Severing verlor 1912 allerdings sein Reichstagsmandat wieder. Er verlegte daraufhin sein Hauptbetätigungsfeld auf die Publizistik und wurde schließlich Chefredakteur der sozialdemokratischen „Volkswacht“ in Bielefeld, die unter seiner Führung völlig neu strukturiert wurde. Severing war kein Revolutionär – er strebte nicht nach einer „Diktatur des Proletariats“, sondern wollte eine demokratische Gesellschaft, in der die Arbeiterschaft gleichberechtigt integriert sein sollte. Die Chance auf Integration sah er bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges gekommen. So gehörte Severing zu den sozialdemokratischen Kriegsbefürwortern, die sich für die Verteidigung des Vaterlandes aussprachen. Auch wenn Severing während des Krieges nicht mehr Mitglied des Reichstages war, nutze er die Zeit, um seinen parteipolitischen Einfluss weiter auszubauen. Vor allem kommunalpolitisch war er ungemein eingebunden und engagiert. Nach dem Sturz der Monarchie wurde Severing Mitglied der Nationalversammlung, dann Mitglied des Reichstages sowie Mitglied des Preußischen Landtages.4
1919 wurde Severing darüber hinaus Reichs- und Staatskommissar im Ruhrgebiet und damit beauftragt, die weiter schwelenden revolutionären Unruhen zu befrieden. Bei den Forderungen hinsichtlich Lohn- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter zeigte er sich, angesichts der durch fortschreitende Inflation verschlechterten Lage, entgegenkommend; um Ruhe zu gewährleisten schreckte er allerdings auch nicht vor Verhaftungen zurück. Severing gelang es aber trotz zeitweiser Erfolge nicht, das Ruhrgebiet dauerhaft zu befrieden. Der traurige Endpunkt war, dass die von Arbeitern gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch gebildete „Rote Ruhrarmee“ von der Reichswehr brutal niedergeschlagen wurde; Severing hatte zuvor mehrfach vergeblich versucht, die Situation zu deeskalieren. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hatte er sein Vertrauen in die Armee als Ordnungskraft verloren.5 Severing war noch Kommissar im Ruhrgebiet, als er am 29. März 1920 zum preußischen Innenminister ernannt wurde. In keinem anderen Amt sollte er so prägend sein, wie in diesem. Die Weimarer Republik hatte sich bis dahin wenig standfest gezeigt, auch weil die Beamten, die bereits im Kaiserreich ihren Dienst geleistet hatten, nur eingeschränkte Loyalität zum demokratischen System zeigten. An diesem Punkt setzte Severing an. Er wollte demokratische Beamte, die die Republik aktiv unterstützen sollten. Dementsprechend brachte er Personen in entscheidende Positionen, deren demokratische Gesinnung außer Zweifel stand. Hierbei musste es sich nicht zwingend um Sozialdemokraten handeln, obwohl diese besonders gefördert wurden, weil sie noch im Kaiserreich von der Beamtenlaufbahn ausgeschlossen waren. Trotz immenser Widerstände, die diese politische Bevorzugung provozierte, war er bei seiner Personalpolitik durchaus erfolgreich, so dass man bereits damals von einem „System Severing“ sprach. Die darunterliegenden undemokratischen Strukturen des Verwaltungsapparates wurden allerdings kaum aufgebrochen und reformiert.6
Innerhalb der preußischen Regierung avancierte Severing zu der dominanten Persönlichkeit. Mit der Zunahme des rechtsextremen Terrors Anfang der 1920er Jahre ging Severing auch hier entschlossen vor. Durch seine Politik wurde er umgehend zum regelrechten Feindbild der Rechten. So war er während seiner Amtszeit zahlreichen öffentlichen Verleumdungskampagnen ausgesetzt, die ihm u.a. eine verbotene sexuelle Orientierung andichteten. Zudem wurde er mit einigen politischen Skandalen in Verbindung gebracht. Die zahlreichen Angriffe und die Dauerbelastung des Amtes wirkten sich verstärkt auf seine Gesundheit aus.7 So schrieb Severing bereits im März 1925 an den preußischen Ministerpräsidenten Wilhelm Marx: „Ich stehe jetzt 5 ½ Jahre auf Verwaltungsposten, die zu den umstrittensten in Preußen gehören. Die ständigen Aufregungen, die mit der Amtsführung auf diesem Posten verbunden waren, mehr noch aber die schmutzigen und gehässigen Verleumdungen haben derart an meiner Nervenkraft gezehrt, daß ich in einer ununterbrochenen Fortsetzung meiner Amtstätigkeit weder einen Nutzen für den Staat, noch für mich erblicken kann.“8 Im Oktober 1926 gab Severing schließlich sein Amt als preußischer Innenminister auf und begab sich zur Kur.9