Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt in Nordrhein-Westfalen ist Besorgnis erregend. Das Landesarbeitsamt spricht von 12.000 fehlenden Stellen für 2003. Über Verbesserungsvorschläge, Chancen und Perspektiven sprach "Landtag intern" mit dem Vorsitzenden des Arbeitsausschusses, Bodo Champignon (SPD), und dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses, Dr. Helmut Linssen (CDU).
Eine große Lücke klafft zwischen der Zahl der Auszubildenden und den freien Lehrstellen in NRW. Was hat Ihr Ausschuss bisher dazu beigetragen, um diese Lücke zu schließen?
Champignon: Der Ausschuss ist im ständigen Gespräch mit dem zuständigen Minister, um von ihm zu erfahren, welche Initiativen die Landesregierung entwickelt, um Lücken im Lehrstellenmarkt und allgemein im Arbeitsmarkt zu schließen. Es ist die Aufgabe der Unternehmen, ihrer sozialen Verpflichtung gerecht zu werden und zumindest für den eigenen Bedarf auszubilden. Und das tun ganz viele nicht. Ich komme ja aus dem Industriebereich und weiß, dass wir noch über Bedarf ausgebildet haben. Dann gab es einen Bruch. Plötzlich bildeten die großen Unternehmen nicht mehr aus und warteten darauf, dass Mittelstand und Handwerk ausbildeten, und holten sich dann vom Arbeitsmarkt die ausgebildeten Kräfte. Das ist für mich verantwortungsloses Handeln.
Dr. Linssen: Wir haben uns vor allen Dingen um das Funktionieren des ersten Arbeitsmarktes gekümmert, weil wir der Überzeugung einsind, dass nur in einer wachsenden Wirtschaft auch genügend Ausbildungsplätze geschaffen werden. Wenn Betriebe keine Aufträge haben, nützen auch viele Appelle wenig. Dennoch müssen in dieser Zeit von allen, die sich verantwortlich fühlen, auch Klinken geputzt werden. Aber: Eine durchschlagende Wirkung wird nur dann erreicht, wenn wir vor allem bei den klein- und mittelständischen Unternehmen für Rahmenbedingungen sorgen, die mehr Aufträge garantieren. Mit dem zurzeit in der Beratung befindlichen Mittelstandsgesetz wird zum Beispiel auch dieser Versuch gemacht. Es sind also mehr die indirekt wirkenden Instrumente, die in unserem Ausschuss eine Rolle spielen, zum Beispiel: Wie lässt sich die Investitionskraft der öffentlichen Einrichtungen erhöhen, damit sie wieder in der Lage sind, mehr Aufträge an die klein- und mittelständischen Betriebe zu geben. Darüber hinaus haben wir uns natürlich auch um direkt wirkende Instrumente bemüht, das heißt, wir haben uns vor allen Dingen um die Problemgruppen des Arbeitsmarktes gekümmert, zum Beispiel um behinderte Jugendliche. Vor langer Zeit haben wir aber auch darauf hin gewirkt, dass vor Ort Innungen, Verbände und Kammern mit Berufsschulen ein Arrangement treffen, damit die Berufsschule auf einen Tag konzentriert wird. Ich glaube, dass man den theoretischen Anteil in Schule und überbetrieblicher Ausbildung von dem jeweiligen Ausbildungsberuf abhängig machen muss. Natürlich muss gerade in dieser Zeit auch daran appelliert werden, dass der einzelne Betrieb nicht nur auf die kurzfristige Belastung durch Ausbildungskosten achtet, sondern auch daran denkt, dass er nach Überwindung des Konjunkturtals ordentlich ausgebildete Gesellen hat.
Wie können Unternehmen und Handwerk motiviert werden, um in Zukunft mehr junge Menschen auszubilden?
Champignon: Große Unternehmen müssten von sich aus motiviert sein, ausreichend auszubilden, um den Bedarf an Arbeitskräften immer wieder auffüllen zu können. Weitere Anreize zu schaffen, indem Unternehmen vom Staat Geld dafür bekommen sollen, dass sie ausbilden, halte ich für keinen redlichen Vorgang. Unternehmen, die dazu nicht bereit sind, kann man eigentlich nur über den Weg der öffentlichen Anprangerung beikommen. Das Handwerk habe ich ausgeklammert, weil ich weiß, dass die Handwerker noch eher bereit sind, auszubilden. Und beim Handwerker verlange ich nicht ohne weiteres, dass er über Bedarf ausbildet. Den größeren Unternehmen, die die ganze Infrastruktur dafür haben, die auch materiell besser ausgestattet sind, denen verlange ich jedoch mehr ab. Der von Minister Schartau eingebrachte Vorschlag, für ausbildende Betriebe eine Steuererleichterung einzuführen, wäre die einzige Maßnahme, die auch ich unterstützen würde. Dass man sagt, man bietet auf diesem Wege Möglichkeiten, dass eine Steuervergünstigung als Anreiz dient. Dass aber darüber hinaus noch frisches Geld in die Betriebe fließt, halte ich aus fiskalischen Gründen für nicht verantwortbar. Im Gegenteil: Wenn weiter unter Bedarf oder gar nicht ausgebildet wird, muss man auch über eine Ausbildungsplatzabgabe nachdenken dürfen.
Dr. Linssen: Ich glaube, dass die Tarifpartner viel dazu beitragen können, indem sie die Ausbildungsvergütung nicht über Gebühr in die Höhe treiben, da der Kostenfaktor im Moment eine ganz besondere Rolle spielt.Weitere Anreize durch staatliche Hilfen halte ich darüber hinaus für nicht angebracht, da die Bereitschaft zur Einstellung eines Lehrlings davon nicht abhängig ist. Für noch viel wichtiger halte ich es, dass nicht andauernd darüber philosophiert wird, dass man die Betriebe, die nicht ausbilden, durch eine Ausbildungsplatzabgabe bestrafen muss. Dies wirkt psychologisch völlig kontraproduktiv und forciert nur eine Abwehrhaltung.
Was kann der Landtag tun, damit Auszubildende in Zukunft eine bessere Perspektive haben?
Champignon: Der Landtag besteht aus ganz vielen Abgeordneten und die Abgeordneten haben in aller Regel Wahlkreise. In den Wahlkreisen liegen die Betriebe, da gibt es die Betriebsleitung und den Betriebsrat, und ich denke, dass es auch eine Aufgabe von Abgeordneten ist, sich vor Ort unmittelbar und direkt engagiert einzubringen und die Unternehmen im Wahlkreis aufzufordern, angemessen auszubilden.
Dr. Linssen: Der Landtag hat sich sehr der überbetrieblichen Ausbildung angenommen, der Landtag hat den Ausbildungskonsens forciert, den Landesregierung und Handwerk miteinander geschlossen haben. Dieser hat dazu geführt, dass wir eine Zeit lang sehr gute Ergebnisse vorweisen konnten. Im Grunde genommen konnte das Land im Verbund mit den Kammern eine Ausbildungsplatzgarantie geben. Dies hat bisher, wenn auch nicht immer direkt im Betrieb, so doch mit Hilfe der überbetrieblichen Ausbildung, funktioniert. Das Land hat mit dem Ausbildungskonsens allerdings auch eine Verantwortung übernommen, nämlich für eine bessere Ausbildung in den Haupt- und weiterführenden Schulen. Hier ist noch eine erhebliche Bringschuld gegeben, weil die Betriebe sich zu Recht über ungenügende Kenntnisse der Schulabsolventen gerade in den Grundlagenfächern beklagen. Deshalb ist die Verbesserung der Situation an den Schulen - neben den überfälligen Reformen beim Bund - aus meiner Sicht die dringlichste Aufgabe überhaupt.
Was raten Sie jungen Schulabgängern, um überhaupt eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu haben?
Champignon: Ich rate erst einmal jedem, der durch die Schule geht, sich engagiert in die Schule einzubringen und akribisch darauf zu achten, dass er einen anständigen Schulabschluss bekommt. Diejenigen, die ohne Abschluss die Schule verlassen, gehen den Weg in die Hoffnungslosigkeit. Diejenigen, die etwas vorzuweisen haben, können sich auch auf dem Ausbildungsmarkt behaupten. Örtliche Flexibilität, wie sie beispielsweise von vielen Arbeitnehmern aus dem Bergbauund Hüttenwesen verlangt wird, darf man meiner Meinung nach auch Auszubildenden zumuten. Ich denke darüber nach, ob man nicht einen "Flexibilitätszuschuss" organisieren kann, damit der Auszubildende sich vielleicht ein Fahrzeug kaufen kann, um den Ausbildungsort zu erreichen, wenn dieser zu weit im Lande oder in der Provinz liegt, wo keine idealen Verkehrsanbindungen vorhanden sind. In dem Fall wäre das ein Hilfsmittel, um die Auszubildenden dazu zu bewegen, auch einen Ausbildungsplatz anzunehmen, der nicht gerade unmittelbar vor der Haustür liegt.
Dr. Linssen: Ich rate jungen Schulabgängern, sich frühzeitig zu bemühen, sich nicht festzubeißen auf einen bestimmten Ausbildungsberuf, sondern die Palette der Möglichkeiten auch von sich aus zu erweitern. Im lebenslangen Lernen wird man sowieso häufiger zum Wechsel gezwungen sein, von daher ist es wichtiger, überhaupt ausgebildet zu sein als unbedingt in dem Traumberuf. Wir haben nach wie vor Betriebe mit freien Ausbildungskapazitäten vor allem in den Berufen, die zur Zeit vom Image her nicht besonders begünstigt sind, aber gerade in diesen konjunkturell schwierigen Zeiten eine gute Perspektive bieten. Außerdem müssen Jugendliche natürlich leistungsbereit und auch mobil sein. Wir haben als Landtag Mobilitätshilfen finanzieller Art ermöglicht, die nur in geringem Maße in Anspruch genommen worden sind. Ich glaube, dass ein 17- oder 18-Jähriger, der in seiner Freizeit viel Mobilität zeigt, diese auch für seine Ausbildung aufbringen muss.
Das Gespräch führten Stephanie Hajdamowicz und Axel Bäumer.
Systematik: 2420 Berufsausbildung
ID: LIN02052