Feder diktiert wurde. Das Asylpaket II entstand vor allem mit Blick auf die steigenden Umfragezahlen der AfD und nicht etwa, um Kommunen zu entlasten.

Um dies zu erreichen, gäbe es ganz andere Möglichkeiten, die nicht auf Abschreckung, Repression oder Entrechtung von Flüchtlingen abzielen. Es gibt dazu zahlreiche Vorschläge von Sozialverbänden und Menschenrechtsorganisationen wie etwa die einer Pauschalregelung für Altfälle, also für Asylbewerber, die schon über ein Jahr auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten.

Das würde Kommunen entlasten, und da geht es um weitaus mehr Menschen als die paar Tausend, die gerade aus sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ nach Nordrhein-Westfalen kommen. Aber so etwas wird noch nicht einmal angedacht.

Nun fordert die CDU mit ihrem Antrag die Umsetzung von AfD-Politik in Nordrhein-Westfalen.

(Zuruf von der CDU: Na! Na! Na! – Zuruf von Hans-Willi Körfges [SPD])

Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie wollen eine Zweiklassenflüchtlingsaufnahme, eine Gewährung von Menschenrechten abhängig vom Herkunftsland. Es irritiert Sie nicht, dass sich sämtliche Menschenrechtsorganisationen gegen derartige Aufteilungen und Eingruppierungen aussprechen. Es verstört Sie als Partei, die sich angeblich einem christlichen Menschenbild verpflichtet sieht, kein bisschen, dass Sie alle kirchlichen Verbände vor der Umsetzung dieser unmenschlichen Politik warnen. Wie groß muss Ihre Angst vor der AfD eigentlich sein, dass Sie sämtliche humanistischen und christlichen Werte beiseiteschieben?

(Dr. Günther Bergmann [CDU]: Meine Güte! – Weiterer Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Nun sollen Sie auch wissen, dass Sie eines damit nämlich nicht erreichen: Rassisten werden nicht dadurch verhindert oder bekämpft, indem man rassistische Politik macht. Mit der Einstufung der Maghrebstaaten Marokko, Algerien und Tunesien als sogenannte „sichere Herkunftsländer“ wird der Begriff der Sicherheit endgültig zur Farce.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herr Kollege Herrmann, ich muss intervenieren,

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Richtig! Danke, Herr Präsident!)

denn Sie haben gerade in Ihren Ausführungen der antragstellenden CDU-Fraktion eine rassistische Politik vorgeworfen.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN – Frank Herrmann [PIRATEN]: Den Anschein! – Josef Hovenjürgen [CDU]: Unerhört ist das!)

Das entspricht nicht dem Stil unseres Hauses. Deshalb rüge ich Sie für diese Aussage.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Frank Herrmann (PIRATEN): Dann machen Sie das. Ich habe gesagt: „den Anschein“ – das war meine Intention, Herr Präsident. Wie Sie das aufnehmen, ist dann Ihre Sache.

(Henning Höne [FDP]: In der Tat, ja!)

Mir fehlt die Zeit, hier im Einzelnen die Probleme in den Maghrebstaaten aufzuzählen. Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen vom US Department of State bis Amnesty International haben viele Berichte zur Menschenrechtslage in diesen drei nordafrikanischen Ländern verfasst. Wenn aber diese Berichte keine Rolle spielen, sind es wohl ideologische Erwägungen, „sichere Herkunftsstaaten“ zu definieren.

Menschen aus diesen Staaten sollen nun als Flüchtlinge zweiter Klasse dauerhaft, also bis zum Ende des Verfahrens, in Landesunterkünften untergebracht werden. Jegliche Integrationsbemühungen vonseiten der Flüchtlinge sollen so im Keim erstickt werden. Ihnen soll von Anfang an das Gefühl gegeben werden: „Ihr seid hier nicht willkommen. Wir wollen euch nicht.“

Von einer solchen Haltung bis zum Werfen eines Brandsatzes auf diese Menschen ist es nicht mehr weit. In Nordrhein-Westfalen wurden in diesem Jahr bereits mehr als 60 Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte registriert. Auch das ist das Ergebnis einer Politik der Abschreckung. Während Rassisten brandschatzend durch das Land ziehen und die größte rechte Terrorwelle seit Jahren in Gang setzen, sprechen Sie hier immer noch von einer Flüchtlingskrise. Wir haben aber längst eine Rassismuskrise in diesem Land.

(Beifall von den PIRATEN)

Mit diesem Antrag bestätigen Sie die Verbrecher nach meiner Meinung auch noch, die Flüchtlingsheime anzünden.

Die Umsetzung des Antrags würde weder den Kommunen helfen, noch den Zulauf zur AfD eindämmen. Im Gegenteil: Die weitgehende Entrechtung dieser Geflüchteten wird dafür sorgen, dass sie in den irregulären Aufenthalt getrieben werden. Diese Menschen werden sich, natürlich untergetaucht, in den Kommunen aufhalten. Das ist gleichzeitig ein Konjunkturprogramm für Schwarzarbeit und möglicherweise auch für Kriminalität, denn von irgendetwas müssen diese Menschen ja leben.

Wenn es gelingen soll, die AfD und andere Rassisten zurückzudrängen, dürfen wir nicht deren Politikvorstellungen realisieren. Wir müssen ihnen gegenüber klare Kante zeigen. Dieser Antrag ist das Gegenteil. Deswegen ist er rundweg abzulehnen. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Soweit Herr Kollege Herrmann. Danke. – Herr Minister Jäger spricht für die Landesregierung.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Scharrenbach, ich glaube nach wie vor, wenn die Menschen abends sehen, was an der griechisch-mazedonischen Grenze zurzeit geschieht und wie sich die Situation der Menschen trotz einer teilweisen Waffenruhe in Syrien darstellt, dass die Mehrzahl in diesem Lande nach wie vor bereit sind, denjenigen, die vor solchen Situationen und vor allem solch einem Elend flüchten, Aufnahme zu gewähren.

(Zuruf von Ina Scharrenbach [CDU])

 – Ich weiß, Frau Scharrenbach, dass es darum nicht geht.

Wenn wir diese Willkommenskultur und diese Bereitschaft in unserer Gesellschaft aufrechterhalten wollen, dann muss der Staat in der Tat auch dafür sorgen, dass diejenigen, die keinen Schutz benötigen, in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Machen wir doch einfach einmal einen Haken daran, Frau Scharrenbach, dass wir in diesem Parlament über alle Fraktionen hinweg diese Auffassung haben. Wir sollten uns nicht gegenseitig unterstellen, dass der eine oder andere eine andere Auffassung dazu hat. Wir liegen aber nach wie vor deutlich bei der Frage auseinander, wie wir dies tun, mit welchen Mitteln wir es tun und welche Rechtsgrundlage dafür erforderlich ist.

In der vorletzten Woche hat die Beratung zum sogenannten Asylpaket II im Deutschen Bundestag stattgefunden. Ich habe daran teilnehmen dürfen und würde Ihnen gerne darlegen, Frau Scharrenbach, welche falsche Vorstellung Ihre CDU-Bundestags-fraktion im Umgang mit der Frage der sicheren Herkunftsländer hat.

Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich gerne aus dem Bundestagsprotokoll zitieren. Ihre Kollegin Sabine Weiss, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU, hat den Zwischenruf getätigt:

„Sichere Herkunftsländer und alles ist gut!“

Die CDU auf Bundesebene ist also der Meinung, man müsse nur einen Staat in eine Liste schreiben und schon würden die Menschen nicht mehr zu uns kommen und wir könnten sie sofort wieder zurückschicken.

(Zurufe von Lutz Lienenkämper und Josef Hovenjürgen [CDU] – Zuruf von Dr. Joachim Stamp [FDP])

Frau Scharrenbach, das ist ein Trugschluss. Frau Scharrenbach, Sie wissen eigentlich auch besser, dass die Übertragung des Westbalkans auf andere Herkunftsländer so nicht funktioniert.

(Josef Hovenjürgen [CDU]:Das ist wieder typisch Jäger! Großmäulige Politik von diesem Innenminister!)

Fakt ist, seit vielen Monaten kommen deutlich weniger Menschen vom Westbalkan zu uns. Das hat wirklich nahezu nichts damit zu tun, dass die Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden.

(Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Nahezu nichts. Es hat damit zu tun, dass der Bundesaußenminister, der Bundesinnenminister und übrigens auch ein paar Landesinnenminister in den Kosovo, nach Albanien gereist sind und Gespräche auf politischer Ebene geführt haben. Wir haben über Facebook und Twitter als Landesregierungen und Bundesregierung in dieses Land hinein kommuniziert. Wir haben ganzseitige Anzeigen geschaltet. All das geschah mit dem Inhalt: Tut es nicht. Verkauft nicht euer letztes Hab und Gut und finanziert die Schleuser, um wenige Monate später vor dem absoluten Nichts zu stehen.

Frau Scharrenbach, das hat zu dem deutlichen Rückgang aus dem Westbalkan geführt. Die Aufnahme im Rahmen des Gesetzes über sichere Herkunftsländer kam erst viel später. Damit will ich deutlich machen, die Haltung Ihrer CDU-Bundestags-fraktion nach dem Motto „Wir ändern mal eben ein kleines Gesetz, nehmen noch ein paar Staaten auf und schon haben wir kein Problem mehr mit Menschen aus diesen Herkunftsländern“ ist, exemplarisch am Westbalkan gesehen, falsch.

(Frank Herrmann [PIRATEN]: Populismus ist das, was die CDU macht!)

Meine Damen und Herren, ich möchte gerne auf das eingehen, was in der aktuellen Diskussion eine große Rolle spielt und auch Ziel Ihres Antrags ist, nämlich die Frage, ob die Staaten Nordafrikas in die Liste sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen werden sollten. Das gilt insbesondere für Marokko, Tunesien und Algerien. Um es deutlich zu sagen, machen diese Herkunftsländer zurzeit nur 5 % der Flüchtlinge insgesamt aus. Nur 5 %!

Die derzeitige Bearbeitungsdauer – das ist völlig unabhängig davon, ob ein Herkunftsland als sicherer Herkunftsstaat gilt, Frau Scharrenbach – durch die Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge, die für die Asylbearbeitung zuständig ist, beträgt zurzeit zehn Monate nach Antragstellung. Bis zum Termin der Antragstellung müssen die Menschen zurzeit immer noch zwischen vier und sechs Monate auf einen Termin warten.

Damit will ich deutlich machen, dass diese Menschen länger als ein Jahr bei uns sind, egal, ob sie aus einem sicheren Herkunftsstaat kommen oder nicht, bis sie – das ist wegen der geringen Schutzquote in der Regel der Fall – einen ablehnenden Asylbescheid bekommen.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herr Minister, Frau Kollegin Scharrenbach möchte Ihnen eine Frage stellen. Wie ich Sie kenne, werden Sie diese zulassen.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Gerne.

Ina Scharrenbach (CDU): Sehr geehrter Herr Minister, dann geht auch an Sie die Frage: Werden Sie die Asylsuchenden aus den sechs Balkanstaaten, die Sie im vergangenen Jahr an die Kommunen überwiesen haben, jetzt in die Landeseinrichtungen zurückverlegen, dort die Asylanträge bearbeiten lassen und von dort aus die Rückführung – sei es freiwillige Rückkehr oder Abschiebung – vornehmen, um zum einen die Kommunen von den Verwaltungsverfahren zu entlasten, zum Zweiten in der Integration entlastend zu wirken und zum Dritten ehrlicher in der Diskussion zwischen den Menschen zu werden, die hier ein Bleiberecht haben, und denen, die es nicht haben?

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Frau Scharrenbach, Sie wissen doch selbst ganz genau, dass es nicht die Frage ist, ob das Land Plätze für einen bestimmten Personenkreis zur Verfügung stellt. Wie Sie selbst festgestellt haben, haben wir 83.000 Plätze. Entscheidend ist die Frage, in welcher Zeit die Bundesanstalt in der Lage ist, mit welchen Mitarbeitern wie viele Anträge zu bearbeiten.

Nehmen Sie bitte eines zur Kenntnis, Frau Scharrenbach. Wir führen zurzeit intensive Gespräche mit dem BAMF, damit beispielsweise Menschen aus den Herkunftsländern Nordafrikas bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in den Landeseinrichtungen verbleiben und nicht den Kommunen zugewiesen werden.

So, wie sich das BAMF zurzeit in Nordrhein-Westfalen aufstellt, hat es im Rahmen des Gesamtkonzeptes 497 Mitarbeiter. Es war eine große Anstrengung, damit diese Zahl bisher überhaupt erreicht werden konnte. Bei 140 künftigen Mitarbeitern ist die Zusage zur Einstellung erfolgt. Das sind insgesamt 637 Mitarbeiter. Das BAMF sagt aber selbst, um insbesondere schnelle Asylverfahren umsetzen zu können, benötigt es mit Stand 22. Februar dieses Jahres 1.195 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Frau Scharrenbach, damit wird offensichtlich, es geht nicht darum, ob wir auf dem Papier irgendetwas beschließen, sondern darum, ob es dort draußen Menschen gibt, die entsprechende Asylanträge bearbeiten können.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Im Übrigen – auch das ein Hinweis an Sie, Frau Scharrenbach – spielt es bei der Frage, wie schnell ein Antrag bearbeitet werden kann, überhaupt keine Rolle, ob ein Land in die Liste sicherer Herkunftsländer aufgenommen wurde.

Sie wissen es wahrscheinlich. Bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen kann das BAMF diese Asylanträge heute schon so einordnen bzw. einstufen und die Akte – bildlich gesprochen – unten vom Stapel herausziehen, nach oben legen und schnell bearbeiten.

Ein Letztes, was ich sagen will: Die Frau Kollegin Düker erklärte, diese Diskussion würde hysterisch geführt. Ich möchte das etwas abmildern – in Zügen hysterisch. Wenn man sich vor Augen führt, was die Menschen außerhalb dieses Parlaments denken – im letzten Jahr sind eine Million Menschen zu uns gekommen, zu uns geflüchtet, und die Zahlen von Januar und Februar zeigen, dass es möglicherweise auch in diesem Jahr nicht weniger werden –, glaube ich, dass viele die Chancen in dieser Entwicklung sehen. Manche sind wiederum skeptisch, ob das unsere Gesellschaft leisten kann. Andere haben Sorgen und manche sogar wirklich Ängste. Diejenigen, die sich in einem demokratischen Koordinatensystem bewegen, sollten deshalb dafür sorgen, nicht weiter Ängste zu schüren.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Frau Scharrenbach, dazu zählt: keine polternden Stammtischparolen in der Flüchtlingspolitik und nicht der Versuch von narkotisierenden Scheinlösungen. Unter Letztem ordne ich Ihren Antrag, Frau Scharrenbach, ein. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister Jäger. – Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Die antragstellende CDU-Fraktion hat die direkte Abstimmung über den Inhalt des Antrags Drucksache 16/11226 beantragt. Ich darf fragen, wer dem CDU-Antrag zustimmen möchte. – Das sind die Fraktionen von CDU und FDP. Wer stimmt gegen den Antrag? – Das sind SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die Piratenfraktion und der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag Drucksache 16/11226 abgelehnt.

Ich rufe auf

9   Gesetz zum Schutz der Natur in Nordrhein-Westfalen und zur Änderung anderer Vorschriften

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/11154 – Neudruck –

erste Lesung

Ich eröffne die Aussprache und erteile zur Einbringung für die Landesregierung Herrn Minister Remmel das Wort. Bitte, Herr Minister.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Einbringung ist ein guter Tag für Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen wird in diesem Jahr 70 Jahre, und da ist es angemessen, ein novelliertes, ein neues Naturschutzgesetz zu erhalten. Im Übrigen handelt es sich um das erste Naturschutzgesetz für Nordrhein-Westfalen. Bisher ist das Gesetz unter der Überschrift „Landschaftsgesetz“ bekannt. Das ist eine besondere Wertschätzung für unser Bundesland. Es ist aber auch eine Wertschätzung für die Bürgerinnen und Bürger, weil Nordrhein-Westfalen in der Tat reich an vielen Schönheiten und mit einer großen Vielfalt ausgestattet ist.

Ein solcher Wert ist nicht selbstverständlich. Dieser Wert ist vielmehr bedroht, mehr denn je. Die Vielfalt von Lebensarten nimmt rasant ab. Wir sind auch in Nordrhein-Westfalen dabei, die Festplatte unserer Natur in rasantem Tempo zu löschen. Der Verlust an natürlichen Flächen ist eklatant. Sie kennen die Zahlen: Tag für Tag gehen über 10 ha Freifläche unwiderruflich verloren.

Es ist sozusagen dieser Schatz vor unserer Haustüre, der ständig bedroht ist. Wenn ich an dieser Stelle von einem Schatz spreche, so meine ich das ausdrücklich in doppelter Bedeutung. Es geht um den Naturschatz. Es geht aber auch um einen ökonomischen Schatz, denn die Landwirtschaft wie auch die Industrie und die Wirtschaft sind nicht bedroht von Flächenschutz, sondern von Flächenverlust.

(Beifall von Norwich Rüße [GRÜNE])

Es geht darum, das ökologische Grundkapital zu sichern, um daraus auch eine ökonomische Dividende dauerhaft abschöpfen zu können. Nur in einem intakten Naturraum werden wir dauerhaft wirtschaftlich erfolgreich sein und Land- und Waldwirtschaft überhaupt betreiben können. Soweit zur Ausgangslage.

Was also tun? – Es geht darum, nicht nur, wie es die CDU oft tut, über ein romantisch-konservatives Naturbild zu fabulieren, schöne Bilder zu produzieren, sondern Nachhaltigkeit ist konkret. Das ist nicht nur ein Prinzip, sondern sie muss konkret gelebt werden, wenn es darum geht, dem Raubbau an der Natur entgegenzutreten. Mit wohlklingenden Absichtserklärungen allein ist niemandem gedient, schon gar nicht der bedrohten Natur.

Natürlich, immer da, wo es geht, muss das Ehrenamt unterstützt werden. Wir haben in Nordrhein-Westfalen Gott sei Dank sehr viele Menschen, die im Ehrenamt in Sachen Naturschutz unterwegs sind. Hierauf hat die Landesregierung auch einen besonderen Schwerpunkt gelegt: Seit 2010 sind die Mittel für den ehrenamtlichen Naturschutz gesichert und teilweise auch verdoppelt worden. An erster Stelle steht also die Unterstützung des Ehrenamtes.

Natürlich ist es auch richtig, wo es geht, auf Kooperation zu setzen, Kooperationen über den Vertragsnaturschutz zu unterstützen und Kooperationen abzuschließen, wenn es um die Sicherung unseres Naturerbes geht.

Es gibt aber auch Dinge, die es zu schützen gilt, und es muss das geschützt werden, was sich selbst nicht schützen kann. Oft ist das eben unser wildes Nordrhein-Westfalen, das sich nicht selbst schützen kann, weil es nicht aktiv werden kann. Das Landesnaturschutzgesetz ist das, was im besten Sinne des Wortes Schutz für unsere Lebensgrundlagen – die natürliche Umgebung – bedeutet.

Meine sehr verehrten Damen und Herrn, wie es sich gehört, hat es einen breiten und auch in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Konsultationsprozess gegeben. Es hat eine umfassende und sehr intensive Verbändeanhörung stattgefunden. Wir haben vielfach gesprochen – mit dem Grundbesitzerverband, mit den Waldbäuerinnen und Waldbauern, mit unternehmer nrw, mit den kommunalen Spitzenverbänden und natürlich auch mit den Naturschutzverbänden. Wertvolle Anregungen aus diesen Gesprächen sind mittlerweile im Entwurf aufgenommen. Damit wird deutlich, dass die Landesregierung die Kooperation und den Dialog sucht und dann mit entsprechenden Vorschlägen an das Parlament kommt.

Im Übrigen ist das Naturschutzgesetz nicht vom Himmel gefallen. Wir haben vorab eine umfangreiche Biodiversitätsstrategie gesetzt, um auch anhand von Zielen dauerhaft überprüfen zu können: Was sind die Maßnahmen, was ist der Weg, wo soll es hingehen? Also zuerst eine strategische Grundausrichtung und dann das Gesetz zu machen, halte ich für richtig.

Es geht darum, anhand von Leitbildern Zielsetzungen und Maßnahmen dann die dauerhaften Möglichkeiten für den Erhalt unseres wertvollen Naturerbes zu konzipieren. Daraus sind einige Überlegungen auch in das Naturschutzgesetz gekommen, also immer da, wo sozusagen am Ende des Tages Schutz nötig ist, weil über lange Jahre und Jahrzehnte dieser fehlende Schutz dazu geführt hat, dass diese Teile des Biotopverbunds erheblich bedroht sind, beispielsweise das Grünland.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Ihre Redezeit, Herr Minister.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Über 40 % des Grünlandes ist in den letzten Jahren verlorengegangen. Wir haben an vielen Stellen auch Verluste zu verzeichnen.

Es geht darum, den Biotopverbund zu sichern. Es geht darum, Vertragsnaturschutz auf der einen Seite, aber auch Flächensicherung auf der anderen Seite zu betreiben. All das sind Regelungen, die im Naturschutzgesetz aufgenommen worden sind.

Aber – ich sage es an dieser Stelle auch sehr deutlich – wir haben uns dazu verabredet, die Fehlentwicklung, die durch die schwarz-gelbe Gesetzgebung in das Landschaftsgesetz eingeflossen ist, zu korrigieren. Das ist mit dieser Vorlage umgesetzt.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Es geht einfach nicht, dass wir in Nordrhein-Westfalen Regelungen haben, die vom Bundesrecht so abweichen, dass Expertinnen und Experten uns bescheinigen, hier rechtswidrig zu handeln.

(Zuruf von Henning Höne [FDP])

Also geht es darum, hier wieder Rechtssicherheit herzustellen. Das tun wir, genauso wie wir einer Praxis, die 20 Jahre gut funktioniert hat, nämlich die Einbeziehung des ehrenamtlichen Naturschutzes, wieder den Stellenwert geben, der ihm zusteht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, es gibt und gab keine andere Landesregierung bisher, die so viel für den ländlichen Raum getan hat,

(Lachen von Henning Höne [FDP])

sowohl finanziell als auch in der perspektivischen Entwicklung. Im Lande, auf dem Lande ist viel Bewegung, und dazu trägt auch ein neues Naturschutzgesetz bei.

 Ich wünsche mir eine gute Beratung und eine schnelle Verabschiedung. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister Remmel. – Die Landesregierung hat die verabredete Redezeit um genau zwei Minuten überzogen. Diese Zeit kommt selbstverständlich auch allen Fraktionen zugute, wenn sie es denn möchten.

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion Herr Kollege Krick.

Manfred Krick (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Herren auf der Besuchertribüne! Dass die Landesregierung eine Neufassung des Landschaftsgesetzes in Form eines neuen Landesnaturschutzgesetzes vorlegt, ist konsequent und richtig, auch wenn es meine Fraktion etwas mit Wehmut erfüllt, dass das Landschaftsgesetz dann bald Geschichte sein wird. Denn das Landschaftsgesetz war ein ursozialdemokratisches Gesetz, 1974 unter Heinz Kühn geschaffen als eines der ersten Ländergesetze, das sich mit dieser Thematik beschäftigt hat.

(Zuruf von der CDU)

– Entschuldigung. Habe ich Damen auf der Tribüne vergessen? Dann tut mir das sehr leid.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Eine!)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Darf ich noch einmal daran erinnern, meine Kolleginnen und Kollegen, dass der Landtag ein Kollegialgremium ist, dass wir mit den Abgeordneten debattieren und nicht unter Einbeziehung von wem auch immer auf der Besuchertribüne. Ich habe die herzliche Bitte, dass alle Redner daran denken. Danke schön.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Manfred Krick (SPD): Aber die Erfahrungen aus dem Landschaftsgesetz gehen ja nicht verloren. Denn das Erprobte und Bewährte aus dem Landschaftsgesetz wird in das neue Landesnaturschutzgesetz übernommen.

Mit dem Naturschutzgesetz setzen wir zum einen die Vorgaben des Bundesnaturschutzgesetzes jetzt auf Landesebene durch. Aber es gibt noch ein viel wichtigeres zentraleres Thema, nämlich den auch vom Minister schon genannten Erhalt der Artenvielfalt. Die Artenvielfalt ist nicht nur im tropischen Regenwald bedroht. Der Verlust der Artenvielfalt ist auch ein konkretes Problem in unserer Kulturlandschaft. Unzählig viele Arten haben in der offenen Kulturlandschaft, auch hervorgerufen durch das Wirken des Menschen, ihren Lebensraum und haben sich zum Teil über Jahrtausende hier weiter fortentwickelt.

Aber diese Artenvielfalt ist massiv bedroht. Das gilt sowohl für die Pflanzen als auch für die Tierwelt. Belege finden sich dafür leider reichlich. Wir haben das in der Biodiversitätsstrategie des Landes und nochmals auch durch unsere Große Anfrage von SPD und Grünen zum Thema „Wirkung der Landwirtschaft auf die biologische Vielfalt“ hinterfragt und belegt. Auch die Forschungen und die Erhebungen des Bundesumweltamtes und des Bundesamtes für Naturschutz und auch die Biodiversitätsstrategie des Bundes belegen die große Bedrohung der Artenvielfalt auch in Deutschland und auch bei uns in Nordrhein-Westfalen.

Unsere Überzeugung ist, dass die Artenvielfalt gerade auch in der Fläche geschützt werden muss. Dies versucht das Gesetz zu ermöglichen, im Besonderen über den Biotopverbund, den Grünlandschutz, aber auch durch die Unterschutzstellung von meist kleinteiligen, aber für Nordrhein-Westfalen typischen besonderen Biotoptypen, und natürlich auch durch den Schutz von Landschaftselementen wie Hecken, Feldrainen und Feldgehölzen. Wir nutzen dafür die uns gegebene Ländergesetzgebungskompetenz konsequent aus.

In Nordrhein-Westfalen haben der Schutz der Natur und der Landschaft Verfassungsrang. Dieser Verpflichtung kommen wir mit diesem Gesetz aktualisiert wieder nach. Dabei gehen wir – das hat auch der Minister dargestellt – mit Augenmaß und Praxisbezug vor. So sind wichtige Hinweise aus der frühzeitigen Verbändeanhörung von der Landesregierung aufgenommen und mittlerweile eingearbeitet worden.

Ich nenne hier nur exemplarisch: Es bleibt bei der freiwilligen Regelung zu Baumschutzsatzungen. Der Katalog der vorgesehenen Vorkaufsrechte wurde erheblich gekürzt. Und – ganz wichtig auch für die Landwirtschaft – bei Ausübung des Vorkaufsrechts wird die Landwirtschaft gleichgestellt. Die Verpflichtung, abgestorbenes Holz – das sogenannte Totholz – im Wald stehen zu lassen, ist in eine Zielformulierung abgestuft worden. Und auch die vorgesehene und bis 2007 auch im Gesetz enthaltene Unterschutzstellung von Streuobstwiesen – gerade Streuobstwiesen haben eine große Bedeutung für die Artenvielfalt – ist konkretisiert und damit handhabbar gemacht worden.

Wichtig sind aber auch die zusätzliche Aufnahme von Naturerfahrungsräumen und die Erweiterung des Kataloges der zu erhaltenden Landschaftselemente; denn auch diese haben eine besondere Bedeutung für die Artenvielfalt.

Wir stärken auch wieder die Mitgestaltungsrechte des ehrenamtlichen Naturschutzes, hier insbesondere der Landschaftsbeiräte. Wir schaffen damit wieder den Zustand, der vor der Veränderung durch die damalige schwarz-gelbe Landesregierung im Jahre 2007 bestanden hat. Wir setzen dabei weiter auf konstruktive Kooperation.

Ein wesentliches Instrument dafür ist der Landschaftsplan. Hier führen wir die Verpflichtung der Kreise und kreisfreien Städte, Landschaftspläne für ihre jeweiligen Außenbereiche aufzustellen, wieder ein. Die Landschaftspläne sind das zentrale Instrument, um im gesellschaftlichen Konsens und Austausch vor Ort die weitere Entwicklung unserer Kulturlandschaft im Blick zu behalten.

Die weiteren Beratungen werden sicherlich nicht immer diskussionsfrei sein. Die von der IHK in dieser Woche geäußerte Kritik gehört zum Beispiel dazu. Man erkennt anhand dieser Kritik aber auch, dass es offensichtlich doch sehr viele Verständnisdefizite gibt. Ich hoffe, dass wir diese Defizite in den nächsten Wochen und Monaten im Rahmen unserer weiteren Diskussionen ausräumen können.

Ich danke dem Ministerium für die Ausarbeitung dieses Gesetzes. Wir hoffen als Sozialdemokraten auf weiterhin gute Beratungen, auf weiterhin gute Kontakte mit all denen, denen die Natur, die Landschaft, die Artenvielfalt und das Leben und Arbeiten in unserer schönen Heimat wichtig sind und die dies auch für zukünftige Generationen erhalten wissen möchten. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herzlichen Dank, Herr Kollege Krick. – Für die CDU-Fraktion spricht als nächster Redner Herr Kollege Deppe.

Rainer Deppe (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nehmen wir einmal an, es gäbe Menschen, die Nordrhein-Westfalen nicht kennen: Wenn sie Ihre Reden vom dramatischen Artenrückgang bis hin zum Formatieren der Festplatte der Natur hören, müssten sie doch meinen, Nordrhein-Westfalen wäre ein ökologische Wüste.

Wer dann im Land unterwegs ist und sieht, dass drei Viertel unserer Landesfläche aus Wäldern, Äckern, Flüssen und Wiesen bestehen

(Norbert Meesters [SPD]: Aber was ist denn da drin?)

und dass wir bei einigen wichtigen Arten zum Teil wachsende Populationen haben – ich will nur ein paar beispielhaft nennen: Uhus, den Graureiher, Libellen, Gänse, Biber, Störche, Rothirsche, fast alle Greifvögel –, wird aber erkennen, dass Ihre Reden mit der Wirklichkeit doch ziemlich wenig zu tun haben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die Lebenswelt der Menschen sieht doch ganz anders aus, meine Damen und Herren. Egal, wo Sie hier in Nordrhein-Westfalen irgendetwas unternehmen wollen, den Bau eines Schuppens oder eines Windrades oder eines Hochwasserschutzdeiches: Sie finden doch immer irgendwelche Fledermäuse, Kröten oder Vögel, die das Vorhaben an dieser Stelle unmöglich oder durch Ausgleichsmaßnahmen unbezahlbar machen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Norbert Meesters [SPD]: Ist das billig!)

Der vorliegende Gesetzesentwurf verschärft den sowieso schon wieder vorhandenen nordrhein-westfälischen Sonderweg.

(Norbert Meesters [SPD]: Das ist doch arm!)

Ihr Gesetz entzieht der Landwirtschaft in unverantwortlicher Weise drei bis vier Mal so viele Flächen für Ausgleichsmaßnahmen, wie nach Bundesrecht vorgeschrieben ist und wie es in anderen Bundesländern verlangt wird.

Damit führt dieses Gesetz neben den Auswirkungen des zukünftigen Landeswassergesetzes, über das wir ja schon gesprochen haben, zusätzlich zu einem noch größeren Flächenverlust zulasten der Landwirtschaft.

Ein weiterer massiver Eingriff ist die Ausweitung des Vorkaufsrechts über die bundesrechtlichen Regelungen hinaus.

(Christina Schulze Föcking [CDU]: Unglaublich!)

Vor lauter Sorge, meine Damen und Herren, dass Sie nicht genug Haushalts- und Stiftungsmittel zusammenbekommen, um den Landwirten die Flächen wegzukaufen, begünstigen Sie jetzt auch noch die Naturschutzverbände durch ein zusätzliches Vorkaufsrecht. Wir wollen, dass die Flächen in den Händen der Landwirte und Waldbauern bleiben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Diese brauchen ein stärkeres Vorkaufsrecht – und nicht Behörden und Verbände.

Der Bund Deutscher Forstleute hat es auf den Punkt gebracht. Ich zitiere:

„Bedauerlicherweise scheint dieses Gesetz aber von einem tiefen Misstrauen gegenüber Landnutzenden und Bewirtschaftenden durchdrungen zu sein.“

Weiter führt der BDF aus:

„Der Eindruck einer ,Bevormundung des freien Bürgers‘ wird besonders im ländlichen Raum immer stärker.“

Meine Damen und Herren, zu diesem Gesetz kündige ich Ihnen den massiven Widerstand der CDU an. Es schadet unserem Land. Deshalb sollte es nicht beschlossen werden.

(Beifall von der CDU)

Wir brauchen in unserem Land jeden Quadratmeter land- und forstwirtschaftlicher Fläche zur Existenzsicherung unserer sowieso schon wirtschaftlich bedrängten Land- und Forstwirte. Sie wollen den Menschen vorschreiben, wie sie zu arbeiten haben. Wir sagen: Gute fachliche Praxis wird nicht am grünen Tisch im Ministerium, sondern anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen festgelegt. Darüber hinaus produziert Ihr Gesetzentwurf erneut eine Unmenge an zusätzlicher Bürokratie, die wir gerade in unserer Regierungszeit zugunsten des ländlichen Raums reduziert haben.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Mit der Clearingstelle Mittelstand sind wir der Meinung – ich zitiere wieder –: Wir können uns keine weitere Verlängerung der Planungsprozesse leisten.

Die IHK Nordrhein-Westfalen hat Ihnen noch gestern wortwörtlich geschrieben, dass Ihr Gesetz die wirtschaftliche Entwicklung unseres Bundeslandes behindert.

Sie missachten die Leistungen unserer Landwirte, der Waldbesitzer, der Jäger, der Angler und der Erzeuger erneuerbarer Energien für Natur und Umwelt.

(Zuruf von der SPD: Das lesen Sie doch jetzt bei jedem Gesetz ab! Das ist doch das ewige Mantra! Es wird aber nicht besser!)

Sie schüren die Konfrontation zwischen sogenannten Naturnutzern und sogenannten Naturschützern. Wir sagen: Ihre unsägliche Trennung in einerseits gute Schützer und andererseits böse Nutzer lehnen wir ab.

(Manfred Krick [SPD]: Wo ist die denn? Ist doch dummes Zeug!)

Wir setzen auf Miteinander und auf Kooperation.

(Beifall von der CDU)

Sie stellen den organisierten Naturschutz über alles andere – nicht nur über die Betroffenen und die Eigentümer, sondern auch über öffentliche Verwaltungen und sogar über die gewählten Räte und Kreistage. Auch das ist falsch, meine Damen und Herren.

Wir setzen bei den Naturschutzbeiräten auf fachliche Beratung, aber auch auf verlässliche Entscheidungen für die Bürgerinnen und Bürger.

Meine Damen und Herren, SPD und Grüne schüren die Konfrontation im ländlichen Raum auf unverantwortliche Art und Weise.

(Zuruf von der SPD: Das machen Sie fortlaufend!)

Wir stehen für Kooperation und einen fairen Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Deppe. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Herrn Kollegen Rüße das Wort.

Norwich Rüße (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Deppe, das war wieder einmal ein Auftritt, wie ich ihn befürchtet hatte. Ich fände es gut, wenn Sie die grüne Krawatte nicht mehr tragen würden; sie steht Ihnen überhaupt nicht zu.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD – Christina Schulze Föcking [CDU]: Hey! – Henning Höne [FDP]: Sollen wir Ihnen mal eine schenken?)

Ich sage Ihnen: Ich habe mich gefreut, dass dieses Gesetz heute eingebracht worden ist.

(Christina Schulze Föcking [CDU]: Echt billig!)

Lieber Herr Minister, Sie haben es genau zum richtigen Zeitpunkt, auf den Punkt genau eingebracht. Heute ist der Tag der Artenvielfalt, Herr Deppe. Sie sortieren da nicht ganz richtig. Der Minister spricht immer davon, dass wir dabei sind, unsere Festplatte der Natur zu löschen. Das heißt, wir löschen einzelne Segmente. Sie dagegen reden vom Formatieren der Festplatte. Das heißt, es ist Ihnen völlig egal, ob Teile wegbrechen oder ob man die Festplatte gleich komplett weghaut. Das finde ich dramatisch.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich finde auch, dass Sie mit Ihrer Art und Weise – nicht nur Sie diskutieren für Ihre Partei, wir sprechen auch mit anderen Leuten – immer eine völlig unnötige Schärfe in die Debatte bringen. Ich habe das beim Jagdgesetz erlebt und erlebe es jetzt wieder beim Landesnaturschutzgesetz. Das Thema müsste uns gemeinsam viel wichtiger sein, als dass wir es so scharf und hart und falsch in der Sache diskutieren, wie sie es tun, Herr Deppe. Das finde ich dramatisch.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Ich will auch gegenüber den Nutzerverbänden sagen: Die Erkenntnis, dass es Probleme im Naturschutz gibt, war immer da. Die Erkenntnis haben auch die Bäuerinnen und Bauern gewonnen. Dann kommt aber immer dieses „Ja, aber …“: Ja, wir haben Probleme, aber ihr dürft nichts ändern, ihr dürft nichts machen. – Macht es doch per Kooperation und nicht per Gesetz.

Ich sage immer wieder: Dieser Minister hat dafür gesorgt, dass wir im Programm Ländlicher Raum wieder ausreichend Mittel haben, um Vertragsnaturschutz machen zu können. Wir können es wieder. Sie haben den Vertragsnaturschutz vor die Wand gefahren.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Das ist die eine Seite. Die reicht aber nicht. Trotzdem müssen wir begleitend Leitplanken einziehen, damit sich die Natur auch erholen kann und ihren Raum findet.

Wir wollen die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie. Das ist doch das Entscheidende. Wir können nicht immer nur Arbeitsplätze und Ökonomie gegen die Natur ausspielen. Wir müssen beides erhalten, Herr Deppe. Das ist unser Ziel, und das sollte unser gemeinsames Ziel sein.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ich glaube, wir sind uns doch einig, dass unsere Landwirtschaft die Kulturlandschaft, die wir haben, in der Tat geschaffen hat. Hier ist ja keine Wildnis, es ist zu einem großen Teil eine Kulturlandschaft.

Wir sind uns auch einig: Bis 1950 ist die Artenvielfalt gewachsen, es wurden immer mehr Arten. Heute stehen wir vor dem Problem, dass wir Arten verlieren. 40 % unserer Arten sind noch in einem ungefährdeten Zustand. Der Rest, ein kleiner Teil, ist entweder ausgestorben, gefährdet oder auf der Vorwarnliste. Wir haben ein massives Problem. Das müssen wir doch gemeinsam bearbeiten, Herr Deppe. Ich bitte Sie, auch da endlich mitzumachen und nicht immer nur zu blockieren.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wir beide wissen, dass man über Vorgärten, die als Steingärten angelegt sind, reden kann. Natürlich müsste da auch etwas passieren. Damit bin ich einverstanden.

Aber wir wissen auch: Die größte Fläche in NRW wird durch die Landwirtschaft bewirtschaftet. Sie hat den größten Einfluss. Wenn wir bestimmte Dinge sehen, die draußen passieren, dann wissen wir, dass etwas geschehen muss. Bauern pflügen bis an die Wege heran. Die Wegränder, die gerade für die Artenvielfalt so wichtig sind, werden umgepflügt. Es wird bis an die Gräben herangepflügt. Hecken werden eben nicht gepflegt, sondern zum Teil schon massakriert; das ist nicht so selten. Mit dem Mulcher wird darübergefahren und die Hecke jährlich klein gehalten, bis sie gar nicht mehr da ist.

Wir haben den Gesetzentwurf nicht zum Spaß eingebracht, weil wir gerade nichts anderes zu tun hatten, sondern wir brauchen ein neues Landesnaturschutzgesetz, weil bestimmte Dinge einfach aus dem Ruder gelaufen sind.

Noch ein Satz, weil wir eben über die Milch gesprochen haben: Sie diskutieren mit uns immer über die Folgen, die das alles hat. Die ökonomischen Folgen des Landesnaturschutzgesetzes, die Nachteile, die es an der einen oder anderen Stelle eventuell gibt, sind minimal im Vergleich zu dem, was wir aktuell im Bereich der Milch Jahr für Jahr verlieren. Ich habe die 3 Milliarden genannt. Definieren Sie es doch einmal. Bringen Sie es doch einmal auf den Punkt. Da wird nämlich immer irgendetwas behauptet, was in der Realität gar nicht zutrifft.

Ich glaube, dass wir in der Tat einen anderen Tonfall rund um die Natur brauchen. Wir müssen miteinander überlegen, wie wir vorankommen. Ich erlebe im Moment viel Blockade, die aufgebrochen werden muss. Der Minister hat gegenüber den Nutzerverbänden große Bereitschaft erklärt, Dinge zu verändern. Er hat viel gemacht, er ist auf die Nutzerverbände zugegangen. Erkennen Sie das endlich an.

Wenn man dieses Gesetz wie Sie aus ideologischen Gründen ablehnt, dann ist man naturschutzpolitisch von gestern. Die Landesregierung ist mit dem Gesetzentwurf demgegenüber auf der Höhe der Zeit.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Danke, Herr Kollege Rüße. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Höne das Wort.

Henning Höne (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach vielen Diskussionen des Referentenentwurfes bei verschiedensten Veranstaltungen bei den Verbänden und des Aktionsbündnisses Ländlicher Raum ist es jetzt heute soweit. Endlich liegt uns der Entwurf vor, der das Parlament in den nächsten Wochen beschäftigen wird.

Fest steht schon jetzt mit Blick, Herr Minister Remmel, auf Ihre politische Historie in den letzten Jahren, dass weder Sie noch sonst irgendjemand sich wundern darf, dass schon der im Juni letzten Jahres veröffentlichte Referentenentwurf von den Betroffenen sehr ernst genommen wurde und direkt zu scharfer Kritik von vielen, vielen Seiten geführt hat und im Übrigen auch zu ersten praktischen Reaktionen in den betroffenen Branchen.

Ich sage es – nicht nur mit Blick auf die letzten Jahre Ihrer Amtszeit, sondern auch und gerade mit Blick auf den jetzigen Entwurf des Gesetzes und auch auf den ersten Referentenentwurf – ganz deutlich: Der nordrhein-westfälische Landwirtschaftsminister misstraut der Land- und Forstwirtschaft in unserem Lande. Darum misstraut diese Branche auch dem Minister. Das Misstrauen gegenüber dem Minister wächst unter anderem auch, weil Sie mit Blick auf eigene PR-Zwecke gerne dramatisieren.

Es gibt – da bin ich nah beim Kollegen Rüße – beim Rückgang der Artenvielfalt überhaupt nichts zu beschönigen. Aber schauen wir mal, dass wir, auch wenn es nichts zu beschönigen gibt, bei den Fakten bleiben!

In einer Pressemitteilung aus Ihrem Ministerium, Herr Remmel, vom 17. Februar heißt es – da werden Sie mit diesem Satz zitiert –: „Fast die Hälfte der Arten steht inzwischen auf der Roten Liste.“

Ein Blick in den entsprechenden LANUV-Fachbericht zeigt: Von 43.000 in freier Natur vorkommenden Arten sind 12.000 auf den entsprechenden Verzeichnissen. – Da kann ich Ihnen nur sagen: Auch mit viel Fantasie ist das nicht fast die Hälfte. Herr Remmel, Sie sind ja begeisterter Fußballspieler. Um da einen Vergleich zu ziehen: Wer 12.000 als fast die Hälfte von 43.000 bezeichnet, der ist schon lange nicht mehr auf gleicher Höhe, der steht meilenweit im Abseits.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen und Herren, auch bei den letzten Diskussionen – zum Beispiel, Herr Kollege Rüße, beim Grundbesitzerverband; Sie haben es gerade auch noch einmal angesprochen – haben wir als Freie Demokraten grundsätzlich gelobt, dass mehr Geld für den ländlichen Raum zur Verfügung steht, erst einmal zur Verfügung steht. Wobei natürlich die Frage ist: Wieviel wird eigentlich im Moment wofür genau überhaupt genutzt? Was kann abgerufen werden? Es gab ja auch Bereiche, die den ländlichen Raum betreffen, in denen gewisse Verordnungen, die den Abruf regeln, relativ lange haben auf sich warten lassen.

Ich nenne Ihnen noch einen ganz anderen Grund – unabhängig davon, ob die Dinge vielleicht einfach oder kompliziert abzurufen sind –, warum ich nicht daran glaube, dass mehr Geld auch wirklich in den ländlichen Raum im kooperativen Bereich geht: eben wegen dieses Misstrauens, das Sie der Branche entgegenbringen.

Herr Rüße, Sie haben bei der Diskussion des Grundbesitzerverbandes erklärt, man bräuchte beides, man bräuchte sowohl Kooperation und damit Förderung als auch Ordnungsrecht. Das Problem ist nur: Sie können ein Pferd nicht mit Zucker in der einen Hand zu sich heranlocken, wenn Sie mit der anderen Hand schon mit der Peitsche knallen. Genau das tun Sie an dieser Stelle. Auf der einen Seite wollen Sie mehr Geld zur Verfügung stellen und auf der anderen Seite sagen Sie selbst: wenn nicht, haben wir hier schon einmal ein paar Daumenschrauben für Sie.

Dieses Geld wird nicht genutzt werden, und das übrigens auch zu Recht. Niemandem könnte man dazu raten, weil die Leute Sorge haben, dass ihnen einzelne private Maßnahmen vor die Füße fallen.

(Norwich Rüße [GRÜNE]: Das werden wir ja sehen!)

Dieser Gesetzentwurf, Herr Kollege Rüße, belastet einseitig Eigentümer und Landnutzer.

Auch nach der Überarbeitung, auch nach den Veränderungen lassen Sie drei Dinge vermissen. Wir vermissen in diesem Gesetzentwurf Respekt, Vertrauen und Messbarkeit.

(Beifall von der FDP)

Fangen wir mit der Messbarkeit an!

(Zuruf von Norwich Rüße [GRÜNE])

Herr Minister Remmel, Sie haben gesagt, man könne ja wohl keine Kritik an der Umsetzung des Bundesrechts äußern. – Ja, wenn Sie denn mal nur Bundesrecht eins zu eins umsetzen würden, dann wäre doch fast jegliche Kritik an diesem Gesetzentwurf schon längst verhallt. Dann gäbe es die gar nicht mehr. 10 % Biotopverbund laut Bundesrecht! Sie machen daraus 15. Sie setzen immer noch einen drauf, und das um 50 % in diesem Fall, ohne das übrigens mit konkreten Zielen zu hinterlegen. Warum, wie viel, an welcher Stelle, welchen Arten werden eigentlich diese zusätzlichen Prozentpunkte konkret helfen?

Zweiter Punkt: Vertrauen, Vertrauen in die Ausbildung und in die Arbeit der Menschen, der Landnutzer, die in der Natur leben, mit der Natur, von der Natur. Da ist die gute fachliche Praxis gerade schon angesprochen worden. Die ergibt sich aus dem wissenschaftlichen Stand, aus dem, was praktisch machbar und was sinnvoll ist.

Da ist es eben nicht so, dass man dann – wie der Kollege Mostofizadeh eben dazwischengerufen hat – auch jegliche andere Ausbildung wegfallen lassen sollte. Es gibt ja genau diese gute fachliche Praxis, die den entsprechenden Rahmen festlegt.

Herr Kollege Mostofizadeh, Sie riefen eben, dann müsste man auch den Meisterbrief abschaffen. Was für ein Unsinn übrigens ist dieser Vergleich! Ich weiß gar nicht, wie man darauf überhaupt kommen kann. Der Unterschied ist nur, dass in Nordrhein-Westfalen der gleiche Meisterbrief gilt wie in Hessen und in Niedersachsen. Mit diesem Naturschutzgesetz und mit den Eingriffen in die gute fachliche Praxis wäre genau das nicht mehr der Fall. Das wäre eine ganz klare Benachteiligung der Betriebe in unserem Land zulasten der wirtschaftlichen Entwicklung, zulasten der Familienbetriebe übrigens im Besonderen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Norwich Rüße [GRÜNE]: Wenn das so wäre!)

Wir vermissen Respekt vor dem Eigentum. Vorkaufsrechte sind gerade schon angesprochen worden.

Aber ich will auch noch einen ganz grundsätzlichen Punkt ansprechen. Herr Krick, Sie haben das auch erwähnt: die Erweiterung der Beteiligung in den Beiräten. Es ist schon spannend, was für ein Verständnis von Eigentum Sie haben. Die Gruppe derjenigen, die in einem solchen Verfahren beteiligt werden müssen und die immer mehr Rechte bekommen, um sich zu beteiligen, wächst von Mal zu Mal und kann Ihnen ja auch gar nicht groß genug sein. Aber eine Gruppe derjenigen, die zu beteiligen wären, fehlt bei denen, die zwingend zu beteiligen sind: Die Eigentümer! Herr Krick sagt bei der Diskussion beim Grundbesitzerverband, die könnten sich ja wie jeder andere auch normal melden und einbringen.

Also diejenigen, die Eigentümer, über deren Grund und Boden Sie entscheiden, können sich mal selber melden?! Die haben dann eine Bringschuld?! Alle anderen umarmen Sie und laden Sie ein! Die sind automatisch zu beteiligen. Das ist ein Eigentumsverständnis, das wir nicht teilen. Das weisen wir zurück!

(Beifall von der FDP und der CDU)

Im Übrigen, wo wir gerade dabei sind, Herr Krick: Sie haben gerade gesagt, Streuobstwiesen seien jetzt mit dem neuen Entwurf handhabbar geworden.

Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Sie im Entwurf mit den Streuobstwiesen gemacht haben, wird man im nächsten Jahr im Duden unter „Verschlimmbesserungen“ finden. Wieso ist es handhabbarer, jetzt damit anzufangen, dass die unteren Landschaftsbehörden von der nächstgelegenen Hofstelle 100 m bis zum ersten Apfelbaum abmessen sollen? – Da bin ich auf die ersten Diskussionen über entsprechende Meter oder Nichtmeter gespannt.

(Zuruf von Norwich Rüße [GRÜNE])

Besonders schlimm, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor allem eines:

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Denken Sie an die Zeit!

Henning Höne (FDP): Das tue ich, Herr Präsident. – Jede einzelne Maßnahme für sich genommen – ob im Naturschutzgesetz oder aus den letzten Jahren, Herr Minister – wäre wahrscheinlich gar nicht so schlimm. Aber in der Summe schaden Sie mit den vielen einzelnen Daumenschrauben, die Sie anziehen, insbesondere den kleinen und mittleren Betrieben. Gleichzeitig haben Sie eben bei der Milchdebatte das Prinzip „Wachse oder weiche“ kritisiert. Das passt nicht zusammen.

(Das Ende der Redezeit wird signalisiert.)

Herr Minister, in Sonntagsreden inklusive vieler Papstzitate gerade vor dem Aktionsbündnis Ländlicher Raum sagen Sie immer, Sie wollen den Strukturwandel bekämpfen. Aber mit diesen Daumenschrauben, die Sie mit jedem Gesetz, mit jeder Verordnung anziehen, verschärfen Sie den Strukturwandel. Sonntags verkleidet sich dieser Minister als Feuerwehrmann, unter der Woche arbeitet er als Brandbeschleuniger.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Danke, Herr Kollege Höne. – Für die Piratenfraktion erteile ich Herrn Kollegen Rohwedder das Wort.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! In Nordrhein-Westfalen sind schon 22 % des Landes von Siedlungs- und Verkehrsflächen beansprucht. Es werden täglich 10 ha verbraucht. In den letzten 20 Jahren sind in Nordrhein-Westfalen Flächen in der Größenordnung von 146.000 Fußballfeldern in Siedlungs- und Verkehrsflächen umgewandelt worden und in den letzten 30 Jahren eine Fläche so groß wie das Bundesland Berlin.

Das war Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen. 45 % der Wirbeltiere in Nordrhein-Westfalen sind ausgestorben oder vom Aussterben bedroht, Herr Deppe, oder die Biomasse von Insekten und Vögeln ist um 80 % zurückgegangen. Die Ursachen für den Schwund dieser biologischen Vielfalt kennen wir seit Langem.

Jetzt brauchen wir ambitionierte Ziele und effektive Instrumente, um in der Lage zu sein, diese Probleme in absehbarer Zeit zu lösen. Auch Land-, Forst- und Wasserwirtschaft müssen in die Pflicht genommen werden, sich an dieser gesellschaftlichen Aufgabe zu beteiligen. Die Vergabe öffentlicher Fördergelder sollte deshalb zukünftig in all diesen Bereichen auch an das Erreichen von Biodiversitätsstandards gebunden werden. Biodiversität ist mehr als Artenvielfalt. Es ist auch die genetische Vielfalt im Genpool einer jeden einzelnen Art und die Vielfalt von Lebensräumen.

Die Vereinten Nationen hatten sich das Ziel gesetzt, den Schwund der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen. Dieses Ziel ist auch in Nordrhein-Westfalen bisher deutlich verfehlt. Alle Daten zeigen: Tiere, Pflanzen und Ökosysteme sind nicht wirksam geschützt. Das Ziel, den Verlust der biologischen Vielfalt zu begrenzen, ist bisher verfehlt. Daher besteht dringender Handlungsbedarf.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Es gibt zu wenig naturnahe Wälder und Flussauen, kaum Wildnis, kein einheitliches Management für Schutzgebiete und zu wenige Biotope, die miteinander verbunden sind.

So geht der Gesetzentwurf der Landesregierung zum Schutz der Natur in Nordrhein-Westfalen in die richtige Richtung. Experten fordern mehr Geld, mehr Engagement von der Politik, mehr Schutzflächen und Hilfen zur Umstellung der Landwirtschaft. Vor allem muss die EU-Agrarpolitik ökologischer werden.

Einen Teil dieser Forderungen finden wir im vorliegenden Gesetzentwurf wieder. Warum aber die Streichung des Totholzschutzes im Wald im zweiten Entwurf des Landesnaturschutzgesetzes? Was ist mit dem Schutz der Streuobstwiesen? Was ist mit der Ausnahme privater Flächen, die gestern laut heutiger Pressemitteilung vom Umweltminister versprochen wurde?

Wir werden diese und andere Kritikpunkte und Unzulänglichkeiten in der weiteren Beratung ansprechen und sie konstruktiv und kritisch begleiten. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Rohwedder. – Meine Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Sämtliche Fraktionen haben sich inzwischen darauf verständigt, folgende Überweisungsempfehlung für den Gesetzentwurf Drucksache 16/11154 - Neudruck - auszusprechen: an den Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – federführend –, den Ausschuss für Kommunalpolitik sowie den Ausschuss für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk. Wer dieser Überweisungsempfehlung zustimmen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist jeweils nicht der Fall. Damit ist diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich rufe auf:

10 Landesregierung muss ihrer Verantwortung für die Kommunen gerecht werden und gegen flächendeckende Rekordsteuererhöhungen bei der Grund- und Gewerbesteuer vorgehen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/11227

Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/11295

Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/11300

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die antragstellende CDU-Fraktion Herrn Abgeordneten Nettekoven das Wort. Bitte, Herr Kollege.

Jens-Peter Nettekoven (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Trotz sprudelnder Steuereinnahmen und historisch niedriger Zinsen verzeichnen die Kommunen in NRW weiterhin hohe Defizite. Fast die Hälfte aller Städte und Gemeinden in NRW befindet sich in der Haushaltssicherung bzw. sogar im Nothaushaltsrecht.

Die Bertelsmann-Studie „Kommunaler Finanzreport 2015“ hat aufgezeigt, wie dramatisch die Situation in NRW ist. Laut dieser Studie haben sich die Haushaltsergebnisse der Städte, Gemeinden und Kreise in NRW 2014 noch einmal drastisch verschlechtert. In keinem anderen Bundesland sei es zu einem vergleichbaren Einbruch gekommen.

Bundesweit sind seit 2010 die fundierten Schulden der Kommunen wieder rückläufig. Die Kassenkredite in den nordrhein-westfälischen Kommunen summieren sich zum 30. Juni 2015 auf rund 27 Milliarden € und damit auf mehr als 55 % aller bundesweiten Kassenkredite.

Meine Damen und Herren, die anhaltende Finanznot zwingt zahlreiche NRW-Kommunen, an der Steuerschraube zu drehen. Zwischen Anfang 2010 und Mitte 2014 erhöhten mehr als 90 % der Kommunen mindestens einmal die Grundsteuer. Mit 959 Prozentpunkten hat Bergneustadt momentan den höchsten Hebesatz der Grundsteuer B in ganz NRW. Aufgrund dieser dramatischen Situation in ihren Kommunen haben Bürgerinnen und Bürger aus Bergneustadt, Siegburg, Lindlar und Fröndenberg Ende Januar 2016 vor dem Hohen Haus demonstriert, um auf ihre Probleme hinzuweisen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der Gegenüberstellung der Zahlen lässt sich sehr plakativ zeigen, wie sich in Bergneustadt von 1995 bis 2015 die Grundsteuer B entwickelt hat: 1995 Hebesatz 320, 2015 Hebesatz 959. Ein Bürger in Bergneustadt musste 1995 für seine Wohnung 560 € Grundsteuer im Jahr bezahlen. Jetzt sind es 1.678,25 €. Meine Damen und Herren, das ist eine Steigerung um sage und schreibe 199,69 % in 20 Jahren.

Ich möchte es nicht bei meinem Hinweis auf den negativen Spitzenreiter der Grundsteuer-B-Tabelle in unserem Bundesland belassen, sondern den Blick auch auf meine Heimatstadt Remscheid richten: 1995 Hebesatz 365, 2015 Hebesatz 784. Das macht eine Steigerung um 115 % bei der Grundsteuer B aus. Mit einem Hebesatz von 784 ist meine Heimatstadt Remscheid Spitzenreiter bei den kreisfreien Städten der Stärkungspaktkommunen. Um die Auflagen des Stärkungspakts zu erfüllen, musste unserer Kämmerer in den letzten Wochen einen Nachtragshaushalt in den Stadtrat einbringen.

Genauso wie der Kämmerer von Bergneustadt seinen Haushalt – bildlich gesehen – als ausgepresst wie eine Zitrone darstellt, ist es bei den anderen Kommunen auch. Niemand möchte mit solchen Zahlenfakten wie der Grundsteuer-B-Tabelle in der Champions League spielen. Jeder Kämmerer versucht, aus der Zitrone noch irgendetwas herauszupressen. Wenn dann die Bürgerinnen und Bürger – wie eben an den Beispielen Bergneustadt und Remscheid prozentual bzw. monetär aufgezeigt – die Zitronenpresse ersetzen, ist das alternativlos. In den Kommunen, in die der Innenminister den Sparkommissar geschickt hat, weil sie die Auflagen des Stärkungspakts nicht erfüllt haben, wurden die Steuern erhöht, weil aus der Zitrone nichts mehr herauszupressen war.

Nach der Angaben der Gemeindeprüfungsanstalt NRW erbringen die Hebesatzerhöhungen als Konsolidierungsmaßnahme das größte Volumen in den Haushaltssanierungsplänen für die nächsten Jahre.

Meine Damen und Herren, der Bund hat entlastet und entlastet weiterhin die Länder und Kommunen mit rund 40 Milliarden €, wovon 10 Milliarden € – das sind 25 % – in das schönste und bevölkerungsreichste Bundesland fließen.

Auch wenn wir uns freuen, wenn wir im Fußball viele Vereine haben, die in der Champions League bzw. international spielen: Bei der Grundsteuer-B-Tabelle würde ich uns gerne im gesicherten Mittelfeld sehen. Deshalb fordern wir, dem Problem steigender Hebesätze mit geeigneten Maßnahmen entgegenzuwirken und für eine bessere finanzielle Gesamtausstattung der NRW-Kommunen zu sorgen.

Meine Damen und Herren, wir haben es gestern gehört: Ein Motto der Ministerpräsidentin lautet: „Kein Kind zurücklassen!“ – Unser Motto lautet: „Keine Kommune zurücklassen!“. Deshalb bitten wir Sie um zu Zustimmung zu unserem Antrag. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Nettekoven. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Hübner.

Michael Hübner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein bisschen Glück auf zu späterer Stunde! Wir haben hier ein ganz wesentliches Thema zu diskutieren, nämlich die finanzielle Situation der Städte.

Ich bedauere ein bisschen, was der Herr Kollege Nettekoven – natürlich aus eigener Betroffenheit heraus – gesagt hat. Aber auch ich kann dazu immer aus eigener Betroffenheit sprechen, denn ich vertrete zwei Städte, die sich in der Stufe I bzw. II des Stärkungspaktes befinden. Ich bedauere das nicht etwa, weil die Argumente nicht klar sind. Sie haben aber – ich sage das einmal in aller Ruhe – ein völlig verzerrtes Bild der Finanzierung der 396 Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen gezeichnet, was eigentlich so nicht akzeptabel ist.

Das beginnt dort, wo Sie sagen, dass sich ein großer Teil dieser Städte und Gemeinden im gemeindlichen Nothaushaltsrecht befindet. Ich will Sie darauf hinweisen, dass wir deshalb etwas nicht ganz Alltägliches gemacht haben: Wir sind nicht nur in die Debatte gegangen, sondern wir haben Ihrer Beschreibung auch einen Entschließungsantrag entgegengesetzt. Denn Ihre Beschreibung stellt die Situation völlig falsch dar. Aktuell befinden sich drei Kommunen im Nothaushaltsrecht. Drei Kommunen!

Ich will Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, dass wir im Jahr 2010 nahezu 150 Kommunen hatten, die im Rahmen des Nothaushaltsrechts gearbeitet haben und die dementsprechend auch Investitionen, die sinnvoll gewesen wären, gar nicht leisten konnten. Dazu gehörte übrigens auch Ihre Heimatstadt Remscheid – genauso wie meine Heimatstadt Gladbeck und die Stadt Dorsten.

Das verzerrte Bild wird allerdings auch nicht besser, wenn man weiter in Ihren Antrag hineinschaut. Dann sieht man, dass Sie den Eindruck erwecken, als ob es nur in Nordrhein-Westfalen Probleme gegeben hat. Wenn Sie sich die Sachlage angucken, werden Sie feststellen, dass es insbesondere in den letzten Jahren eine ganz große Dynamik im Land Hessen gab. Auch in Bremen haben wir, wenn ich Sie daran erinnern darf, eine kommunale Ebene. Das Gleiche gilt auch für Rheinland-Pfalz und das Saarland. Mit der Aufzählung der Bundesländer will ich deutlich machen, dass wir im gesamten Westen ein Problem in Bezug auf die kommunale Finanzsituation haben.

Das hängt eindeutig damit zusammen, dass es zwei Sachverhalte gibt, die hier im Westen der Republik eingetreten sind und von denen ich bisher dachte, dass wir sie eigentlich hinlänglich ausgetauscht hätten. Dabei handelt es sich einerseits darum, dass hier ein Strukturwandel zu bewältigen ist, von dem auch Ihre Heimatstadt Remscheid betroffen ist. Zum Zweiten haben wir, ausgelöst durch den Strukturwandel, ganz besonders hohe Sozialkosten.

Wir hatten meines Erachtens in den Jahren 2010, 2011 und 2012 einen Konsens. Damals haben wir gesagt: Da müssen wir agieren. Und wir haben agiert. Sie werfen uns ja auch vor, dass das Gemeindefinanzierungsgesetz nicht genügend angeschaut worden ist. Dazu will ich Ihnen sagen: Die ifo-Kommission hat in der Zeit von 2005 bis 2010 das Gemeindefinanzierungsgesetz überprüft. Dabei kam es zu leichten Anpassungen. Auch die FiFo-Kommission hat das zuletzt überprüft. Auch da sind wir zu leichten Anpassungen gekommen.

Ich will aber in der Summe sagen: Wir haben da aktiv – nicht nur durch die Erhöhung, die sich daraus ergibt, dass wir mehr Steuereinnahmen haben – eine Erhöhung vorgenommen. Im Jahr 2010 haben wir den Gemeinden im Rahmen des Gemeindefinanzierungsgesetz aktiv 300 Millionen € zugeführt.

Daraus ist übrigens weit mehr als eine halbe Milliarde Euro geworden, und das nach einer Zeit, in der den Städten und Gemeinden zwischen 2005 und 2010 jedes Jahr über die Gemeindefinanzierungsgesetze zur Konsolidierung des Landeshaushaltes 300 Millionen € abgenommen worden sind. Der Raubzug durch die kommunalen Kassen summiert sich in der Zeit auf über 3 Milliarden €.

Das aufzuholen ist nicht leicht, aber wir haben uns auf den Weg gemacht, über das Gemeindefinanzierungsgesetz eine Lösung auf den Weg zu bringen. Wir haben den Stärkungspakt aufgelegt, damit Städte wie Remscheid im Zusammenhang mit den Veränderungen in § 76 der Gemeindeordnung wieder eine Perspektive haben, einen Haushaltsausgleich zu erzielen.

Wir haben im ersten Schritt 350 Millionen € für den Stärkungspakt auf den Weg gebracht. Damit will ich sagen: All das zeigt, dass wir dieses Thema ernst nehmen. Wir nehmen es bis heute ernst. Sie können auch am Kompromiss zum Thema FlüAG erkennen, dass wir sehr kommunalfreundlich damit umgehen, damit die Kommunen nicht überfordert werden.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Es ist aber immer ein Dreiklang gewesen – davon haben wir uns nie verabschiedet –, und zwar ein Dreiklang von Landeshilfen. Wir haben aber auch die Bundeshilfen eingefordert.

Übrigens haben wir auch über die Fraktionsgrenzen hinweg gesagt, bei der SGB-XII-Grundsicherung für Menschen im Alter und bei Erwerbsminderung müsse es eine Hilfe seitens des Bundes geben, und die gibt es. Im Koalitionsvertrag haben wir gesagt, es müsse eine deutliche Unterstützung bei der Eingliederungshilfe geben. In diesem Jahr wurden 1,5 Milliarden € über die KdU und Umsatzsteueranteile ausgeschüttet. Diese Hilfen haben wir über den Bund zu organisieren versucht, und wir haben es richtig gemacht.

Wir haben über das Land – das habe ich Ihnen bereits dargestellt – weit über 700 Millionen € strukturell an Verbesserung erzielt. Und den Städten haben wir aufgegeben, dass sie Eigenkonsolidierungsanstrengungen zu leisten haben. In der Schwierigkeit, in der auch Nideggen und Altena gesteckt haben, steckt natürlich auch Bergneustadt.

Da ich die 1.255 Hebesatzpunkte schon mehrfach hier zitiert habe, möchte ich Ihnen aber noch Folgendes sagen: Die Anhebung auf 1.255 Hebesatzpunkte haben sie selbst im Haushaltssanierungsplan beschlossen. Das heißt, sie müssen das letztlich umsetzen, stellen aber fest, dass es Bürgerproteste gibt. Dann muss man sich die Lage im Einzelfall noch einmal sehr konkret anschauen und überlegen, zu welchen Verbesserungen man gegebenenfalls noch kommen möchte.

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Michael Hübner (SPD): Ich habe gesehen, dass die Redezeit überschritten ist, Frau Präsidentin.

Präsidentin Carina Gödecke: Erheblich.

Michael Hübner (SPD): Übrigens habe ich das sehr höflich formuliert, Herr Nettekoven. Ich hätte es nicht so höflich formuliert, wenn Herr Kuper das so vorgetragen hätte, wie Sie es vorgetragen haben.

(André Kuper [CDU]: Hört, hört!)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hübner. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Krüger.

Mario Krüger (GRÜNE): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will nicht ganz so höflich sein. Wo ist Herr Nettekoven? – Ach, da ist er.

Ich habe mir am 29. Januar auch die Demonstration der Bergneustädter vor dem Landtagsgebäude angesehen, und ich habe in diesem Zusammenhang auch Ihren Fraktionsvorsitzenden Armin Laschet erlebt. Ich habe ihn – um einmal in dem Bild zu bleiben – als Retter der Witwen und Waisen erlebt, der dann angekündigt hat: Wir als CDU-Fraktion greifen das Ganze auf und werden das zum Gegenstand einer Debatte im Landtag machen. – So ist dieser Antrag zustande gekommen.

Schauen wir uns diesen Antrag nun einmal an. Ich beziehe mich jetzt wirklich nur auf das, was Sie darin fordern. Beispiel eins: Sie sagen, hohe Hebesätze sollten als Standortnachteil anerkannt werden, und dem solle mit geeigneten Maßnahmen entgegengewirkt werden. Ich glaube, Willi, wir sind uns darin einig, dass das ohne Zweifel ein Standortnachteil ist. Das muss man hier nicht großartig in einem Schreiben deutlich machen. Das wird, denke ich, fraktionsübergreifend anerkannt.

Aber mit welchen geeigneten Maßnahmen dem entgegengewirkt werden soll, dazu findet man nichts. Dazu steht nichts in Ihrem Antrag.

(Hans-Willi Körfges [SPD]: Unbestimmte Rechtsbegriffe!)

Beispiel zwei: Sie sagen unter dem zweiten Spiegelstrich, es seien Maßnahmen zu unterlassen, die die kommunalen Haushalte belasten könnten. Welche meinen Sie denn?

Der Kollege Michael Hübner hat gerade das Thema „Flüchtlingspolitik“ aufgegriffen. Im Jahr 2014 hatten wir im Einzelplan 03, Titelgruppe Integration, 80 Millionen € für die Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen ausgewiesen. Wir sind jetzt bei 1,94 Milliarden €, und klar ist: Das ist nicht das Ende der Fahnenstange, sondern wir werden im Rahmen von Nachträgen noch weiter aufstocken.

Wenn man den Kommunen Bergneustadt, Remscheid und Recklinghausen wirklich helfen will, dann sollte man andere Enden anpacken und sich beispielsweise auf die Frage konzentrieren, wie lange solche Verfahren dauern und wann diese Verfahren abgewickelt werden. Wir wissen aus entsprechenden Statistiken der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge, dass zum Jahresbeginn 700.000 unerledigte Verfahren auf Halde liegen und dass weitere 200.000 bis 300.000 Verfahren noch gar nicht begonnen worden sind. Das löst die Kosten und die Belastung auf der kommunalen Seite aus.

Drittes Beispiel: Sie sagen, für eine bessere finanzielle Ausstattung der NRW-Kommunen sei zu sorgen. – Schön. Das unterstützen wir. Wir schreiben auch gleich unseren Wilhelm mit darunter. Ich frage mich nur, wer das Ganze angesichts Ihrer Regierungszeit in den Jahren 2005 bis 2010 fordert. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir sind schon längst dabei, und ich würde mich freuen, wenn Sie das endlich einmal wahrnehmen würden.

(Beifall von Stefan Kämmerling [SPD])

– Danke. – Herr Nettekoven, wir haben allein die Mittel im GFG 2016 gegenüber GFG 2015 um 710 Millionen € angehoben. Wir haben seit 2010 allein durch die Einbeziehung – Michael Hübner ist gerade schon darauf eingegangen – der Grunderwerbsteuer, die Sie seinerzeit herausgenommen hatten, aber auch durch die Herausnahme der Befrachtung mehr als 2 Milliarden € substanziell dem Gemeindefinanzausgleich zugeführt.

(Henning Höne [FDP]: Wer hat denn die Befrachtung erfunden?)

Weiterhin werden den Kommunen im Rahmen des Stärkungspaktes Finanzen mehr als 5,76 Milliarden € bereitgestellt, davon allein 4 Milliarden € an Landesgeld. Wir kümmern uns im Gegensatz zu Ihnen um die finanzielle Ausstattung der NRW-Kommunen.

Gehen wir weiter zum vierten Beispiel: Die individuelle Situation der Stärkungspaktkommunen sei zu berücksichtigen. – Ich habe mich gefragt: Was mache ich denn mit diesem Satz? Was wollen Sie uns damit sagen? Ich kann mich entsinnen, dass Sie als Fraktion den Stärkungspakt abgelehnt hatten.

Jetzt sprechen Sie sich dafür aus, dass die Stärkungspaktkommunen und deren Situation individuell berücksichtigt werden sollen. Bisher gilt für uns das Prinzip der Gleichbehandlung. Ich sähe es gerne, wenn für Bergneustadt eine Sonderregelung vereinbart werden könnte, aber Sie wissen auch, dass das schlechterdings überhaupt nicht möglich ist, weil automatisch alle anderen ähnliche Sonderreglungen fordern würden.

Insofern, Herr Nettekoven, sagen Sie Ihrem Herrn Laschet, er soll in seiner Funktion als stellvertretender Parteivorsitzender das Thema anders anpacken. Er soll einmal mit Herrn Schäuble sprechen und nachfragen, ob es denn sinnvoll ist, 12 Milliarden € Überschuss im Rahmen der Haushaltsrechnung auszuweisen. Oder er soll darüber nachdenken, inwieweit wir beispielsweise im Rahmen der Eingliederungshilfen endlich die 5 Milliarden € Kostenentlastung für die Kommunen weitergeben können oder die Anteile im Rahmen der Kosten der Unterkunft für NRW anheben oder das Thema „Integration und Flüchtlingsunterbringung“ besser ausstatten, als es momentan der Fall ist.

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Mario Krüger (GRÜNE): Vielen Dank.

(Beifall von Stefan Kämmerling [SPD])

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Krüger. – Für die FDP-Fraktion spricht jetzt Herr Kollege Höne.

Henning Höne (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Freie Demokraten freuen uns, dass vonseiten der CDU das Thema „Hebesatzproblematik“ aufgegriffen und in dieser Form entdeckt wird, wenngleich wir uns parallel dazu fragen, warum denn die CDU, lieber Kollege Nettekoven, wenn doch die Problematik so gesehen wird, wie Sie sie gerade beschrieben haben, im Herbst des vergangenen Jahres nicht unserem Antrag zur Grundsteuerbremse zugestimmt hat.

Da muss man sich fragen – und den Hinweis muss ich mir erlauben –: Was hat sich denn eigentlich verändert im Vergleich zwischen unserem Grundsteuerbremse-Antrag aus dem vergangenen Jahr und Ihrem Antrag in der jetzigen Situation? Die Veränderungen sind die gerade schon angesprochene Demonstration und die Fernsehkameras vor dem Landtag vor wenigen Wochen.

Die Grundsatzkritik am Stärkungspakt – auch darauf will ich zu Beginn kurz hinweisen –, die sich in dem Antrag ein bisschen widerspiegelt, ist meiner Meinung nach fehl am Platze. Ich glaube, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen der CDU ehrlich machen und in sich gehen, würden sie im Nachhinein doch viel lieber dem Stärkungspakt I zugestimmt haben als dem Schulkonsens.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die kommunale Finanzlage ist bekanntlich angespannt und desolat: 62 Milliarden € Gesamtschulden, 27 Milliarden € Kassenkredite. Alleine seit 2009 verzeichnen wir eine Steigerung der Kassenkredite um 60 %.

Das zeigt, der Großteil der kommunalen Haushalte ist unterfinanziert. Die Haushaltssicherung ist die Regel. Und, Herr Minister Jäger, hätte es nicht eine Änderung der Gemeindeordnung gegeben, dann wäre wahrscheinlich sogar der Nothaushalt noch viel öfter die Regel.

Festzuhalten ist, dass SPD und Grüne mehr als eine halbe Dekade Zeit hatten, in Regierungsverantwortung etwas zu tun, aber im Endeffekt angesichts dieser Zahlen der Gesamtverschuldung und Kassenkredite wenig dabei herumgekommen ist.

Im Übrigen möchte ich kurz darauf verweisen, dass im Moment gerade bei den Krediten die Lage durch die künstlich niedrigen Zinsen entspannt wird. Da schlummert ein riesiges Risiko.

Meine Damen und Herren, die jüngste Studie von Ernst & Young zu den Kommunalfinanzen hat uns schon erstaunt. Wir hätten nicht glauben können, dass die traurigen Rekorde in Bezug auf die Rekordsteuern des Vorjahres noch einmal gebrochen werden können. NRW ist Hochsteuerland Nummer eins, und trotzdem ist die Finanzlage der Kommunen so, wie sie ist.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kommunen das an sich gar nicht wollen. Sie werden indirekt oder direkt zu Grund- oder Gewerbesteuererhöhungen gezwungen, und das Delta wird immer größer. Das Delta bei der Grundsteuer zwischen NRW und Schleswig-Holstein liegt mittlerweile im Durchschnitt bei fast 200 Punkten. Sieben der zehn Städte mit den höchsten Grundsteuerhebesätzen bundesweit liegen in Nordrhein-Westfalen. Acht der zehn Städte mit den höchsten Gewerbesteuersätzen bundesweit liegen in Nordrhein-Westfalen. Vor diesen Fakten kann man sich nicht verstecken.

(Beifall von der FDP)

Schön wäre es, wenn die Initiativen seitens der Freien Demokraten hier im Hohen Hausen insbesondere von SPD und Grünen ernster genommen worden wären. Bereits Anfang 2015 haben wir vor ausufernden Steuerhebesätzen gewarnt; das war der Antrag zur Grundsteuerbremse, der Ende des letzten Jahres abgestimmt wurde. Abgelehnt haben ihn SPD und Grüne, die CDU hatte sich enthalten. Da kann ich nur sagen: Die Studie von Ernst & Young ist die Quittung für Ihre Verweigerungshaltung.

Das Problem der Hebesatzspiralen durch einheitliche fiktive Hebesätze haben wir thematisiert, um zu überlegen, ob es Abstufungen geben kann, um gerade kleinere und mittlere Gemeinden nicht besonders stark in die Spirale der Hebesatzsteigerungen hineinzuziehen. Auch das wurde von Rot-Grün abgelehnt. Noch nicht einmal über eine genaue Bedarfsanalyse der kommunalen Finanzen wollten Sie in den letzten Haushaltsberatungen mit uns reden.

Wachsende Schuldenberge, Steuererhöhungen, Zinsänderungsrisiko insbesondere bei den Liquiditätskrediten, drohende Kreditverknappung durch Basel III – diese Probleme lassen sich nicht aussitzen. Es muss gehandelt werden.

Ein guter Anfang wäre eine Grundsteuerbremse, um in allererster Linie die Bürgerinnen und Bürger vor immer weiter steigenden Belastungen zu schützen. Bergneustadt ist das prominente Beispiel; vielen weiteren Städten geht es aber ähnlich. Voraussetzung für eine solche Bremse wäre eine auskömmliche Gemeindefinanzierung. Und hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die regierungstragenden Fraktionen in der Pflicht.

(Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Höne. – Für die Piraten spricht jetzt Herr Kollege Schulz.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Zuschauer im Saal und daheim! Drei Anträge, ein Antrag und zwei Entschließungsanträge, zur Verbesserung der kommunalen Finanzen liegen uns vor. Man sollte glauben, jetzt bricht der Reichtum bei den Kommunen aus bzw. ihm steht nichts mehr im Wege, es braucht nur noch eine Zustimmung am besten zu allen drei Anträgen. Mitnichten. Sie haben eines vergessen – abgesehen davon, dass das Defizit der Kommunen im finanziellen Bereich hier schon erwähnt worden ist –, nämlich die Mitteilung des ZDF-Studios NRW von heute 16:05 Uhr:

„Nicht schön für #RWE Aktionäre: #Aufsichtsrat bestätigt Vorschlag des Vorstandes: 0 € statt 1 € Dividende für die Stammaktien.“

Auch das wird sicherlich Geld sein, das fehlen wird und welches das Land Nordrhein-Westfalen demnächst noch wird ausgleichen müssen.

Was will die CDU? Sie will das Einsparpotential der Kommunen heben und vergisst ihre Klientel, wie gehört, nicht. Was fordert die CDU eigentlich? Im Prinzip mehr Kapital vom Bund, laut Ziffer II.5. des Antrags.

Die SPD zieht sich auf die Evaluierung zum Stärkungspaktgesetz zurück. Das ist megawitzig. Das setzt nämlich Zahlen voraus, die wir schon seit 2013 mit unserem Entschließungsantrag Drucksache 16/4492 und seither permanent immer wieder im Kommunalausschuss eingefordert haben. Wir hatten die Landesregierung aufgefordert, die Berichte nach § 7 des Stärkungspaktgesetzes in Verbindung mit dem Ausführungserlass des Ministeriums zur Verfügung zu stellen – immer wieder und immer wieder. Das zuständige Ministerium, Herr Minister Jäger, hat dies immer verweigert, und zwar sogar ausdrücklich im Ausschuss.

Aber was fordert die SPD eigentlich? Im Prinzip ebenfalls 5 Milliarden € vom Bund. Das wurde eben an diesem Pult gesagt. 1 Milliarde € davon ist bereits geflossen. Das ist es auch Gegenstand des Koalitionsvertrages im Bund, wird aber dennoch in der laufenden Legislaturperiode nicht mehr greifen, weil die entsprechenden Beschlüsse nur zur Umsetzung voraussichtlich erst ganz kurz vor Ende der laufenden Legislaturperiode in 2017 gefasst werden. Machen, liebe SPD, nicht reden!

Das gilt genauso für die CDU. Diese beiden hier im Hause vertretenen Fraktionen haben stellvertretende Bundesvorsitzende in ihren Reihen sitzen. Sie könnten es bewegen. Also: Tun Sie es und sagen Sie nicht nur, der Bund müsse mehr tun! Sie sitzen am Drücker in der Bundesregierung. Sie sitzen am Drücker in den Beschlussgremien an oberster Stelle.

(Beifall von den PIRATEN)

Sofern die Flüchtlingssituation benutzt wird, ist dies nur ein kleiner Katalysator für die Sozialkostenproblematik. Die Sozialkosten belasten die Kommunen aber schon seit Jahren.

Was fordert die FDP? Sie fordert eine Klärung der Altschuldenproblematik in der Hauptsache. Das ist ein sehr guter Ansatz – strukturell. Hierfür wird aber keine Antwort geliefert.

Insgesamt fehlt es an Klarheit. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle, wir alle, aber insbesondere Sie, die hier Anträge gestellt haben, müssen sich ein Stück ehrlicher machen. Wir Piraten haben jedenfalls schon 2012, auch wenn dies durch einen Sondereffekt von 500 Millionen € Überschuss im Haushalt 2012 motiviert war, eine Erhöhung der Verbundquote gefordert.

(Beifall von den PIRATEN)

Damals haben Sie alle gelacht. Ich glaube, wenn dieselbe Forderung heute noch einmal erhoben würde, würden Sie nicht mehr ohne Weiteres lachen, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Entscheidung bei RWE. Denn wie viele Kommunen beteiligt sind, können Sie alle, die Sie auch kommunale Vertreter haben, ganz genau ermessen. Die 87 Millionen € vom Vorjahr wird es jedenfalls dieses Jahr nicht mehr geben. Davon ist auszugehen. Den Ausgleich der Haushalte wird es über die RWE-Beteiligung jedenfalls auch nicht mehr geben, nicht einmal ansatzweise.

Das verkennt insgesamt dann auch, dass der Stärkungspakt Stadtfinanzen die Kommunen stranguliert. Das ist der Anlass, warum wir hier und heute über die Hebesätze reden, insbesondere über die Grundsteuer B, aber auch über die Gewerbesteuer. Das ist ja auch Gegenstand der Anträge.

(Zuruf von Marc Herter [SPD])

– Ja, die werden stranguliert. Darauf und auch auf den Zwang zur Generierung der Erhöhung von kommunalen Einnahmen, die durch die Kommunen erhoben werden, haben wir seit 2013 immer wieder aufmerksam gemacht – leider ohne Lerneffekt aufseiten der Regierung und der sie tragenden Fraktionen. Auch in der Anhörung zur Änderung des Stärkungspaktgesetzes am 15. Oktober 2013 zur Einführung der Abundanzumlage hat der von uns benannte Sachverständige …

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Ich glaube, die Landesregierung ...

Präsidentin Carina Gödecke: Nein.

Dietmar Schulz (PIRATEN): … Zimmermann die in den vorliegenden Anträgen beklagten Szenarien bereits vorhergesagt.

Da bleibt schließlich noch der Hinweis – ich komme, Frau Präsidentin, zum Schluss – auf die vielfältigen Beteiligungen bei RWE; das erwähnte ich schon. Ich sage nur abschließend: Liebe Fraktionskollegen von SPD, CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, es braucht eine parteiübergreifende Initiative, um ein parteipolitische Klein-Klein in diesem Bereich zu vermeiden und den Kommunen tatsächlich zu helfen – durch Handeln und das Aufbringen von Kapital.

(Zuruf von Britta Altenkamp [SPD])

Vielen Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schulz. Entgegen Ihrer Annahme, dass die Landesregierung ihre Redezeit überzogen habe, redet die Landesregierung jetzt erst. Es spricht Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Richtig.

(Heiterkeit von der SPD)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Nettekoven, eines teile ich in Ihrem Antrag, nämlich die Sorge, die uns alle umtreibt, dass die Hebesätze in den Kommunen in den letzten Jahren insbesondere für Grundsteuer B und die Gewerbesteuer tendenziell gestiegen sind.

Ob das ein Zeichen der rot-grünen Landespolitik ist bzw. dort seine Wirkung oder Ursache hat oder ob das nicht vielmehr Ausdruck dessen ist, dass es eine unterschiedliche Verteilung zur Verfügung stehender Steuermittel zwischen den drei staatlichen Ebenen gibt? In der jetzigen Situation wird der Bundesfinanzminister in diesem Jahr vermutlich einen Haushaltsüberschuss von 19,7 Milliarden € erzielen, während sich die Kommunen mit ihren Haushalten zur Decke strecken müssen. Ich glaube, das ist eher der Grund.

(Beifall von der SPD und Mario Krüger [GRÜNE])

Aber, Herr Nettekoven, mich stört an Ihrem Antrag, dass Sie Unwahrheiten verbreiten, beispielsweise die Unwahrheit, viele Kommunen befänden sich im Nothaushalt. Der eine oder andere Kollege hat das hier schon aufbereitet. Das waren wahrscheinlich Zahlen Ihrer Regierungszeit, Herr Nettekoven, die Sie verwandt habe. Im Jahr 2010 hatten noch 138 Kommunen Nothaushalte. Jetzt sind wir im einstelligen Bereich.

Es gibt eine zweite Unwahrheit, die in Ihrem Antrag aufgeführt wird, nämlich: Das Land wolle die Kommunen einseitig zu Steuererhöhungen – wortwörtlich – drängen. Auch das ist falsch. Fakt ist: Jede Kommune muss selbst festlegen, auf welchem Weg, mit welchen Mitteln und mit welchen Instrumenten sie den Haushaltsausgleich erreichen will. Die Kommunalaufsicht darf für bestimmte Maßnahmen gar keine Ratschläge geben. Das tut sie übrigens in Nordrhein-Westfalen auch nicht.

Ein dritter Punkt, den Sie aufführen, ist ebenfalls unwahr: dass die Teilnehmer des Stärkungspaktes ihre Haushalte ausschließlich durch Steuererhöhungen ausgleichen würden. Auch das ist falsch. Sie wissen aus der Evaluierung zum Stärkungspakt, dass der Konsolidierungsbeitrag über Hebesätze lediglich 32 % beträgt, Herr Nettekoven. Das Ziel des Haushaltsausgleichs wird also zu 68 % und damit zu mehr als zwei Dritteln durch völlig andere Konsolidierungsmaßnahmen als durch Steuern erzielt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will noch einmal das Jahr 2010 in Erinnerung rufen. Ich habe das gerade schon in Bezug auf den die Kommunen getan, die dem Nothaushalt unterlagen. Richtig ist, dass dieses Parlament zwischen 2010 und 2016 auf Vorschlag dieser Landesregierung eine Aufstockung der Mittel für die Kommunen in einer Größenordnung von 4,8 Milliarden € beschlossen hat. Herr Nettekoven, stellen Sie sich einmal vor, wo die Hebesätze für die Grundsteuer B und die Gewerbesteuer heute lägen, wenn wir nicht diese Politik gemacht hätten, sondern Ihre damalige Politik fortgesetzt hätten. Den Scherbenhaufen haben wir weggefegt. Herr Nettekoven, das könnte Sie freuen.

Dass Sie sich auf die Bertelsmann-Studie beziehen, finde ich gut. Die Bertelsmann-Studie sagt nämlich deutlich aus, wo die eigentliche Ursache der finanziellen Defizite in den Kommunen liegt. Dort ist aufgeführt, dass Kommunen in Ländern wie Bayern nur 30 % ihres Haushaltsvolumens für Sozialaufgaben aufbringen müssen. In Nordrhein-Westfalen sind es dagegen 43 %. In der Regel handelt es sich um Auftragsverwaltung, die die Kommunen für den Bund durchführen und zu großen Teilen selbst finanzieren müssen. Es ist gut, dass wir auf NRW-Druck verschiedene Maßnahmen wie die größere Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer und Ähnliches durchsetzen konnten.

Aber weil Sie schon die Bertelsmann-Studie zitiert haben, möchte ich Ihnen mit Erlaubnis der Präsidentin gerne etwas aus einer Pressemitteilung vorlesen, Herr Nettekoven:

„Positiv bewertet der Kommunale Finanzreport der Bertelsmann Stiftung den Stärkungspakt des Landes NRW. Dessen Finanzierungsanteil ist im Vergleich zu den Programmen anderer Bundesländer hoch. Gegen Auflagen fließen an die 57 teilnehmenden Kommunen jährlich zusätzliche Mittel aus dem Landeshaushalt. ,Für die Städte bedeutet das schmerzhafte Maßnahmen, aber angesichts guter Konjunktur und niedriger Zinsen ist das Zeitfenster für die Sanierung günstig‘, sagte Herr Witte. Dennoch: ;Der Stärkungspakt allein kann die Probleme nicht lösen. Wenn die notleidenden Kommunen nicht dauerhaft abgehängt werden sollen, müssen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam einen Aufholprozess ermöglichen.‘ Spürbare Entlastung brächte eine Übernahme der Hartz-IV-Wohnkosten durch den Bund.“

Herr Nettekoven, da ist die Lösung. Sie haben sie zwar angedeutet, aber nicht wirklich zitiert. Dann wäre Ihr Antrag besser gewesen. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen uns nicht vor, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich schließe die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung.

Wir stimmen erstens über den Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 16/11227 ab. Die antragstellende Fraktion der CDU hat direkte Abstimmung beantragt. Diese führen wir jetzt durch, und zwar über den Inhalt des Antrags. Wer dem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das sind CDU und FDP. Wer stimmt dagegen? –SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die Piraten und der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Möchte sich jemand enthalten? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Antrag Drucksache 16/11227 mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis abgelehnt.

Wir kommen zweitens zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 16/11295. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das sind die antragstellenden Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – CDU, FDP und die Piraten. Möchte sich jemand enthalten? – Der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Mit dem festgestelltem Abstimmungsergebnis ist der Entschließungsantrag Drucksache 16/11295 angenommen.

Wir kommen drittens zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP Drucksache 16/11300. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das ist die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – SPD, Bündnis 90/Die Grünen, die Piraten und der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Wer enthält sich? – Die CDU-Fraktion. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 16/11300 der FDP mit dem gerade festgestellten Abstimmungsergebnis abgelehnt.

Ich schließe den Tagesordnungspunkt 10 und rufe auf:

11 „Wirkungslos und unmenschlich“: NRW darf dem „Asylpaket II“ nicht zustimmen!

Antrag
des Abg. Schwerd (fraktionslos)
Drucksache 16/11213

Änderungsantrag
des Abg. Schwerd (fraktionslos)
Drucksache 16/11321

In Verbindung mit:

Schutzsuchende aufnehmen, nicht abwehren: NRW lehnt das Asylpaket II ab

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11215

Entschließungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/11324

Ich eröffne die Aussprache. Der fraktionslose Abgeordnete Schwerd hat zuerst das Wort.

Daniel Schwerd (fraktionslos): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf der Tribüne und an den Bildschirmen! Wir erleben derzeit eine beispiellose Welle der Entsolidarisierung. Die Europäische Union bricht geradezu auseinander. Die Schlagbäume senken sich. Man gibt das Privileg der Bewegungsfreiheit für Menschen und Güter in der EU leichtfertig auf.

Was früher eigentlich selbstverständlich sein sollte, dass man nämlich Menschen in Not hilft, wird jetzt zur Disposition gestellt. Als hätte es die eigenen Erfahrungen mit Krieg und Vertreibung in Europa nicht gegeben, denkt man in erster Linie an sich selbst und seinen eigenen kleinen Komfort. Schreihälse führen das Wort – auf Abendspaziergängen, vor Flüchtlingsunterkünften und Reisebussen voller verängstigter Flüchtlinge, in den sozialen Medien, aber auch in den abendlichen Talkshows in den Flimmerkisten der Nation.

Die Politiker der Großen Koalition stimmen in diesen Chor mit ein. Man überbietet sich geradezu in Kniefällen vor den Fremdenfeinden, den Rechtspopulisten und den Nationalchauvinisten; denn wie sonst soll man dieses sogenannte Asylpaket II werten? Man sollte eher sagen: Es ist ein Asylverhinderungspaket. Es geht nämlich nur darum, wie man geflüchtete Menschen möglichst schnell wieder los wird, wie man sie von vornherein abschreckt und wie man möglichst verhindert, dass sie überhaupt herkommen können.

Die Familienzusammenführung ist zum Beispiel zu nennen. Es geht letztlich um eine vergleichsweise kleine Gruppe von Menschen, die jetzt nicht mehr in Sicherheit in unserem Land zusammenleben darf.

Das ist reine Symbolpolitik. Damit kann man dann sagen, man habe die Flüchtlingszahlen gesenkt – sonst nichts. Zahlenmäßig wirklich wirksam ist das nicht. Aber es ist menschenverachtend. Es verstößt gegen den menschenrechtlichen Schutz der Familie. Es geht auch überhaupt nicht mehr um Integration; denn eine Familienzusammenführung wäre eine Integrationsförderung und nicht etwa die Trennung von Familien.

All das nimmt man billigend in Kauf, nur um den Fremdenfeinden nach dem Mund zu reden – oder aber auch die immer neue Ausweisung von sicheren Herkunftsstaaten, die auch Teil des Asylkompromisses war,

(Zuruf von Dr. Joachim Stamp [FDP])

wenngleich sie jetzt noch nicht Bestandteil des Gesetzes geworden ist. Das ist auch der Grund für meinen Änderungsantrag. Die Anerkennungsquote von Geflüchteten aus den Maghreb-Staaten mag gering sein. Aber sie ist nicht null. Geflüchtete Menschen aus diesen Ländern haben genau dasselbe Recht wie alle anderen, dass ihre persönlichen Fluchtgründe geprüft werden.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Und das ist auch so!)

Zum Beispiel sind Homosexuelle, Transsexuelle oder Oppositionelle in diesen Ländern keineswegs automatisch sicher.

Mit diesen weiteren Simplifizierungen der Anträge und ihrer Entscheidungsprozesse wird das Recht der einzelnen Menschen ausgehöhlt, die individuellen Fluchtgründe darzulegen. Dem sollten wir einen Riegel vorschieben. Eine zügige Prüfung und Entscheidung der Anträge: Ja – aber mit einem humanitären Blick auf die Situation, einer Prüfung des Einzelfalls und keinen Pauschalurteilen.

Das Taschengeld der Flüchtlinge um 10 € abzusenken, damit sie sich an den Kosten ihrer Integration beteiligen, verkennt, dass sie nun wirklich nicht üppig ausgestattet sind. Bemühungen, sich zu integrieren, gehören doch unterstützt. Sie müssen belohnt und nicht bestraft werden. Solche Kurse muss es in ausreichender Zahl und für alle geben.

Insgesamt ist das einfach nur der Versuch, das Leistungsniveau weiter unter das Existenzminimum abzusenken und auf diese Art und Weise eine menschenwürdige Existenz zu verhindern. Damit stellen Sie sich aber auf die Seite der Fackeln und Mistgabeln. Die Nazis und Fremdenfeinde fühlen sich dadurch doch nur ermutigt: Sieh mal, unserer Protest hat Wirkung! Lass uns weiter zündeln! – So macht man sich nur mitschuldig an künftiger Hetze und Brandstiftung.

Ich bitte Sie daher eindringlich: Lassen Sie keine weiteren Einschränkungen des Asylrechts zu – keine Obergrenzen, keine Kontingente. Stellen Sie sich gegen diese Entsolidarisierung. Menschen aus Krieg und Not verdienen unseren Schutz ohne Grenzen. Die Schlagbäume müssen wieder hoch. Die Welt dankt es uns, und unser Land wird es langfristig beleben. – Vielen herzlichen Dank.

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schwerd. – Für die Piraten spricht jetzt Frau Kollegin Brand.

Simone Brand (PIRATEN): Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Zum Asylpaket II habe ich mich heute Vormittag schon ausführlich geäußert. Viele Stimmen, zum Beispiel der Kinderschutzbund und die Bundesärztekammer, sprechen dagegen. Ihr Menschenrechtsbeauftragter, Herr Strässer, ist deswegen zurückgetreten. Viele bezeichnen das Asylpaket als menschenverachtend, einige sogar als lebensgefährlich. Es zerreißt Familien und führt Integration ad absurdum.

Jetzt ist es da. Ich habe heute Morgen nicht nur vom Asylpaket gesprochen, sondern auch von einem Fehler, den auch ich begangen habe. Ich habe gesagt, dass mir dieser Fehler im Nachhinein leidtut. Wenn man einen Fehler erkennt, kann man ihn auch revidieren. Man kann jetzt nicht sagen: „Das Ding ist durch den Bundesrat; der Apfel ist geschält“; denn zum Beispiel die sicheren Herkunftsländer sind noch nicht durch den Bundesrat. Ich würde Sie bitten, dass Sie nach diesem Zustimmen durch Schweigen im Bundesrat, durch dieses Nichtagieren, vielleicht erkennen, dass das ein Fehler war.

Im Vorfeld, aber auch jetzt in den letzten Tagen habe ich mit vielen von Ihnen aus den Fraktionen von SPD und Grünen gesprochen, die gesagt haben: Wir möchten dieses Asylpaket nicht. Wir sind eigentlich dagegen. – Sie haben Möglichkeiten, zu handeln. Sie können eine Bundesratsinitiative starten. Sie können, was eigentlich Recht und Gesetz ist, dem Bundesverfassungsgericht folgen und sagen: Wir würfeln hier keine sicheren Herkunftsländer aus, sondern wir überprüfen das nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts.

Das sind die Dinge, die in unserem jetzt vorliegenden Entschließungsantrag stehen.

(Beifall von den PIRATEN)

Daher bitte ich Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.

Zum Antrag des fraktionslosen Abgeordneten Schwerd muss ich leider sagen, dass dieser Antrag zwar in die richtige Richtung geht, aber sowohl im Antrag als auch im Änderungsantrag ein fachlich-sachlichen Fehler enthalten ist. Es wird nämlich gefordert, sich auf allen politischen Ebenen gegen die Verschärfung des Asylpakets II einzusetzen. Das macht keinen Sinn. Sinn würde es machen, sich gegen die Verschärfung des Asylrechts einzusetzen. Wir werden uns deshalb bei diesem Antrag enthalten. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Brand. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Körfges.

Hans-Willi Körfges (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend schließt sich thematisch irgendwo der Kreis. Wir haben heute Morgen mit dem Thema „Integration von Flüchtlingen“ begonnen und diskutieren jetzt über einen Teil der Flüchtlingspolitik, der sicherlich nicht einfach ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte es mir ganz einfach machen, indem ich formal argumentiere und sage: Die Sache ist auf allen parlamentarischen Ebenen erledigt, und die Versuche, über Änderungsanträge oder gar Entschließungsanträge – ich will jetzt nicht zu förmlich werden – die Aktualität wiederherzustellen und den eigentlich überflüssig gewordenen Antrag damit zu retten, sind nicht ganz gekonnt.

Ich möchte mich an der eigentlichen Diskussion der wichtigen Fragen an dieser Stelle sicher nicht vorbeidrücken. Aber alleine die Tatsache, dass der Bundestag entschieden hat, dass es sich um nicht zustimmungspflichtige Gesetze handelt, die im Bundesrat dann auch schon behandelt wurden, macht im Prinzip klar, dass wir hier keine Grundlage haben, uns förmlich mit den Dingen noch einmal zu beschäftigen. Wir werden deshalb ablehnen.

Wir werden das aber nicht nur deshalb tun, sondern auch, weil es für uns ein hohes Gut ist, Verfahren, soweit es möglich ist, zu beschleunigen. Meines Erachtens muss man hier – das gilt sowohl für Herrn Schwerd als auch für Frau Brand – doch differenzierter herangehen, als zu sagen: Kontingente, Obergrenzen, alles irgendwo ein Zeug.

Das ist falsch, finde ich.

Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten lehnen ganz eindeutig Obergrenzen ab. Wir lehnen ganz eindeutig die Schließung von innereuropäischen Grenzen ab. Insoweit unterscheiden wir uns in ganz erheblichem Umfang von denjenigen, die versuchen, durch billige populistische Lösungen hier den Menschen Optionen vorzutäuschen, die es tatsächlich gar nicht gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Darüber hinaus will ich auch sagen, dass wir – da schließe ich eine andere Debatte an, die wir eben geführt haben – die Klassifizierung als sichere Herkunftsländer durchaus nicht für ein Allheilmittel halten und gerade in Bezug auf die Bereiche, über die wir jetzt im engeren Sinne sprechen, nämlich die Maghrebregion, für wenig zielführend halten, was die eigentliche Beschleunigung der Verfahren angeht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten heute hier im Haus mehrfach gesagt. Die eigentliche Beschleunigung der Verfahren ist durch den verstärkten Personaleinsatz, durch eine ordentliche personelle Ausstattung und durch eine inhaltliche Beschäftigung mit jedem einzelnen Antrag zu gewährleisten; denn unabhängig von dieser Klassifizierung gehört zum Grundrecht nach Art. 16a natürlich auch eine ordentliche Rechtsweggarantie. Auch das ist für uns nicht verhandelbar.

(Beifall von Nadja Lüders [SPD])

Darüber hinaus muss man, wenn man über diese Dinge redet, den Aspekt der Integration beachten. Deshalb bin ich froh darüber, dass anlässlich der Debatte im Bundesrat zum Beispiel die Ministerpräsidenten, und zwar parteiübergreifend, gesagt haben: Wir brauchen mehr Geld. Wir müssen uns der Herausforderung der Integration stellen.

Wenn die Bundesländer dann über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg gemeinschaftlich etwas an den Bund adressieren, haben sie die richtige Gelegenheit genutzt; denn alles das, was wir hier veranstalten, hat nur dann Zweck, wenn wir diejenigen mit einer Bleiberechtsperspektive vernünftig bei uns integrieren. Das geht nun einmal nur mit verstärkten finanziellen Aufwendungen. Das können Kommunen und Länder nicht allein schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Ja, ich habe persönlich mit dem Asylpaket II – das sage ich jetzt als Hans-Willi Körfges, stellvertretender Fraktionsvorsitzender dieser SPD-Landtagsfraktion – an einer Stelle erhebliche Probleme und bin denjenigen Kolleginnen und Kollegen aus der Bundestagsfraktion der SPD sehr dankbar, die das ausgedrückt und sich an dieser Stelle auch nicht angeschlossen haben, nämlich bei der Frage des Familiennachzugs bei Minderjährigen. Ich glaube, allein die Tatsache, dass wir nur von wenigen Menschen in dieser speziellen Schutzsituation geredet haben, zeigt, dass es überflüssig gewesen wäre, zu einer solchen Regelung zu kommen. Insoweit – das verhehle ich hier nicht – hätte ich mich, wäre ich an der Stelle der Kolleginnen und Kollegen in Berlin gewesen, womöglich auch bei denjenigen befunden, die abgelehnt haben. Es ist aber müßig, hier darüber zu diskutieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ich komme zum Fazit. Wir wollen schnelle Verfahren. Wir wollen, dass die Menschen Klarheit bekommen. Wir wollen, dass die Kommunen entlastet werden. Wir wollen auch eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung. Aber wir wollen eines nicht machen: Wir wollen hier in unserem Landtag keine Diskussionen führen, die auf anderer Ebene abgeschlossen sind. Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Körfges. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Kuper.

André Kuper (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in Deutschland im letzten Jahr rund 1 Million Flüchtlinge aufgenommen, davon etwa 220.000 in NRW. Das ist eine ganz außergewöhnliche Herausforderung gewesen, die nur dank gemeinschaftlicher Arbeit und gemeinschaftlichen Engagierens von Bund, Land, Kommunen, Ehrenamtlern und Hilfsorganisationen geleistet werden konnte. Aber – das muss man deutlich sagen – es hat alle an die Grenzen des Leistbaren gebracht.

Damit kein Missverständnis entsteht, wenn wir hinterher die Anträge allesamt ablehnen: Wir wollen weiterhin für Menschen in Not mit entsprechender Bleibeperspektive da sein. Wenn sie als Asylberechtigte den individuellen Asylrechtsgrundschutz nach Art. 16a Grundgesetz oder nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder nach der EU-Asylanerken-nungsrichtlinie haben oder nach § 3 Asylgesetz rechtlich den Asylberechtigten gleichgestellt sind und den Schutz als Flüchtling genießen oder nach § 4 Asylgesetz zu den subsidiär Schutzberechtigten zählen, wollen wir ihnen nach wie vor die Aufnahme und die Hilfsbereitschaft in unserem Land erhalten.

Das setzt konsequenterweise voraus, dass diejenigen, welche diese Voraussetzungen nicht erfüllen und hier keinerlei Chance auf eine Bleibeperspektive haben, auch zügig abgelehnt werden und zügig wieder in ihre Heimat und ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden; denn – das muss man auch sagen – monatelange oder jahrelange Verfahren helfen diesen Betroffenen nicht wirklich. Die Rückkehr wird mit jedem Tag schwieriger und menschlich bedenklicher.

Daher brauchen wir die Verfahrensbeschleunigungen und auch die Abschaffung von Vollzugsdefiziten, wie sie beispielsweise im Asylpaket II enthalten sind.

Meine Damen und Herren, wir könnte noch viel zu diesem Antrag sagen. Allerdings hat er sich inhaltlich komplett erledigt. Daher will ich darauf verzichten und an dieser Stelle Schluss machen und Ihnen allen einen schönen Abend wünschen. – Danke sehr.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kuper. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Düker.

Monika Düker (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat hat Kollege Körfges recht: Erstens. Das Gesetzgebungsverfahren ist nun abgeschlossen. Zweitens. Im Bundesrat kann das Bundesland NRW gar nicht mit Nein stimmen, weil im Bundesrat gar nicht darüber abgestimmt worden ist. Es war ein Einspruchsgesetz. Am Ende wird nur noch gefragt, ob Einsprüche bestehen und der Vermittlungsausschuss angerufen wird. Insofern hat dieses Gesetz eigentlich keine Grundlage mehr, hier beraten zu werden.

Trotzdem möchte ich auch für meine Fraktion noch einmal sehr deutlich sagen: Wir haben das Asylpaket II als Bundestagsfraktion in Berlin sehr klar und deutlich abgelehnt. Ich will hier kurz darstellen, warum wir das getan haben. Ich glaube, dass die Einschränkung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte integrationspolitisch kontraproduktiv und auch menschenrechtlich nicht zu akzeptieren ist. Das lehnen wir auch nach wie vor ab. Wir finden es schade, dass die Kollegen von der Sozialdemokratie hier nicht mehr in den Verhandlungen herausholen konnten.

Ein Ausschluss vom Asylverfahren sieht dieses Gesetz auch vor, wenn dem Asylsuchenden unterstellt werden kann, er würde sein Asylverfahren nicht betreiben. Das wird schon dann angenommen, wenn der Asylsuchende gegen die Residenzpflicht verstoßen hat.

Diese geplante Regelung halten wir auch für einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; denn hier wird ein Verstoß gegen die Residenzpflicht mit einer Grundrechtseinschränkung verbunden. Insofern kann sie von uns keinesfalls unterstützt oder gar gebilligt werden.

Nächster Punkt: Erleichterung der Abschiebung kranker Menschen. Das wird in der Berichterstattung oft geschlabbert. Diesen Punkt finde ich besonders schäbig; denn hier wird der neue Tatbestand eingeführt, dass eine schwerwiegende Erkrankung nicht mehr automatisch zu einem Schutz führt. Ganz schnell wird auch mal die posttraumatische Belastungsstörung nicht mehr darunter gefasst. Auch an dieser Stelle müssen wir doch genau hinsehen.

Hier zählt immer noch der Einzelfall. Im Einzelfall kann aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung unter humanitären Bedingungen eben tatsächlich ein Abschiebeschutz notwendig sein. Das wird hier erschwert. Menschenrechtlich halte ich das für katastrophal. Hier werden tatsächlich Leben und Gesundheit von Menschen potenziell gefährdet.

Nächster Punkt: die pauschale Leistungskürzung für alle Asylsuchenden von bis zu 10 €. Was soll dann denn, bitte schön? Wir wollen doch, dass die Menschen in die Integrationskurse gehen. Ihnen jetzt pauschal etwas für einen Integrationskurs abzuziehen, der überhaupt noch nicht flächendeckend angeboten wird und den sie nicht alle besuchen können, ist nicht unbedingt ein Anreiz für die Menschen, in die Integrationskurse zu gehen. Man sollte, bevor man über Sanktionen oder über Gebühren nachdenkt, dafür sorgen, dass überhaupt ein Angebot vorhanden ist. Daher tragen wir auch diesen Punkt nicht mit.

Was nicht drinsteht – das ist fast noch viel schlimmer –, ist die gesamte Umsetzung der EU-Asylver-fahrensrichtlinie und der EU-Aufnahmerichtlinie. Das wird komplett geschoben und geschoben. Die Umsetzungsfristen sind im Juli 2015 abgelaufen. Die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Das wären einmal Dinge, die die Rechtsposition für besonders Schutzbedürftige stärken würden. Es wird einfach ignoriert, dass hier auch EU-rechtlich pflichtige Schutzstandards nicht aufgenommen wurden.

Was ebenso wenig Einlass gefunden hat, ist ein schlüssiges Gesamtkonzept für Integration. Hier gibt es die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, in der von den Ländern wieder mühsam Unterstützung für die Integration – wir haben es heute Morgen diskutiert – erreicht werden muss.

Was auch nicht drinsteht, ist ein kleiner Punkt, bei dem ich trotzdem denke: „Mein Gott! Warum geht nicht so viel Vernunft?“, nämlich die sogenannte 3-plus-2-Regelung. Sie wird von der Wirtschaft, vom Handwerk, von allen gefordert. Bei jeder Veranstaltung vor Ort werde ich gefragt: Warum geht das nicht? – Lehrlinge, die hier ihre Lehre machen und sie erfolgreich abschließen, verlieren danach ihren Aufenthaltsstatus und werden unter Umständen abgeschoben. Alle Unternehmen sagen: Wenn ich dem jungen Mann eine Lehrstelle gebe und ihn erfolgreich übernehmen will, dann lasst ihn mir wenigstens noch ein paar Jahre hier, damit sich meine Investition auch lohnt. – Das ist, glaube ich, in der Großen Koalition schon grundsätzlich vereinbart. Noch nicht einmal das haben Sie geschafft, in diesen Gesetzentwurf zu schreiben.

Insofern finde ich in der Bilanz, dass uns das Ganze bei den bestehenden Problemen nicht wirklich weiterhilft. Es schadet aber viel. Deswegen haben wir das im Bundestag auch abgelehnt. Im Bundesrat war es nicht zustimmungspflichtig. Deswegen gehört es heute nicht hierhin, so etwas im Nachgang zu diskutieren. Trotzdem finde ich es richtig, das noch einmal deutlich zu machen und darauf hinzuweisen, was da gerade im Bund an Politik, die auch von uns Grünen nicht unterstützt wird, beschlossen wird.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Düker. – Für die FDP spricht Herr Kollege Dr. Stamp.

Dr. Joachim Stamp (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich mache es an dieser Stelle kurz. Der eigentliche Gegenstand dieser Debatte ist erledigt. Wir hätten bei dem Asylpaket II, wenn wir es geschrieben hätten, manches anders gemacht. Ich gebe der Kollegen Düker recht. Beim Familiennachzug sind wir nicht zufrieden. Aber insgesamt ist es ein fatales Zeichen gewesen – da geht der Schwarze Peter nach Berlin –, dass man Monate gebraucht hat, bis man sich auf dieses Paket verständigt hat, das dann noch einmal aufgeschnürt worden ist und das man noch einmal vertagt hat. Das hat auch zu sehr, sehr viel Verunsicherung in der Bevölkerung geführt, die den Eindruck hatte, dass die politisch Verantwortlichen nicht handlungsfähig sind.

Bei einer so großen Herausforderung hätte ich mir gewünscht, dass man sich gegebenenfalls auf einen etwas kleineren Teil verständigt hätte und diesen dann aber viel, viel zügiger umgesetzt hätte. – So viel an dieser Stelle dazu.

Ansonsten ist das Asylpaket II, wie gesagt, erledigt. Wir brauchen die Diskussion jetzt hier nicht künstlich zu verlängern. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Dr. Stamp. – Für die Landesregierung spricht noch einmal Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir meiner besonderen Verantwortung zwischen dem vorletzten Redner und dem Ende des Plenartages durchaus bewusst. Trotzdem will ich in dieser Debatte noch drei kurze Gedanken vortragen dürfen, auch wenn wir alle davon überzeugt sind, dass dieser Antrag in der Tat substanziell erledigt ist.

Erstens. Wir haben in Deutschland ein Asylverfahren, das drei staatliche Ebenen umfasst: Die Länder und die Kommunen müssen die Menschen aufnehmen, sie registrieren, ihnen ein Dach über dem Kopf organisieren, für Essen, Trinken und medizinische Versorgung sorgen, Kindergarten- und Schulplätze zur Verfügung stellen und die Integration leisten.

Der Bund hat eine Aufgabe, nämlich die Aufgabe, Asylanträge zu bearbeiten. Die Schwäche des deutschen Asylverfahrens liegt darin, dass die Bundesverwaltung zurzeit nicht in der Lage ist, das im erforderlichen Umfang zu leisten.

Deshalb sind solche Debatten wie beim vorvorletzten Tagesordnungspunkt, bei denen es darum ging, Westbalkan-Verfahren auf andere Länder zu übertragen, wirklich nicht hilfreich.

Zweitens. Wir haben beim letzten Tagesordnungspunkt die Debatte um die Erhöhung der Hebesätze für kommunale Steuern wie Grundsteuer B und Gewerbesteuer gehabt. Ich glaube, es wäre ein fatales Signal in die Gesellschaft hinein, wenn die Kommunen, die im Wesentlichen die finanziellen Lasten von Flüchtlingsunterkünften zu tragen haben, dies durch Steuererhöhungen ausgleichen müssten – und das in einer Situation, wo die eine staatliche Ebene in der Tat zurzeit Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet.

Diese staatliche Ebene, nämlich der Bund, hat am 13. September 2015, wie ich finde, historisch und wahrscheinlich auch humanitär die richtige Entscheidung getroffen, Dublin III vor dem Hintergrund der vielen syrischen Flüchtlinge auf der Balkanroute auszusetzen. Aber um es in ein Bild zu fassen: Er hat Gäste eingeladen, lässt allerdings andere die Menschen beherbergen und das finanzieren.

Das sollte zum Schluss dieses Plenartages, an dem die Flüchtlingspolitik ein großer Schwerpunkt war, einen. Es kann nicht so weitergehen, dass sich Kommunen und Länder mit ihren Haushalten bei dieser historischen Aufgabe nach der Decke strecken, während jemand in Berlin zugleich Haushaltsüberschüsse ausweist. Das geht nicht. Das müssen wir gemeinsam angehen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 11.

Wir kommen zur Abstimmung. Wir haben insgesamt vier Abstimmungen durchzuführen.

Erstens stimmen wir ab über den Änderungsantrag des fraktionslosen Abgeordneten Schwerd Drucksache 16/11321. Wer möchte diesem Änderungsantrag zustimmen? – Das sind der fraktionslose Abgeordnete Schwerd und ein Mitglied der Piratenfraktion. Wer stimmt dagegen? – SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP. Wer enthält sich? – Weitere Mitglieder der Piratenfraktion enthalten sich. Damit ist mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis der Änderungsantrag Drucksache 16/11321 abgelehnt.

Wir kommen zweitens zur Abstimmung über den Antrag des fraktionslosen Abgeordneten Schwerd Drucksache 16/11213. Der fraktionslose Abgeordnete Schwerd hat direkte Abstimmung beantragt, die wir jetzt durchführen. Wir stimmen über den Inhalt des Antrags ab. Wer diesem Inhalt zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. – Das ist der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Wer stimmt dagegen? – SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Wer enthält sich? – Folglich die Piratenfraktion. Damit ist mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis auch der Antrag Drucksache 16/11213 des fraktionslosen Abgeordneten Schwerd abgelehnt.

Wir kommen drittens zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/11215. Auch hier haben die Piraten direkte Abstimmung beantragt. Wer dem Inhalt des Antrags zustimmen möchte, den bitte ich jetzt um das Handzeichen. –


Das sind die Piratenfraktion und der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Wer stimmt dagegen? – SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP. Möchte sich jemand enthalten? – Das ist nicht der Fall. Damit ist mit diesem festgestellten Abstimmungsergebnis der Antrag Drucksache 16/11215 der Piraten abgelehnt.

Wir kommen viertens zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/11324. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das sind die Piraten und der fraktionslose Abgeordnete Schwerd. Wer stimmt dagegen? – SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Gibt es Stimmenthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist mit dem festgestellten Abstimmungsergebnis der Entschließungsantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/11324 ebenfalls abgelehnt.

Wir sind am Ende von Tagesordnungspunkt 11 und zugleich am Ende unserer heutigen Sitzung.

Ich berufe das Plenum wieder ein für Mittwoch, den 16. März dieses Jahres, 10 Uhr.

Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Abend oder weitere gute Arbeitsstunden, wenn Sie diese noch vor sich haben.

Die Sitzung ist geschlossen.

Schluss: 19:03 Uhr

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*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 102 GeschO)

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.