Viele Menschen litten nach Corona noch immer unter den Folgen von Einsamkeit und seelischen Erkrankungen, heißt es in dem Antrag (18/3666). Unterversorgt seien ländliche Regionen, aber auch Stadtteile mit vielen Arbeitslosen, einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten, Geflüchteten sowie Menschen in prekären Verhältnissen. Die Lebensbedingungen dort führten zu einem erhöhten Risiko seelischer Erkrankungen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine könne die Situation weiter verschärfen. Expertenschätzungen zufolge werde ein Drittel der geflüchteten Menschen aus der Ukraine eine seelische Erkrankung entwickeln. „Diesen Menschen muss ein Anspruch auf Sprachmittlung in der Psychotherapie gewährleistet werden“, so die Fraktion.
Eine der SPD-Forderungen: Die Landesregierung solle sich gemeinsam mit dem Bund für eine Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung einsetzen.
Belastungen auch für soziales Umfeld
Die Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen sieht das in ihrer schriftlichen Stellungnahme für den Ausschuss ähnlich. Psychische Erkrankungen erzeugten „sehr viel individuelles Leid und belasten das soziale Umfeld aller Betroffenen“. Die Kammer führt zudem den volkswirtschaftlichen Schaden durch psychische Erkrankungen an: „Sie machen mittlerweile fast die Hälfte aller Zugänge in die Erwerbsminderung aus und waren 2022 die dritthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland.“
Die Versorgung der Bevölkerung sei vor allem in strukturschwachen Regionen nicht gewährleistet, so die Kammer. Sie führt dies u. a. auf „Webfehler“ der Bedarfsplanungs-Richtlinie zurück, die Anfang der 1990er-Jahre eingeführt wurde. Von Anfang an seien zu wenig niedergelassene Psychotherapeutinnen und -therapeuten eingeplant worden. Der Bedarf werde „bis heute gravierend unterschätzt“. Betroffen seien in Nordrhein-Westfalen besonders stark Menschen auf dem Land. „Es ist nicht hinzunehmen, dass ihnen weite Wege zur Psychotherapie mit langen Wartezeiten auf Behandlungsplätze zugemutet werden, insbesondere wenn es um die Behandlungen von Kindern geht.“
Benachteiligt würden aber auch Betroffene im Ruhrgebiet. Seit der Reform der Bedarfsplanung von 2017 seien dort etwa 85 neue Zulassungsmöglichkeiten genehmigt worden. Erforderlich wären aber rund 300 gewesen, schreibt die Kammer.
„Versorgung grundsätzlich als gut zu bewerten“
Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) Nordrhein sowie Westfalen-Lippe beurteilen die Lage anders. „Die aktuelle psychotherapeutische Versorgungssituation in Nordrhein ist nach den Kriterien der Bedarfsplanungs-Richtlinie grundsätzlich als gut zu bewerten“, schreibt die KV Nordrhein. In ihrem Zuständigkeitsbereich lägen die Versorgungsgrade aktuell zwischen 108 und 247 Prozent. Um das Angebot „trotz der bestehenden rechnerischen Überversorgung“ weiter auszubauen, setze man auf das Instrument „Sonderbedarf“. Aktuell arbeiteten in der Region Nordrhein mehr als 270 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten im Rahmen des Sonderbedarfs. Sie seien „zusätzlich im System und ebenfalls an der Sicherstellung der Versorgung beteiligt“.
Es sei fraglich, ob der im SPD-Antrag geschilderte erhöhte Versorgungsbedarf durch die Corona-Pandemie, Armut oder die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine „tatsächlich langfristig und nachhaltig ist“, schreibt die KV Westfalen-Lippe. Der Bedarf sei „nicht quantifizierbar“. Dies sei für eine regionale Anpassung der Bedarfsplanung aber erforderlich. Der Gemeinsame Bundesausschuss, das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, habe „nach mehrmaliger Prüfung ausdrücklich davon Abstand genommen, soziostrukturelle Aspekte (‚Armut‘) in die Bedarfsplanung einfließen zu lassen“. Begründung: Die kleinräumige Datenlage sei schlecht, ein Zusammenhang von Armut und Krankheit bisher nicht belegt.
Schönheitsideale
Auch veränderte gesellschaftliche Strukturen trügen dazu bei, dass mehr Menschen ambulante Psychotherapien in Anspruch nähmen, heißt es in der Stellungnahme der Techniker Krankenkasse (TK): „Medial getriggerte Schönheitsideale führen zu Essstörungen und Mobbing in Netzwerken sogar zu Suizidgedanken.“ Auch die Definition, welche seelische Abweichung als eine „krankheitswertige psychische Störung“ gelte, habe sich verändert: „Wir müssen uns beispielsweise heutzutage auch mit Themen wie Medien- und Onlinesucht auseinandersetzen.“
Die steigende Nachfrage nach Psychotherapie und die ungleich verteilten Therapeutenkapazitäten seien durch bisherige Anpassungen der Bedarfsplanungen und Reformen der Psychotherapie-Richtlinie noch nicht zufriedenstellend kompensiert worden, so die TK. Gleichwohl sei in den vergangenen Jahren im Land viel unternommen worden, um das psychotherapeutische Versorgungsangebot zu verbessern. Dies führe planerisch dazu, dass es keine unterversorgten Regionen gebe. Ansätze zur effizienteren Nutzung der Kapazitäten sieht die Krankenkasse u. a. in Videosprechstunden und Gruppentherapien. Die Techniker Krankenkasse weist – wie auch die KV Westfalen-Lippe – darauf hin, dass kein Anspruch auf Dolmetscherinnen oder Dolmetscher bestehe.
Lange Wartezeiten
Betroffene warteten durchschnittlich 22 Wochen auf einen Psychotherapieplatz, heißt es in einer Stellungnahme der Patientenvertretung „Deutsche DepressionsLiga“. Für sie und ihre Angehörigen bedeute die Wartezeit Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation. Das Warten sei „kräftezehrend und manchmal sogar lebensgefährlich“. Um auf das Thema aufmerksam zu machen, habe man die Aktion „#22WochenWarten“ gestartet und sich mit einer Petition an die Bundesregierung gewandt.
Der Verein hat seiner Stellungnahme Berichte von Betroffenen beigefügt. Ein Beispiel:
„Ich war viel zu krank, um mich selber um einen Platz zu kümmern. Wir wohnen in einer kleinen Stadt, und da gibt es wenig Möglichkeiten. Mein Mann hat dann telefoniert. Eine Therapeutin in der Nähe war telefonisch erreichbar. Ich kam auf die Liste, 9 Monate Wartezeit! (…) Die Klinik war dann meine einzige Möglichkeit. Dort habe ich eine Ärztin kennengelernt, die eine Praxis aufmachen wollte. Wartezeit 7 Monate!“
Text: zab