Parlamentsgespräch "Winter der Extreme(n)"

09.11.2022 - Droht Deutschland ein Winter der Extremen? Unter diese Fragestellung hatte der Präsident des Landtags, André Kuper, zum Parlamentsgespräch eingeladen. Der Präsident begrüßte auf dem Podium den Präsidenten des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen und früheren Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Joachim Kramer. Es diskutierten auch die frühere stellvertretende Ministerpräsidentin und Generalsekretärin des Vereins „321 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, Sylvia Löhrmann, und der Journalist und Vorsitzende der Landespressekonferenz NRW, Dr. Tobias Blasius.

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 „Parlamentsgespräch „Winter der Extreme(n)?“

Off-Stimme: 

Droht Deutschland ein Winter der Extremen? 

Unter diese Fragestellung hatte der Präsident des Landtags, André Kuper, zum Parlamentsgespräch eingeladen. 

Hintergrund sind Befürchtungen, dass Rechtsextreme und Populisten die Folgen des Kriegs in der Ukraine wie die Energiekrise für ihre Zwecke nutzen könnten.

Am Vorabend des 9. November, an dem Deutschland an die Gräueltaten der Reichspogromnacht von 1938 erinnert, ging es um die Gefahren für die demokratische Protestkultur und die Reaktion der Gesellschaft. 
Der Präsident begrüßte auf dem Podium den Präsidenten des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen und frühere Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Joachim Kramer.

Es diskutierten auch die frühere stellvertretende Ministerpräsidentin und Generalsekretärin des Vereins „321 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, Sylvia Löhrmann, und der Journalist und Vorsitzende der Landespressekonferenz NRW, Dr. Tobias Blasius. 

Präsident Kuper sagte in seinem Grußwort: 

André Kuper, Präsident des Landtags Nordrhein-Westfalen: 

Meines Erachtens ist unsere Demokratie in Zeiten wie diesen besonders herausgefordert, brauchen wir mehr als rein passives Konsumverhalten. 

Unsere Demokratie ist nicht alleine selbstverständlich, so habe ich es seit Jahren immer wiederholt. Nunmehr ist, mehr denn je, ein aktives und breites Eintreten der Bevölkerung für unsere Demokratie vonnöten. 

Wir brauchen eine erhöhte Wachsamkeit und viele starke Stimmen der Vernunft aus der Zivilgesellschaft.

Off-Stimme: 

Der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes mahnte in seinem Impulsvortrag eine aktive Erinnerungskultur im Kampf gegen Rechts an.  

Stephan Joachim Kramer, Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen: 

Jedes Jahr zu dieser Zeit wird die Frage aufgeworfen, ob es nicht langsam an der Zeit sei, endlich mit dem ständigen Erinnern und Mahnen aufzuhören und die Vergangenheit als bewältigt anzusehen und nur noch in die Zukunft zu schauen. Liebe Freunde, die aktuellen Bilder um den braunen Terror der Rechtsextremisten auf den Straßen, Halle, Hanau und der Mord an Walter Lübcke – und ich könnte die Beispiele fortsetzen, nicht nur in Deutschland, in ganz Europa, sogar in der Welt, und rechtsextremistische Rockkonzerte und Kampfveranstaltungen, aber auch revisionistische und völkische Parolen der neuen Rechten in deutschen Parlamenten – dürften diese Frage wohl hinreichend beantworten. Nichts ist abschließend bewältigt. Es ist übrigens eine Illusion zu glauben, etwas könne irgendwann bewältigt werden. In einer Gesellschaft ist dies ein andauernder Prozess. Keine bessere Zukunft ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der historischen Erfahrung.

Niemand wird in dieser Gesellschaft als Antisemit, als Rassist, als Menschenfeind geboren. Sondern unsere Gesellschaft macht Menschen erst dazu.   

Und lassen Sie mich zum Abschluss, auch in Erinnerung an den 9. November 1938, Folgendes sagen: Bei der Erinnerung geht es nicht darum, dass wir mehr Gedenksteine, Grabsteine brauchen. Sondern die Erinnerung soll uns mahnen an das, was damals geschehen ist und wozu Menschen fähig gewesen sind. Was sie anderen Menschen angetan haben. Und die einzige Quintessenz, die aber schwer genug wiegt, lautet für mich: Die Menschenwürde ist unteilbar. Das klingt einfach, ist aber eine ziemliche Bürde. 

Off-Stimme: 

Sylvia Löhrmann teilt die Sorge Kramers, dass Extremisten legitime Proteste unterwandern könnten.

Sylvia Löhrmann, frühere stellvertretende Ministerpräsidentin und Generalsekretärin des Vereins „321 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“:

Es gibt positive Entwicklungen. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch und muss weiterwachsen, sage ich mit Hölderlin. Aber die große Stimmungslage finde ich schon besorgniserregend. Und ich möchte einen Punkt unterstreichen, den Herr Kramer genannt hat. Es kommt auf die Mitte an. Und was in der Mitte der Gesellschaft an Verschiebung stattfindet, darauf müssen wir schauen. Das sind auch die Menschen, die wir noch erreichen können. 

Off-Stimme: 

Und auch der Journalist Dr. Tobias Blasius warnte: 

Dr. Tobias Blasius, Journalist und Vorsitzende der Landespressekonferenz NRW:

Was wir in den vergangenen Jahren erleben, ist, dass Extremismus viel gesellschaftsfähiger geworden ist. Mobilisierung findet viel stärker in sozialen Netzwerken statt. Und je nach Krise kann Extremismus leichter andocken in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Das haben wir erlebt in der Coronakrise, das erleben wir jetzt in der Energiekrise, so dass es auch für uns Beobachter ganz schwer ist zu sagen, wo ist eigentlich die Trennschärfe zwischen dem, was wir als bürgerliche Mitte bezeichnen, also gefestigte Leute, Demokratiefreunde, und dem, was gefährliches Potenzial birgt. Und dafür ein richtiges Gespür als Journalist zu bekommen, ist immer schwerer geworden. Was auch damit zusammenhängt, dass gerade in Vierteln wie im nördlichen Ruhrgebiet sozialer Kitt verlorenzugehen scheint.  

Die Fraktionen im Landtag NRW