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Landtag

Plenarprotokoll

Nordrhein-Westfalen

16/42

16. Wahlperiode

17.10.2013

42. Sitzung

Düsseldorf, Donnerstag, 17. Oktober 2013

Mitteilungen der Präsidentin. 3905

Verpflichtung des Abgeordneten Jens-Peter Nettekoven (CDU) 3905

1   Die Zukunft des Braunkohletagebaus Garzweiler II

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4213. 3905

Kai Schmalenbach (PIRATEN) 3905

Rainer Schmeltzer (SPD) 3906

Dr. Gerd Hachen (CDU) 3907

Gudrun Elisabeth Zentis (GRÜNE) 3909

Dietmar Brockes (FDP) 3910

Minister Garrelt Duin. 3912

Thomas Kufen (CDU) 3913

Rainer Christian Thiel (SPD) 3914

Holger Ellerbrock (FDP) 3916

Wibke Brems (GRÜNE) 3917

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 3918

Minister Garrelt Duin. 3919

Dr. Gerd Hachen (CDU) 3920

Rainer Christian Thiel (SPD) 3921

2   Gesetz zur Stärkung der Wissen-schaftsautonomie

Gesetzentwurf
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1255

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Innovation, Wissenschaft und Forschung
Drucksache 16/4086

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Finger weg von der Hochschulauto-nomie – Positionspapier der Hoch-schulratsvorsitzenden nutzen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1190

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Innovation, Wissenschaft und Forschung
Drucksache 16/4094. 3921

Karl Schultheis (SPD) 3922

Dr. Stefan Berger (CDU) 3922

Dr. Ruth Seidl (GRÜNE) 3923

Angela Freimuth (FDP) 3924

Dr. Joachim Paul (PIRATEN) 3926

Ministerin Svenja Schulze. 3927

Ergebnis. 3928

3   Mehr Transparenz in der Arbeit der Rundfunkkommission – mehr Betei-ligung des Landtags und der Öffent-lichkeit bei der Ausarbeitung von Staatsverträgen!

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4020

In Verbindung mit:

Jugendmedienschutz und Novellie-rung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV)

Große Anfrage 6
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/2729

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 16/3684. 3928

Daniel Schwerd (PIRATEN) 3928

Alexander Vogt (SPD) 3929

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU) 3930

Matthi Bolte (GRÜNE) 3931

Ralf Witzel (FDP) 3932

Ministerin Dr. Angelica Schwall-Düren. 3933

Ergebnis. 3934

4   Gesetz zur Änderung des Flüchtlings-aufnahmegesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/4139

erste Lesung

In Verbindung mit:

Unser Land braucht eine Neukonzep-tion der Flüchtlingsaufnahme – hin zu einer humanen und dezentralen Unterbringung in ganz NRW

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4164. 3935

Minister Ralf Jäger 3935

Frank Herrmann (PIRATEN) 3935

Hans-Willi Körfges (SPD) 3936

Peter Biesenbach (CDU) 3938

Monika Düker (GRÜNE) 3939

Dr. Joachim Stamp (FDP) 3940

Ergebnis. 3941

5   Für Wachstum und Wohlstand – Landes-regierung muss Industrie-standort stärken statt ihn durch Büro-kratie und Abgabenlast zu schwä-chen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4154

Entschließungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4230. 3941

Hendrik Wüst (CDU) 3942

Rainer Schmeltzer (SPD) 3943

Dr. Birgit Beisheim (GRÜNE) 3944

Dietmar Brockes (FDP) 3945

Daniel Schwerd (PIRATEN) 3946

Minister Garrelt Duin. 3947

Ergebnis. 3948

6   Beschlusslage des Landtags beach-ten: Presse-Grosso-Vertriebssystem landesrechtlich absichern!

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/3451. 3948

Ralf Witzel (FDP) 3948

Alexander Vogt (SPD) 3949

Thorsten Schick (CDU) 3950

Oliver Keymis (GRÜNE) 3951

Daniel Schwerd (PIRATEN) 3951

Ministerin Dr. Angelica Schwall-Düren. 3952

Ergebnis. 3953

7   Ursachenforschung: Die große Anzahl an Krankenständen im öffentlichen Dienst am Beispiel der Polizei in NRW

Große Anfrage 1
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/763

Zwischenbericht
der Landesregierung
Drucksache 16/1570

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 16/3389. 3953

Dirk Schatz (PIRATEN) 3953

Christian Dahm (SPD) 3954

Gregor Golland (CDU) 3955

Verena Schäffer (GRÜNE) 3956

Susanne Schneider (FDP) 3957

Minister Ralf Jäger 3958

Ergebnis. 3958

8   Fairen Wettbewerb schaffen: Klare energiewirtschaftliche Regelungen bei der Vergabe von Konzessionen für Strom- und Gasnetze

Antrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/4153

Entschließungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4237. 3959

Guido van den Berg (SPD) 3959

Wibke Brems (GRÜNE) 3960

Thomas Kufen (CDU) 3961

Dietmar Brockes (FDP) 3961

Kai Schmalenbach (PIRATEN) 3962

Minister Garrelt Duin. 3963

Ergebnis. 3964

9   Abschaffung der Roaming-Gebühren für Mobilfunkgespräche innerhalb der EU

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4159. 3964

Dr. Marcus Optendrenk (CDU) 3964

Dirk Schlömer (SPD) 3965

Matthi Bolte (GRÜNE) 3966

Dr. Ingo Wolf (FDP) 3967

Nicolaus Kern (PIRATEN) 3968

Minister Garrelt Duin. 3968

Ergebnis. 3969

10 Fahrscheinloser ÖPNV für alle Vor-schulkinder

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4163. 3969

Oliver Bayer (PIRATEN) 3969

Carsten Löcker (SPD) 3970

Henning Rehbaum (CDU) 3971

Rolf Beu (GRÜNE) 3972

Christof Rasche (FDP) 3973

Minister Michael Groschek. 3973

Ergebnis. 3973

11 Bewerberinnen und Bewerbern mit mittleren Bildungsabschlüssen wie-der eine Ausbildungsperspektive bei der Polizei eröffnen

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4156. 3973

Werner Lohn (CDU) 3973

Christian Dahm (SPD) 3974

Verena Schäffer (GRÜNE) 3975

Dr. Robert Orth (FDP) 3976

Dirk Schatz (PIRATEN) 3977

Minister Ralf Jäger 3978

Ergebnis. 3979

12 Gesetz zur Offenlegung der Bezüge von Sparkassenführungskräften im Internet

Gesetzentwurf
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4165

erste Lesung. 3979

Dietmar Schulz (PIRATEN) 3979

Stefan Kämmerling (SPD) 3980

Volker Jung (CDU) 3981

Mehrdad Mostofizadeh (GRÜNE) 3982

Ralf Witzel (FDP) 3983

Robert Stein (fraktionslos) 3984

Ministerin Ute Schäfer 3985

Ergebnis. 3987

13 Gesetz zur Regelung des Straf-vollzuges in Nordrhein-Westfalen (Strafvollzugsgesetz Nordrhein-West-falen – StVollzG NRW)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4155

erste Lesung. 3987

Jens Kamieth (CDU) 3987

Nadja Lüders (SPD) 3988

Dagmar Hanses (GRÜNE) 3989

Dirk Wedel (FDP) 3990

Dietmar Schulz (PIRATEN) 3991

Minister Thomas Kutschaty. 3992

Ergebnis. 3993

14 Gesetz zur Änderung des Polizeior-ganisationsgesetzes (POG NRW)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4157

erste Lesung. 3993

Jens Kamieth (CDU) 3993

Thomas Stotko (SPD) 3994

Verena Schäffer (GRÜNE) 3994

Dr. Robert Orth (FDP) 3995

Dirk Schatz (PIRATEN) 3996

Minister Ralf Jäger 3996

Ergebnis. 3996

15 Entwurf einer Verordnung zur Selbstüberwachung von Abwasser-anlagen – Selbstüberwachungsver-ordnung Abwasser – SüwVO Abw

Vorlage
des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt,
Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz
Vorlage 16/1131

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Drucksache 16/4174. 3996

Norbert Meesters (SPD) 3997

Josef Hovenjürgen (CDU) 3997

Hans Christian Markert (GRÜNE) 3998

Henning Höne (FDP) 3999

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN) 4000

Minister Johannes Remmel 4000

Ergebnis. 4002

Nächste Sitzung. 4002

Entschuldigt waren:

Minister Garrelt Duin    
(bis 12 Uhr und ab 18 Uhr)

Minister Thomas Kutschaty      
(bis 12 Uhr)

Ministerin Dr. Angelica Schwall-Düren

Minister Dr. Norbert Walter-Borjans

Wolfgang Große Brömer (SPD)

Ingrid Hack (SPD)

Hans-Peter Müller (SPD)

René Schneider (SPD)

Ina Scharrenbach (CDU)           
(ab 15 Uhr)

Bernhard Schemmer (CDU)      
(bis 14 Uhr)

Horst Becker (GRÜNE) 
(ab 18 Uhr)

Monika Düker (GRÜNE)           
(14 Uhr – 16 Uhr)

Dr. Robert Orth (FDP)  
(ab 12 Uhr)

Birgit Rydlewski (PIRATEN)

 


Beginn: 10:05 Uhr

Präsidentin Carina Gödecke: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen zu unserer heutigen, 42. Sitzung des Landtags Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt den Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich sechs Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass wir vor Eintritt in die Tagesordnung die Aufgabe haben, die Verpflichtung eines Abgeordneten gemäß § 2 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung vorzunehmen.

Die Landeswahlleiterin hat mir mit Schreiben vom 16. Oktober mitgeteilt, dass für den ausgeschiedenen Abgeordneten Oliver Wittke aus der CDU Herr Jens-Peter Nettekoven Mitglied des Landtags geworden ist.

Ich darf den neuen Kollegen Jens-Peter Nettekoven zu mir bitten, damit ich Sie, lieber Kollege, nach § 2 unserer Geschäftsordnung verpflichten kann bzw. wir gemeinsam die Verpflichtung vornehmen können.

(Die Abgeordneten erheben sich von ihren Plätzen.)

Ich bitte Sie, die folgenden Worte der Verpflichtungserklärung anzuhören und anschließend durch Handschlag zu bekräftigen:

Die Mitglieder des Landtags Nordrhein-Westfalen bezeugen vor dem Lande, dass sie ihre ganze Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die übernommene Pflicht und Verantwortung nach bestem Wissen und Können erfüllen und in der Gerechtigkeit gegenüber jedem Menschen dem Frieden dienen werden.

Sehr verehrter Herr Kollege, ich begrüße Sie ganz herzlich. Sie nehmen damit die Verpflichtung an. Sie sind ein neuer Kollege. Ich glaube, Sie werden sich schnell eingewöhnen und wohlfühlen. Das Parlament freut sich darauf, dass wir wieder vollzählig sind. Herzlich willkommen!

(Allgemeiner Beifall – Jens-Peter Nettekoven [CDU] nimmt Glückwünsche entgegen.)

Das Sitzungspräsidium hat gerade festgestellt, dass es auch seine Vorzüge hat, nachzurücken und alleine hier im Mittelpunkt zu stehen. Dann bekommt man viele Glückwünsche, die sonst immer sehr kollektiv ausgesprochen werden. Aber es ist natürlich auch ein ganz besonderer Moment für den neuen Kollegen, für den ausgeschiedenen Kollegen und für die den neuen Kollegen begleitenden Familienmitglieder, Kameraden und Freunde.

Nach den Glückwünschen des Parlaments treten wir in die Tagesordnung ein und kommen wir zu Punkt

1   Die Zukunft des Braunkohletagebaus Garzweiler II

Aktuelle Stunde
auf Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4213

Die Fraktion der Piraten hat mit Schreiben vom 14. Oktober 2013 gemäß § 90 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung zu der genannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktion – in diesem Fall die Piraten – Herrn Kollegen Schmalenbach das Wort.

Kai Schmalenbach (PIRATEN): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Meine Damen und Herren! Verehrte Zuschauer! Am Montagmorgen stand ich auf der Tribüne draußen bei einer Zigarette und habe gewettet, dass wir in diesem Plenum auf jeden Fall über Garzweiler reden werden, und zwar unabhängig davon, ob unsere Aktuelle Stunde durchkommt oder nicht. Ich war der Meinung, dass dieser Landtag es sich nicht erlauben könnte, das Thema zu ignorieren.

Ich habe die Wette gewonnen. Aber leider habe ich die Wette nur gewonnen, weil unsere Aktuelle Stunde angenommen wurde. Ich finde es ein bisschen komisch, dass das nicht auch von anderen aufgegriffen wurde, dass wir heute darüber reden sollten.

Garzweiler beschäftigt in diesen Tagen nämlich nicht nur NRW, sondern ganz Deutschland. Politik soll Zukunft gestalten und nicht das Ziel verfolgen, später die Fehler der Vergangenheit bewältigen zu müssen. Es geht vor allem um die Zukunft der dort lebenden Menschen. Es geht um die Zukunft derer, die dort arbeiten. Es geht um die Zukunft der Energieversorgung, und es geht um Klimaschutz und die Energiewende.

Für alle Beteiligten lautet also die Frage: Wie geht es weiter? Vor allen anderen haben die Menschen, die dort leben, das Recht, dies zu erfahren. Sie wollen Sicherheit. Sie wollen nicht umgesiedelt werden, um in zehn Jahren zu erfahren, dass es unnötig war.

RWE hat offensichtlich erkannt, dass die Fortsetzung des Braunkohleabbaus im Gebiet Garzweiler II aufgrund der jetzigen Rahmenbedingungen auf dem Strommarkt bald nicht mehr wirtschaftlich sein wird. Kein Unternehmen kann sich auf Dauer Verluste leisten. Die Ankündigung des vorzeitigen Endes des Abbaus 2018 statt 2045 ist eigentlich die logische Konsequenz. Die Frage ist also: Wie wird sich der Energiemarkt in Zukunft entwickeln? Die Versorgungssicherheit steht dabei gleichrangig neben dem Klimaschutz.

Derzeit haben wir ein Handelssystem für CO2-Zer-tifikate, das nicht wirklich funktioniert. Die Preise für Verschmutzungsrechte sind so niedrig, dass kein wirksamer Effekt eintritt. Das System muss endlich wirksam werden. Wenn das aber eintritt, wird sich die Situation gerade für die Braunkohle drastisch verschlechtern. Auch ein neues Strommarktdesign wird daran nichts Wesentliches ändern. Es ist also absehbar, dass die Braunkohle mit ihren spezifisch hohen Emissionen von einer Tonne CO2 pro Megawattstunde gegenüber rund 380 kg bei Gaskraftwerken ihren jetzigen Preisvorteil verlieren wird.

Energiepolitik muss an der Stelle langfristig angelegt sein und die Zukunft planbar machen. Genau das ist jetzt unsere Aufgabe.

(Beifall von den PIRATEN)

Es ist wichtig, genau das jetzt zu klären, jetzt zu planen, wie die Zukunft der Energieversorgung und in diesem Fall ganz speziell die der Braunkohle aussieht. Es ist nicht der Zeit der Bekenntnisse, sondern die Zeit der langfristigen Planungen. Für Bekenntnisse ist die Religion und nicht die Politik zuständig. Die Uhr der Kohleverstromung tickt. Da wir das wissen, ist es aktuell noch planbar. Ignorieren Sie diesen simplen Fakt nicht!

Daher fordere ich die Landesregierung auf, hier keine Bekenntnisse zur Braunkohle zu liefern, sondern sich dafür einzusetzen, dass der Dialog über einen geplanten Ausstieg beginnt, damit die Menschen vor Ort wissen, was auf sie zukommt und was nicht, damit der Ausstieg aus der Braunkohle planbar wird und nicht plötzlich alle überrascht, und vor allem, damit die Energiewende gelingt. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schmalenbach. – Als nächster Redner Herr Kollege Schmeltzer von der SPD-Fraktion.

Rainer Schmeltzer (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrer Ausgabe vom 8. Oktober berichtete die „Süddeutsche Zeitung“, dass RWE das Aus für den Tagebau Garzweiler prüfe. Internen Überlegungen zufolge – so der Bericht in der „Süddeutschen Zeitung“ – erwägt der Konzern, die umgesiedelten und zum Teil bereits abgerissenen Dörfer noch abzubaggern. Vor den nächsten Orten könnte RWE aber die Bagger stoppen.

Die Reaktion von RWE erfolgte jedoch unmittelbar. In einer am selben Tag gegen 10:30 Uhr vormittags veröffentlichten Pressemitteilung erklärte Peter Terium, Vorstandsvorsitzender der RWE AG – ich zitiere –:

RWE hält an seinen bisherigen Planungen zur Fortführung des Tagebaus Garzweiler II unverändert fest.“

Matthias Hartung, Chef der Erzeugungssparte RWE Generation, erklärte in der gleichen Pressemitteilung – auch ihn zitiere ich –:

„Der Tagebau Garzweiler II mit einem genehmigten Kohlevorrat von rund 1 Milliarde Tonnen Braunkohle insgesamt und einem jährlichen Fördervolumen von 35 bis 40 Millionen Tonnen ist daher fester Bestandteil der Zukunftsplanung des Unternehmens.“

Nach dieser Klarstellung und eindeutigen Positionierung des bergbautreibenden Unternehmens ist die landespolitische Situation eigentlich geklärt. Aber wir haben ja gehört, dass die Aktuelle Stunde zustande gekommen ist, damit eine Wette nicht verloren wird.

Es ist die Situation, die SPD und Grüne mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags skizzierten:

Erstens. Neue Tagebaue – über die bereits genehmigten hinaus – sind nicht notwendig.

Zweitens. Bestehende Genehmigungen für Tagebaue, Betriebs- und Umsiedlungspläne gelten unverändert fort und werden nicht infrage gestellt.

Drittens. Effizienzsteigerungen müssen, wie im Rahmenbetriebsplan Garzweiler II verbindlich festgelegt, dazu führen, Ressourcen zu schonen und die absoluten jährlichen CO2-Emissionen im rheinischen Revier kontinuierlich zu senken.

Wir alle wissen: Braunkohletagebaue betreffen in gravierender Weise Bürgerinnen und Bürger, Kommunen sowie Natur- und Kulturräume. Sie greifen tief in die Existenz- und Lebensbedingungen der Menschen ein, und diese Sorgen und Nöte der Menschen vor Ort nehmen wir ernst. Wir wissen aber auch: In den vergangenen Jahrzehnten ist es im rheinischen Revier mithilfe vieler Beteiligter gelungen, Regelwerke zu erarbeiten, die es den betroffenen Menschen sozial verträglich ermöglichen, ihre alte Heimat aufzugeben und woanders neu heimisch zu werden.

In den aktuell immer weiter verbesserten Verfahren macht man nicht mehr einen Plan für einen Tagebau über 50 oder gar 60 Jahre. Nein, vielmehr ist jeder neue Braunkohlen- und Umsiedlungsplan von der Landesregierung nach dem Landesplanungsgesetz zu genehmigen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Braunkohlenausschuss bei der Bezirksregierung Köln, der die kommunale und regionale Betroffenheit systematisch einbezieht.

Diese Maßnahmen sind, wie wir alle wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Jahrzehnten immer wieder angepasst und auch optimiert worden, um transparente und problemlösungsorientierte Verfahren zu schaffen. Dazu gehören zum Beispiel auch das Konzept der gemeinsamen Umsiedlung oder die Entschädigungserklärung der RWE Power AG mit den entsprechenden Ergänzungen.

Die Verbesserung der Verfahren ist bislang in der Regel in einem parteiübergreifenden Konsens geschehen. Die Landesregierung erstellt keine Braunkohlen- oder Umsiedlungspläne. Diese Pläne werden vom Braunkohlenausschuss im Dialog mit RWE erstellt. Erst wenn der Braunkohlenausschuss ein Erarbeitungsverfahren für einen Umsiedlungsplan erstellt, nimmt die Landesregierung hierzu Stellung.

Zu den Genehmigungsvoraussetzungen zählt neben den Erfordernissen des Umweltschutzes und der sozialen Belange auch die energiewirtschaftliche Notwendigkeit des Vorhabens. Die von SPD und Grünen geführte Landesregierung ist bei den unter ihrer Verantwortung zur Genehmigung vorgelegten Umsiedlungsplänen für Kerpen-Manheim 2011 und Merzenich-Morschenich im Mai 2013 nach sehr sorgfältiger Prüfung einvernehmlich zu dem Ergebnis gekommen, die Genehmigung zu erteilen. Ich zitiere aus der Vorlage zur Benehmensherstellung im Wirtschaftsausschuss:

„Aufgrund ihrer Bedeutung für die Versorgungssicherheit … und zur Preisstabilität … bleibt die Braunkohle in Nordrhein-Westfalen trotz der von ihr ausgehenden Umweltbelastungen auch für den hier betrachteten Zeitraum (2020 bis 2030) ein wesentlicher Bestandteil des Energiemixes und damit erforderlich.“

Weitere Braunkohlen- und Umsiedlungspläne aus dem Braunkohlenausschuss liegen bei der Landesregierung nicht zur Stellungnahme vor, weil der Braunkohlenausschuss noch keine Entscheidung über einen Erarbeitungsbeschluss für die Umsiedlung der Erkelenzer Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich und Berverath getroffen hat. Nur RWE Power selbst kann darüber entscheiden, ob und, wenn ja, wann sie als das bergbautreibende Unternehmen den nächsten Umsiedlungsplan in den Braunkohlenausschuss bei der Bezirksregierung Köln einbringen wird. Dieser hätte dann über das weitere Verfahren zu entscheiden.

Vor diesem Hintergrund rate ich allen Beteiligten dringend zu einem verantwortlichen Verhalten und dazu, auch in zukünftig möglicherweise wirtschaftlich und politisch schwierigen Situationen weiter Sorgfalt, Toleranz, Beteiligung der Betroffenen und ein problemlösungsorientiertes Vorgehen zu praktizieren und zu verbessern – im Interesse aller Betroffenen, insbesondere der Einwohner und der Arbeitnehmer. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schmeltzer. – Für die CDU-Fraktion hat Kollege Dr. Hachen das Wort. Herr Kollege, seien Sie bitte nicht irritiert, wenn hier eine falsche Redezeitangabe auftaucht. Wir haben ein kleines Computerproblem. Sie haben selbstverständlich sieben Minuten Redezeit wie alle anderen. Wir sagen frühzeitig Bescheid.

Dr. Gerd Hachen (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu dem komme, was ich Ihnen eigentlich sagen wollte, möchte ich eine kurze Bemerkung zu Herrn Schmeltzer machen. Herr Schmeltzer, wenn Sie gleich zu Beginn Ihrer Rede die Bedeutung dieser Debatte herunterspielen, indem Sie auf die Wette anspielen

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Das war in der Mitte der Rede!)

– ist ja in Ordnung –, gleichzeitig aber darauf hinweisen, dass man die Sorgen und Nöte ernst nehme, klingt das nicht besonders glaubwürdig. Das nur als Vorabbemerkung, die ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen kann.

(Beifall von der CDU und den PIRATEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man wie ich aus der betroffenen Stadt Erkelenz kommt, lässt einen das Thema Garzweiler II ein Leben lang nicht los. Ich begleite diesen Tagebau und seine Planungen seit Anfang der 80er-Jahre, das heißt seit 30 Jahren, kritisch, aber konstruktiv. Ich habe mich gemeinsam mit den Menschen der Region über viele Jahre vehement gegen diesen Tagebau gewehrt und mit 20.000 von ihnen bei strömendem Regen eine Fackelkette rund um den Tagebau gebildet. Ich habe den Widerstand in jeder freien Minute unterstützt.

Das erwähne ich an dieser Stelle nur deshalb, um Ihnen zu verdeutlichen: Ich glaube, ich darf sagen: Ich kenne die Menschen in dieser Region. Ich kenne ihre Sorgen und Nöte, ihre Mentalität und auch ihre Stärken.

Zu diesen hochachtbaren Stärken gehört auch, dass sich diese Menschen nach der Genehmigung, die zwar nach Recht und Gesetz, aber gegen sie, gegen ihre Heimat und ihre Lebensplanung, erteilt wurde, mit dieser für sie dramatischen Entscheidung arrangiert und versucht haben, ihre Lebensplanung bestmöglich an diese politischen Vorhaben der Allgemeinheit anzupassen. Ich glaube, das verdient Hochachtung und gesellschaftliche Anerkennung.

(Beifall von der CDU und der SPD)

Aber statt Anerkennung haben wir jetzt vom Unternehmen offensichtlich gezielt in die Öffentlichkeit lancierte Zweifel an der Sinnhaftigkeit und der Wirtschaftlichkeit eines weiteren Abbaus zu konstatieren.

Das als Einflussnahme auf die Politik gedachte Vorgehen von RWE impliziert gleichzeitig aber auch eine katastrophale und zynisch anmutende Botschaft an Tausende betroffener Bürger. Diese lautet: Ihre Anliegen spielen für den weiteren Fortgang keine Rolle, und Verlässlichkeit gegenüber den Bürgern gibt es nicht. – Deshalb – das werden Sie verstehen – sind die Bürger geschockt, betroffen und auch zutiefst empört darüber, wie man wieder einmal mit ihren Nöten und Anliegen umgeht.

(Beifall von der CDU, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Das Zusammentreffen mit dem Abschied und der Entwidmung ihrer Kirche in Immerath, die jetzt zum Abriss freigegeben ist, steigert dieses Gefühl der Wut und Ausgeliefertheit noch mehr.

Da das bestehende Bergrecht lediglich einen zeitlich begrenzten Rechtsanspruch auf den Abbau für das Unternehmen festlegt, aber keine Vorgaben zur konkreten Umsetzung macht, ist es Aufgabe der Politik und damit der Landesregierung, für Verlässlichkeit – nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für die betroffenen Menschen – zu sorgen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, verstehen wir uns an dieser Stelle bitte richtig: Dass ein Unternehmen wie RWE – wie andere Verbände, Institutionen oder Unternehmen auch – angesichts der real gegebenen tiefgreifenden Krise der Energiewirtschaft seine wirtschaftlichen Interessen an die Politik bringen will, ist nachvollziehbar und in Ordnung. Dass man aber in so massiver Form die Koalitionsverhandlungen beeinflussen will, indem man der Politik die möglichen schlimmen Konsequenzen von aus Unternehmenssicht falschen politischen Rahmenentscheidungen quasi als Drohung vor Augen führt, ohne damit die verbundene verheerende Aussage für die Lebensplanung der Betroffenen zu berücksichtigen, macht die Menschen in ihrer Ohnmacht zu Recht wütend.

(Beifall von der CDU und den PIRATEN)

Der Bürgermeister von Erkelenz trifft deshalb das Gefühl der Menschen sehr genau, wenn er öffentlich von einer Sauerei spricht und ankündigt, dass die Stadt – nachdem sie sich bisher sehr konstruktiv und einvernehmlich in den ersten Umsiedlungsblock von 2.500 Menschen in Immerath, Lützerath, Pesch und Borschemich eingebracht hat – alle vorbereitenden Planungsschritte für den nächsten Umsiedlungsabschnitt bis auf Weiteres einstellt. Dabei geht es übrigens wieder um 1.600 Menschen in fünf weiteren Orten.

Wenn die Stadt also in einer Situation, in der RWE selbst die Wirtschaftlichkeit des weiteren Abbaus in Frage stellt, von der Landesregierung und der Ministerpräsidentin und auch von Ihnen, Herr Minister Duin, eine klare Aussage erwartet, um die Sicherheit für die Lebensplanung ihrer Bürger wiederherzustellen, ist das nur billig, nachvollziehbar und weiß Gott nicht zu viel verlangt.

(Beifall von der CDU)

Der eigentliche Ansprechpartner für die Stadt und die Menschen ist nicht das Unternehmen, sondern sind Landesregierung und Regierungskoalition. Denn die Landesregierung hat die einmal getroffene politische Entscheidung der Erforderlichkeit des Tagebaus anlassbezogen wieder zu überprüfen und zu verantworten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns noch einmal die Situation betrachten: Wenn ein Unternehmen wie RWE 27 Milliarden € an Börsenwert verliert, wenn sich der Schuldenstand des Unternehmens mittlerweile auf 33 Milliarden € mehr als verdoppelt hat, wenn Kraftwerksstilllegungen angedeutet und erheblicher Personalabbau angekündigt werden, dann liegen unbestreitbar neue energiepolitische Rahmenbedingungen vor, die auch eine erneute Überprüfung der weiteren Notwendigkeit des Tagebaus erfordern.

(Beifall von den PIRATEN)

– Lassen Sie mich das noch sagen: Dabei hat nicht nur das Unternehmen, sondern haben auch die betroffene Kommune und ihre Bürger ein Anrecht auf eine schnelle und verlässliche Auskunft.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Die gegebene Antwort – Herr Minister, ich bitte Sie, das weiterzuleiten an die Frau Ministerpräsidentin, die ihren Pressesprecher eine Antwort in Richtung Erkelenz hat geben lassen – gefährdet die ohnehin schon im Abnehmen begriffene Akzeptanz in der Bevölkerung weiter, statt dass sie die Akzeptanzoffensive unterstützt, über die wir uns morgen im Grubensicherheitsausschuss zu unterhalten haben.

Warum ist das so? – Ihr Pressesprecher teilt der Stadt zunächst mit: Die Landesregierung nimmt ihre Sorgen ernst. – Dann weist er lapidar darauf hin, dass man sich im Zuge des gesetzlich vorgesehen Planungsverfahrens zum energiepolitischen Erfordernis des Tagebaus und zu den Grundannahmen erst später äußern wird. Ihre Botschaft an die verunsicherten Menschen lautet im Kern also: Für die Landesregierung gibt es zurzeit keine neue Lage. Sie wird sich erst dann damit auseinandersetzen, wenn sie im Zuge des jetzt anlaufenden Umsiedlungsverfahrens – also in den Jahren 2014/2015 – nicht anders kann, als sich damit wieder befassen zu müssen.

Präsidentin Carina Gödecke: Jetzt muss ich Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.

Dr. Gerd Hachen (CDU): Meine Redezeit ist zu Ende. Damit komme ich auch zum Schluss.

Sehr geehrter Herr Minister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das an die Ministerpräsidentin weiterleiten könnten: Jemand, der sich wirklich um die Sorgen und Nöte Betroffener kümmern will, der verhält sich anders.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Abschließend kann ich nur noch den Appell an die Ministerpräsidentin richten: Lassen Sie der Stadt und ihren Bürgern nicht nur mitteilen „Wir nehmen Ihre Sorgen ernst“, sondern lassen Sie dieser Ankündigung auch Taten folgen.

Über das, was ich mit dem Hinweis auf fehlende Akzeptanz gemeint habe, können wir uns vielleicht noch im dritten Teil dieser Debatte unterhalten. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und Reiner Priggen [GRÜNE])

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Hachen. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Zentis.

Gudrun Elisabeth Zentis (GRÜNE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hachen, ich hoffe, dass das, was Sie gesagt haben, nicht nur Ihre persönliche Meinung als Wahlkreisabgeordneter ist, sondern dass die ganze Fraktion und Ihre Partei hinter Ihnen stehen. Wir würden das begrüßen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Einer Presseinformation letzter Woche, die sich rasch in allen Pressemedien verbreitete, haben wir diese Aktuelle Stunde zu verdanken. Aber bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren, konnte sie uns wirklich überraschen? RWE Power teilt uns doch schon seit geraumer Zeit mit, dass Arbeitsplätze abzubauen sind. Um den Termin der Bundestagswahl herum gab es immer wieder Mitteilungen und Hinweise, dass Arbeitsplätze abgebaut werden.

Konkreter war das aber bereits in einem Artikel der „FAZ“ vom 24.09. dieses Jahres zu lesen. Bitte erlauben Sie mir, dass ich zitiere:

„Wie zwei der Informanten sagten, sollen nach den Vorstellungen der RWE-Verantwortlichen innerhalb der nächsten fünf Jahre rund 3.400 Stellen im Stromerzeugungsgeschäft verloren gehen, davon 2.300 in Deutschland …

Weil mit konventionellen Kraftwerken angesichts der Energiewende immer weniger Geld zu verdienen ist, hat der Versorger in seinem Stromerzeugungsgeschäft das Sparprogramm ‚Neo‘ aufgelegt. Dieses solle die Kosten der Sparte nach aktuellen Plänen um jährlich rund 800 Millionen € senken …

Neben Stellenstreichungen und Gehaltsverzicht werden intern noch weitere Szenarien durchgespielt. So sei auch der Bestand aller Tagebau-Gruben infrage gestellt worden. Konzernverantwortliche hätten den Vorschlag gemacht, eine der Braunkohle-Abbaustätten im rheinischen Revier bei Köln aufzugeben …“

Wie gesagt: 24.09. in der „FAZ“.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, was stört uns eigentlich am Verhalten von RWE? Es ist doch ein Unternehmen, das nach wirtschaftlichen Kriterien entscheiden muss. Alles andere wäre doch verfehlt. Sie müssen doch aus den Kommunen wissen, wie die Dividenden der Aktien gesunken sind und einige Kommunen nunmehr dadurch in finanzielle Probleme geraten.

Erstaunt sein können wir wirklich nicht. Skandalisieren, sich aufregen oder gar eine hitzige Debatte bezüglich RWE Power und ihrer strategischen Ausrichtung am Energiemarkt führen, die der Veränderung bedarf, brauchen wir nicht, auch keine Wetten, Herr Schmalenbach, rund um das Thema „Garzweiler“.

(Beifall von den GRÜNEN)

Die Interessen der Arbeitnehmer sind von RWE stets beachtet worden. Dem einen oder anderen wird es zwar nicht unbedingt gefallen haben, wie bereits in der Vergangenheit praktiziert, frühzeitig aufs Altenteil geschoben worden zu sein, aber wenn über Sozialpläne, wie ich gelesen habe, bereits verhandelt wird – so sind wir es von RWE gewohnt –, dann können wir auch diese ruhig abwarten.

Und dann gibt es da noch eine Gruppe von Menschen vor Ort, deren Schicksal mich sehr berührt. Das sind die Menschen, die am Tagebaurand leben, die dort zur Sicherung eines Wirtschaftsstandorts einem höheren gesundheitlichen Risiko durch Lärm und Staub aus dem Tagebau ausgesetzt sind als andere, die davon profitieren.

Auch wenn diese Menschen seit Jahrzehnten wissen, dass sie aus ihrer Heimat vertrieben werden, sie dem Tagebau weichen müssen, sie umsiedeln müssen wie es im Amtsdeutsch heißt, tun sie das nicht gern, machen das nicht freiwillig, machen es nicht mit Freude, sondern meist mit großer Wehmut und Traurigkeit. Diese Menschen haben es nicht verdient, auch noch zum Spielball von Interessen zu werden.

(Beifall von den GRÜNEN und Dr. Joachim Paul [PIRATEN])

Sehr geehrte Damen und Herren, wer von Ihnen war schon einmal im rheinischen Revier, war in diesen sterbenden Orten, in Pier, das es jetzt eigentlich nicht mehr gibt, in Borschemich, in Immerath ebenfalls, in Manheim, in Morschenich, die bereits im Verfahren sind.

Sicher nicht die Mehrzahl von Ihnen kann nachempfinden, wie es für die Menschen ist, dort zu leben. Nach und nach leert sich der Ort. Immer weniger Lichter brennen morgens und abends, Vorgärten werden nicht mehr gepflegt, Menschen zum Plausch an der Ecke trifft man nicht mehr. Ganze Straßenzüge veröden, Infrastruktur wird zurückgenommen, Bäume und Sträucher werden gefällt. Schließlich wird mit dem Abbruch der Häuser begonnen, Stück für Stück.

Sicherheitsdienste kontrollieren, sollen vor Plünderungen und sonstigen Verbrechen schützen. Die Katzenpopulation nimmt überhand, weil Katzen nicht so einfach umzusiedeln sind. Hasen, Kaninchen, Füchse, Rehe suchen neuen Lebensraum in den sterbenden Orten.

Aktuell ist ein Bildband über den sterbenden Ort Manheim erschienen. Ich kann Ihnen diesen Bildband empfehlen. Es ist sicher eines der letzten Druckerzeugnisse eines uralten Dorfes.

Die Menschen werden umgesiedelt in eine neue Umgebung, in ein neues Haus. Sie haben Aufwand, sie haben sehr wahrscheinlich neue Schulden, die Nachbarschaft ist anders, und es gibt kein Zurück. Ein Besuch in der alten Heimat ist noch nicht einmal zur Erinnerung möglich. Jahre später können sie ihren Nachkommen sagen: Da, in dem Loch, dort, in dem See bin ich aufgewachsen, da hat mein Elternhaus gestanden, dort bin ich zur Schule gegangen, da war die Stelle, da habe ich mit meiner großen Liebe die ersten Zärtlichkeiten ausgetauscht. Nichts davon ist vorzeigbar.

Ich kann die Menschen in Keyenberg, Kuckum, Holzweiler, Beverath, Unter- und Oberwestrich verstehen, die wissen wollen, wo sie bleiben oder nicht, die wissen wollen, welches Schicksal ihnen beschert ist. Gekämpft für den Erhalt ihrer Heimat haben sie seit Jahrzehnten, aber in unserem Rechtsstaat geht vermeintliches Allgemeinwohl vor Eigenwohl. Dies wurde auch letzten Sonntag so benannt, als der Immerather Dom entweiht wurde.

Lassen Sie mich bitte nochmals aus einem Bericht der „Aachener Nachrichten“ zitieren:

„Doch aller Widerstand war angesichts der Übermacht von Politik, Wirtschaftsinteresse und Gewinnmaximierung von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn nicht die hier lebenden Menschen waren im Blick, sondern die Energiegewinnung hatte politischen und wirtschaftlichen Vorrang.“

Die Politik kann die Weichen für erneuerbare Energien und mehr Klimaschutz stellen.

Aus Karlsruhe wird ein Urteil erwartet, welches – so wird vermutet – den Anwohnern mehr Rechte einräumt …

Präsidentin Carina Gödecke: Denken Sie bitte an die Zeit.

Gudrun Elisabeth Zentis (GRÜNE): …oder Hinweise zum Verfahrensablauf einer Umsiedlung.

Wer kann es dann den Vorstandsmitgliedern von RWE Power verdenken, in der Situation, in der sie sich befinden, zu erwägen, nicht mehr den ganzen möglichen Tagebaubereich in Anspruch zu nehmen.

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit, bitte.

Gudrun Elisabeth Zentis (GRÜNE): Ich bin sofort fertig.

Sehr geehrte Vorstandsmitglieder von RWE Power, beweisen Sie die Zukunftsfähigkeit Ihres Konzerns. Entscheiden Sie sich nach marktwirtschaftlichen Kriterien für Ihr Unternehmen und für die Menschen, die von der Umsiedlung bedroht sind und noch in Keyenberg, Kuckum, Holzweiler, Beverath, Unter- und Oberwestrich leben. Entscheiden Sie sich bitte für den Erhalt der Heimat dieser Betroffenen.

Präsidentin Carina Gödecke: Frau Kollegin Zentis.

Gudrun Elisabeth Zentis (GRÜNE): Letzter Satz. – Seien Sie so mutig und verzichten auf die Braunkohle unter diesen Orten. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Zentis. Wenn die Interpretation für „sofort“ 30 Sekunden bedeutet, nachdem Sie schon 40 Sekunden überzogen hatten, finde ich das etwas lange. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Brockes.

Dietmar Brockes (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmalenbach, auch wir haben uns mit dem Gedanken getragen, für den heutigen Tag eine Aktuelle Stunde zu beantragen.

Denn wenn das, was in der „Süddeutschen Zeitung“ angedeutet wurde, Wirklichkeit werden würde, bedeutete das wirklich einen gravierenden Einschnitt nicht nur für die deutsche Energiepolitik, sondern auch für die 3.000 von Umsiedlung betroffenen Bürgerinnen und Bürger, die sich seit Jahren damit beschäftigen, dass sie ihre Heimat verlassen müssen, und durch diese Diskussion wieder in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt werden. Ebenso gilt das für Zehntausende Arbeitsplätze bei RWE, aber auch bei den Zuliefererunternehmen, die hierdurch gefährdet wären. Umso mehr waren wir aber froh – deshalb haben wir auch keine Aktuelle Stunde beantragt –, dass der RWE-Konzern in aller Deutlichkeit diese Gerüchte abgewiesen hat.

Meine Damen und Herren, es hat nicht – wie es sonst auch üblich ist, gerade auch hier bei den Ministerinnen und Ministern – ein Sprecher verkündet, „dass …“. Nein, Peter Terium selbst, der Vorstandsvorsitzende von RWE, hat – ich zitiere – klar und deutlich gesagt:

RWE hält an seinen bisherigen Planungen zur Fortführung des Tagebaus Garzweiler II unverändert fest.“

Diese Botschaft ist klar und eindeutig. Garzweiler II steht damit nicht im Zweifel.

Man könnte eigentlich meinen, dass das Thema damit erledigt wäre. Deshalb hätten wir, glaube ich, heute eigentlich auch keine Aktuelle Stunde benötigt.

Herr Kollege Dr. Hachen, ich schätze Sie sehr, aber meine Fantasie reicht ehrlicherweise nicht dafür, dass jetzt – wo in Berlin gerade erst Sondierungsgespräche laufen und zu diesem Zeitpunkt völlig unklar war, in welche Richtung denn die Regierungsbildung geht; aber gerade auch vor der Entweihung des Immerather Doms – vonseiten des Konzerns so etwas gesetzt würde. An der Stelle versagt meine Phantasie.

(Beifall von der FDP)

Meine Damen und Herren, das Thema wäre eigentlich erledigt, wenn nicht gerade von politischer Seite gewollt wäre, dass diese Diskussion weitergeht. Da ist es nicht die Piratenpartei, die hier sozusagen als Steigbügelhalter für grüne Politik dient,

(Lachen von den PIRATEN)

sondern es ist die grüne Fraktion, die bewusst dieses Thema hier weiter forciert. Herr Priggen, es passt zu dem, was Sie auch nach der Wahl gesagt haben. Sie haben deutlich gemacht, dass Ihre Kollegen in Berlin mit der Finanzpolitik usw. die falschen Themen gesetzt haben und dass die Grünen wieder ihre Kernthemen in den Vordergrund stellen müssten. Dazu gehört für Sie natürlich der Kampf gegen die hiesige Braunkohle.

(Beifall von der FDP)

Deshalb verwundert es nicht, wenn Herr Kollege Priggen bewusst durch unterschiedliche Aussagen diese Diskussion in Gang hält. Erst am Mittwoch letzter Woche sagten Sie in der „Rheinischen Post“:

„Ich halte die angeblichen Gedankenspiele von RWE für eine Drohung als Begleitmusik für die Koalitionsverhandlungen.“

Das haben Sie bewusst gesagt, um sozusagen den Schwarzen Peter in der Diskussion an RWE zu schieben. Einen Tag später wurde durch eine Überschrift in der „Kölnischen Rundschau“ – „NRW-Grüne fordern das vorzeitige Aus für Garzweiler II“ – deutlich – das wurde gerade eben auch noch einmal durch die Aussagen der Kollegin Zentis deutlich –, dass die Grünen mit aller Macht verhindern wollen, dass die Braunkohlenförderung in Nordrhein-Westfalen weitergeht.

Ich zitiere aus der „Kölnischen Rundschau“:

„Die NRW-Grünen haben den Stromkonzern RWE aufgefordert, bisherige Pläne für den Braunkohlenabbau in Garzweiler schnell zu korrigieren und mehr als 3.200 Menschen eine Umsiedlung zu ersparen. Trotz der Dementis von RWE erwartet nämlich Grünen-Fraktionschef Reiner Priggen, dass der Konzern die Kohleförderung in Garzweiler zwischen 2017 und 2025 aus Kostengründen beenden wird.“

Meine Damen und Herren, Sie seitens der Grünen-Fraktion machen hier Politik mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger gerade in der betroffenen Region. Es ist unanständig, mit Angst Politik zu machen.

(Beifall von der FDP)

Letzten Endes wissen auch Sie ganz genau, dass es kein vorzeitiges Aus für den Braunkohlentagebau Garzweiler II geben wird. Der Tagebau ist Kernbestandteil der Unternehmensstrategie. Auch Ihnen sind die Studien bekannt, aufgrund derer die energiepolitische Notwendigkeit der Braunkohle bis weit über das Jahr 2030 belegt ist.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Zum Gelingen der Energiewende brauchen wir – da bin ich ganz sicher – den einzigen heimischen subventionsfreien Energieträger, die Braunkohle.

(Heiterkeit von den GRÜNEN und den PIRATEN)

Auch diese hat sich in der Vergangenheit immer an die veränderten Marktbedingungen angepasst. Deshalb bin ich mir auch sicher, dass sie dies auch im Hinblick auf das zukünftige Marktdesign tun wird.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns vernünftig und sachlich über die Energiepolitik sprechen, aber hören wir auf, mit Ängsten Politik gegen die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu machen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Brockes. – Für die Landesregierung spricht in Vertretung von Frau Ministerpräsidentin Kraft Herr Minister Duin.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der Piraten hat diese Aktuelle Stunde zur Zukunft des Braunkohlentagebaus Garzweiler II beantragt. Es ist jetzt schon mehrfach darauf Bezug genommen worden, dass sich der Anlass aus Medienberichten der vergangenen Tage ergibt, wonach RWE eine vorzeitige Stilllegung des Tagebaus Garzweiler II bis 2018 prüfe. In diesem Fall würden in der Stadt Erkelenz mehrere Umsiedlungen nicht mehr notwendig sein.

Zudem folgte ein an die Ministerpräsidentin gerichteter offener Brief der Stadt Erkelenz, der nach der Verlässlichkeit der Tagebauförderung und den damit verbundenen Planungen für Umsiedlungen in Erkelenz fragt. Die Stadt Erkelenz teilte weiter mit, ihrerseits bereits alle Arbeiten für weitere Umsiedlungen auszusetzen. Sie von der Fraktion der Piraten fordern nun Gewissheit über die Fortführung des Tagebaus und fragen nach der Zukunft der Braunkohle vor dem Hintergrund eines stetig steigenden Anteils der Erneuerbaren im Rahmen der sogenannten Energiewende.

Meine Damen und Herren, ich will das, was Herr Dr. Hachen und Frau Zentis insbesondere hier zum Ausdruck gebracht haben, bestärken. Wir alle müssen den größten Respekt vor den Menschen haben, die für den Braunkohlentagebau ihre Heimat verlassen und umsiedeln müssen. Wie schwer das ist, wie schwer den Menschen der Abschied von der alten Heimat fällt, wie groß ihr Opfer ist, konnten Sie am vergangenen Sonntag beim letzten Gottesdienst im Immerather Dom in Erkelenz sehen.

Deswegen seien Sie ganz sicher: Den offenen Brief der Stadt Erkelenz, die Sorgen der Menschen und die berechtigten Interessen der Erkelenzer Umsiedlerinnen und Umsiedler werden von der Landesregierung sehr ernst genommen. Aus diesem Grunde sind wir in intensiven Gesprächen mit dem Braunkohlenausschuss bei der Bezirksregierung Köln, der Stadt Erkelenz und dem Unternehmen RWE, um dauerhafte Planungsklarheit zu schaffen.

Wir müssen nicht immer Medienberichte oder auch Presseerklärungen von Unternehmen kommentieren. Aber jeder hat mitbekommen – darauf ist schon Bezug genommen worden –, dass das Unternehmen RWE die Medienberichte, insbesondere ausgelöst von der „Süddeutschen Zeitung“, über ein vorzeitiges Aus bereits zurückgewiesen hat.

Bei den Umsiedlungsentscheidungen in Erkelenz werden wir deshalb den bewährten Verfahrens- und Entscheidungsweg nicht verlassen. Das war bei den ersten Umsiedlungen für Garzweiler II in Erkelenz so, und Sie wissen, dass dies auch vor wenigen Monaten bei der Umsiedlung für den weiteren planmäßigen Abbau im Tagebau Hambach der Fall gewesen ist.

Wir alle wollen eine nachhaltige Stromversorgung mit einem schnellstmöglich steigenden Anteil an erneuerbaren Energien. Gleichzeitig braucht besonders das Industrieland Nordrhein-Westfalen Versorgungssicherheit. Das heißt, auch wenn Wind nicht weht, Sonne nicht scheint, muss Stromversorgung jederzeit sichergestellt sein.

(Beifall von Holger Ellerbrock [FDP])

Bis eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien vollumfänglich möglich sein wird, ist eine Ergänzung durch möglichst hocheffiziente und flexible fossile Kraftwerke notwendig.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von der CDU – Beifall von Holger Ellerbrock [FDP])

Dabei ist auch klar, dass die Braunkohle noch länger eine Rolle im Energiemix spielen wird. Das haben wir übrigens für die letzte Umsiedlungsentscheidung – so gehören beide Debatten doch eng miteinander zusammen – für Morschenich im Mai dieses Jahres für den Tagebau Hambach gesagt. Ich zitiere aus dem Genehmigungserlass, so wie es Herr Schmeltzer auch getan hat, um es vor Augen zu führen. Dort heißt es:

„Aufgrund Ihrer Bedeutung für die Versorgungssicherheit und zur Preisstabilität bleibt die Braunkohle in Nordrhein-Westfalen trotz der von ihr ausgehenden Umweltbelastungen auch für den hier betrachteten Zeitraum ein wesentlicher Bestandteil des Energiemixes und damit erforderlich.“

Klar ist aber auch – und so ist auch das in der Koalition eindeutig verabredete Ziel –, dass Effizienzsteigerungen bei RWE auch dazu führen müssen, die Kohleförderung entsprechend der Effizienzgewinne schrittweise zu senken und die absoluten jährlichen CO2-Emissionen im rheinischen Revier kontinuierlich zu reduzieren.

Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund werden wir – ich habe es gerade schon angedeutet – auch weiterhin an der bewährten Praxis im Umsiedlungsgeschehen festhalten. Für Erkelenz bedeutet das:

Erstens. Das gesetzlich vorgesehene Braunkohlenplanverfahren zur Umsiedlung der nächsten Erkelenzer Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich sowie Berverath wurde noch nicht begonnen. Die in den vergangenen Jahren schon geleisteten Arbeiten der Stadt Erkelenz und der Bezirksregierung Köln bereiten dieses Verfahren erst vor.

Zweitens. Wenn der Braunkohlenausschuss als Sach- und Verfahrensherr über das Verfahren im Jahr 2014 über das gesetzliche Erarbeitungsverfahren für die nächste Erkelenzer Umsiedlung entscheidet, wird das Land im Zuge dieses Planungsverfahrens dann zu den energiepolitischen und energiewirtschaftlichen Erfordernissen des Braunkohlenabbaus und der Notwendigkeit von Umsiedlungen sowie der Grundannahmen Stellung nehmen.

Drittens. Eine abschließende Entscheidung über die Umsiedlung kann rechtlich erst mit der Genehmigung des vom Braunkohlenausschuss aufgestellten Braunkohlenplans getroffen werden. Dies wäre voraussichtlich erst Mitte Mai 2015 der Fall.

Meine Damen und Herren, die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ mit dem einhergehenden Dementi von RWE kann und darf dieses sehr transparente und juristisch eindeutige Verfahren eben nicht je nach Windrichtung beeinflussen. Durch genau dieses Verfahren werden die Voraussetzungen für verlässliche Politik geschaffen, auch und gerade für die betroffenen Menschen im Revier. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister Duin. – Für die CDU-Fraktion spricht der Kollege Kufen. Herr Kollege Kufen, Ihnen wird wahrscheinlich die Technik gleich anzeigen, dass Sie gar keine Redezeit mehr hätten.

(Beifall von der SPD)

Sie haben natürlich acht Minuten. Ich werde mir erlauben, nach sieben ein kleines Signal zu geben, damit Sie sich orientieren können, wie weit Sie mit dem Redezeitkontingent sind. – Bitte schön.

Thomas Kufen (CDU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Schmeltzer freut sich auch über das Signal, wenn sich meine Redezeit dem Ende neigt. So habe ich gerade den Beitrag verstanden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich fand an dem Wortbeitrag des Kollegen Hachen sehr beeindruckend, wie er die Situation vor Ort beschrieben hat, was in den Menschen vorgeht, aber auch wie sich die Menschen auf die neue Situation eingerichtet haben. Deshalb lassen Sie mich ganz zu Beginn für die CDU-Fraktion völlig unzweideutig feststellen: Spekulationen über ein vorzeitiges Aus beim Tagebau Garzweiler II sind unverantwortlich.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das gilt sowohl für Unternehmen als auch für öffentliche Meinungsmache in den Medien, als auch für die Politik. An dieser Stelle steht nämlich Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit ganz oben an. Darauf haben die Bürgerinnen und Bürger gerade in der betroffenen Region einen Anspruch, und diesbezüglich haben sie eine klare Erwartung. Diese formulieren Sie eben nicht nur an irgendein Unternehmen oder im Zusammenhang mit irgendeiner Zeitungsmeldung, ob sie jetzt stimmt oder nicht, sondern, Herr Minister, diese Erwartung wird an Sie und an uns alle hier adressiert. Deshalb ist es auch ein politisches Thema und nicht nur eine Frage, wie wir es rechtlich bewerten.

(Beifall von der CDU)

Daher lassen Sie mich einmal die rechtliche Bewertung sehen, aber bei der politischen Bewertung etwas ganz klarmachen. Ich habe sehr aufmerksam verfolgt, was Kollegin Zentis vorgetragen hat, will aber deutlich machen, dass das etwas anderes ist als das, was Herr Kollege Hachen ausgeführt hat.

Eines ist deutlich: Die Grünen haben einen Beschluss über einen schrittweisen Kohleausstieg und streben bis 2030 den kompletten Umstieg auf die erneuerbare Stromversorgung an. Das heißt, es muss frei sein von Kohle. Kohle ist nach Atom und Erdöl die nächste Ressource, die aus unserem Energiemix verschwinden muss. – So die Beschlussfassung von Bündnis 90/Die Grünen.

(Zuruf von den PIRATEN: Bravo!)

Ich weiß allerdings nicht, ob es aufgrund dieser Beschlusslage angetan ist, Frau Kollegin Zentis, sich in die erste Reihe zu stellen und über Sozialpläne bei RWE zu spekulieren, ob sie nun gut sind oder nicht. Ich glaube, dass Sie bei Ihrer Beschlussfassung vielleicht auch mehr die betroffene Region und die Arbeitsplätze bei RWE hätten im Blick haben müssen, als nur über den Ausstieg aus der Kohle zu spekulieren.

(Beifall von der CDU und der FDP – Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Lassen Sie uns ganz klar machen: Das Spekulieren ist unanständig. Es geht um Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit. Da müssen wir entsprechend einstehen. Herr Minister, ich hätte mir heute von Ihnen, vor allem, da Sie nicht als Wirtschaftsminister, sondern in Vertretung der Ministerpräsidentin sprechen durften, politisch eine deutlichere Klarheit gewünscht.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Insofern kann ich heute wieder feststellen: Bei Minister Duin ist immer viel Umsatz, aber kein Gewinn.

(Beifall von der CDU)

Eines ist völlig klar: Angesichts der Sätze, die Sie am 9. Oktober 2013 in der „Rheinischen Post“ formuliert haben, bin ich mir nicht sicher, Herr Minister, ob Sie zu jeder Tages- und Nachtzeit Ihre Regierungskoalition beisammenhalten können. Sie sagten nämlich:

„Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir in Deutschland die konventionellen Energieträger, insbesondere die heimische Braunkohle, noch länger brauchen. Sie liefern einen unverzichtbaren Backup für die Energiewende.“

(Beifall von der CDU)

Das ist völlig klar. Insofern ist deutlich, dass beim Thema Energie, ob beim Thema Datteln, beim Klimaschutzgesetz, bei Kohle, bei der Rolle der energieintensiven Industrien, in dieser Landesregierung die Körpersprache nicht stimmt. Sie laufen nicht synchron,

(Zuruf von Minister Ralf Jäger)

weil Sie sich offensichtlich sehr stark an Formulierungen im Koalitionsvertrag klammern, weil das ist, was am Ende nicht mit Leben im politischen Handeln gefüllt werden konnte. Insofern geht es um die nachhaltige Perspektive für das rheinische Revier. Da nur den Pressesprecher verlautbaren zu lassen, ja, das geht jetzt alles seinen Gang, 2014, 2015 haben wir dann Klarheit, ist nicht das, was die Menschen in der Region hören wollen, völlig klar.

(Beifall von der CDU)

Das geht einher mit der Performance, mit der diese Landesregierung auch in Karlsruhe bei den Verhandlungen aufgetreten ist. Das konnten wir in den „Aachener Nachrichten“ nachlesen. Da spricht dann der SPD-Staatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium von der Bedeutung der Braunkohle als heimischer Energieträger, der hervorgehoben werden muss, und der Kollege Knitsch aus dem Remmel-, aus dem Klimaschutzministerium sagt, dass die Braunkohle zukünftig keine Rolle mehr spielen wird. Das ist genau der Widerspruch in Ihrem Handeln.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Das ist genau das, was die Menschen vor Ort jetzt am wenigsten brauchen können. Insofern lassen Sie uns gemeinsam deutlich machen, dass wir eine Perspektive für das rheinische Revier brauchen, dass wir für Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit einstehen, dass wir auch auf Vertragstreue beim Unternehmen RWE drängen werden.

Meine Erfahrung – da unterscheide ich mich auch von der Kollegin Zentis – ist insbesondere im Zusammenhang mit dem RWE-Unternehmen in der Vergangenheit eine andere gewesen. Sie haben ein Zerrbild gezeichnet. Ich habe den Anspruch, ich habe auch die Erwartung und ich habe die Sicht auf diese Dinge, dass das Unternehmen RWE seinerseits die entsprechenden Verabredungen einhalten wird, ja einhalten muss im Interesse der Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit.

(Beifall von Josef Hovenjürgen [CDU] und Karl-Josef Laumann [CDU])

Deshalb ist das nicht nur irgendeine Zeitungsmeldung, sondern schon die Frage, wie wir als Politik damit umgehen. In diesem Landtag gibt es eine klare Mehrheit für Deutlichkeit, was den Energiemix mit einem Anteil der Braunkohle angeht. Es gibt eine klare Perspektive, dass die Verträge eingehalten werden müssen, weil wir sonst als Politik das größere Ziel nicht erreichen werden, nämlich die Energiewende, bei der es nicht nur um Klimaschutz geht, sondern auch um Bezahlbarkeit oder um Versorgungssicherheit. Mit Blick auf die Versorgungssicherheit können wir insbesondere auf die Braunkohle nicht verzichten.

Herr Minister, das ist genau das, was wir als Nordrhein-Westfalen in die Gespräche bei einer neuen Bundesregierung zum Thema Energiepolitik einbringen müssen. Auch da würde ich mir von Ihrer Seite einen stärkeren Akzent wünschen, was denn unsere eigenen Ansprüche an eine Energiewende sind, statt immer nur in einer Ping-Pong-Manier zu schauen: Was machen die Nordländer? Was machen die Südländer? Nein, es geht für die nordrhein-westfälische Landesregierung darum zu formulieren, was unsere eigenen Ansprüche für ein Gelingen der Energiewende sind.

(Beifall von der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kufen, Sie haben jetzt noch eine Minute.

Thomas Kufen (CDU): Ich stelle fest: Bis auf Formelkompromisse und schöne Interviews ist bisher noch wenig Handeln zu sehen. Wir haben in dieser Wahlperiode noch ein bisschen Zeit. Wir werden das gemeinsam hinbekommen. Ich wünsche der Frau Ministerpräsidentin aktuell ein schönes Sondieren mit gutem Ausgang. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kufen. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Thiel. Auch bei Ihnen schlägt die Technik zu. Sie wird Ihnen fünf Minuten Redezeit anzeigen, Sie haben aber sieben Minuten Redezeit.

Rainer Christian Thiel (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die letzten Reden verfolgt hat, insbesondere wenn man Herrn Kufen und vorher Herrn Dr. Hachen gehört hat, fragt man sich: Wer hat jetzt für die CDU gesprochen?

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wenn beide für die CDU gesprochen haben, dann gilt wohl auch, dass hier leichte Zweifel an der Zukunft des Bergbaus von Dr. Hachen gesät werden. Die Frage, ob die CDU sich ein Hintertürchen aufhält, um hinterher mit dabei zu sein, das ist eine Frage, die offen in den Raum gestellt worden ist.

(Beifall von der CDU)

Die CDU macht den Versuch, der Landesregierung ein Bonbon anzukleben, was gar nicht an diese Jacke gehört.

Garzweiler II ist mal wieder im Gerede. Das ist nichts Neues. Manch einer sehnt auch das Ende des Tagesbaus geradezu herbei. Je weiter weg vom Geschehen, umso klarer und einfacher scheint die Meinungsbildung dazu zu sein.

Schon vor 20 Jahren kannten wir das. Damals wurde das Aus von Garzweiler II gerne diskutiert. Es kam aber anders. Jetzt, nachdem der Tagebau in vollem Gange ist, wäre das Aus von Garzweiler II kein später Sieg derjenigen, die schon immer dagegen waren, meine Damen und Herren. Der Stopp des laufenden Tagebaus Garzweiler II wäre eine Katastrophe für die ganze Region und hätte unabsehbare Folgen.

(Beifall von Thomas Kufen [CDU])

Der seit Jahrzehnten stattfindende Braunkohletagebau im Rheinischen Revier beruht auf einem Versprechen, das den Menschen unserer Region gegeben wurde. Dieses Versprechen lautet: Der Tagebau ist notwendig, weil der Strom für die Energieversorgung in Deutschland gebraucht wird. Ein nationales Interesse! Der Tagebau wird auf klarer rechtlicher Grundlage ordentlich durchgeführt. Die Betroffenen werden beteiligt. Nach dem Tagebau wird die Landschaft wiederhergestellt, ordentlich rekultiviert, ein Restsee angelegt, und es werden neue Perspektiven eröffnet.

Das ist die Grundlage für die Akzeptanz dessen, was im Rheinischen Revier passiert. Wer das infrage stellt, der begeht Vertrauensbruch den Menschen gegenüber, die dort leben und Verunsicherungen, Ängsten und Zweifeln ausgesetzt sind. Es ist eine Zumutung, in solch existenziellen Fragen Spielball öffentlicher Spekulationen zu sein.

(Vorsitz: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg)

Wer denkt an die Menschen, die von Umsiedlung betroffen sind, sich seit vielen Jahren damit auseinandersetzen, gerade eine Heimat neu planen und nun regelrecht mit der Frage gequält werden, ob das noch Sinn hat? Wer denkt an die Arbeitnehmer und ihre Familien, die Angst um ihre Zukunft haben und jetzt gute Arbeit – gute Arbeit, die wir alle wollen – mit ordentlichen Tarifverträgen, guten Arbeitsbedingungen und guten Ausbildungsplätzen haben? Über 40.000 Menschen in ganz Deutschland leben letztendlich vom Rheinischen Revier.

Wer denkt an den örtlichen Einzelhandel? Der Vorsitzende des Werberings Grevenbroich drückt das wie folgt aus:

„Tagebau und Kraftwerke sind ein Wirtschaftsfaktor für die Stadt … Ein Ausstieg wäre von existenzieller Bedeutung.“

Damit hat er recht.

Schauen wir uns einmal die Fakten an. Die direkte Nachfrage, die durch rheinische Braunkohle ausgelöst wird, beträgt 1,9 Milliarden €. Bundesweit löst dies weitere 3,7 Milliarden € aus. Das meiste bleibt in Nordrhein-Westfalen, nämlich 2,6 Milliarden €, davon gut 1 Milliarde € im Rheinischen Revier.

Damit hat die Energieindustrie im Rheinischen Revier einen guten Beitrag geleistet, dass Deutschland besser durch die Finanzkrise gekommen ist als andere Länder. In vielen Reden wird auch honoriert, dass diese Industrie ihren Beitrag zu Wohlstand, Beschäftigung und wirtschaftlicher Stabilität leistet.

In Blickweite des Tagebaus und der Kraftwerke – es geht hier nicht nur um Erkelenz, sondern um das ganze Revier, möchte ich noch einmal betonen – befinden sich weitere Industrien: der CHEMPARK, Aluminiumwerke, Maschinenbau, Dienstleister und andere Branchen. Für sie ist Versorgungssicherheit, also ständige Verfügbarkeit von Strom, ein wichtiger Standortfaktor. Nur eine Sekunde Stromausfall bedeutet für prozessorientierte Produktion und automatisierte Verfahren ein großes Risiko. Das kann richtig ins Geld gehen.

Wir haben eine Verantwortung für unseren Industriestandort in Nordrhein-Westfalen und vor allen Dingen im Rheinischen Revier. Wir wollen die Energiewende auch im Rheinischen Revier. Wir verstehen uns als Partner. Wir wissen, dass Braunkohle nicht unendlich ist und dass sie auch nicht ewig gebraucht wird. Darum kümmern wir uns schon jetzt um eine vorausschauende Strukturpolitik. Rot-Grün hat die Innovationsregion Rheinisches Revier ins Leben gerufen. Damit wir Erfolg haben können, brauchen wir verlässliche Rahmenbedingungen. Das gilt für den Tagebau genauso wie für die Kraftwerkserneuerung.

Wir begrüßen, dass der Vorstandsvorsitzende der RWE AG, Peter Terium, sehr schnell klargestellt hat, dass der Tagebau unverändert fortgeführt wird und fester Bestandteil der Zukunftsplanung des Unternehmens ist. Wir begrüßen auch, dass die RWE AG der Stadt Erkelenz ausdrücklich schriftlich erklärt hat, dass es weitergeht, sodass man sich dort darauf einstellen kann.

In Berlin müssen die Rahmenbedingungen in Ordnung gebracht werden. Hier im Rheinischen Revier versteht niemand,

–   dass Strom immer teurer wird und die Kraftwerke immer unrentabler werden,

–   dass diese Kraftwerke Versorgungssicherheit bei der Energiewende gewährleisten sollen, aber als Dreckschleudern diffamiert werden,

–   dass jedes Bundesland seine eigene Energiewende betreibt, aber niemand weiß, wie das zusammenpasst.

Gerade wir im Rheinischen Revier brauchen Klarheit. Wir wollen endlich den Masterplan zur Energiewende.

Meine Damen und Herren, es gibt nichts Gutes, außer man tut es. In diesem Sinne sage ich diesem Hause „Glück auf!“ und den Menschen zu Hause im Revier „Passt auf!“

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Thiel. – Für die FDP-Fraktion spricht der Abgeordnete Ellerbrock.

Holger Ellerbrock (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer Bemerkung beginnen. Kollege Schmalenbach, Sie haben hier gesagt, das Emissionshandelssystem sei gescheitert, weil nicht genug Geld hereinkomme. Nein! Der Erfolg des mengensteuernden Emissionshandelssystems zeigt sich darin, dass wir niedrige Zertifikatspreise haben; denn europaweit ist die Emission gedeckelt. Wenn man das Emissionshandelssystem aufgrund des niedrigen Zertifikatspreises als gescheitert bezeichnen müsste, wäre es dazu missbraucht worden, unter Vorwand umweltpolitischer Gründe Finanzmittel zu generieren. Und das wäre schlimm.

Herr Minister Duin, mir wäre es lieber gewesen, wenn Sie Ihre Worte etwas klarer gefasst hätten. Ich habe Sie – vielleicht liegt das an meiner Vergangenheit als Verwaltungsmann – wie folgt verstanden: Ja zur Braunkohle. Wir werden das aber bei der nächsten Umsiedlungsentscheidung Schritt für Schritt überprüfen, wie es im Gesetz vorgesehen ist. Unter heutigen Gesichtspunkten ist Braunkohle aber nach wie vor auf lange Dauer für die Energieversorgung im Sinne der Versorgungssicherheit notwendig.

(Beifall von der FDP)

Diese Aussage hätte ich mir etwas deutlicher gewünscht. Ich habe Sie aber so verstanden. Vielleicht ist das ja einem gewissen Spannungsfeld innerhalb der Koalition geschuldet. Sie haben aber nicht als Wirtschaftsminister gesprochen, sondern als Vertreter der Ministerpräsidentin, die die Leitlinien der Politik vorgibt. So verstehe ich das jetzt erst einmal.

Meine Damen und Herren, ich war selbst einmal im Bereich der Braunkohlenplanung beschäftigt. Ich weiß, dass die ethische Frage, was wir Menschen zugunsten des Allgemeinwohls zumuten können, die Verwaltung und die Politik umgetrieben hat. Das galt für die damaligen Kollegen Maatz und Wittmann; das galt für die Staatssekretäre Ritter und Adamowitsch; das galt für die Minister Höhn und Matthiesen. Die Frage, was man den Menschen zumuten kann, hat sie nicht beschäftigt; diese Frage hat sie umgetrieben, und zwar auf breiter Basis.

Letztendlich sind wir zu der Entscheidung gekommen: Jawohl, Garzweiler II, das ist zumutbar; das ist notwendig.

Sämtliche Klagen – 1987 ist das Verfahren begonnen worden – sind gescheitert, bis auf die jetzige Klage des BUND und einer Privatperson vor dem Bundesverfassungsgericht. Das ist ausdiskutiert. Es ist also verantwortbar, es ist gerechtfertigt.

Wenn die Energiewende gelingen soll, dann geht es neben der Frage der Versorgungssicherheit auch um die Frage der Bezahlbarkeit. Die Landesregierung selbst hat ein gerüttelt Maß dazu beigetragen, die wettbewerbsorientierten Gesichtspunkte zu verschlechtern, Herr Minister Duin.

Das Wasserentnahmeentgelt für Kühlwasser wurde von 4,5 auf 5 Cent/m³ erhöht. Das soll jetzt auch für Sümpfungswasser gelten. Die Entscheidung hat das Verwaltungsgericht Arnsberg vor einer Woche wesentlich bemängelt, indem es gesagt hat: Dem Grunde nach kann man das auch auf Sümpfungswasser beziehen, aber doch nicht in dieser Höhe, sondern in einer Höhe von maximal 0,35 Cent/m³. – Das ist noch nicht ausgeurteilt. Aber hier hat die Landesregierung selbst einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Braunkohle zu verschlechtern. Das muss man auch sagen.

Meine Damen und Herren, wem nutzt es, die langfristige Orientierung von Garzweiler infrage zu stellen? Ich kann mir nicht vorstellen – da teile ich die Ansicht meines Kollegen Dietmar Brockes –, dass es RWE selbst gewesen sein soll; dazu fehlt mir die Fantasie. Die Leute da sind nach meiner Kenntnis und Erfahrung, nach meinem Empfinden ganz vorsichtig. Kann es jemand anders sein? – Ja, die Grünen haben eine langfristige Orientierung und sagen: 2030 Schichtende. – Vorsicht an der Bahnsteigkante! Biedermeier und Brandstifter! Hier im Koalitionsvertrag …

(Zurufe von den GRÜNEN: Oh!)

– Ja, Leute, ihr müsst euch mal auf der Zunge zergehen lassen, was im Koalitionsvertrag steht und wie im Gegensatz dazu das tägliche Handeln aussieht. Das ist ein Spagat, der auseinanderbricht. Das ist schwierig. Das muss man sich mal vor Augen halten.

(Beifall von der FDP)

Das, was mich dabei umtreibt, ist – das ist der Grund, weswegen ich Politik mache –: Keine Politik mit der Angst der Menschen! Wenn wir vor Ort zündeln und die Menschen weiter in Unruhe versetzen, ihre Lebensperspektive infrage stellen, dann haben sie weniger Lebensfreude und werden eher krank. Das kann man nicht machen, das ist verwerflich! Man muss ihnen eine verlässliche Perspektive aufzeigen.

Diese Verlässlichkeit muss natürlich an die Rahmenbedingungen angepasst werden. Deswegen ist es richtig, bei jeder neuen Umsiedlungsentscheidung nachzufragen: Stimmen die energiepolitischen Rahmenbedingungen? Das wird ja auch gemacht, siehe Landesplanungsgesetz.

Aber dahinter stehen Menschen, Kollege Priggen. Diese bewusst in Zweifel zu setzen, deren Lebensperspektive infrage zu stellen, das halte ich für unmenschlich, für verwerflich.

Ich teile die Ansicht meines Kollegen Bombis, der in der „Kölnischen Rundschau“ gesagt hat: Ja, wir müssen Klarheit von allen Seiten für alle Seiten schaffen. – RWE hat das deutlich gemacht. Der Minister hätte es eben noch deutlicher sagen können. Vielleicht kann er das in der zweiten Rederunde noch einmal versuchen. Wir müssen den Menschen eine Perspektive aufzeigen. Das heißt, verantwortlich zu handeln, und nicht, die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen. – Schönen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Ellerbrock. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Brems.

Wibke Brems (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal frage ich mich, Herr Kufen, wer hier nicht synchron läuft. Für mich ist das eher die CDU. Erst durfte Ihr Wahlkreisabgeordneter die Betroffenheit vor Ort darstellen, dann haben Sie als energiepolitischer Sprecher aber klargemacht, dass alles so weitergehen soll wie bisher, Energiewende hin oder her. Das ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Werfen wir doch einen Blick zurück. Anfang der 90er-Jahre hat sich die Politik in Nordrhein-Westfalen mit der Genehmigung zum Tagebau Garzweiler II beschäftigt. Ich saß währenddessen noch im Matheunterricht und habe mich mit den Binomischen Formeln beschäftigt. Deshalb kann ich nicht aus eigener Erinnerung dazu sprechen wie Herr Ellerbrock.

Gucken wir uns die Situation einfach sachlich an. Herr Ellerbrock, Sie sind damals, vor mehr als 20 Jahren, zu einem Ergebnis gekommen. Das ist so lange her. Schauen wir uns doch mal an, wie sich die Welt seitdem verändert hat.

Erster Punkt: Klimaschutz. Klimaschutz stand damals nicht gleichwertig neben der Versorgungssicherheit, wie Herr Schmalenbach es eben schon angedeutet hat. In den 90er-Jahren wurde stark vermutet, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt, es gab keinerlei internationale Vereinbarung. Heute ist der menschengemachte Klimawandel zweifelsfrei nachgewiesen. Heute ist klar, dass die deutschen Klimaschutzziele nicht durch eine Effizienzsteigerung von Kraftwerken, sondern durch die Reduzierung der Verbrennung von Kohle und Öl und durch einen konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien bei der Strom? und Wärmeversorgung und beim Verkehr erreicht werden. Dass wir im Übergang flexibel regelbare Kraftwerke brauchen, ist klar. Aber nur mit einem konsequenten Umstieg auf die erneuerbaren Energien ist dem Klimawandel entgegenzutreten.

Kommen wir zu den harten Fakten, die die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das Unternehmen RWE verändert haben.

Gucken wir uns doch mal an, wie die Anteile der erneuerbaren Energien Anfang der 90er-Jahre aussahen. Im Bund hatten die erneuerbaren Energien einen Anteil von 3,6 %, in Nordrhein-Westfalen sogar von nur 0,4 %. Im Jahr 2011 – das sind die aktuell belastbarsten Zahlen, die wir haben – lagen wir im Bund bei 20,3 % und in NRW bei 7,7 %; in NRW haben wir noch viel vor uns. Daran sieht man, dass damals noch viel vor uns lag, was man seinerzeit nicht abschätzen konnte. Auch damalige Prognosen zu erneuerbaren Energien, beispielsweise grüne Prognosen, die gerne als Utopie verschrien waren, wurden deutlich übertroffen. All das hat sich in den letzten mehr als 20 Jahren verändert.

Gucken wir uns doch mal den Strommarkt an. Anfang der 90er-Jahre gab es keinen freien Markt, keine Strombörse. Es gab ein staatlich reglementiertes Oligopol und die vier großen Energieversorgungsunternehmen, die die Energieversorgung maßgeblich geprägt haben und in Händen hielten.

Bei den erneuerbaren Energien haben die vier großen Energieversorgungsunternehmen heute nur noch einen Eigentumsanteil von 6,5 %. Mehrheitlich sind die erneuerbaren Energien in den Händen der Verbraucherinnen und Verbraucher selbst.

Wenn wir all diese Beispiele nehmen, uns einmal kurz rückwärts wenden und schauen, wo wir angefangen haben und im Vergleich dazu heute stehen, dann wird deutlich, dass es heute eben neue, veränderte Bedingungen gibt.

Bei diesen neuen Bedingungen innerhalb eines veränderten Marktes muss sich RWE endlich neu aufstellen und für Klarheit für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen. RWE muss angesichts dieser klar veränderten Rahmenbedingungen vor allem aber – wie es meine Kollegin Gudrun Zentis vorhin schon eindrucksvoll beschrieben hat – für die Betroffenen vor Ort Klarheit schaffen und endlich den Anschluss an die Energiewende finden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Brems. – Für die Fraktion der Piraten spricht der Kollege Rohwedder.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer auf der Tribüne und draußen im Stream! Ich kann mich den letzten Sätzen von Frau Brems nahtlos anschließen.

RWE überlegt jetzt den Ausstieg aus Garzweiler, wie wir aus den Medien erfahren haben. Das Ganze wird begleitet durch halbherzige Dementis von RWE.

Es ist gut, dass die Energiewende schon begonnen hat. Und gerade weil sie schon begonnen hat – und trotz aller Sabotageversuche insbesondere aus Berlin –, führt sie zu massiven Schwierigkeiten für den ökologisch, gesamtwirtschaftlich und sozial schädlichsten aller fossilen Brennstoffe, nämlich die Braunkohle.

Die großen Tagebaue führen zu großen Problemen und geradezu irrwitzigen Ewigkeitsschäden. Genau das ist die von Herrn Brockes, von der FDP eben „subventionsfrei“ genannte Braunkohle. Diese Braunkohle, lieber Herr Brockes, ist genauso subventionsfrei wie Ihre Partei, die FDP. Mindestens!

(Beifall von den PIRATEN und den GRÜNEN)

Wir sehen, dass eine uralte Kulturlandschaft vernichtet wird. Wertvolle Parabraunböden, entstanden auf Lössgrundlage in 12.000 Jahren Bodenbildung nach der Eiszeit, werden zerstört. Das ist ein Ewigkeitsschaden, der durch die Kunstböden, die auf den Tagebau folgen, nicht annähernd aufgewogen werden kann.

Die Grundwasserabsenkungen führen zu Bergschäden, auch außerhalb des direkten Tagebaugebietes. Die danach folgende Wiederherstellung des alten Grundwasserniveaus behebt die Schäden nicht, sondern verstärkt sie nur noch.

Die Grundwasserabsenkungen haben auch Folgen für den internationalen Naturpark Maas-Schwalm-Nette, einschließlich wertvoller FFH-Gebiete unter besonderem Schutz, deren Bestand von der Landesregierung eigentlich garantiert wurde.

Das Verbrennen von Braunkohle hat einen enormen Ausstoß an Kohlendioxyd, Feinstaub und diversen weiteren Schadstoffen zur Folge.

Der Tagebau bringt schwefelhaltige Sedimente an die Oberfläche. Durch Luftsauerstoff und Wasser, durch Niederschläge und Wiederanhebung des Grundwasserspiegels nach Abschluss des Tagebaus kommt es dann zu Versauerungen mit Auswirkungen auf die zukünftige Trinkwasserversorgung.

Zwangsumsiedlungen, Heimatvertreibungen zerstören gewachsene soziale Strukturen. Mehrere Zehntausend Bürger in NRW werden durch die gesamten Tagebaue betroffen sein. Die Entrechtung durch das herrschende Bergunrecht, das Grundrechte bricht, führt zu verständlicher Enttäuschung über einen Rechtsstaat, der hier nur das Recht des Stärkeren kennt.

(Zuruf von der SPD: Wirres Zeug!)

Zwangsumsiedlungen aus gewachsenen Kulturlandschaften in identitätslose, künstlich entworfene Siedlungen sind sozial nicht verträglich.

Und jetzt werden die Bürger, die sich gerade schweren Herzens mit dem Verlust ihrer Heimat abgefunden haben und in diese Situation hineingezwungen wurden, erneut verunsichert. Ein zynisches und schäbiges Spiel mit diesen tief verwurzelten und genauso tief verunsicherten Menschen wird hier betrieben, begleitet von den üblichen Propagandalügen zur Energieversorgung und ihren Kosten.

FUD, wie die Engländer sagen: Fear, Uncertainty and Doubt – Furcht, Unsicherheit und Zweifel – werden gesät durch RWE und ihre Propagandisten.

(Zuruf von der FDP: Dummes Zeug!)

Herr Dr. Hachen von der CDU hat als Betroffener in beeindruckender Weise dargelegt, welche sozialen und menschlichen Auswirkungen diese Schäbigkeiten dort haben.

Und während die Betroffenen, die Bürger, die Umweltorganisationen schon lange klare Kante zeigen, ist die Haltung der Landesregierung indifferent.

Wir fordern Sie auf – die Landesregierung und die regierungstragenden Fraktionen –, den schönen Worten zu Klimaschutz und Energiewende endlich harte Tatsachen folgen zu lassen.

(Beifall von den PIRATEN)

Das gilt nicht nur für Garzweiler. Sie haben wahrlich Baustellen genug hier im Lande. Fangen Sie endlich ernsthaft an!

Wir Piraten stehen für Nachhaltigkeit und eine beschleunigte Energiewende, den Ausstieg aus fossiler Technologie, für Klima- und Umweltschutz. Wir fordern die Abschaffung des Bergrechts und die Einführung eines Umweltgesetzbuches, einschließlich dreidimensionaler Raumplanung.

Die regierungstragenden Fraktionen haben hier im Landtag dagegen gestimmt, als wir diese Forderungen im Zusammenhang mit Fracking das erste Mal einbrachten. So sähe aber ein verantwortliches Vor-gehen aus, das Herr Schmeltzer von der SPD vorhin eingefordert hat; es umfasst genau die Punkte, die von uns eingebracht wurden.

Wie nötig, richtig und aktuell diese Forderungen sind, das zeigt sich gerade jetzt an den Entwicklungen um Garzweiler. Die Nachricht, RWE überlege den vorzeitigen Ausstieg aus Garzweiler II, ist ganz entschieden eine gute Nachricht. Diese Überlegungen verdienen unsere volle Unterstützung. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rohwedder. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Duin.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegen von CDU und FDP, die nach mir gesprochen haben, haben gesagt, es sei an der einen oder anderen Stelle meiner Rede irgendetwas unklar gewesen, sie seien sich nicht ganz sicher, was ich gemeint habe. Das ist der Vorteil, wenn man in Vertretung der Ministerpräsidentin hier sein darf: Das ist sehr genau aufgeschrieben. Das wiederhole ich gerne.

Ich glaube, Sie haben meine Ausführungen doch verstanden, auch beim ersten Anlauf. Wir werden das im Protokoll nachlesen. Rein akustisch klang es so, dass es an der einen oder anderen Stelle Beifall von ganz unterschiedlichen Stellen des Hauses gegeben hat. Das hat vielleicht – deswegen lese ich es noch einmal vor – etwas mit den ganz konkreten Aussagen zu tun gehabt.

Ich habe gesagt:

„Auch wenn Wind nicht weht, Sonne nicht scheint, muss Stromversorgung jederzeit sichergestellt sein. Bis eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien vollumfänglich möglich sein wird, ist eine Ergänzung durch möglichst hocheffiziente und flexible fossile Kraftwerke notwendig. Dabei ist auch klar, dass die Braunkohle noch länger eine Rolle im Energiemix spielen wird.“

Daran kann man nichts nicht verstehen; das ist sehr eindeutig und klar.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zurufe von der CDU)

Herr Kufen, wenn Sie sich die bisher gültigen Konzeptionen, die jetzt hoffentlich sehr schnell und mit größtmöglicher Klarheit überarbeitet werden, anschauen, dann sehen Sie, dass es daran überhaupt keinen Zweifel geben kann.

Sie fragen, was denn hier die Linie sei, mit der man agiere. Dazu will ich nur mal in Erinnerung rufen, dass es diese Landesregierung – dieser Umweltminister gemeinsam mit diesem Wirtschaftsminister – gewesen ist, die zu Beginn dieses Jahres in aller Klarheit dafür gesorgt hat, dass es keinen Eingriff in den Bestand und in die Förderung des bestehenden Ausbaus der erneuerbaren Energien gegeben hat. Das war seitens der Bundesregierung von Herrn Altmaier und Herrn Rösler vorgeschlagen worden, und wir haben diesen Punkt ganz klar nicht zugelassen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Wir haben außerdem dafür gesorgt, dass unsere Industrie in Nordrhein-Westfalen nicht durch eine entsprechende Anhebung von Mindestumlagen und ähnliche Dinge zusätzlich belastet wird. Auch das lag als Vorschlag auf dem Tisch.

(Beifall von der SPD)

Wir sind uns sehr einig und sehr klar in der Abstimmung und haben in der Tat eine durchaus besondere Rolle, völlig unabhängig von der künftigen parteipolitischen Konstellation in Berlin. Wir sind uns völlig einig. Helfen Sie da mit, Herr Kufen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU! Die Tatsache, dass Altmaier und Rösler sich jetzt nicht mehr im Wege stehen, mag durchaus ein Vorteil für die Gestaltung sein. Wir stehen uns ebenfalls in keiner Weise gegenseitig im Weg, sondern wir sagen – und helfen Sie dabei mit –, dass wir eine Reform des Energiemarktes brauchen, die den weiteren Ausbau der Erneuerbaren fördert und nicht blockiert. Das muss die klare Linie sein.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Das besagt Ihre eigene Konzeption übrigens auch, Sie reden nur nie darüber. Sie tun so, als hätte das überhaupt nichts mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien zu tun.

Zweitens ist es wichtig, dass wir eine Synchronisierung mit dem Netzausbau ermöglichen.

Es ist drittens notwendig, dass wir das, was im europäischen Emissionshandel auf den Weg gebracht wurde und das, was überhaupt auf der europäischen Ebene zu diesem Thema diskutiert wird, endlich in unsere Diskussion miteinbeziehen, anstatt so zu tun, als würden wir hier auf einer Insel leben. Sie sind doch diejenigen, die an unserer Seite sind, wenn es darum geht, keine Insellösung – nicht für Deutschland und nicht für NRW –, sondern eine Gesamtkonzeption umzusetzen. Und das ist der Weg, den wir vorschlagen.

Viertens müssen Sie mit dafür sorgen, dass modernste Kraftwerke endlich wieder rentabel betrieben werden können und wir nicht mit diesem Wahnsinn weitermachen, der dafür sorgt, dass modernste Gaskraftwerke wie das in Hürth-Knapsack oder an anderen Stellen in dieser Republik nicht ordentlich betrieben werden können.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Und fünftens müssen wir endlich auch das Thema „Effizienz“ und das Thema „Wärme“ in den Mittelpunkt der Diskussion stellen. Wir reden immer nur über die Stromproduktion.

Lieber Herr Kufen, liebe Kollegen von der CDU, lassen Sie uns das dann in der Tat – weil wir ohnehin alle miteinander in der Verantwortung sind – auch gemeinsam auf den Weg bringen. Wir können uns eine Zeit, wie sie uns Altmaier und Rösler beschert haben, in der wir bei der Gestaltung der Energiewende zweieinhalb Jahre verloren haben, nicht länger erlauben, weder in der Industrie noch mit Blick auf die Energiewirtschaft.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von der FDP)

Die Energiewirtschaft besteht nicht nur aus ein, zwei Unternehmen. Aber wenn die hier ihre Sorgen vortragen, nehmen wir das natürlich auch sehr ernst.

Deswegen ist es überfällig, jetzt eine wirkliche Reform des Energiemarktes auf den Weg zu bringen. Diese Landesregierung ist dazu bereit. Wir brauchen nur endlich auch Klarheit von Ihrer Seite. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Minister Duin. – Für die CDU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Hachen.

Dr. Gerd Hachen (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich noch mal zu Wort gemeldet, weil mir Verlässlichkeit in alle Richtungen wichtig ist: Verlässlichkeit gegenüber dem Unternehmen – selbstverständlich –, aber auch gegenüber den Menschen in der Region, denen wir das schuldig sind.

Ich denke, wir sollten – und das ist meine erste Antwort auf das, was Frau Brems eben gesagt hat – an dieser Stelle aufhören, die üblichen reflexartigen politisch-taktischen Spielchen zu spielen.

(Beifall von der CDU – Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Das sollten wir wirklich nicht machen, Herr Römer. Wir können das bei Gelegenheit gerne vertiefen. An dieser Stelle halte ich das wirklich für nicht zielführend.

Frau Brems, die Vorwürfe, bei der CDU laufe etwas nicht synchron und der Kollege Kufen sei scheinheilig, weise ich in aller Form zurück.

(Beifall von der CDU)

Wenn man dieses Spielchen mitmacht – das nur als kurze Bemerkung –, Herr Minister, dann könnte man sich auch einmal sehr aufmerksam die letzten beiden energiepolitischen Begründungen für die letzten beiden Umsiedlungsblöcke vonseiten der Landesregierung anschauen. Liest man diese aufmerksam, dann stellt man durchaus fest, dass offensichtlich auch innerhalb der Landesregierung nicht alles synchron läuft. Mit Verlaub – das ist gar kein Vorwurf –, es wäre auch naiv, anzunehmen, dass bei solchen Dingen immer nur alles rund und glatt läuft.

Insofern sollten wir zur Sache kommen und versuchen, für die wirtschaftliche Situation im Land und die Betroffenen vernünftige und tragfähige Lösungen zu finden.

Mir ist wichtig, eines zu betonen – deswegen habe ich mich noch einmal zu Wort gemeldet, Herr Minister –: Ihre Einlassung, wir müssten uns um die Betroffenen kümmern, hat mich sehr erfreut. Aber das war wieder nur eine nette verbale Mitteilung. Wichtig ist, dass dem auch Taten folgen.

(Beifall von der CDU)

Das, was Sie hier heute konkret mitgeteilt haben, ist: Sie machen im Kern auch an dieser Stelle wieder nur „business as usual“, das heißt, Sie gehen nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen vor und erkennen nicht die besondere Sachlage. Ich möchte an zwei Beispielen versuchen zu verdeutlichen, dass Ihre Vorgehensweise gegenüber den Betroffenen einer langen Kette gleicht.

Die Menschen in dem betroffenen Gebiet wollen schon seit Jahren wissen, wie hoch die Feinstaubbelastung konkret dort ist, wo sie leben. Auf der Grundlage eines Beschlusses des Braunkohlenausschusses aus dem Jahre 2011, Herr Duin – das ist schon lange her –, hat die Regierungspräsidentin darum gebeten, dass Messungen in den Orten am Nordwestrand des Tagebaus Garzweiler II durchgeführt werden. Obwohl das vom Unternehmen RWE selber unterstützt wurde, haben der Umweltminister und das LANUV anders entschieden. Dafür gibt es fachlich sicherlich immer gute Begründungen; das ist überhaupt keine Frage.

Aber eines möchte ich Ihnen sehr deutlich sagen: Erkennbare Akzeptanz für die Nöte der Leute, die wissen wollen, wie es konkret dort aussieht, wo sie wohnen, sieht anders aus.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich will Ihnen ein zweites wichtiges Beispiel nennen. Die berechtigte Forderung nach Ausweitung der Sicherheitslinie auch in den Tagebauen Garzweiler und Inden auf 200 m wird nicht einmal ansatzweise von Ihnen erwogen. Dies würde aber 5.000 Randbetroffenen in erheblicher Weise Dreck, Staub, Lärm und Lichtemissionen für Jahrzehnte ersparen. Darüber hinaus würde es auch ausreichend Raum geben, um die notwendigen Infrastruktur- und verkehrlichen Erschließungsmaßnahmen am Tagebaurand vorzunehmen.

RWE erklärte auf meine Nachfrage, dass dies den Verzicht auf etwa eine Jahresförderung bei insgesamt noch 30 ausstehenden Jahresförderungen bedeuten würde. Wenn RWE jetzt selbst über eine frühzeitige Fördereinstellung nachdenkt, dann kann doch der Verzicht auf ein Dreißigstel keine unüberwindliche Hürde sein, weder für RWE noch für die Landesregierung.

(Beifall von der CDU)

Es wäre für die Landesregierung durchaus möglich, über direkte Verhandlungen mit dem RWE hier ein Einvernehmen zu erzielen. Die Vorgängerregierung, die Rüttgers-Regierung, hat es Ihnen vorgemacht, dass so etwas durchaus möglich ist. Damals sind die Umsiedlungskosten durch den Bergbautreibenden übernommen worden, die bis dahin noch zum großen Teil vom Land und auch von den betroffenen Kommunen selbst aufzubringen waren.

(Beifall von der CDU)

Also sollten wir nicht sagen, dass es nicht geht, sondern uns bewegen und durch Taten zeigen, dass wir diese immer so nett geäußerte Akzeptanz haben und uns um die Belange der Betroffenen tatsächlich auch kümmern. Das ist der Appell, den ich an dieser Stelle noch einmal wiederholen möchte. Nehmen wir nicht nur in netten Worten die Sorgen der Betroffenen ernst, sondern zeigen wir das auch in Taten, dass das tatsächlich so ist! – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Hachen. – Es gibt noch eine weitere Wortmeldung. Herr Kollege Thiel, bitte schön.

Rainer Christian Thiel (SPD): Herr Präsident, vielen Dank. Es wird auch nicht sehr lange dauern.

Herr Dr. Hachen, wenn Sie jetzt versuchen, noch einmal aus der Akzeptanzinitiative Dinge mit reinzubringen und alles miteinander zu vermengen, dann wird die Klarheit ja nicht besser. Die Position der CDU erschließt sich immer weniger. Die Frage ist wirklich: Wird hier ein Hintertürchen offen gehalten, oder gibt es eine klare Haltung? Das ist eine Frage, die nach wie vor offen geblieben ist. Da ist die CDU in der Tat nicht synchron.

(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])

Was man hier aber ganz deutlich noch einmal sagen muss – es hören ja auch Leute aus dem Revier zu, und die wollen mit dem Wissen nach Hause gehen, was denn die Haltung des Hauses ist –: Es gibt eine klare Erklärung von RWE gegenüber Erkelenz. Man kann da weitermachen. Das wäre auch ein Signal, dass die Region an die Zukunft des Reviers glaubt.

Dann sei noch einmal klargestellt: Die heute betriebenen Tagebauen, eben auch Garzweiler II, sind landesplanerisch durch bestandskräftige Braunkohlepläne bis 2045 genehmigt, und zwar in ihrer jeweils gesamten Ausdehnung. Das ist die Grundlage. Wenn man das ändern will, auch über Randstreifen, geht man in ein Verfahren rein, das die ganze Geschichte noch einmal von Grund auf aufwühlt.

Dann will ich als Betroffener auf der anderen Seite der Grube, der eben aus Grevenbroich kommt, noch eines sagen: Wenn das jetzt nicht weitergeht mit dem größten Loch, das wir da vor Ort haben, dann ist keine Rekultivierung möglich, dann ist kein geordneter Abschluss des Tagebaus möglich. Das ist für die Regionen, die rings um dieses Loch liegen, eine riesengroße Katastrophe. Betroffenheit gibt es in vielerlei Hinsicht. Ich habe vorhin schon versucht, dies aufzuzeigen. Es sind nicht nur die Umsiedler. Es ist auch nicht nur die Natur. Es sind auch die Menschen. Es sind auch die Arbeitnehmer. Es ist das ganze Revier, das darauf guckt, dass es hier verlässlich weitergeht. Dieses Signal sollten wir heute gemeinsam geben. – Schönen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Thiel. – Nun liegen mir keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir sind damit am Schluss der Beratung. Ich schließe die Aktuelle Stunde.

Ich rufe auf:

2   Gesetz zur Stärkung der Wissenschaftsautonomie

Gesetzentwurf
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/1255

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Innovation, Wissenschaft und Forschung
Drucksache 16/4086

zweite Lesung

In Verbindung mit:

Finger weg von der Hochschulautonomie – Positionspapier der Hochschulratsvorsitzenden nutzen

Antrag
der Fraktion der CDU und
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/1190

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Innovation, Wissenschaft und Forschung
Drucksache 16/4094

Der Antrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 16/1190 wurde gemäß § 79 Abs. 2 Buchstabe b der Geschäftsordnung vom Plenum an den Ausschuss für Innovation, Wissenschaft und Forschung überwiesen mit der Maßgabe, dass eine Beratung und Abstimmung erst nach Vorlage einer Beschlussempfehlung erfolgt.

Ich eröffne die Beratung und erteile für die SPD-Fraktion dem Herrn Kollegen Schultheis das Wort.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Ich lasse ihm gerne den Vortritt! Kein Problem!)

Karl Schultheis (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beiden Beschlussempfehlungen, die dem Landtag heute zur Beratung vorliegen, zeigen die Bandbreite der Diskussion, die wir zurzeit führen, wenn es um die Novellierung des Hochschulrechts in Nordrhein-Westfalen geht.

Dieser Prozess ist in der Tat ein Prozess, bei dem die Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung die Methode Dialog in den Mittelpunkt stellt. Hier fließen viele Meinungen, viele Positionen ein. Schlussendlich – das wird der Punkt sein, an dem wir in die weitere intensive Beratung eintreten werden – wird sie Ende des Jahres den Referentenentwurf vorlegen. Ich gehe davon aus, dass wir im ersten Quartal des Jahres 2014 einen Gesetzentwurf zum neuen Hochschulgesetz im Landtag von Nordrhein-Westfalen beraten werden.

Das ist eine wichtige Feststellung, weil all das, was wir in den letzten Monaten im zuständigen Fachausschuss beraten haben, sehr stark von Vermutungen getragen ist, insbesondere von Vermutungen seitens der Opposition, wohin sich denn der Zug Hochschulrecht bewegen wird.

Insbesondere in dem Antrag von CDU und FDP wird deutlich, dass hier Vermutungen formuliert und gleichzeitig Leistungen reklamiert werden, die nicht Ihnen zuzuordnen sind.

Die Hochschulautonomie in Nordrhein-Westfalen hat wichtige, große Schritte getan in den Reformen des Jahres 2000 und des Jahres 2004: mit der Einführung der Globalhaushalte, mit der Übertragung der Berufungsrechte auf die Hochschulen und mit dem, was die Genehmigung von Prüfungs- und Studienordnungen angeht – ganz zentrale Bereiche, die vor dem jetzt gültigen Hochschulgesetz durch SPD und Grüne im Landtag beschlossen worden sind. Insofern ist der Vorwurf absurd, dass die Mehrheit des Landtags und auch die Landesregierung eine Rolle rückwärts vornehmen wollen.

(Beifall von Dr. Ruth Seidl [GRÜNE])

Es bleibt dabei, meine Damen und Herren: Die Hochschulen unseres Landes werden weiterhin Körperschaften öffentlichen Rechts sein, keine Landeseinrichtungen.

Es geht darum, die Hochschulautonomie weiterzuentwickeln. Dazu gehören insbesondere die demokratischen Strukturen unserer Hochschulen und diejenigen, die in diesen Strukturen Verantwortung tragen. Verantwortung ist in diesem Kontext ein ganz wichtiges Merkmal, damit die Organe in ihren Zuständigkeiten und Rechten in ein vernünftiges Maß der Austarierung gelangen.

Und es geht natürlich auch um die Gewährträgerhaftung des Landes selbst, des Landtags und der Landesregierung, gegenüber den Hochschulen.

Wir wollen erreichen, dass nicht nur die Diskussionen über wichtige Infrastruktur bei Straßen, Brücken und sonstigen Gebäuden hier eine Rolle spielen, sondern gerade die Bildungsinfrastruktur im tertiären Bereich in besonderer Verantwortung des Landtags steht – in der Finanzverantwortung ohnehin, aber auch, was die Verantwortung für die landesplanerischen Ziele angeht, die hier im Landtag in Zukunft in einem Landeshochschulentwicklungsplan festgelegt werden sollen.

Ich kann Sie nur bitten, in der Zwischenzeit, bevor der Referentenentwurf vorliegt, von weiteren Anträgen abzusehen. Wir befassen uns gerne mit den Themen, aber es wäre gut, das auf der Basis der konkreten Vorlage zu tun. Ich glaube, manche Ihrer Befürchtungen, die einer politischen Motivation unterliegen, werden sehr schnell in alle Winde zerstreut werden.

Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion folgt den beiden Beschlussempfehlungen sowohl zum Gesetzentwurf als auch zum Antrag von CDU und FDP. Das besagt, dass wir beide Vorlagen ablehnen. Dabei bleibt es auch. Das heißt aber nicht, dass es nicht hier und da vernünftige Anregungen gibt, die in den Diskussionsprozess eingehen werden.

Die letzte Anhörung am 7. Mai, bei der wir die Beteiligten gehört haben, hat ein sehr differenziertes Bild gezeichnet, was die Bewertung der bisherigen Äußerungen der Landesregierung, der Ministerin, zur Hochschulgesetznovelle angeht. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Schultheis. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Dr. Berger.

Dr. Stefan Berger (CDU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die damalige schwarz-gelbe Landesregierung hat 2006 ein Hochschulfreiheitsgesetz beschlossen. Es wurde ein System geschaffen, das den Hochschulen mehr Eigenverantwortung zugestand und neue Möglichkeiten der Entfaltung in Wissenschaft und Lehre auf den Weg brachte.

Als wichtigstes Gremium wurde der Hochschulrat eingeführt. Er brachte dringend benötigte Kompetenzen in die Hochschule ein. Er stellte die Verknüpfung zur Gesellschaft sicher. Und er garantiert, dass die Selbstständigkeit der Hochschule eben nicht durch Politik oder ein Ministerium eingeschränkt wird.

(Vereinzelt Beifall von der FDP)

Der Hochschulrat berät bei Arbeit, Lehre und Forschung. Im Ergebnis stehen die NRW-Hochschulen heute national wie international gestärkt und wettbewerbsfähiger da, so beschreiben es alle Landesrektorenkonferenzen in Nordrhein-Westfalen.

Mehr und mehr Exzellenz ist entstanden: mehr Exzellenz in Köln, in Aachen, in Bochum.

Die Drittmittel haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen.

Das System arbeitet eigentlich erfolgreich. Da sollte die Devise lauten: Never change a winning team. – Leider ist das Gegenteil der Fall. Rot-Grün plant ein neues Hochschulgesetz. Kern dieses neuen Gesetzes ist es, die Hochschulräte zu entmachten, sie zu einem Beratungsgremium zu degradieren und Wissenschaftsministerin Schulze wieder zur Dienstvorgesetzten unserer Hochschulen zu installieren.

(Zuruf von Karl Schultheis [SPD])

Der tiefere Grund, Herr Schultheis, warum Sie dieses jetzt so erfolgreiche System zerschlagen wollen, liegt darin, dass Rot-Grün und insbesondere Sie, Frau Ministerin Schulze, zukünftig vorschreiben wollen, was wo und wie in Nordrhein-Westfalen geforscht werden soll.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Insofern ist das von Ihnen geplante Gesetz ein Hochschulentmündigungsgesetz.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Um eine Begründung dafür zu finden, diskreditieren Sie die Hochschulräte. Rot-Grün und auch die Piraten behaupten, Hochschulräte würden zu einer Ökonomisierung des Systems beitragen. – Dabei ist das Gegenteil der Fall. Sieht man sich die Berufe der einzelnen Hochschulräte an, so sind über 80 % Professoren. Hinzu kommen Persönlichkeiten aus nationalen Forschungsgesellschaften, Arbeitnehmervertreter, Journalisten und nur ganz vereinzelt Wirtschaftsvertreter, aber auch die sind Teil unserer Gesellschaft.

Ich bin mir aber sicher, dass Rot-Grün und vielleicht auch die Piraten – wir werden es gleich sehen – angesichts der zu erwartenden Beute die Hochschulräte weiter in Verruf bringen werden. Ich bin mir auch ziemlich sicher – ich will es aber nicht hoffen ?, dass wir nach der Verabschiedung des neuen Hochschulentmündigungsgesetzes an der einen oder anderen Stelle die Errichtung von Instituten beobachten können, an denen die 150-jährige Geschichte der Sozialdemokratie prestigeträchtig erforscht werden soll.

(Zurufe von der SPD – Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Das ist die große Gefahr dieses Gesetzes. Deswegen leisten wir Widerstand dagegen. Sie wollen die Entscheidungen zentral treffen.

Aber auch die Piraten leisten ihren Beitrag zur Degeneration Nordrhein-Westfalens.

(Zuruf von Lukas Lamla [PIRATEN])

Ihr Gesetzentwurf ist im Wesentlichen identisch mit dem der Linkspartei der vergangenen Periode.

(Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Insofern sind Sie Linke mit Internetanschluss.

Aber, Herr Dr. Paul, Sie sollten Ihren Antrag eigentlich zurückziehen. Wenn Frau Schulze in Nordrhein-Westfalen alleine darüber entscheidet, wie es in der Wissenschaft zukünftig zu laufen hat, werden auch Sie als Piraten – auch Ihre Fraktion – nicht mehr gefragt. Das ist das Gegenteil von Transparenz. Sie haben überhaupt keinen Einfluss mehr auf die Ausgestaltung der Wissenschaftspolitik.

Deswegen fordere ich Sie auf: Bekämpfen Sie mit uns gemeinsam das geplante Gesetz: gegen Entscheidungen in der Düsseldorfer Zentrale, für Entscheidungen vor Ort und in der Region. Daran müssten auch Sie als Piraten ein Interesse haben. Auch Sie glauben nicht an den Großcomputer, sondern an die Macht des Schwarms.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Marxistischer Schwarm!)

Insofern fordere ich Sie dazu auf, an dieser Stelle mit uns dagegen zu kämpfen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU – Sigrid Beer [GRÜNE]: Das hatte großen Unterhaltungswert! Das ist aber auch alles!)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Berger. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Dr. Seidl.

Dr. Ruth Seidl (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Berger, die beiden parlamentarischen Initiativen, über die wir heute reden, sind fast auf den Tag genau vor einem Jahr eingebracht worden. Ich finde, inzwischen ist die Zeit darüber hinweggegangen.

Ich will damit sagen, Herr Berger, dass spätestens in der Anhörung des Wissenschaftsausschusses am 7. Mai 2013 klargeworden ist, dass eine Weiterentwicklung und Modifizierung des Hochschulgesetzes auf der Grundlage der Eckpunkte, über die wir alle diskutiert haben, in vielen Punkten richtig und notwendig ist. Das brauchen wir heute gar nicht ideologisch auszutragen.

Wenn man sich die Hochschulgesetze in den verschiedenen Bundesländern ansieht – über die Parteigrenzen hinweg –, kann man feststellen, dass überall der Weg von der staatlichen Detailsteuerung hin zu einer größeren Eigenverantwortlichkeit der Hochschulen beschritten worden ist. Nordrhein-Westfalen stand dabei immer an der Spitze der Bewegung. Das hat der Kollege Schultheis eben noch einmal ausgeführt.

(Dr. Stefan Berger [CDU]: Das sagen Sie!)

Das sogenannte Hochschulfreiheitsgesetz ist allerdings deutlich über das Ziel hinausgeschossen. Ich kann nur sagen: Der wirtschaftsliberale Geist, den dieses Gesetz atmet, hat dazu geführt, dass sich der Staat nicht nur aus der Detailsteuerung, sondern im Grunde fast vollständig aus seiner Verantwortung zurückgezogen hat.

(Beifall von den GRÜNEN – Dr. Stefan Berger [CDU]: Lächerlich!)

Unsere staatlichen Hochschulen sind aber keine Wirtschaftsunternehmen und können demnach auch nicht wie solche gesteuert werden. Es gibt auch verfassungsrechtliche Bedenken. Darauf hat insbesondere der Rechtswissenschaftler Prof. Löwer aus Bonn, der seitens der Opposition auch immer gern zitiert wird, in der Anhörung im Zusammenhang mit den derzeitigen Leitungsstrukturen an unseren Hochschulen verwiesen. Das knüpft genau an diesen Punkt an. Er sieht insbesondere einen Nachsteuerungsbedarf beim Hochschulrat und bei der hochschulorganisatorischen Willensbildung. Ich zitiere ihn an dieser Stelle gerne:

„Wir haben Nachsteuerungsbedarf bei der Unverantwortlichkeit des Hochschulrats. … Wir haben Nachsteuerungsbedarf in Bezug auf die Entscheidungskompetenzen.“

Die Kontrollkompetenzen von Senat und Fachbereichsräten müssten dagegen wieder gestärkt werden. Genau das wollen wir erreichen. Wir wollen die Hochschule als Ganzes stärken. Das heißt, die akademischen Gremien sollen bei zentralen Entscheidungen wie zum Beispiel der Wahl des Präsidiums und der Wahl des Rektors wieder maßgeblich beteiligt sein.

Die Hochschule funktioniert aus unserer Sicht nur als eine demokratische Gemeinschaft, in der die Freiheit von Wissenschaft und Forschung Vorrang hat. Da ich das in der Anhörung auch sehr gut fand, zitiere ich in diesem Zusammenhang Herrn Stelzer-Rothe vom Hochschullehrerbund. Er sagt:

„Die erlebbare und funktionierende Demokratie halte ich nicht für eine nette Zugabe, sondern für einen zentralen Gesichtspunkt. Wenn man ihn vernachlässigen würde, würde man die Idee der Universitäten und der Fachhochschulen mit Sicherheit bis zu einem gewissen Grade aufgeben.“

(Beifall von den GRÜNEN)

Wenn man einen mit demokratischen Rechten ausgestatteten Senat für überflüssig erklärt, wie das oft gemacht wird – Herr Berger, ich spreche Sie jetzt noch einmal an, weil Sie das häufig getan haben; auch der Begriff „Laberbude“ ist in der Debatte schon gefallen –, dann muss man logischerweise auch den Landtag und damit sich selbst infrage stellen; denn der Senat ist schließlich nichts anderes als das Parlament der Hochschule.

(Beifall von den GRÜNEN und den PIRATEN)

Die Stärkung der akademischen Gremien ist also ein wichtiger Punkt. Als Parlament und Haushaltsgesetzgeber wollen wir aber auch für die strategische Entwicklung dieser großen und bedeutenden Hochschullandschaft wieder Verantwortung übernehmen. Der Landtag soll messbare und überprüfbare Entwicklungsziele beschließen, die das Ministerium dann in einen Hochschulentwicklungsplan einarbeitet. Für diesen Vorschlag gibt es auch eine breite Zustimmung bei den Landesrektorenkonferenzen und bei den Kanzlerinnen und Kanzlern an unseren Hochschulen.

Zum Gesetzentwurf der Piraten kann ich nur sagen, dass wir die, wie ich mal sage, radikale Variante, also die Abschaffung des Hochschulorgans Hochschulrat, in dieser Form nicht mittragen können. Herr Paul, seine Aufgaben und Befugnisse sollen nach Ihrem Gesetzentwurf, der im Übrigen, wie man feststellt, wenn man sich ihn anschaut, fast identisch ist mit dem Gesetzentwurf der Linken aus der letzten Legislaturperiode, entweder dem Senat bzw. dem Ministerium zugewiesen werden, oder bestimmte Dinge sollen sogar ersatzlos wegfallen, was ich für sehr kritisch halte.

(Zuruf von der FDP: Total überraschend!)

Damit würde in vielen Fragen das Präsidium alleine entscheiden und müsste den Senat gar nicht mehr befragen. Damit würde aber auch die Aufsichtsratsfunktion des Hochschulrates gegenüber dem Präsidium wegfallen und ein wichtiges Korrektiv gegenüber der Hochschulleitung fehlen.

Insofern werden wir heute weder dem Gesetzentwurf der Piraten zustimmen können noch dem inzwischen deutlich überholten Antrag der Fraktionen der FDP und der CDU. – Ich bedanke mich fürs Zuhören.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Dr. Seidl. – Für die FDP-Fraktion spricht Frau Kollegin Freimuth.

Angela Freimuth (FDP): Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schultheis, wir reden in der Tat nur über Eckpunkte. Diese Eckpunkte, die von der Landesregierung vorgelegt wurden, haben sich aber ganz sicher nicht als eine geeignete Grundlage für eine Hochschulgesetznovelle herausgestellt. Wir als Parlament werden irgendwann im kommenden Jahr den Gesetzentwurf zugeleitet bekommen und uns dann sicherlich auch in den Detailfragen darüber auseinandersetzen.

Wir werden dann insbesondere überprüfen können, ob es so etwas wie eine Einsicht gibt; denn in der Anhörung, die wir zu dem Gesetzentwurf und auch zu unserem Antrag durchgeführt haben, wurde ausdrücklich vor Plänen zur Rückabwicklung der Hochschulfreiheit gewarnt. So wurden die Eckpunkte der Landesregierung nämlich von vielen Sachverständigen und Experten verstanden.

Diese Warnung, dies umzusetzen, ist – wie ich finde zu Recht – ausdrücklich adressiert worden. Mir bleibt die Hoffnung, dass das in das Gesetzgebungsverfahren oder sogar schon in die Erarbeitung der Gesetzesnovelle einfließt.

Mit dem Hochschulfreiheitsgesetz sind freie Gestaltungsräume erreicht worden. Dass es bereits davor Ansatzpunkte gab, habe ich nicht negiert. Es wäre aber ganz wunderbar, wenn Sie auch anerkennen würden, dass diese Freiheiten und Gestaltungsräume mit dem Hochschulfreiheitsgesetz weiterentwickelt wurden. Das hat zu einem Innovationsschub geführt, um die die Hochschulen in vielen anderen Bundesländern die nordrhein-westfälischen Hochschulen beneiden.

Unsere Hochschulen haben bewiesen, dass sie ihre Handlungsfreiheiten im Sinne der Studierenden und der Hochschulen selbst nutzen. Die Herausforderungen, die mit den deutlich gestiegenen Studierendenzahlen eingehen, werden vorbildlich gemeistert. Die Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge ist weitestgehend gelungen. Immer mehr Studierende werden zu Abschlüssen geführt. Die Forschungs- und Leistungsstärke ist ebenfalls erheblich ausgebaut worden.

Frau Ministerin selbst hat in der vergangenen Zeit immer wieder zu Recht davor gewarnt, das Engagement der Hochschulen nicht anzuerkennen oder sie sogar schlechtzureden. Aber genau das haben die von Ihnen vorgelegten Eckpunkten doch sogar eher beflügelt, meine Damen und Herren: Die Hochschulen werden schlechtgeredet. Man bringt gegenüber den Hochschulen und ihren Verantwortlichen eine negative Haltung zum Ausdruck und ein tiefes Misstrauen gegenüber den Hochschulen.

Man kann daraus nur die Conclusio ziehen, dass Sie die Freiheit der Hochschulen ängstigt und Sie deswegen der Rückabwicklung und Gängelung das Wort reden.

Es wird von strategischer Steuerung und neuen Steuerungsinstrumenten geredet, von einer ministeriellen Interpretation von Rahmenvorgaben. Ministerialbürokratie soll also entgegen der gelegentlichen Behauptung des Kollegen Schultheis – an der Stelle will ich durchaus Differenzierungen feststellen – ohne parlamentarische Kontrolle in den Haushalt und die Personalverwaltung der Hochschulen eingreifen können.

Meine Damen und Herren, Sie wollen detailliert bestimmen können, was an den Hochschulen wie organisiert wird, was die Hochschulen anbieten und sogar, in welchen Bereichen die Hochschulen forschen dürfen. Das wird nicht unsere Zustimmung finden.

Das von Ihnen beabsichtigte Instrument der Rahmenvorgabe, zu dem in der Anhörung dezidiert Stellung genommen worden ist, stößt im Übrigen auf massive verfassungsrechtliche Bedenken. Ich hatte den Eindruck, dass das in der Diskussion teilweise schon aufgegriffen wurde. Meine Damen und Herren, in dem Zusammenhang kommt es ganz entscheidend darauf an, dass wir gegenüber den Hochschulen die bestehenden Instrumente nutzen, aber keine exekutive Rechtssetzung und damit einen kalkulierten Verfassungsbruch eingehen. Das hilft niemandem.

Es wird behauptet, es gäbe einen Blindflug bei der Mittelverwendung. Das lässt sich durch nichts rechtfertigen. Ich habe an meinem Platz einen Stapel Berichte der Fachhochschule Düsseldorf liegen. Die anderen Hochschulen haben alle ähnliche Berichte, die eine solche Detailtiefe haben, dass wir uns im parlamentarischen Raum einmal Gedanken darüber machen sollten, welche Detailtiefe wir denn überhaupt haben wollen, welche Anforderungen wir an das Berichtswesen stellen. Schon nach dem jetzigen Hochschulrecht gibt es hinreichend Möglichkeiten, über Zielvereinbarungen mit den Universitäten genau diese Daten und Berichte abzufragen.

Zu den Hochschulräten ist gerade schon vieles richtig gesagt worden. Ich finde es wirklich wichtig, dass es an den Hochschulen Entscheidungsprozesse ohne alte ideologische Grabenkämpfe gibt. Die Hochschulräte haben der universitären Landschaft und der Fachhochschullandschaft in Nordrhein-Westfalen gutgetan. Wir sehen deshalb keinen wesentlichen Änderungsbedarf oder gar einen Bedarf, die Hochschulräte abzuschaffen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Kollegin, Ihre Redezeit.

Angela Freimuth (FDP): Herr Präsident, wir haben im ganzen Verfahren deutlich gesagt – ich komme zum Schluss –, dass wir uns gerne Vorschläge anschauen, wie wir durch eine Novellierung des Hochschulgesetzes auf der Grundlage dieses Freiheitsgedankens die Hochschulen weiterentwickeln können. Die Eckpunkte jedenfalls haben in die Debatte mehr Unruhe gebracht.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist jetzt schon deutlich überschritten.

Angela Freimuth (FDP): Der Dialog war nicht zielführend. Insofern möchte ich klar zum Ausdruck bringen, dass wir den Gesetzentwurf der Piraten nach wie vor ablehnen, aber bezüglich unseres Antrags um Zustimmung bitten. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Freimuth. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Dr. Paul.

Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Lassen wir doch noch einmal Revue passieren, wie in der Anhörung zu unserem Gesetzentwurf zur Stärkung der Wissenschaftsautonomie im Ausschuss argumentiert worden ist. Die Kernfrage für uns blieb dabei: Was ist Autonomie, insbesondere im Kontext der Wissenschaften?

Wir definieren Autonomie so, dass die Hochschulen ihre Entscheidungen mit allen Mitgliedern treffen und dies für Gesellschaft und Politik transparent und nachvollziehbar sein soll. Der Staat hat nach unserer Auffassung dabei eine Gewährsträgerfunktion, die in etwa mit der Funktion für die Jurisdiktion als dritter Kraft in der Demokratie im Rahmen der Gewaltenteilung vergleichbar ist.

Die Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit und die Mehrung von Weltwissen sollte ein Maximum an Unabhängigkeit besitzen. Alles andere wirkt sich kontraproduktiv auf unsere Innovationskraft aus. Das verstehen wir unter wirklicher Wissenschaftsautonomie, ganz im Sinne der verfassungsmäßig garantierten Freiheit von Forschung und Lehre! Auffassungen – Herr Berger, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit –, die entweder in Richtung Staatsdirigismus oder Marktdiktat gehen, sind hier gleichermaßen fehl am Platze.

Wir konnten im Rahmen der Beratungen im Ausschuss allerdings und leider den Eindruck gewinnen, dass sich die politische Diskussion wie ein Pendel zwischen nur diesen beiden Polen bewegt. Dafür stehen nach unserer Auffassung insbesondere die rückwärtsgewandten Ideen von Union und FDP. Uns geht es aber im Prinzip um die Abschaffung dieses Pendels. Durch die Ausgestaltung der Hochschulräte wurde der Generalangriff auf die akademische Selbstverwaltung gestartet.

(Dr. Stefan Berger [CDU]: Wieso das denn?)

Diese Auseinandersetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, gilt es zu führen. Aber Sie bleiben bei einem „Weiter so“. An die Kernfrage der Wissenschaftsautonomie wollen Sie nach unserer Auffassung nicht wirklich ran.

Unser Gesetzentwurf zur Stärkung der Wissenschaftsautonomie jedoch wirkt positiv zugunsten einer generellen Mehrung von Unabhängigkeit. Die Senate – Frau Seidl hat es angesprochen – werden wieder gestärkt und die hochschulinterne Demokratie gestärkt sowie ausgebaut, was auch das Erlernen von Demokratie für zukünftige Führungskräfte in der Hochschule ermöglicht.

(Zuruf von Angela Freimuth [FDP])

Die Frage, die sich die regierungstragenden Fraktionen gefallen lassen müssen, ist allerdings, warum sie ihre wahlprogrammatischen Positionen zur Frage der Hochschulräte wieder revidiert haben. Denn es gilt, Folgendes festzuhalten – Frau Seidl hat es schon angesprochen –:

Erstens. Hochschulräte sind demokratisch nicht legitimiert und auch – zumindest teilweise – verfassungsrechtlich bedenklich. Vor allem die Wahl der Rektorate ist so nicht legitimiert und damit verfassungswidrig.

(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])

Zweitens. Hochschulinterne Demokratie wurde abgebaut im Gegensatz zum Anspruch, angehende Führungskräfte Demokratie aktiv erfahren zu lassen.

Drittens. Externe sollen teilhaben an der Kontroll-aufsicht für Hochschulbedienstete. Das ist für uns ein absolutes No-Go.

Viertens. Die Hochschulräte werden nicht öffentlich bestellt, und sie tagen auch nicht öffentlich. Da sie über Steuergelder befinden, ist dies allein unter den Gesichtspunkten der Transparenz ein Grund, sie abzuschaffen oder aber in Beiräte umzuwandeln.

(Dr. Stefan Berger [CDU]: Das gibt es doch gar nicht!)

Fünftens. Die Zusammensetzung der Hochschulräte ist systemfremd. Denn Hochschulen sind, egal, ob Landeseinrichtungen oder Körperschaften öffentlichen Rechts, keine Unternehmen, die am Markt agieren.

(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])

Sechstens. Hochschulen erfüllen ihren gesellschaftlichen Auftrag in der Erarbeitung neuer Erkenntnisse und in Bildung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, und das tun sie mit nicht unerheblichen Steuergeldern. Diese Verwendungen sind nicht gegenüber externen Hochschulratsmitgliedern zu rechtfertigen, sondern gegenüber den Steuerzahlern bzw. den demokratisch legitimierten Parlamenten.

Dieser Generalangriff auf die akademische Selbstverwaltung ist unserer Auffassung nach nur zu stoppen, wenn die Hochschulräte abgeschafft oder in Beiräte mit geringerer Befugnis umgewandelt werden und dazu die Senate wieder zum höchsten Gremium an der Hochschule werden.

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

Siebtens. Das ist mir ganz wichtig zu sagen: Externe gesellschaftliche Expertise vom Standpunkt der Hochschule aus ist selbstverständlich an Hochschulen notwendig und sollte gewollt sein, allerdings – ich sage es noch einmal – in Form von Beiräten, die Stellungnahmen und Empfehlungen abgeben. Hierbei sind auch regionale Besonderheiten zu berücksichtigen, weil Hochschulen für Kommunen einen nicht unerheblichen Standortvorteil darstellen.

Leider wird heute eine Chance vergeben, eine wirkliche Wissenschaftsautonomie zu stärken. Aber ich möchte Rot-Grün an der Stelle einladen. Wir stehen für die Copy-and-Paste-and-Mix-Kultur. Bedienen Sie sich bei einigen Elementen aus unserem Antrag!

(Zuruf von Dr. Stefan Berger [CDU])

Wir sehen, ob wir Ihnen dann zustimmen können. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Paul. – Nun spricht für die Landesregierung die Ministerin, Frau Schulze.

Svenja Schulze, Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben erst vor wenigen Tagen im Ausschuss den Haushalt 2014 eingebracht und dort die ersten Vorschläge diskutiert. Die Landesregierung hat Ihnen vorgeschlagen, so viel Geld wie noch nie für den Bereich Wissenschaft und Forschung auszugeben, 7,9 Milliarden €. Damit ist klar, dass Bildung und Forschung in Nordrhein-West-falen eindeutige Priorität haben.

Wir haben aber von vornherein auch sehr deutlich und klar gesagt, dass wir den gesetzlichen Rahmen der Hochschulen weiterentwickeln wollen. Es geht nicht um eine Art Rechenschaft, was die Hochschulen gemacht haben, sondern es geht um die Frage der Zukunft, wie sich die Hochschulen entwickeln werden und welche Anforderungen es sind, die wir in der Zukunft haben.

Da wundere ich mich doch etwas über die Vorwürfe, die in dieser Runde immer wieder kommen. Es geht nicht um die Forschungsfreiheit. Die Forschungsfreiheit ist im Grundgesetz garantiert. Da geht niemand dran, weder in diesem Landtag noch in irgendeinem anderen Landtag.

(Beifall von der SPD)

Wir brauchen in Nordrhein-Westfalen auch keine Belehrungen zur Hochschulautonomie. Die ist nicht von CDU und FDP erfunden worden – das muss man hier so klar sagen –,

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

die ist von Reimut Jochimsen und vielen anderen sozialdemokratischen Ministerinnen und Ministern entwickelt worden, und zwar über Jahre.

Wir haben hier einen intensiven Diskussionsprozess über ein Hochschulgesetz angestoßen. Ja, das ist ungewöhnlich. Es ist auch für die Opposition manchmal schwer zu ertragen. Das ist mir durchaus klar. Aber es ist ein anderer Politikstil, den wir hier nach vorne bringen.

(Lachen von Dr. Stefan Berger [CDU])

Der Diskussionsprozess hatte ein ganz klares Ziel. Wir haben gesagt: Wir wollen mehr Transparenz darüber, wie die vielen Mittel, die die wir im Bildungs- und Forschungsbereich haben, ausgegeben werden. Wir wollen eine stärkere Landesplanung, weil 37 Hochschulen noch nicht automatisch das Landesinteresse ausmachen. Wir wollen das Thema „gute Arbeit“ thematisieren, weil es wichtig ist, dass es an den Hochschulen gute Arbeitsbedingungen gibt. Und es geht uns um demokratische Teilhabe. Hochschulen müssen auch Schulen der Demokratie sein, denn hier wird der Führungsnachwuchs für die Zukunft ausgebildet.

Wenn ich mir die Diskussion hier im Parlament vor Augen führe, dann habe ich den Eindruck, dass wir uns sowohl mit den Eckpunkten als auch mit dem Referentenentwurf, der jetzt auf den Weg kommt, auf einem sehr moderaten und abgewogenen Pfad zwischen den hier dargestellten Meinungen bewegen.

Ich bin davon überzeugt, dass sich der intensive Dialogprozess schon jetzt gelohnt hat. Wir haben eine sehr konstruktive Diskussion mit den Vertreterinnen und Vertretern der Hochschulen. Wir haben sehr konkrete Vorschläge, was man verbessern könnte. Es sind viele Anregungen, die auch in den Referentenentwurf einfließen werden. Wir haben von vornherein zugesagt, dass wir das so machen. Wir sind durchaus lernfähig und werden das auch einfließen lassen. Wir werden gemeinsam mit allen daran arbeiten, die Hochschulen weiterzuentwickeln und sie zukunftsfest zu machen.

Ich gehe davon aus, dass, wenn wir gegen Ende des Jahres des Referentenentwurf vorliegen haben, wir diesen breit diskutieren und dann im Landtag einen vernünftigen Gesetzentwurf auf den Weg bringen können. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Ich habe keine weiteren Wortmeldungen.

Wir kommen zur Abstimmung. Erstens stimmen wir ab über den Gesetzentwurf Drucksache 16/1255. Der Ausschuss für Innovation, Wissenschaft und Forschung empfiehlt in Drucksache 16/4086, den Gesetzentwurf Drucksache 16/1255 abzulehnen. Wer stimmt dieser Empfehlung zu und lehnt damit den Gesetzentwurf ab? – SPD-Fraktion, grüne Fraktion, FDP-Fraktion, CDU-Fraktion und der fraktionslose Abgeordnete Stein. Wer stimmt diesem Gesetzentwurf zu? – Die Fraktion der Piraten. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Beschlussempfehlung Drucksache 16/1255 angenommen und der Gesetzentwurf Drucksache 16/1255 in zweiter Lesung abgelehnt.

Wir kommen zweitens zur Entscheidung über den Antrag Drucksache 16/1190. Der Ausschuss für Innovation, Wissenschaft und Forschung empfiehlt in Drucksache 16/4094, den Antrag Drucksache 16/1190 abzulehnen. Wer stimmt dem zu? – SPD und Grüne sowie die Fraktion der Piraten. Wer stimmt dagegen? – Der fraktionslose Kollege Stein sowie CDU- und FDP-Fraktion. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Beschlussempfehlung Drucksache 16/4094 angenommen und der Antrag Drucksache 16/1190 abgelehnt. Vielen Dank.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

3   Mehr Transparenz in der Arbeit der Rundfunkkommission – mehr Beteiligung des Landtags und der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung von Staatsverträgen!

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4020

In Verbindung mit:

Jugendmedienschutz und Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV)

Große Anfrage 6
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/2729

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 16/3684

Ich eröffne die Beratung und erteile für die Piratenfraktion Herrn Kollegen Schwerd das Wort.

Daniel Schwerd (PIRATEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Rängen und im Stream! Als der Landtag den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der schon von den Ministerpräsidenten der Länder unterschrieben war, im Dezember 2010 einstimmig ablehnte, hätte man eigentlich die Hoffnung haben können, dass alle Beteiligten aus diesem Debakel etwas gelernt haben. Schließlich waren die Gründe für die Ablehnung sehr klar. Man hatte vergessen oder vielleicht auch nicht gewollt, die Netzbürger in den Prozess der Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages einzubeziehen.

Das war allein deswegen schon keine besonders gute Idee, weil mit dem neuen JMStV den Entwicklungen der modernen Zeitrechnung getragen werden sollte. Und mit wem redete man nicht? Mit denen, die sich am besten in diesem Internet auskennen – mit diesen Bürgern von #Neuland, den Nutzern. Außerdem fehlten noch die technischen Voraussetzungen, um die Regelungen, die in diesem Entwurf vorgesehen waren, überhaupt umzusetzen. Insofern wären diese Regelungen im Einzelfall sinnlos gewesen. Zu guter Letzt: Einige dieser Regeln waren so komplex, dass sie viele Nutzer überfordert und einen unglaublichen bürokratischen Aufwand erfordert hätten.

Am Ende – einige von Ihnen waren damals dabei – fiel der 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrag, mit dem der Jugendmedienschutz novelliert werden sollte, krachend durch. Das war auch gut so.

(Beifall von den PIRATEN)

Allerdings bleibt damit auch die alte Fassung des JMStV aus dem Jahre 2002 in Kraft. Der Jugendmedienschutz ist damit auf dem Stand der 1990er-Jahre – einer Zeit, als das Internet tatsächlich noch Neuland war. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir Piraten sind keinesfalls gegen Jugendschutz, ganz im Gegenteil. Kinder zu behüten, ist eine uns allen auferlegte essenzielle Aufgabe. Der Schutz von Kindern vor entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten ist im Internet vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Gerade deswegen brauchen wir realistische, zeitgemäße und technisch angemessene Lösungen, die einen funktionierenden Jugendschutz im Internet überhaupt erst ermöglichen.

Mittlerweile wurde seitens der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten ein neuer Anlauf gestartet. Die Rundfunkkommission der Länder wurde aufgefordert, einen Entwurf zu einem neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag zu entwickeln. Wer jetzt aber denkt, man hätte aus dem Scheitern der letzten Novelle etwas gelernt, wird enttäuscht. Das hat die Antwort auf die Große Anfrage zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag deutlich gemacht.

Die Rundfunkkommission tagt weiter hinter verschlossenen Türen. Die Regierung darf uns nicht über irgendwelche Zwischenergebnisse oder Verhandlungspositionen informieren. Irgendwann bekommen wir dann – sicherlich fristgerecht vier Wochen vor der geplanten Unterzeichnung des Staatsvertrags den Entwurf vor die Füße geknallt und dürfen dann entscheiden, ob wir das jetzt gut finden oder nicht. Konstruktive Beteiligung von Parlamentariern sieht anders aus. Von Beteiligung der Bevölkerung will ich gar nicht erst reden.

(Beifall von den PIRATEN)

Wenn ich mir die Antworten auf unsere Fragen anschaue, muss ich feststellen, dass alle Ankündigungen der Landesregierung, mehr Transparenz in die Arbeit der Rundfunkkommission zu bringen, genauso verpuffen wie das Versprechen, uns Parlamentariern und die Bürgerinnen und Bürger besser zu beteiligen. So laufen Sie sehenden Auges in das neue Scheitern eines JMStV hinein.

Deswegen fordern wir die Landesregierung auf, endlich dafür zu sorgen, dass Transparenz in die Rundfunkkommission einzieht. Veröffentlichen Sie alle Unterlagen, die Auskunft über den aktuellen Sachstand geben! Machen Sie die Sitzungen öffentlich! Wieso auch nicht? Was gibt es denn zu verbergen?

(Beifall von den PIRATEN)

Beteiligen Sie uns hier im Landtag so, wie es der Begriff „Beteiligung“ verdient! Informieren Sie uns rechtzeitig und regelmäßig auch über Zwischenergebnisse der Verhandlungen. Ermöglichen Sie uns, Ihnen Positionen mit auf den Weg zu geben, mit denen Sie die Haltung NRWs im Verhandlungsprozess deutlich machen können. Wenn der Entwurf vorliegt, ist es dafür zu spät. Ändern Sie die entsprechenden Vereinbarungen, die das verhindern!

Sorgen Sie schließlich – damit komme ich zum Schluss – dafür, dass die Rundfunkkommission ein Online-Konsultationsportal einrichtet, in dem Experten und die interessierte Öffentlichkeit dauerhaft die Möglichkeit haben, sich und ihre Ideen in den Verhandlungsprozess einzubringen. Falls die Rundfunkkommission sich weigert, machen Sie es eben bitte selbst. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Schwerd. – Für die SPD-Fraktion hat Herr Kollege Vogt das Wort.

Alexander Vogt (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne und im Stream! Wir haben es hier mit zwei verknüpften Themen zu tun. Daher widme ich mich erst kurz dem Antrag, der sich auf mehr Transparenz in der Arbeit der Rundfunkkommission bezieht, und dann der Großen Anfrage zum Thema Jugendmedienschutz.

Liebe Piraten, Herr Schwerd, Sie fordern in Ihrem Antrag bei der Verhandlung von Staatsverträgen eine verbesserte Verfahrenstransparenz, mehr Nachvollziehbarkeit und Partizipation. Summa summarum wollen Sie von der Landesregierung besser informiert und in den Verhandlungsprozess einbezogen werden.

Sie wollen mehr Einblick in die Rundfunkkommission, also Live-Streaming-Aufzeichnungen, Veröffentlichungen, Protokolle, Vorlagen, Stellungnahmen, Zwischenergebnisse und aktuelle Entwürfe. Sie wollen Öffentlichkeit in den Sitzungen, und am liebsten wären Sie wahrscheinlich auch Mitglieder der Rundfunkkommission.

Und Sie wollen noch mehr: eine Verhandlungsrichtlinie für die Landesregierung.

Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich bin an vielen Stellen auch für mehr Transparenz und Partizipation. Unser Koalitionsvertrag zeigt dies deutlich. Die zahlreichen Online-Konsultationen der letzten Monate zeigen diesen Willen auch aufseiten der Landesregierung. Die Unterrichtung durch den Staatssekretär in den Ausschüssen, beispielsweise durch den Chef der Staatskanzlei im Rahmen der Verhandlungen des Glücksspielstaatsvertrags zeigen, dass die Landesregierung für mehr Transparenz sorgt. Das System, dass Staatsverträge durch die Regierung verhandelt werden und wir sie im Parlament beschließen, ist derzeit die Realität. Wenn wir als Parlamentarier unsere Aufgabe ernst nehmen, dann können wir hierbei noch mehr Einfluss gewinnen.

Ich kann mich noch gut an diesen Moment erinnern, als wir hier in der letzten Legislaturperiode – das war im Dezember 2010 – dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag unsere Zustimmung verweigert haben. Seitdem hat sich einiges im Bereich der Informationspolitik getan, und das ist auch richtig so.

Der Jugendmedienschutz ist auch Inhalt Ihrer Großen Anfrage, die die Landesregierung angemessen beantwortet hat. In der Zwischenzeit haben wir hier in NRW auch ohne den abgelehnten JMStV viel Positives für den Kinder- und Jugendschutz auf den Weg gebracht. Eine erfolgreiche achtwöchige Online-Konsultation zum Jugendmedienschutz hat die vielfältigen Sichtweisen, Anforderungen und Wünsche offengelegt.

Wir benötigen einen regulatorischen Rahmen für den Schutz von Kindern und Jugendlichen, aber wir müssen uns dem Thema von zwei Seiten nähern. Zum einen heißt das, Eltern Hilfestellung zu geben, um mit technischen Mitteln sichere Surfräume für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Lassen Sie mich hierbei aber ganz klar sagen: auf freiwilliger Basis. Mittlerweile gibt es durch die KJM anerkannte Programme, die Eltern helfen, ihren Kindern den Schutz zukommen zu lassen.

Zum anderen gilt es aber auch – und das hat die Konsultation genauso gezeigt wie die Antwort auf Ihre Große Anfrage –, die Medienkompetenz zu verbessern. Hierbei muss ein Bewusstsein für Chancen und Risiken geschaffen werden. Medienkompetenzförderung muss hierbei aber nicht nur bei Kindern ansetzen. Das Thema betrifft auch Erwachsene, insbesondere Eltern, Erzieherinnen und Lehrer.

Nordrhein-Westfalen hat für die Kompetenzförderung von Kindern die Initiative „Medienpass NRW“ sehr erfolgreich auf den Weg gebracht. Der Medienpass setzt in der Grundschule an und wird auf die Sekundarstufe I ausgeweitet. Auch weitere Initiativen sind in NRW im Bereich Medienkompetenzvermittlung tätig. Hierzu gehören die Landesanstalt für Medien genauso wie die Medienberatung NRW, mekonet, das Grimme-Institut oder der WDR.

Die Antwort auf Ihre Anfrage zeigt: Vieles ist in NRW im Sinne eines guten Kinder- und Jugendschutzes auf den Weg gebracht worden. Diesen Weg werden wir weitergehen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Vogt. – Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Kollege Prof. Dr. Dr. Sternberg.

Prof. Dr. Thomas Sternberg*) (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 16. Dezember 2010 überschlugen sich die Medien geradezu. Das hatte es noch nie gegeben: Einen länderübergreifenden Staatsvertrag in einem der Parlamente, hier in Nordrhein-Westfalen, einstimmig abzulehnen, das war eine absolute Novität.

Was waren das für Gründe? – Sie waren damals vielfältig, aber die sachlichen Gründe waren ziemlich klar. In dem Entschließungsantrag der CDU hieß es damals: Aufgrund der Expertenanhörungen seien Nachbesserungen am Entwurf erforderlich; vor allem die Entwicklung von Jugendschutzprogrammen müsse beschleunigt werden. – Andreas Krautscheid sprach damals von einer gewissen Erleichterung darüber – Zitat –, „dass noch einige Zeit ins Land gehen kann, um diesen Staatsvertrag nachzuarbeiten.“

Was ist seitdem geschehen? Es ist mittlerweile einige Zeit ins Land gegangen. Und, Herr Kollege Vogt, hat sich in der Zeit viel Positives getan? – Ich würde sagen: In Bezug auf das Jugendmedienschutzgesetz und auf die staatsvertraglichen Regelungen ruht seitdem still der See. Wir wissen nur, dass die Ministerpräsidenten im Herbst vorigen Jahres die Rundfunkkommission der Länder aufgefordert hat, einen neuen Entwurf zu erarbeiten.

Meine Damen und Herren, die Situation ist ja seit 2010 eher noch viel komplizierter geworden: Mangelnde Anonymität und Datenunsicherheit im Netz haben ganz neue Dimensionen erreicht. Die jungen Leute haben sicher keine Probleme mit Nutzungskompetenz, aber mit Stalking, Sucht und Mobbing. Die sozialen Netzwerke bringen erhebliche Probleme, und Kinder sind kaum noch zu schützen, nicht alleine vor jugendgefährdenden Angeboten, sondern vor allem vor den Folgen einer Mediennutzung, nach der zum Beispiel die Attraktivität eines Menschen vor allen Dingen an der Zahl der Followers, Friends oder Likes orientiert wird, mit den entsprechenden Folgen für die Verlierer dieser Kampagnen.

Die Social Medias selbst machen die Inhalte immer offener zugänglich. Heute übrigens gibt es gerade eine Veränderung: Facebook hat ab heute ermöglicht, dass auch Minderjährige ihre Inhalte allgemein öffentlich zugänglich machen können. Allerdings erscheint, wie Facebook vorhin mitteilt, ein Warnhinweis, in dem man sagt, welche Folgen und Konsequenzen das hat. Aber, auch Minderjährige können jetzt auf Facebook ihre Informationen allgemein öffentlich bekannt machen.

Es gibt also dringenden Handlungsbedarf für Aufklärung, Hilfe und Regeln. Andreas Krautscheid fragte damals ganz selbstkritisch, ob man sich nicht viel Ärger und Nachsitzen beim Staatsvertrag hätte ersparen können, wenn man die Absichten früher mit den Leuten aus der Netzgemeinde besprochen hätte.

Damit sind wir ja beim heutigen Antrag der Piratenfraktion. Wie sieht es denn mit den Informationen aus? – Ende April dieses Jahres informierte die Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien den Ausschuss über den Stand der Novellierung des Rundfunkstaatsvertrages. Kernsatz des Berichtes ist die erste Zeile. Da heißt es: „Zurzeit liegt noch kein Entwurf eines 16. Rundfunkän-derungsstaatsvertrages vor ...“ Und weiter wird mitgeteilt: Die Fachebene erarbeitet zurzeit Vorschläge zum Medienkonzentrationsrecht und zum Jugendmedienschutz.

Die Antwort auf die Große Anfrage der Piraten bringt uns da nicht schrecklich viel weiter. So möchte ich nun zu dem Antrag der Piratenfraktion kommen.

Dass die Arbeitsweise der Rundfunkkommission intransparent ist, das haben wir auch hier schon bei einer anderen Debatte kritisch angemerkt, denn das stimmt. Bei einer intransparenten Arbeit wird die Landesregierung ein erneutes Scheitern von Regelungen des Jugendmedienschutzes billigend in Kauf nehmen. Ja, diese Gefahr ist ganz real. Richtig ist auch die Forderung nach regelmäßiger Unterrichtung der Landtagsabgeordneten über den Sachstand der Verhandlungen, und das nicht nur formal, sondern auch inhaltlich.

Aber andere Ihrer Lösungsansätze sind höchst problematisch. Nehmen wir Ihre Forderung nach einem dauerhaften Online-Konsultationsportal. Die Landesregierung hat bei dem Online-Prozess zum Landesmediengesetz – was ja, wie ich neuerdings weiß, keinen Entwurf darstellt, sondern eher eine Ideensammlung zu einem Landesmediengesetz – vor allen Dingen als Ergebnis bekommen, dass sich die gemeldet haben, die finanziell betroffen wären, wenn sie beschnitten würden, nämlich die Bürgerfunker. Es haben sich fast nur Bürgerfunker gemeldet. Dieses Online-Portal ist ein ziemlicher Schuss in den Ofen.

Das heißt, damit kann man nicht unbedingt auch die Transparenz und Nachfrage erreichen, die man sich wünscht. Die Beteiligung der Öffentlichkeit entbindet nicht von den Kommunikationsanforderungen mit Fachleuten und den politisch Verantwortlichen.

Auch eine generelle Öffentlichkeit der Sitzungen der Rundfunkkommission mit Live-Streaming scheint mir nicht zielführend. Wir haben übrigens im Rundfunkrat des WDR gerade noch darüber debattiert und haben gesagt: Es gibt gute Gründe dafür, Sitzungen sowohl mit öffentlichen als auch nichtöffentlichen Teilen zu machen. Eine generelle Öffentlichkeit ist nicht zielführend.

Aber dass die Rundfunkkommission auch über sich selbst deutlich besser informieren muss, das ist zu unterstreichen. Versuchen Sie nur einmal, die Mitglieder der Rundfunkkommission im Internet herauszubekommen. Außer der Vorsitzenden bekommen Sie noch nicht einmal die Mitglieder der Rundfunkkommission heraus.

Einer Verfassungsänderung zugunsten eines imperativen Mandates bedarf es auch nicht. Die Durchsetzung und Entscheidungsfähigkeit des Parlamentes ist auch bei Gemeinschaftsbeschlüssen aller Länderparlamente gegeben, wie das Scheitern im Jahr 2010 gezeigt hat.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wenn wir Ihren Antrag ablehnen, heißt das nicht, dass wir die Landesregierung nicht dennoch dringlich an die Gebote der Transparenz und Information erinnern, damit die Fachpolitiker die Entwicklung der Staatsverträge begleiten können.

Wenn der Antrag der Piraten noch einmal auf die Dringlichkeit eines seit 2010 liegen gebliebenen Vertragsprojektes aufmerksam gemacht hat, dann hat er ein wichtiges Ziel erreicht – nicht zuletzt im Interesse der Jugendlichen, der Kinder und der Menschen, die man verharmlosend „Community“ nennt. – Schönen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Sternberg. – Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herr Bolte.

Matthi Bolte (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist bald drei Jahre her, dass der Landtag in seiner Sitzung am 16. Dezember 2010 den 14. Rundfunkänderungs-staatsvertrag einstimmig abgelehnt hat. Das war, wie Prof. Sternberg es gerade schon umrissen hat, ein bemerkenswerter Vorgang, auch wenn es nicht der allererste abgelehnte Staatsvertrag war, sondern der zweite.

Ich glaube aber, es ist tatsächlich ein bemerkenswerter Vorgang, aus dem – das habe ich damals auch schon gesagt – gerade für uns als Landtag auch eine Verantwortung erwachsen ist, bei der Gestaltung eines zukunftsfähigen Kinder- und Jugendmedienschutzes mitzuwirken.

Wir haben heute in dieser 42. Sitzung nicht die Antwort auf das Leben des Universums und den ganzen Rest vorliegen, aber immerhin die Antwort auf eine Große Anfrage der Piratenfraktion. Ich finde, die wichtigste Antwort aus dieser Großen Anfrage ist: Es gibt schlicht und ergreifend noch keinen neuen Entwurf für einen neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag. Aber es gibt Vorgaben und Leitlinien, anhand derer eine solche Novelle entstehen soll.

Wir haben immer gesagt – das ist auch weiterhin der Fall –: Wir wollen einen Kinder- und Jugendmedienschutz, der effektiv wirkt, der die Freiheit des Internets achtet und der auch in technischer Hinsicht der Netzrealität angemessen ist. Ich finde, in der Antwort der Landesregierung sind viele Eckpunkte erkennbar, die das widerspiegeln.

Das oberste Ziel der Neufassung eines Staatsvertrages muss eine rechtssichere und für alle nachvollziehbare Regelung sein. Es war gerade dieses Thema, meine Damen und Herren, das damals bei sehr vielen Menschen Verunsicherung hervorgerufen hat. Wenn man sich den Staatsvertrag vornimmt, dann muss das gewährleistet sein.

Auch die Frage der Freiwilligkeit war damals hoch umstritten. Dass Freiwilligkeit wirklich freiwillig sein muss, ist ein Thema, das wir aufgreifen müssen. Die Frage des Anbieter-Begriffs wird immer wieder thematisiert. Das sind alles Fragen, bei denen wir aus der Novelle 2010 für eine Neuregelung lernen müssen.

Der zweite Punkt, den ich aufgreife, ist der, dass es der Netzrealität angemessen sein muss, worüber wir da sprechen. Das ist die Tatsache, dass die Welt im Internet eine andere ist als in den klassischen Medien. Dem muss sich der Kinder- und Jugendmedienschutz stellen. Das machen wir, wenn wir Kinder und Jugendliche in der Medienkompetenz fördern. Herr Kollege Vogt hat eben schon viele Projekte umrissen, die es gibt, mit denen wir unter Rot-Grün Verbesserungen herbeigeführt haben.

Es geht aber auch um neue Regelungsinhalte wie User-generated Content. Das hat damals viel Verunsicherung, viel Kritik herbeigeführt. Dazu kommen Fragestellungen wie der internationale Rahmen, den das Internet mit sich bringt, aber auch neuere Entwicklungen wie mobiles Internet, bei dem wir es auch mit Regelungshorizonten zu tun haben, die wir aus anderen Bereichen der Medienregulierung so nicht kennen.

Was ich auch an einer Neufassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages ganz wichtig finde, ist die Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche auch unterschiedliche Schutzbedürfnisse und Schutznotwendigkeiten haben.

Meine Damen und Herren, ich glaube, das waren eher die kritischen Punkte als allein die Frage, ob es genügend Konsultationen, genügend Beteiligung der Community gab. Ich glaube, es waren eher die inhaltlichen Fragestellungen, die damals zum Scheitern der Novelle geführt haben.

Ich will aber auch sagen, dass durchaus viel passiert ist. Man kann sich nicht hier hinstellen und sagen, es sei nichts passiert, es habe keine Beteiligung gegeben. Auch das ist gerade schon umrissen worden. Die Landesregierung hat ja eine breite Beteiligung, eine breite Online-Konsultation genau zu diesem Thema Jugendmedienschutz durchgeführt: Wie kann das zukunftsfähig aufgestellt werden?

Es hat auch Verbesserungen bei den Informationsrechten bei der Erstellung von Staatsverträgen gegeben. Der Landtag wird frühzeitig informiert, wenn Staatsverträge am Horizont auftauchen. Wir haben insgesamt, glaube ich, auch die Chance ergriffen, die Diskussion neu und mit vielen Beteiligten zu führen. Es gab, wie gesagt, diverse Diskussionen und Konsultationen. Sich hinzustellen und zu behaupten, es sei gar nichts passiert, ist ziemlich neben der Realität.

Ich finde es richtig, dass dieser Prozess viel Zeit beansprucht, Herr Prof. Sternberg. Sie haben das eben als eine liegen gebliebene Baustelle thematisiert. Nein, das finde ich überhaupt nicht. Es ist völlig richtig, dass man sich die Zeit nimmt. Wir haben es damals ganz klar gesagt. Es geht nicht darum, dass wir ein paar Formulierungen aus der alten Novelle ändern, und auch nicht darum, das Ganze ein bisschen hübscher zu verkaufen. Vielmehr geht es um einen Rechtsrahmen, der einen Rahmen für die Bedingungen des digitalen Zeitalters schafft.

(Beifall von den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss zum Schluss kommen. Mir ist es aber schon wichtig, zu betonen, dass wir in den vergangenen drei Jahren Verbesserungen bei den Informationsmöglichkeiten für das Parlament herbeigeführt haben. Das ist richtig so. Es ist auch richtig, dass wir als Parlament den Anspruch haben, politischen Willen zu formulieren. Ich glaube aber, dass das, was Sie mit dem imperativen Mandat vorgeschlagen haben, so nicht funktionieren wird. Es kann auch nicht funktionieren, wenn eine Landesregierung überhaupt keine Möglichkeiten mehr hat, in Verhandlungen Spielräume aktiv zu nutzen.

Lassen Sie uns auch diese Fragen in der vor uns liegenden Ausschussdebatte thematisieren. Lassen Sie uns das Thema „zukunftsfähiger Kinder- und Jugendmedienschutz“ gemeinsam vernünftig ausgestalten. Das werden wir im Ausschuss tun – und nicht nur dort; das verspreche ich Ihnen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Bolte. – Für die FDP-Fraktion kommt nun Herr Kollege Witzel ans Rednerpult – natürlich nur, wenn er will. Davon gehe ich aber aus.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Sie kennen doch Herrn Witzel!)

– Eben.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Landesregierung hat in ihrer Vorbemerkung auf die Antwort zur Großen Anfrage 6 zwei wichtige Sätze festgeschrieben. Ich darf zitieren:

„Jugendschutz liegt in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Er hat seinen Bezugsrahmen insbesondere innerhalb der Familie und in der Schule, aber auch im sozialen Gefüge allgemein und damit ebenso in Bezug auf die Nutzung moderner Medien.“

Diesen Aussagen können Liberale gern zustimmen. Dem Schutz unserer Kinder und Jugendlichen müssen wir besondere Bedeutung beimessen. Gleichzeitig müssen wir uns aber bewusst sein, dass gesetzliche Regelungen alleine nicht ausreichend sind. Möglicherweise können sie an der einen oder anderen Stelle sogar kontraproduktiv sein.

Was für uns als Liberale gerade im Bereich der modernen Medien zählt, ist der Auf- und Ausbau von Kompetenz, nämlich der Medienkompetenz. Diese Ausbildung der Medienkompetenz muss sich auch gesamtgesellschaftlich niederschlagen.

Wer einen effektiven Jugendschutz will, darf sich nicht auf die Jugendlichen selbst beschränken. Auch Eltern und Lehrer, also öffentliche Multiplikatoren, müssen sich im breit gefächerten Angebot der Medienkompetenzförderung wiederfinden können.

Die Landesregierung hat hierzu für den Haushalt 2014 einen Ideenansatz geliefert. In Kürze wird an geeigneter Stelle noch gesondert darüber zu sprechen sein, was genau Sie sich dort inhaltlich vorstellen.

Nach der Antwort auf die Große Anfrage der Piraten sollte die Rundfunkkommission den Regierungschefs einen Entwurf für einen Staatsvertrag bis zum Herbst dieses Jahres vorlegen. Vielleicht erfahren wir gleich noch, ob dies nun schon erfolgt ist oder nicht, und erhalten auch eine Antwort auf die Frage, ob mittlerweile absehbar ist, über welchen Zeitrahmen bis zu einem neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wir uns unterhalten.

Nun komme ich zum Antrag der Piraten. Ihr Antrag bezieht sich im Grunde auf die bereits bestehende Erkenntnis des Landtags, dass die Transparenz bei der Ausarbeitung von Staatsverträgen oft zu wünschen übrig lässt und Länderparlamente faktisch nur eine Abnickfunktion haben. Das ist natürlich nicht in Ordnung. Alle selbstbewussten Demokraten sollten das in der Tat so sehen.

Die heutige Situation ist zweifelsfrei unbefriedigend. Wir haben dies als FDP-Landtagsfraktion verschiedentlich dargestellt und gerade am Beispiel dieses Jugendmedienschutz-Staatsvertrages in der 15. Legislaturperiode hierzu umfangreich debattiert. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eigene Antragsvorhaben dazu vorgelegt. Hier ist es auch notwendig, den Partizipationsprozess vor Vorlage eines endgültigen Textes für Staatsverträge zu optimieren.

Nach dem Scheitern des 14. Rundfunkänderungs-staatsvertrages sollte im Landtag Nordrhein-Westfalen eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden – so lautete die seinerzeitige Verabredung zwischen den Fraktionen –, die sich mit der Frage von mehr Transparenz in diesem Sinne beschäftigen sollte. Passiert ist – natürlich auch infolge der Diskontinuität der letzten Legislaturperiode – bislang leider nichts.

Rückblickend ist Folgendes zu sagen: In der Vergangenheit hat es seitens der Landesregierung zwar teilweise Bemühungen gegeben, die Fraktionen im Vorfeld und während der Beratungen detaillierter zu informieren. Ein gutes Beispiel dafür ist der Glücksspielstaatsvertrag. Seinerzeit gab es verschiedene Konsultationsrunden beim Chef der Staatskanzlei. Das ist aber längst nicht an allen Stellen so praktiziert worden. Diese Vorgehensweise einer möglichst ausführlichen Information aller Fraktionen in diesem Haus ist offenbar im Zuge der Neuwahlen wieder zurückgefahren worden. Insoweit ist aus der behaupteten Koalition der Einladung eher wieder eine praktizierte Koalition der Geheimhaltung geworden.

Das Anliegen der Piraten ist deshalb grundsätzlich zu begrüßen. Inhaltlich geht ihr Antrag unseres Erachtens jedoch zu weit. Ob wir überall Internet-Livestreaming und Aufzeichnungen von Sitzungen der Rundfunkkommission, und zwar bei grundsätzlicher Öffentlichkeit ihrer Sitzungen, brauchen, kann man zwar debattieren. Das wird aber sicherlich an anderen Stellen wieder zu neuen Problemen führen.

Das alleinige Bereitstellen eines dauerhaften Online-Konsultationsportals wäre auch nicht ausreichend. Das würde nämlich die Qualitätsfrage des Dialogs und der Auswertung für sich genommen noch nicht lösen. Außerdem stellen sich hier organisatorische und finanzielle Fragen.

Die FDP-Landtagsfraktion begrüßt daher die Entscheidung der Kollegen der Piratenfraktion, über diesen Antrag heute nicht direkt abstimmen zu lassen, sondern ihn in den Fachausschuss überweisen zu lassen. Dieser Überweisung stimmen wir selbstverständlich gerne zu, um dort noch eine detailliertere Diskussion zu führen.

Eine letzte Anmerkung – denn das sollte uns allen wichtig sein, sowohl den regierungstragenden Fraktionen als auch der Opposition –: Wir sollten selbstbewusste Demokraten und selbstbewusste Parlamentarier sein, die ihre Rechte als Verfassungsorgan bei Staatsvertragsverhandlungen einfordern. Das ist eine Frage unseres Selbstverständnisses. Unabhängig von der konkreten politischen Mehrheit und der augenblicklichen Rollenverteilung müssen wir Interesse daran haben, das Parlament an sich zu stärken. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Witzel. – Nun spricht für die Landesregierung die zuständige Ministerin, Frau Dr. Schwall-Düren.

Dr. Angelica Schwall-Düren, Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Sehr geehrte Abgeordnete! Zunächst möchte ich einige Worte zum Antrag der Fraktion der Piraten „Mehr Transparenz in der Arbeit der Rundfunkkommission“ sagen: Die Landesregierung hält selbstverständlich eine umfassende Information des Landtags zum Stand der Arbeiten an Staatsverträgen für geboten. Das Scheitern des 14. Rundfunkände-rungsstaatsvertrages – Sie haben es schon mehrfach angesprochen – hat das noch einmal ganz eindeutig unterstrichen. Ein Element dabei ist die von der Fraktion der Piraten zitierte Vereinbarung mit dem Landtag. Diese Vereinbarung ist gut und richtig, sie ist gängige Praxis dieser Landesregierung genauso wie früherer Landesregierungen.

Die jetzige Landesregierung ist der Meinung, dass die Einbindung des Landtags darüber hinaus noch weiter verbessert werden kann, um die Vorstellungen des Parlaments frühzeitig in das Verfahren einbeziehen zu können. Denn wenn dies erst nach der Befassung der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder mit einem Staatsvertragsentwurf und kurz vor dessen Unterzeichnung geschieht, müssten die Veränderungswünsche des Landtags ja erneute Verhandlungen im Länderkreis auslösen, was – das werden Sie mir zugestehen – sehr schwierig wäre.

Aus diesem Grund hat die jetzige Landesregierung eine zusätzliche Unterrichtung des Landtags eingeführt. Beim 15. Rundfunkänderungsstaatsvertrag – wir lernen schnell – wurde der Entwurf der Fachebene, der noch nicht einmal auf Staatssekretärsebene gebilligt war, über die medienpolitischen Sprecher dem Landtag NRW zugeleitet. Der Entwurf sollte so im zuständigen Ausschuss diskutiert werden können. Bei dieser Praxis kann die Meinungsbildung des Landtags in die endgültigen Beratungen der Rundfunkkommission einfließen. Erst im Anschluss daran wird dann die Regierungschefebene mit dem Text befasst.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Landesregierung neben der zusätzlichen Unterrichtung des Landtags von sich aus über die Arbeit der Rundfunkkommission dem zuständigen Ausschuss berichtet; so ist es zum Beispiel in der September-Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien geschehen. Die Forderung der Piraten, der Landtag solle zukünftig verbindliche Verhandlungsrichtlinien für die Landesregierung beschließen, verkennt die nach der Landesverfassung bestehende Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Legislative; denn Staatsverträge werden von den jeweiligen Regierungen verhandelt, ganz abgesehen davon – das ist schon von Herrn Bolte angesprochen worden –, dass ein imperatives Mandat jegliche Verhandlungsmöglichkeiten beschränken würde.

Das verkürzt andererseits nicht die Rechte des Parlaments, denn die Staatsverträge – auch hierfür ist der 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrag ein Beispiel – werden selbstverständlich nur wirksam, wenn der Landtag zugestimmt hat.

Vor diesem Hintergrund möchte ich zusammenfassen: Wir unterrichten so umfassend wie möglich. Dafür brauchen wir den Anstoß der Piraten nicht.

Nun noch kurz zum zweiten Punkt, der Großen Anfrage 6: Ich möchte hierzu hervorheben, dass sich die Landesregierung nach Scheitern des 14. Rundfunkänderungsstaatsvertrages dafür eingesetzt hat, zügig erneut an eine Überarbeitung des Staatsvertrages zu gehen, und das unter Berücksichtigung der geäußerten Bedenken und unter Einbeziehung aller Beteiligten. Noch unmittelbar im Jahr 2011 hat die Landesregierung hierzu eine Anhörung durchgeführt und damit einen Impuls zur Weiterführung der Arbeiten auf Länderebene gesetzt.

Die Rundfunkkommission hat zuletzt am 13. September in Erfurt zum Jugendmedienschutz beraten. Herr Witzel, wir sind uns völlig einig, dass nicht nur die gesetzliche Regelung entscheidend ist, sondern auch die Medienkompetenz. Sie wissen, dass wir hier eine Menge tun. Ich darf nur daran erinnern, dass wir in den Schulen mit großem Erfolg den Medienpass eingeführt haben. Da werden wir auch in Zukunft sehr aktiv sein.

In Bezug auf die Arbeit in der Rundfunkkommission besteht aber noch weiterer Klärungsbedarf. Deshalb ist sie übereingekommen, nicht wie ursprünglich vorgesehen bereits zur Jahres-MPK einen Staatsvertragsentwurf vorzulegen. Eine Arbeitsgruppe soll zunächst Eckpunkte für eine Novellierung des Jugendmedienschutzes erarbeiten und diese dann der Rundfunkkommission im Dezember 2013 zur Diskussion vorlegen.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung selbst hat in der Beantwortung der Großen Anfrage durchaus ihre Eckpunkte in Form von Novellierungsbedarf formuliert; ich darf an die Antwort auf die Frage 4 erinnern. In der Antwort auf die Anfrage ist sehr deutlich gemacht worden, welch breite Gruppe von Experten und Expertinnen einberufen wird, um an der Erarbeitung des neuen Staatsvertrages mitzuwirken.

Das hindert niemanden daran – auch Sie, die Abgeordneten, nicht –, seine Vorstellungen zum Jugendmedienschutz zu formulieren, zur Debatte zu stellen und in den Prozess einzuspeisen. Ich bin gespannt auf die Lösungsvorschläge, die aus den verschiedenen Fraktionen dazu kommen werden. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin. – Ich habe keine weiteren Wortmeldungen.

Also kommen wir zur Abstimmung, erstens über den Antrag Drucksache 16/4020. Wie schon in den Reden angesprochen, haben sich die Fraktionen mittlerweile darauf verständigt, den Antrag nicht direkt abzustimmen, sondern federführend an den Ausschuss für Kultur und Medien sowie zur Mitberatung an den Hauptausschuss zu überweisen. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer stimmt dem so zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Ich will zweitens darauf hinweisen, dass die Große Anfrage 6 heute beraten wurde. Es liegen auch dazu keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Damit schließe ich die Beratungen zu der Großen Anfrage 6 und stelle fest, dass sie damit als erledigt betrachtet werden kann.

Ich rufe auf:

4   Gesetz zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes

Gesetzentwurf
der Landesregierung
Drucksache 16/4139

erste Lesung

In Verbindung mit:

Unser Land braucht eine Neukonzeption der Flüchtlingsaufnahme – hin zu einer humanen und dezentralen Unterbringung in ganz NRW

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4164

Ich eröffne die Beratung und erteile für die Landesregierung Herrn Minister Jäger das Wort.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zahlen sprechen für sich und eine eindeutige Sprache. Allein im Monat September kam es in Deutschland zu weiteren 11.000 Erstanträgen auf Asyl; für das laufende Jahr sind es bereits jetzt über 74.000. Zum Vergleich: Im Vorjahr waren es lediglich 40.000.

Auch die Zahlen für Nordrhein-Westfalen sind deutlich gestiegen. Bis Ende September wurden fast 6.000 Anträge mehr gestellt als im selben Vorjahreszeitraum. Die Zahl der Anträge nimmt rasant zu; das stellt das Land, vor allem aber auch die Kommunen, vor große Aufgaben.

Das sind nüchtern klingende Zahlen, hinter denen sich jeweils das Schicksal von Menschen verbirgt, die in diesem Land Schutz suchen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ihnen eine menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung zu stellen, ist Aufgabe dieses Landes, und dazu kann es keine zwei Meinungen geben.

(Allgemeiner Beifall)

Das bedeutet für das Land Nordrhein-Westfalen, Erstaufnahme und zentrale Unterbringungseinrichtungen vorzuhalten. Das bedeutet vor allem für unsere Kommunen, die das letzte Glied in der Kette sind, dass sie die Hauptlast zu tragen haben.

Genau deshalb wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Kommunen entlasten, vor allem die Kommunen, auf deren Gebiet für mindestens sechs Monate eine Aufnahmeeinrichtung des Landes betrieben wird. Dazu sollen auch diejenigen zählen, die nur vorübergehend als Unterkünfte genutzt werden.

Wir wollen gerade mit dieser Entlastung Anreize schaffen, damit sich Kommunen für die Idee einer Aufnahmeeinrichtung des Landes innerhalb ihrer Gemeinde erwärmen können. Wir wollen hierbei die Kommunen überzeugen, wir wollen sie mitnehmen. Deshalb suchen wir weiterhin den Dialog vor Ort. Wir wollen Ängste abbauen sowie Vorurteilen und Verunsicherungen begegnen.

Gestatten Sie mir an dieser Stelle folgenden Hinweis: Hierzu zählt eigentlich auch die Verpflichtung aller demokratischen Politiker vor Ort, mit diesem Thema nicht zündeln zu wollen,

(Allgemeiner Beifall)

denn hierbei sind Gewinner nie die demokratischen Parteien. Gewinner einer solchen Diskussion sind genau die, die wir nicht in den Parlamenten sehen wollen.

Eine weitere Entlastung betrifft die Mehrausgaben der Kommunen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Diese haben sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erhöht, und wir reagieren darauf. Statt bisher 14,4 Millionen € erhöhen wir die Zuweisungen an die Kommunen auf über 20 Millionen €. Diese Zuweisungen werden wir natürlich dann anpassen, wenn der Bundesgesetzgeber das entsprechende Urteil umgesetzt hat.

Ich will auf den Antrag der Piraten hier nicht näher eingehen, weil die parlamentarischen Regularien vorsehen, dass man darüber im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fachlich mit berät. Aber seien Sie sicher: Die Landesregierung ist sich der bestehenden ernsten Lage, insbesondere für unsere Kommunen, bewusst. Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf den Grundstein legen, dass diese Kommunen bei dieser wichtigen und schweren Aufgabe Zug um Zug entlastet werden. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Jäger. – Nun spricht für die Piratenfraktion Herr Kollege Herrmann.

Frank Herrmann (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Bürgerinnen und Bürger im Saal und im Stream! Gestatten Sie mir zu Beginn meiner Redezeit einige Anmerkungen zur Flüchtlingssituation in Europa und zur Politik der Bundesregierung in dieser Sache.

Ich schäme mich dafür, dass die Verantwortlichen in Berlin trotz der schrecklichen Zustände für Flüchtlinge in den Ländern Südeuropas ein „Weiter so!“ propagieren. Zwar diskutieren wir aufgrund der letzten Tragödien im Mittelmeer vor Lampedusa endlich ein wenig über die Auswirkungen einer „Festung Europa“. Aber die Bundesregierung hat nun schon mehrfach angekündigt, dass sie an der Abschottung Europas und Deutschlands vor dem auch von ihr und von uns verursachten Elend in der Welt nichts ändern will.

Im Jahr 2011 sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks 1.500 Menschen im Mittelmeer ertrunken; im letzten Jahr sollen es 1.700 gewesen sein. Hinzu kommt eine sehr hohe Dunkelziffer. Was tun wir dagegen? Wir buttern jetzt Millionen Euro in Überwachungssysteme wie „Eurosur“, die zur Ausgrenzung und zur Abschottung gedacht sind, und treiben damit die Menschen dazu, in noch kleineren Booten noch gefährlichere Routen über das Meer zu suchen.

Dann kommt der Bundesinnenminister noch daher und brüstet sich mit den großen Zahlen von Flüchtlingen, die wir in Deutschland aufnehmen, wo doch nachweislich andere Länder in Europa drei- bis viermal mehr Flüchtlinge im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl aufnehmen.

Ohne es groß zu erzählen, ist er mit seinem Einfluss in Brüssel dann immer noch ständig dabei, die Reisefreiheit der Menschen in Europa zu torpedieren. Das ist wirklich das Letzte, und ich hoffe, dass er in der kommenden Bundesregierung nicht mehr unser Innenminister sein wird.

(Beifall von den PIRATEN)

Mut macht mir hingegen, dass die Grünen im Bund eine Generalüberholung der europäischen Asylpolitik fordern und dies als Kernpunkt in die Verhandlungen mit der CDU eingebracht haben sollen, auch wenn das im Moment wohl keine weiteren Folgen haben wird.

Wenn der SPD-Bundesvorstand Ralf Stegner fordert, dass Art. 1 Grundgesetz – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – für alle Flüchtlinge, Asylbewerber, Bürgerkriegs- und auch Armutsflüchtlinge gelten soll, dann ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist aber gut, dass er es noch einmal deutlich gemacht hat.

Hierzu sollte er aber dringend seinen Parteikollegen Olaf Scholz in Hamburg anrufen; denn nach aktuellen Berichten werden dort gezielt Menschen mit schwarzer Hautfarbe auf der Straße kontrolliert und erkennungsdienstlich behandelt, um festzustellen, ob sie zu einer Flüchtlingsgruppe gehören, die sich seit Wochen in Hamburg aufhält. Das ist, wie ich finde, ein unglaublicher Zustand. Dagegen protestieren Menschen in Hamburg, und das zu Recht. Es ist dringend geboten, nicht mit der Bereitschaftspolizei dagegen vorzugehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, laut Umfragen möchte jeweils mehr als die Hälfte Ihrer Mitglieder und Anhänger, dass Flüchtlingen geholfen wird und dass wir in Deutschland mehr notleidende Menschen aufnehmen. Mein Appell an Sie: Nehmen Sie das als Auftrag und handeln Sie danach.

Herr Minister Jäger, wenn Sie ein neues humanitäres Konzept für die Flüchtlingspolitik in Europa vorschlagen möchten – ich habe so etwas nämlich in der Zeitung gelesen –, dann begrüßen wir das. Ich hoffe aber zunächst, dass Sie keine Hundertschaften der Bereitschaftspolizei NRW nach Hamburg schicken. Vielleicht können Sie gleich noch einmal klären, ob das so ist oder nicht. Dort sollen sich Hundertschaften aus fünf Bundesländern aufhalten.

Doch nun zur Situation in Nordrhein-Westfalen: Hier darf es kein „Weiter so!“ geben, und hier können wir mit vereinten Kräften einiges an Hilfe für die Verbesserung der Situation der Flüchtlinge auf den Weg bringen. Die Änderungen des Flüchtlingsgesetzes sind ein erster Schritt dazu. Wir begrüßen das ausdrücklich. Aber Sie wissen auch, dass wir noch viel mehr Schritte machen müssen.

Die Summen für die Unterbringung der Asylsuchenden decken die Kosten in den Kommunen nicht. Ich weiß, dass Sie für den Haushalt 2014 70 Millionen € mehr eingeplant haben. Das ist gut, aber die Kommunen sind laut Flüchtlingsaufnahmegesetz verpflichtet, die Menschen unterzubringen. Daher ist es die Pflicht des Landes, den Kommunen genug Geld zur Verfügung zu stellen.

Deshalb ist es kein Wunder, wenn in den Kommunen an allen Ecken und Enden gespart wird und die Menschen schlecht versorgt sind. Container-Dörfer mit 450 Menschen und mehr oder ehemalige Klassenräume als Wohn- und Schlafräume für neun Menschen auf unbestimmte Zeit – das führt zu sozialen Spannungen bei allen Menschen, nicht nur bei Flüchtlingen.

Das muss vermieden werden, und deswegen fordern wir mit unserem Antrag Mindeststandards für die Unterbringung. Dazu bieten wir auch Lösungsbeispiele wie die Unterbringung in angemieteten Wohnungen entsprechend dem Leverkusener Modell an.

Ich will jetzt nicht alle Forderungen und Notwendigkeiten aufzählen. Denn Sie wissen eigentlich alle, dass wir dringend eine Reform brauchen. Ich möchte Sie jedoch alle bitten, dass wir parteiübergreifend versuchen, Verbesserungen in NRW zu erreichen. Das Thema ist für parteipolitisches Kalkül absolut nicht geeignet, weil es gefährlich ist, mit dem Feuer der Fremdenfeindlichkeit zu spielen, und weil es dafür zu wichtig ist. Denn hier geht es um das Leben von Menschen, nicht nur um ihre Würde.

Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. – Danke.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Herrmann. – Für die SPD-Fraktion spricht nun Herr Kollege Körfges.

Hans-Willi Körfges (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir heute anlässlich des Gesetzesentwurfs der Landesregierung und der Vorschläge der Fraktion der Piraten hier die Gelegenheit haben, uns über ein ernstes Thema auszutauschen. Auch ich möchte mit einigen eher grundsätzlichen Anmerkungen beginnen.

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig: Die Zahl der Asylanträge steigt. Ja, es ist richtig: Die Flüchtlingsströme nehmen zu. Und es ist richtig, dass Land und Kommunen mit der Bewältigung der gestiegenen Zahl an Menschen, die in Deutschland Schutz und Hilfe suchen, vor Probleme gestellt werden. Das ist unbestritten.

Vor dem Hintergrund ohnehin knapper Finanzmittel sind das sicherlich erhebliche Probleme, aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch Akzeptanzprobleme. Insbesondere Herr Minister Jäger hat darauf abgehoben.

Lassen Sie mich eines ganz deutlich sagen: Es handelt sich nicht in erster Linie um kommunale Probleme, es handelt sich nicht in erster Linie um Landesprobleme, sondern, liebe Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich in erster Linie um existenzielle Probleme von Menschen, die in ihren Herkunftsländern von Krieg, Verfolgung, Ausgrenzung, Not und Hunger bedroht sind. Diese Menschen setzen zum Teil in geradezu aberwitziger Art und Weise – und die Frage nach der Verantwortung ist gerade auch schon gestellt worden – ihr Leben aufs Spiel, um dieser Situation für ihr eigenes Wohl und das ihrer Familien zu entkommen. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir gefordert, und zwar nicht nur materiell.

(Beifall von den PIRATEN)

Ich frage mich: Was stimmt nicht in einer Welt, in der solche Zustände herrschen? Was tun wir in Europa, wo wir doch alle an Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und den Anspruch auf ein Leben ohne Not glauben? Was machen wir ganz konkret, um auch mit den Ursachen für diese Flüchtlingsströme umzugehen? Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, was machen wir, um irrationale Befürchtungen und Ängste abzubauen, statt sie durch übertriebenes Schutzdenken aufzubauen, wie das in einigen Fällen geschieht. Das haben wir gerade bereits anhand einiger Beispiele gehört. Ich will das nicht vertiefen, um bei diesem Thema nicht unnötig auszugrenzen. Was machen wir, um solche Ängste abzubauen?

Ich sage noch etwas zu den irrationalen Befürchtungen. Schauen Sie sich doch bitte einmal die unmittelbaren Anliegerstaaten von Syrien, zum Beispiel Jordanien, an. Dort leben 5,5 Millionen Menschen, davon 500.000 Bürgerkriegsflüchtlinge. Ich denke, dort gibt es eine andere Relation bezüglich der Probleme als in Europa. Insoweit halte auch ich den Gedanken von der Festung Europa für unerträglich, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Ich bin sehr dankbar dafür, dass der ehemalige Kollege Hermann-Josef Arentz über ein soziales Netzwerk Kontakt mit mir hält. Das ist ein sehr netter ehemaliger Kollege der CDU-Fraktion. Ich halte es für absolut richtig und notwendig, dass wir – und das habe ich jetzt ganz bewusst so gesagt – über die Parteigrenzen hinweg nach den Ursachen fragen und versuchen, das Ganze in eine vernünftige Relation zu bringen.

Es ist gut – dafür bin ich meiner eigenen Heimatstadt sehr dankbar –, dass Kommunen zwischenzeitlich offen mit der Frage umgehen, ob wir nicht mögliche Einrichtungen des Landes in unsere Stadt, auch unter dem Gedanken der dezentralen Unterbringung, möglich machen sollten. Wir müssen die Kommunen darin bestärken.

Hierin unterscheidet sich mein Ansatz ein bisschen von dem der Piraten. Wir müssen die Kommunen darin bestärken, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen. Insoweit ist es richtig, dass wir denjenigen, die Landeseinrichtungen auf ihrem Gebiet in Zukunft positiv begleiten, auf der anderen Seite die Möglichkeit einer Entlastung bieten. Das ist auch im Interesse der betroffenen Menschen richtig. Ich bin sehr froh darüber, dass meine Heimatstadt zum Beispiel offen und positiv damit umgeht. Denn das spiegelt einen Teil der gesellschaftlichen Gesamtverantwortung wider, die wir alle haben, und ist nicht nur unter materiellen Aspekten gut.

(Beifall von der SPD)

Ach ja, apropos materielle Aspekte, liebe Kolleginnen und Kollegen: Auch in dieser Hinsicht bin ich sehr dankbar dafür, dass wir quasi im Vorgriff im Landeshaushalt Vorkehrungen dafür treffen, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem notwendigen Lebensunterhalt von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern umgesetzt wird.

Nur: Ich finde, da müssen wir auch mit dem Bund zu einer vernünftigen Gesamtregelung kommen. Das ist keine Landessache. Das ist keine Landesverantwortung. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Ich will das jetzt aber nicht ausgrenzend sagen, sondern: Ich hoffe – da sind ja eben auch schon Dinge benannt worden –, dass wir uns da mit dem Bund vernünftig einigen können.

In einem anderen Punkt appelliere ich an den Bund. Wir können nicht ein „Weiter so!“ bei der Flüchtlingspolitik hinnehmen. Der Bund ist in der Verantwortung, auch der Europäischen Gemeinschaft gegenüber klarzumachen, dass das, was da zum großen Teil auch den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande suggeriert wird, nicht die richtige Grundlage für eine zukunftsorientierte Flüchtlingspolitik ist.

Ja, wir müssen an die Ursachen ran. Wir müssen den Menschen aber auch eine menschenwürdige, eine sichere Unterkunft in unserem Land ermöglichen, solange sie denn kommen und sich berechtigt hier aufhalten. All das stellt uns gemeinsam vor große Herausforderungen.

Ich bin nicht in allen Punkten mit dem Antrag der Piraten einverstanden. Ich setze auf kommunale Selbstverantwortung und nicht auf pflichtmäßige Einschränkung der kommunalen Selbstbestimmung. Aber über die Dinge, die Sie in Ihrem Antrag andeuten und ansprechen, sind wir als Sozialdemokraten gerne bereit im weiteren Verfahren mit Ihnen zu reden. Ich hoffe, dass wir im Interesse der betroffenen Menschen zu einer vernünftigen Regelung kommen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Körfges. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Biesenbach.

Peter Biesenbach (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verlauf der Debatte macht mich ein wenig betroffen. Warum? – Wir diskutieren Schicksale, die der Kollege Herrmann sehr ausführlich beschrieben hat und zu denen alle anderen sagen: Da ist was dran.

Wir erwecken bei den Medien den Eindruck, wir würden mit diesem Tagesordnungspunkt heute Flüchtlingspolitik debattieren. Wenn wir das wirklich vorhätten, dann müssten wir uns schämen. Denn für diese Frage dann nur den Redeblock I zu nehmen, entspricht weder der Bedeutung noch der Notwendigkeit.

Auslöser für unsere heutige Situation war der Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes. Das ist – wenn Sie wollen – eine Lösung, die wir jetzt herbeizuführen haben. Ich bin auch gerne bereit

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

– ich biete das auch gerne an, Frau Beer –, das Thema in den Ausschüssen deutlich auszuweiten in Richtung des Antrages der Piraten. Denn in der Beschreibung der Probleme und der Analyse der Notwendigkeiten sind wir uns alle einig. Es gibt niemanden, der an den Schicksalen zweifelt, und es gibt niemanden, der daran zweifelt, dass Europa nachdenken muss.

Ich bin sicher, das wird auch bei den Koalitionsverhandlungen, die demnächst in Berlin laufen werden – egal, zwischen wem –, ein wichtiges Thema sein.

Es wird auch ein Thema sein, das in die Europäische Union hineinragt. Während der Europawahl nächstes Jahr wird es auch ein Thema sein.

Dann ist Gelegenheit, das hier – aber bitte breiter als Block I – zu debattieren. Wir sollten das dann nicht mit Anträgen machen, sondern gemeinsam überlegen: Was können wir denn tun für die Menschen, die in Nordrhein-Westfalen sind? Wir lösen nicht die Probleme in der Außenpolitik. Aber wir ändern die Lebenssituation der Menschen, die bei uns sind.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Ich will jetzt auf einige der vorgeschlagenen Punkte eingehen.

Der Gesetzentwurf der Landesregierung enthält unbestritten drei Aspekte: eine Entlastung der Kommunen mit zentralen Asylunterkünften, Veränderungen bei Landeszuweisungen an Kommunen aufgrund veränderter Rechtsprechung und die Beseitigung von Rechtsunsicherheit über das Fortbestehen der Zuweisungsentscheidungen.

Die hehren Vorgaben, die der Minister hier angesprochen hat, finde ich darin nicht wieder. Denn, Herr Minister Jäger, Sie schieben ein Stückchen nach, lassen die Kommunen aber dennoch alleine bei den Dingen, die wirklich wichtig sind. Die Änderungen, die Sie vorschlagen, greifen für die Städte und Kommunen zu kurz. Drängende Probleme werden nicht gelöst, etwa das Problem der uneinheitlichen Praxis bei der Übernahme der Krankheitskosten und Krankenkosten überhaupt. Mit der Kostenpauschale lösen Sie diese Nöte nicht; denn wir haben manchmal Kosten bis zu 100.000 €.

Wir werden sicher während der Debatte Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren, ob und in welcher Situation wir ändern oder vielleicht auch differenzierter anbieten wollen. Auch die Landesregierung wird Gelegenheit haben, Vorschläge hierzu einzubringen.

Wir werden aber ebenfalls – vielleicht nicht nur im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf – darüber zu diskutieren haben: Wie soll denn mit Menschen umgegangen werden, die hier in Nordrhein-Westfalen sind? Denn dafür haben wir die Verantwortung. Die Flüchtlingsunterbringung, die Verbesserung der Betreuung, die soziale Beratung und Betreuung und die Umsetzung der Schulpflicht – das wären Themen, die wir originär hier lösen könnten.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Wenn der Antrag der Piraten vielleicht auslöst, dass wir darüber einmal ernsthaft reden, hätte das einen zweiten entscheidenden Schub, der Menschen auch helfen würde.

Die Fragen drängen sich auf. Nur: Wir haben noch keine Antworten gegeben. Wir haben aber auch noch nicht gemeinsam versucht, eine Antwort zu finden.

Ich biete ausdrücklich für meine Fraktion an, bei der Suche nach Antworten helfen zu wollen. Das müssen wir nicht in einzelnen Anträgen machen, sondern wir müssen gemeinsam überlegen: Was kann wirklich getan werden?

Wenn wir das als zweites Ergebnis heute festhalten und erreichen können, dann, glaube ich, haben wir dem Thema ein Stück zum Erfolg verholfen, was dem Thema auch angemessen ist. Vielleicht kriegen wir das hin abseits aller politischen Unterschiede.

(Beifall von der CDU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Biesenbach. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Frau Kollegin Düker das Wort.

Monika Düker*) (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Biesenbach, in einem Punkt muss ich Ihnen heute ausnahmsweise mal recht geben: Das wichtige Thema „Flüchtlingspolitik“ verlangt tatsächlich, auch etwas mehr in der Breite diskutiert zu werden. Ich würde mir auch wünschen, dass wir das öfter tun. Denn in der Tat ist das eine gesellschaftliche Herausforderung, die da vor uns liegt.

45 Millionen Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind derzeit weltweit auf der Flucht vor Krieg, Naturkatastrophen oder Vertreibung, Tendenz steigend, Höchststand seit 20 Jahren.

Der Krieg in Syrien wird dazu führen, dass bis zum Ende des Jahres allein 10 Millionen Syrerinnen und Syrer Flüchtlinge im eigenen Land oder im Ausland sein werden.

Die Prognose des Bundesamtes für Migration und Flucht sagt, dass wir in Deutschland zum Jahresende wahrscheinlich die 100.000er-Marke überschreiten, das heißt zum Jahresende mehr als 100.000 Erstanträge auf Asyl in Deutschland haben werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Katastrophe von Lampedusa mit mehr als 300 ertrunkenen Flüchtlingen hat die Asyldebatte wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.

Diese Katastrophen im Mittelmeer offenbaren die Mängel der europäischen Asylpolitik und vor allen Dingen die Unfähigkeit der Innenminister der Europäischen Union, daran etwas zu ändern. Kürzlich trafen sich die EU-Innenminister in Luxemburg. Und was ist dabei herausgekommen? Nichts. Es wird weiter an dem Verschiebebahnhof mit Namen Dublin-II-Verordnung festgehalten, den wir in Europa haben. Das heißt, dort, wo die Flüchtlinge einreisen, sollen sie ihren Asylantrag stellen und bitte schön auch bleiben. Nur: Die EU-Innenminister haben noch nicht gemerkt, dass dieses System inzwischen kollabiert ist. Die EU-Asylpolitik ist gescheitert. Und der EU fehlt derzeit die Kraft, etwas nach vorne zu verändern.

Beispiel: Frontex, die EU-Grenzschutzagentur. Es ist mittlerweile mehrfach durch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, dass hier gegen Menschenrechte verstoßen wird, weil Flüchtlinge von ihrem Anspruch, ihre Rechte wahrzunehmen, abgehalten werden.

Beispiel: Verteilung Dublin II. Das funktioniert doch alles nicht mehr. Rücküberstellungen aus Deutschland werden inzwischen aufgrund der Situation in den Flüchtlingsaufnahmeeinrichtungen in Italien, Polen oder anderswo gerichtlich gestoppt.

Beispiel: Aufnahmequoten. Deutschland nimmt 5.000 Syrerinnen und Syrer auf. Andere Länder machen sehr viel weniger; das ist schade. Auch hier gibt es eine völlig unabgestimmte bzw. nicht vorhandene europäische Politik.

Beispiel: Gesteuerte Zuwanderung. Völlige Fehlanzeige, eine gemeinsame europäische Arbeitsmigration mit legalen Zugangsmöglichkeiten zu Europa zu erreichen!

All das findet nicht statt.

Von den 45 Millionen Flüchtlingen weltweit landen in diesem Jahr wahrscheinlich 100.000 in Deutschland. Herr Innenminister Friedrich hält das für eine Katastrophe. Ich halte es für eine Katastrophe, dass Herr Innenminister Friedrich in Deutschland solche Sätze sagt.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD und Marc Olejak [PIRATEN])

Auf 1.000 Einwohner gerechnet liegt Deutschland in der Europäischen Union mit diesen Aufnahmen auf Platz 10 und nicht auf Platz 1.

Von den genannten 100.000 entfallen round about 20.000 auf Nordrhein-Westfalen. Von Januar bis August 2013 gab es fast 14.000 Erstanträge in NRW – bei 18 Millionen Einwohnern. Äußerungen wie Asylfluten oder ?überschwemmungen – oftmals werden ja Naturkatastrophen als Bild für die Asyleinwanderung genommen – sind hier völlig fehl am Platze.

Aber wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Das ist völlig richtig; das ist eine Herausforderung. Wir haben auch reagiert. Im Haushalt 2014 – der Minister hat es dargestellt – werden im Asylkapitel insgesamt über 200 Millionen € bereitgestellt, also 67 Millionen € mehr als im Vorjahr,

(Beifall von Hans-Willi Körfges [SPD])

um den Kommunen vor allen Dingen bei der Unterbringung und bei der Versorgung unter die Arme zu greifen. Ich finde, das ist ein faires Angebot an die Kommunen. Wir lassen sie hier nicht im Stich.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie steht es denn vor Ort mit der Willkommenskultur, die immer im Mund geführt wird? Das Ganze ist von einem „Ja, aber …“ geprägt. Die Kommunen sagen: Im Prinzip ja, selbstverständlich, aber bitte nicht vor meiner Haustür und bitte nicht in meiner Stadt. – Richtig ist, die Kommunen sind belastet, für sie ist es schwierig, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Aber bis jetzt haben alle Kommunen, in denen eine Landesaufnahmeeinrichtung eingerichtet werden soll, sehr – um es vorsichtig zu formulieren – ablehnend reagiert,

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird den Kommunen das Angebot gemacht, die Zahl der Flüchtlinge, die in einer Aufnahmeeinrichtung des Landes im Ort aufgenommen werden, mit der Gesamtaufnahmequote für Flüchtlinge zu verrechnen. Das ist ein faires Angebot an die Kommunen.

Auch meine Fraktion erhofft sich von diesem Gesetz, von diesem Angebot eine erhöhte Bereitschaft in den Kommunen unseres Landes, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und Flüchtlingen eine menschenwürdige Unterkunft, eine Willkommenskultur anzubieten. Das wünsche ich mir. – Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Düker. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Dr. Stamp das Wort.

Dr. Joachim Stamp (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Jäger hat heute, wie ich finde, sehr sachlich und sehr vernünftig ausgeführt. Das kann man auch seitens der Opposition durchaus zugestehen.

(Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Es ist aus unserer Sicht auch richtig, dass in diesem Gesetzentwurf die Kommunen mit Erstaufnahmeeinrichtungen und zentralen Aufnahmeeinrichtungen entlastet werden. Da sind wir uns hier im Hause wohl alle einig.

Wir sehen allerdings noch Beratungsbedarf und halten es für problematisch, dass diejenigen Kommunen, die nun im Gegenzug mehr Flüchtlinge aufnehmen, laut Gesetzentwurf keine finanzielle Kompensation dafür erhalten sollen, zumal es sowieso äußerst fraglich ist, ob die Landespauschalen, die der Gesetzentwurf vorsieht, überhaupt ausreichen werden.

Wir sehen hier ein sehr sensibles Feld, in dem hohe Sach- und Fachlichkeit dringend geboten ist. Wir können uns von daher vorstellen, dass es sinnvoll sein könnte, im Ausschuss – auch unter Beteiligung der anderen Ausschüsse – eine Anhörung durchzuführen. Dann kann man auch auf die Aspekte eingehen, die die Piraten genannt haben.

Allerdings muss ich sagen: Es ist schade, dass Sie in einen Antrag mit dieser Bedeutung automatisch eine Forderung nach einem Computerplatz für jeden Flüchtling packen müssen. Das nimmt dem Antrag ein Stück weit die Seriosität. Wer vor Ort mit Flüchtlingen arbeitet und die Einrichtungen kennt, weiß, dass dort nicht ein Computerarbeitsplatz für jeden Flüchtling im Vordergrund steht, sondern dass die Flüchtlinge und die Kommunen bei der Unterbringung weiß Gott andere Sorgen haben.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herr Kollege, entschuldigen Sie. Lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Herrmann von der Piratenfraktion zu?

Dr. Joachim Stamp (FDP): Ja, selbstverständlich.

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Bitte.

Frank Herrmann (PIRATEN): Vielen Dank, Herr Stamp, dass Sie die Frage zulassen. – Wo haben Sie gelesen, dass wir einen Computerarbeitsplatz für jeden Flüchtling fordern?

Soweit ich mich erinnere, fordern wir einen Computerarbeitsplatz für je 100 Flüchtlinge in einer Unterbringungseinrichtung, damit sich die Menschen über die Situation in ihrem Heimatland informieren und gegebenenfalls mit ihren Angehörigen zu Hause kommunizieren können. Woher ist die Information, dass wir das für jeden Flüchtling fordern würden?

Dr. Joachim Stamp (FDP): Vielen Dank für die Frage. Herr Kollege Herrmann, ich zitiere aus Ihrem Antrag:

„Es soll ein Sofortprogramm in die Wege geleitet werden, um in sämtlichen Unterbringungen in NRW Internet- und Computerarbeitsplätze in ausreichender Menge für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen.“

Liebe Piraten, das mag, wie Sie es immer nennen, „piratig“ klingen. Und es muss auch immer alles irgendwie mit IT zusammenhängen. Aber das geht an der Realität der Flüchtlingspolitik in den Kommunen einfach vorbei.

(Beifall von der FDP)

Wir haben dezentrale Einrichtungen; da werden vier oder fünf Leute untergebracht. Wir sind froh, wenn wir dort zivilgesellschaftliches Engagement haben, sodass sie vor Ort betreut werden. Es ist schwierig genug, das aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Dann muss man dort jetzt nicht auch noch zwingend einen IT-Arbeitsplatz einrichten. Also, liebe Leute, lassen wir die Kirche da bitte im Dorf.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden mit der Frage der Integration von Flüchtlingen in den nächsten Jahren noch vor sehr großen Herausforderungen stehen. Herr Körfges, Sie haben das angesprochen. Mir geht es emotional genauso. Auch ich würde gerne die Probleme in den Herkunftsländern regeln. Wir sagen ja immer, die Probleme müssen in den Herkunftsländern gelöst werden. Aber das können wir als Landtag nicht. Wir müssen uns hier überlegen, welche Möglichkeiten wir denn haben, um mit den steigenden Zahlen vor Ort umzugehen und uns um die Flüchtlinge zu kümmern.

Ich glaube, es ist eine große Herausforderung, die Zivilgesellschaft hier mitzunehmen. Wir haben vor Ort Kirchengemeinden und Vereine, die bereit sind, sich hier entsprechend zu engagieren.

Ich habe dazu bereits ein Gespräch mit der Evangelischen Kirche auf der Landesebene geführt. Es gibt die Idee, ob man mit dem Landessportbund und anderen einen runden Tisch einrichtet, um zu überlegen, wie man den Akteuren vor Ort Möglichkeiten der Betreuung und Möglichkeiten der Beteiligung an der Integration der Flüchtlinge aufzeigen kann. Ich glaube, dass hier zivilgesellschaftlich ein sehr großes Potenzial vorhanden ist.

Ich versuche das jedenfalls in meinem Wahlkreis, in dem wir eine kleine dezentrale Einrichtung haben. Ich bin gerade dabei, mit den Kirchengemeinden einen Arbeitskreis Asyl vor Ort aufzubauen. Ich hoffe, dass ich auch die örtlichen Vereine dafür gewinnen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass das an vielen anderen Orten auch möglich ist.

Das wird aber nicht an jedem Ort gehen. Wir haben – auch da müssen wir ehrlich sein – auch Stadtteile, die insgesamt mit der Situation überfordert sind. Deswegen ist es wichtig – der Innenminister hat das ausgeführt –, dass man diese Situation nicht irgendwelchen Rattenfängern überlässt und auch nicht der Versuchung erliegt, dort mit ein paar schicken, schnellen Parolen, auch in Richtung Kommunalwahl, Stimmung zu machen. Man muss verantwortlich damit umgehen. Aber dazu gehört eben auch, dass man sich verantwortlich fühlt.

Herr Körfges, Sie haben gesagt, wir können hier nicht alle Probleme der Welt lösen. Aber wir haben, wie wir feststellen, wenn wir uns die Herkunftsländer angucken, natürlich die Möglichkeit, einmal über ein Land zu sprechen: Serbien. Ich bin mit unserer Europafraktion – Sie haben ja auch Kontakte zu Ihrer Fraktion – im Gespräch, wie man hier ganz anders Druck machen kann. Wir wissen ja, welche Asylbewerber aus Serbien kommen. Das sind Angehörige dort ethnisch verfolgter Minderheiten. Die EU hat gegenüber Serbien ein gewisses Druckpotenzial, das aus meiner Sicht nicht ausgereizt wird.

Das gilt übrigens – auch wenn das eine ganz andere Thematik ist – auch für Rumänien und Bulgarien, was die Armutsflüchtlinge angeht. Ich glaube, dass wir hier nur über die Einbeziehung der europäischen Ebene weiterkommen. Auf Parteiebene kann man vielleicht das eine oder andere anstoßen.

Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich glaube, dass wir eine gute Beratung in den Ausschüssen haben können. Wie gesagt, wir haben angeregt, eine Anhörung dazu durchzuführen. Das sollen die Fachpolitiker bitte noch einmal prüfen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stamp. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir sind damit am Ende der Beratung angelangt.

Wir kommen zur Abstimmung. Erstens stimmen wir über den Gesetzentwurf ab. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 16/4139 an den Innenausschussfederführend –, an den Integrationsausschuss, an den Ausschuss für Kommunalpolitik sowie an den Haushalts- und Finanzausschuss zur Mitberatung. Wer dieser Überweisungsempfehlung zustimmen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Gegenstimmen und Enthaltungen gibt es nicht. Die Überweisungsempfehlung wurde also angenommen.

Zweitens stimmen wir über den Antrag ab. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/4164 an den Innenausschussfederführend –, an den Ausschuss für Kommunalpolitik sowie an den Integrationsausschuss zur Mitberatung. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Auch hier darf ich wieder fragen, wer dieser Überweisungsempfehlung zustimmen möchte. – Gibt es Widerspruch oder Enthaltungen? – Beides ist nicht der Fall. Damit ist auch diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

5   Für Wachstum und Wohlstand – Landesregierung muss Industriestandort stärken statt ihn durch Bürokratie und Abgabenlast zu schwächen!

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4154

Entschließungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4230

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende CDU-Fraktion als erstem Redner Herrn Kollegen Wüst das Wort. Bitte schön.

Hendrik Wüst (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Besucherinnen und Besucher! Vielen herzlichen Dank für die Erteilung des Wortes. Wir hatten gestern eine sehr emotionale, in weiten Teilen auch einige Debatte zum Thema „Outokumpu“ und haben an die Vertragstreue appelliert.

In einer wirtschaftspolitischen Debatte ist es uns wichtig – deswegen haben wir diesen Antrag gestellt –, dass wir nicht den Einzelfall beklagen und dann, wenn es schon passiert ist, an Symptomen herumdoktern, sondern dass wir darüber sprechen, was die Politik tun kann, damit Nordrhein-Westfalen weiter ein starker Industriestandort bleiben kann. Outokumpu ist vielleicht in seinen Auswüchsen ein Einzelfall, in seinen Auswirkungen auf Nordrhein-Westfalen und den Arbeitsmarkt aber keineswegs.

RWE, Bayer, E.ON, Lanxess, Evonik, ThyssenKrupp, Vodafone, Opel, Siemens und voestalpine haben insgesamt einen Arbeitsplatzabbau von 30.000 Stellen angekündigt, viele davon in Nordrhein-Westfalen. Ganze Werke werden geschlossen bei voestalpine. Das gilt auch für Outokumpu, von Opel gar nicht zu reden. Vielfach lautet die Begründung: Überkapazitäten!

Natürlich kann man fragen „Was hat Politik mit Überkapazitäten in bestimmten Märkten zu tun?“ und mit den Achseln zucken. Ja, dann rückt aber die Frage nach der Standortqualität in den Fokus: Warum findet ein solcher Abbau in Nordrhein-Westfalen, nicht aber woanders statt? Im Zweifelsfall herrscht natürlich ein harter Standortwettbewerb, wie wir ihn sonst viel augenscheinlicher bei Neuansiedlungen kennen.

Warum investieren Unternehmen immer weniger in Nordrhein-Westfalen? – Wir wissen seit der McKinsey-Studie, dass in Nordrhein-Westfalen nur 18 % des Bruttoinlandsproduktes in neue Anlagen investiert werden. In Bayern und Baden-Würt-temberg sind es über 20 %, fünf, sechs Prozentpunkte über der Neuinvestitionszahl in Nordrhein-Westfalen.

(Britta Altenkamp [SPD]: Das stimmt nicht!)

Das IW Köln hat errechnet, dass zwischen 2000 und 2012 insbesondere in der energieintensiven Industrie, wo viel Strom verbraucht wird – da sind wir ja stark in Nordrhein-Westfalen –, nur noch 85 % der Abschreibungen reinvestiert werden. Es gibt eine schleichende Deindustrialisierung durch Desinvestition. Deswegen ist die Frage schon gerechtfertigt: Wo liegt die Ursache?

Wir sind bei der Anhörung zum Wasserentnahmeentgelt Anfang dieses Jahres mit diesem Thema in Kontakt gekommen. Damals hat Herr Páez-Maletz von den Quarzwerken beschrieben, dass in der letzten großen Wirtschaftskrise – 2008/2009 – an der Peripherie Europas die großen Flachglasstraßen und Papierproduktionen stillgelegt worden sind. Im letzten Jahr, 2012, sind alleine zwei von fünf Flachglasstraßen in Nordrhein-Westfalen stillgelegt worden, während die an der Peripherie weiterliefen. Die Solarglasproduktion ist nach Belgien verlegt worden. In der Papierindustrie gibt es gravierende Fälle von Stilllegungen.

Also: Nordrhein-Westfalen ist in einem Standort-Benchmarking offensichtlich nicht so stark, wie wir es uns alle wünschten.

Im Beschlussteil unseres Antrags, den wir gestellt haben, haben wir darauf hingewiesen. Gesetzesvorhaben wie das Klimaschutzgesetz müssen in erster Linie auf Konsequenzen für den Industriestandort abgeklopft werden. Der Klimaschutzplan ist ein Damoklesschwert. Nehmen Sie als Beispiel einmal Bayer in Uerdingen: Bei der Chlorelektrolyse könnte etwas entstehen. Aber die machen sich dort natürlich Sorgen, was mit dem Klimaschutzplan und anderen Auflagen obendrauf kommt, und haben die Investitionen zunächst mal zurückgehalten.

Wir haben hier schon über Landesentwicklungsplanung diskutiert. Natürlich kann man – wie Sie es getan haben, Herr Duin – sagen: Die großen Ufos landen hier nicht mehr!

(Minister Garrelt Duin: Raumschiffe!)

– „Raumschiffe“ haben Sie gesagt. Die großen Raumschiffe landen hier nicht mehr. – Vielen Dank für die Erinnerung!

Das Raumschiff HARIBO ist in Nordrhein-Westfalen gestartet und mit einem Standort jetzt in Rheinland-Pfalz gelandet und eben nicht in Euskirchen.

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Hört, hört!)

Das ist vielleicht kein ganz großes Raumschiff, aber immerhin ein bemerkenswertes und für die betroffene Region schon wichtig.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Daran erkennt man, dass Standortfaktoren eine Rolle spielen. Wenn es konkret wird, wenn man hinter die Kulissen schaut, dann sieht man, dass es zum Beispiel um Grundstückspreise geht. Auf die hat man seitens der Politik wenig Einfluss, indirekt vielleicht. Es geht aber auch um die Gewerbesteuer. Wir alle wissen, was vor zwei Jahren durch die Erhöhung des fiktiven Hebesatzes passiert ist: Es gab eine flächendeckende Gewerbesteuererhöhung.

Nach der Anhörung in dieser Woche war auch klar: Die Bürgermeister sehen sich durch den Kommunalsoli – der Solidaritätsleistung, die sie erbringen müssten – außerstande, auf weitere Gewerbesteuerhöhungen zu verzichten.

Es gibt also eine ganze Menge Stellschrauben, über die wir Einfluss nehmen können, um ein anständiger, guter und zukunftsfähiger Industriestandort zu bleiben. Mein Appell lautet: Nicht mehr so viel über die Symptome an den einzelnen Stellen jammern, sondern dafür sorgen, dass wir insgesamt ein besserer Industriestandort werden, als wir es zurzeit sind! – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Wüst. – Für die SPD-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Schmeltzer das Wort.

Rainer Schmeltzer*) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wieder einmal ein Redebeitrag und ein Antrag seitens der CDU, dass alles, was wirtschafts- und industriepolitisch schlecht ist, nur aufgrund der Politik der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen schlecht ist.

(Beifall von der CDU)

Ein paar Redebausteine fehlten, Herr Kollege Wüst. Aber ich denke, dass Sie sich diese heute geklemmt haben, weil sie an der Stelle vielleicht ausnahmsweise nicht passten. Aber in Ihrem Manuskript werden sie sicherlich gestanden haben.

Sie stellen hier heute einen Antrag zur Abstimmung, der das Bild eines von Krisen gebeutelten Industriestandortes Nordrhein-Westfalen produziert. Das ist zumindest Ihre Wahrnehmung. Es ist von „Schwächung des Industriestandortes durch Bürokratie und Abgabenlast“ die Rede. Dazu haben Sie gerade einiges ausgeführt, allerdings an der Stelle auch wieder nur die Passagen und Städte herausgenommen, die Ihnen gerade passen.

Mit diesem Antrag fordern Sie die Landesregierung auf, ihre Arbeit stärker auf die Bedürfnisse von Industrie und Gewerbe auszurichten. Aber eine plausible Begründung für Ihre Kritik bleiben Sie in Ihrem Antrag letztendlich mal wieder schuldig.

Ich stelle fest: Sie haben sich im Vergleich zu den Anträgen der Vergangenheit wenig Neues einfallen lassen. Es ist mühsam, zum wiederholten Male darauf aufmerksam machen zu müssen, dass das doch letztendlich ins Leere läuft.

Sie hinken den Entwicklungen hinterher. Dafür gibt es Gründe. Denn die SPD hat ihr Konzept einer modernen Industriepolitik längst erarbeitet, als die CDU noch gemeinsam mit der FDP der fatalen Strategie von „Privat vor Staat“ nachrannte. SPD und Grüne, also die Koalition, haben ihr Konzept einer Industriepolitik in Nordrhein-Westfalen schon umgesetzt, als die CDU in NRW noch ihrem damaligen Vorsitzenden Norbert Röttgen – sehr lange war er das ja nicht – hinterherlief, der das Vertrauen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Industrie vollständig verspielt hat.

Jetzt versuchen Sie, dieses Vertrauen zurückzugewinnen, indem Sie die Landesregierung und mit ihr Industrie und Wirtschaft in diesem Land schlechtzumachen versuchen. Dieser Versuch wird Ihnen auch an dieser Stelle wieder nicht gelingen – trotz der vielen Pressemitteilungen, Herr Wüst, die Sie immer in die Landschaft schicken, die aber auch medial kein Echo finden.

Nordrhein-Westfalen ist ein starker, moderner Industrie- und Wirtschaftsstandort. Im Vergleich mit den Mitgliedsländern der Europäischen Union liegt NRW an siebter Stelle, knapp hinter den Niederlanden und deutlich vor Schweden, Polen, Belgien und Österreich.

International wird Nordrhein-Westfalen als attraktiver Wirtschafts- und Industriestandort geschätzt. Insgesamt 27,1 % aller ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland sind auf Nordrhein-Westfalen konzentriert.

Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg in Nordrhein-Westfalen seit dem Jahr 2010 um über 300.000 auf nunmehr 6,1 Millionen. Bei dem Antrag handelt es sich mal wieder um einen mutlosen untauglichen Versuch, die Dauerschleife der industriefeindlichen Politik von Rot-Grün zu aktivieren.

Wenn Sie in Ihrem Antrag die Beschäftigtenzahlen in der Industrie direkt mit der Landesregierung verknüpfen, dann – das kann ich Ihnen nur sagen – schießen Sie sich damit ein Eigentor. Die Zahlen der Vergangenheit beweisen das.

Die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe in Nordrhein-Westfalen ging zwischen 2005 und 2010, Ihrer Regierungszeit, von 1,27 Millionen auf 1,17 Millionen zurück. Seitdem wir seit 2010 – wenn Sie den Zusammenhang schon herstellen – das Regierungszepter wieder in der Hand haben,

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Oh!)

konnten wir es schaffen, diese Zahl wieder um 50.000 anzuheben. Es wird Ihnen von der CDU nicht gelingen, das Land Nordrhein-Westfalen weiter schlechtzumachen.

In dem Antrag, den Sie am 10. Juli hier eingereicht haben, der sich ähnlich ermüdend liest wie diese neue Auflage, klagen Sie über das Klimaschutzgesetz, heute über den Klimaschutzplan. Nun beanstanden Sie die mangelnde Modernität des Industriestandorts NRW. Wie stellen Sie sich denn eine zukunftsorientierte zeitgemäße Förderung des Standorts, die Klimaaspekte vernachlässigt, vor? Auch diese Antworten bleiben Sie schuldig.

Die Landesregierung und die sie tragenden Regierungsfraktionen jammern nicht und reden das Land nicht schlecht.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Sie haben eine klare schlüssige Konzeption für die Wirtschafts- und Industriepolitik in diesem Land, die Ausrichtung auf Leitmärkte, die durch eine hohe Nachfrage nach innovativen und nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen gekennzeichnet sind, die Ausrichtung auf die mittelständische Struktur der nordrhein-westfälischen Wirtschaft, eine vorausschauende Politik, die eng mit anderen Politikbereichen verzahnt und deren wichtiges Ziel es ist, vollständige Wertschöpfungsketten zu erhalten, zu stärken und auszubauen. Wirtschaft und Industrie gehen mit uns gemeinsam diesen Weg, und das ist auch gut so.

Ich wiederhole mich. Bei Ihrem Antrag handelt es sich um einen mutlosen Versuch, die Dauerschleife der industriefeindlichen Politik von Rot-Grün neu zu aktivieren. Es bleibt uns bei diesem Versuch wieder einmal nichts anderes übrig, als diesen Antrag abzulehnen. Hätten Sie eine ernsthafte Diskussion gewünscht, hätten Sie den Antrag überweisen lassen. Doch das wäre sicherlich nicht im Sinne Ihrer Überschriften, die Sie medial damit zu erhaschen versuchen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Schmeltzer. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich Frau Kollegin Dr. Beisheim das Wort.

Dr. Birgit Beisheim (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich kann mich Herrn Kollegen Schmeltzer nur anschließen. Auch ich habe mir wirklich Mühe mit diesem Antrag gegeben. Doch tatsächlich habe ich keine konkreten Forderungen entdecken können, für die es sich gelohnt hätte, dass man sich ernsthaft damit beschäftigt.

(Beifall von den GRÜNEN)

Leider war der Versuch vergebens. Stattdessen sondern Sie wie üblich rhetorische Platzpatronen ab wie: „Gesetzliche Vorgaben, die den Industriestandort schwächen, müssen identifiziert und außer Kraft gesetzt werden.“ Oder: „Planungsrechtliche Vorgaben dürfen industrielle und gewerbliche Produktionen nicht unnötig einschränken.“ Bei aller Liebe, aber das ist an Substanzlosigkeit nicht zu übertreffen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, bei „Max und Moritz“ heißt es über Witwe Boltes Vorliebe für Sauerkohl: „Wofür sie besonders schwärmt, wenn er wieder aufgewärmt.“ Es mag für Sauerkohl zutreffen, dass er dadurch besser wird, aber für Ihre Antragsideen gilt das eindeutig nicht.

(Beifall von den GRÜNEN)

Haben Sie sich in der Vergangenheit zumindest noch die Mühe gemacht, wirtschaftspolitische Initiativen Ihrer Fraktion mit konkreten Vorhaben der Landesregierung zu verbinden bzw. sich an ihnen abzuarbeiten, so steht am Ende der Lektüre dieses Antrags ein großes Fragezeichen.

Gerade die jüngste Debatte im Wirtschaftsausschuss über ein Gutachten von McKinsey, welches sich mit der Analyse der Rahmenbedingungen und Handlungsfelder des Wirtschaftsstandorts Nordrhein-Westfalen beschäftigt, hat doch gezeigt, dass die Fokussierung unserer Politik auf die acht Leitmärkte richtig war und ist.

Prinzipiell jedoch teile ich Ihre Sorgen um die Zukunft des Industriestandorts Nordrhein-Westfalen. Denn die Ankündigungen der letzten Woche bezüglich dieser massiven Arbeitsplatzverluste sind wirklich besorgniserregend und stellen eine ernst zu nehmende Situation dar. Aber die Produktion politischer Seifenblasen ist hier nicht zielführend. Ihr Antrag hätte ebenso gut mit ganz wenig Aufwand in jedes andere Landesparlament eingebracht werden können, nicht weil er Allgemeingültigkeit besitzt, sondern weil er so allgemein und unspezifisch gehalten ist.

Ich möchte zum Schluss noch einen Punkt aus Ihrem Antrag aufgreifen – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –:

„Die Rahmenbedingungen müssen durch einen bedarfsgerechten Ausbau der Infrastruktur sowie den Erhalt einer kostengünstigen und sicheren Energieversorgung verbessert werden.“

Ja, an dieser Stelle kann ich Ihnen nur zustimmen. Nordrhein-Westfalen wird bei der Verteilung der Mittel, die vom Bund für Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden, seit Jahren massiv benachteiligt.

Gemessen am Anteil der Einwohnerinnen und Einwohner Nordrhein-Westfalens an der Gesamtbevölkerung Deutschlands haben wir eine jährliche Minderzuweisung von ungefähr 500 Millionen € zu verkraften. Das ist durchaus ein großer Brocken, zumal auch die Summe der Bundesmittel insgesamt deutlich unter dem liegt, was nötig wäre, um unsere gesamte Verkehrsinfrastruktur wieder auf einen vernünftigen Stand zu bringen.

Diese Liste ließe und lässt sich fortführen. Deshalb bin ich natürlich sehr gespannt darauf, welche Lösungen im Rahmen der kommenden Koalitionsverhandlungen präsentiert werden. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nun erteile ich für die FDP-Fraktion Herrn Kollegen Brockes das Wort.

Dietmar Brockes*) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlass für den CDU-Antrag ist leider ein trauriger. „Die „Rheinische Post“ titelte am 25. September:

„Jobabbau der Industrie trifft vor allem NRW

Über 30.000 Stellen in den klassischen Industriezweigen sollen abgebaut werden. Es wird vor allem Nordrhein-Westfalen treffen. Und wie war die Reaktion darauf aus dem Wirtschaftsministerium? – Man solle nicht so genau auf die industriellen Arbeitsplätze schauen, im Dienstleistungsbereich seien auch noch neue Arbeitsplätze geschaffen worden.

Herr Wirtschaftsminister, die Kommentierung aus Ihrem Haus hat mir – ehrlich gesagt – die Schuhe ausgezogen.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Das wurde dann von Ihrer Seite sozusagen auch noch dadurch bestätigt, als Sie bei der Debatte zu newPark hier von wünschenswerten industriellen Großansiedlungen sprachen und diese als „Raumschiffe“ deklarierten, als würden diese irgendwo schweben und nie Realität werden können. Herr Minister, es ist – ehrlich gesagt – unfassbar, so etwas aus dem Munde des Industrieministers in Nordrhein-Westfalen zu hören.

(Beifall von der FDP)

Meine Damen und Herren, solche Äußerungen wären vielleicht nur halb so wild, wenn denn durch die Regierung wenigstens aktive Industriepolitik betrieben würde. Denn eines dürfte doch wohl klar sein: Es ist die Industrie, die weitere Wertschöpfungen – gerade in der Dienstleistungsbranche, aber auch bei Handel und Gewerbe – nach sich zieht. Sie ist es, die wesentliche Grundlagen für die Wertschöpfung, für Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen hat.

Herr Kollege Schwerd, der Entschließungsantrag der Piratenfraktion ist im Groben zwar nicht verwerflich, aber hier ist doch zu wenig deutlich gemacht worden, dass es gerade die Industrie ist, die eben auch in anderen Bereichen für Arbeitsplätze sorgt und insofern doch schon eine gewisse hervorgehobene Position haben muss.

Meine Damen und Herren, wir haben eine industriepolitische Tradition in Nordrhein-Westfalen. Davon ist aber bei der Landesregierung und leider auch bei der SPD keine Spur mehr zu sehen. Schauen wir uns einige Beispiele an: Bei newPark wird mit fadenscheinigen Gründen in einem Sonderbürgschaftsverfahren die newPark-Bürgschaft abgelehnt. Sie wird vorbei am Bürgschaftsausschuss und somit sogar vorbei an den Gewerkschaften abgelehnt. Denn diese haben sich für newPark ausgesprochen.

Nehmen wir ein anderes Thema, den energieintensiven Bereich der Industrie. Hierzu zitiere ich gerne den Vorstandsvorsitzenden von Evonik, Herrn Klaus Engel, der jetzt neuer Sprecher des Initiativkreises Ruhrgebiet ist. Der hat es meines Erachtens in der „WAZ“ vom 10. Oktober 2013 auf den Punkt gebracht. Ich zitiere:

„Es ist absolut kurzsichtig und töricht, die energieintensiven Industrien und die privaten Verbraucher gegeneinander auszuspielen. Die Politik setzt mittlerweile die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen aufs Spiel. Die Kosten für die Gesellschaft insgesamt werden so um ein Vielfaches höher ausfallen als die derzeitigen Entlastungen einiger Betriebe bei der EEG-Umlage; denn in den Ländern, mit denen wir konkurrieren, gibt es die Belastungen aus der Energiewende nicht. Unsere politische Führung muss endlich damit aufhören, einer meinungsstarken Öko-Schickeria gefallen zu wollen.“

Recht hat Herr Engel mit diesen Ausführungen!

(Beifall von der FDP)

Das beschreibt nämlich genau die Politik von Rot-Grün. Frau Kollegin Dr. Beisheim, es ist bemerkenswert, dass gerade Ihr Kollege Herr Markert – er ist jetzt nicht anwesend –, der Vorsitzende der Enquetekommission „Zukunft der chemischen Industrie in NRW“, Wert darauf legte, dass Herr Engel unseren Prozess in der Enquetekommission möglichst nahe begleitet. Wir werden ihn ja demnächst in Brüssel erleben. Hören Sie bitte auf die Worte, die er spricht; denn er beschreibt genau die Fehler, die Sie mit Ihrer Politik in den letzten Jahren gemacht haben.

(Beifall von der FDP)

Sie setzen sich nicht nur nicht für den Industriestandort ein, nein, Sie verschlechtern die Rahmenbedingungen. Nehmen wir das Beispiel Wasserentnahmeentgelt. Da haben Sie gerade noch eine Riesenklatsche bekommen, indem festgestellt wurde, dass das Abkassieren, was Sie dort vorhatten, nicht rechtens ist.

Ich nenne andere Beispiele: Klimaschutz und Landesentwicklungsplan. Im Rahmen des Landesentwicklungsplans werden die Flächen wiederum deutlich eingegrenzt, sodass es in Nordrhein-Westfalen immer schwieriger wird, industrielle Großprojekte durchzuziehen. Das ist der falsche Weg. Kommen Sie endlich davon ab. Deshalb werden wir dem Antrag der CDU zustimmen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter.

(Dr. Birgit Beisheim [GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

– Es ist in letzter Sekunde noch eine Zwischenfrage hereingekommen. Wollen wir die noch mitnehmen? Herr Brockes ist noch unterwegs.

(Dietmar Brockes [FDP] begibt sich zurück zum Rednerpult.)

– Frau Kollegin Dr. Beisheim.

Dr. Birgit Beisheim (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Brockes, Sie haben Klaus Engel zitiert. Kennen Sie auch den Ausspruch von Klaus Engel: „Wer das grüne Rennen nicht annimmt, der hat in Zukunft auch keine Chance mehr zu bestehen“?

Dietmar Brockes*) (FDP): Das Zitat von Herrn Engel kenne ich nicht. Gerade die Industrie, Frau Dr. Beisheim, hat in den vergangenen Jahren immer mehr auf Energieeffizienz gesetzt. Das hat sie nicht nur allein aus Umweltgründen getan, sondern natürlich auch aus Kostengründen. Deshalb müssen wir diesen Prozess aktiv begleiten. Wir dürfen ihr aber nicht, wie Sie es machen, immer wieder neue Knüppel zwischen die Beine werfen,

(Beifall von der FDP)

die letzten Endes dafür sorgen, dass diese Arbeitsplätze in Zukunft eben nicht mehr in Nordrhein-Westfalen geschaffen werden, sondern – wie am Beispiel Haribo zu sehen ist – in anderen Bundesländern, in anderen europäischen Staaten oder anderen Staaten dieser Welt. Das ist der falsche Weg. Auf den begeben Sie sich gerade, und davon müssen Sie endlich herunterkommen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank. Soweit Frage und Antwort. Wir sind angelangt bei Herrn Kollegen Schwerd von der Piratenfraktion, bitte.

Daniel Schwerd (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Zunächst herzlichen Dank an Herrn Brockes, dass Sie sich mit unserem Antrag doch auseinandergesetzt und ihn gelobt haben. Das freut mich. Ich sage das mit Blick auf SPD und Grüne, die sich jetzt gar nicht zu dem Antrag geäußert haben. Ich hoffe, es liegt daran, dass er so gut ist, dass Sie ihm einfach zustimmen können, wenn nicht – ich werde in dieser Rede auch noch ein bisschen darauf eingehen –, werden wir weitersehen.

Wir haben uns mit dem CDU-Antrag auseinandergesetzt, und zwar auch inhaltlich, und festgestellt, dass er unseres Erachtens doch klar über das Ziel hinausschießt. Wir finden ihn gefährlich, weil Branchen gegeneinander ausgespielt werden sollen. Die CDU proklamiert damit eine Wirtschaftspolitik, die heute nicht mehr zeitgemäß ist.

Es ist völlig klar, dass Industrie für Nordrhein-Westfalen immer eine wichtige Rolle gespielt hat und spielen muss. Davon aber abzuleiten, dass die gesamte Politik der Landesregierung ausschließlich auf Industriepolitik bzw. Industrieförderung abzielen soll, geht uns zu weit. Nicht das Kriterium „Industrie“ versus „keine Industrie“ sollte maßgeblich für die Wirtschaftsförderung sein, sondern die Frage: Ist das Unternehmen innovativ oder nicht?

Deshalb wollten wir in unserem Entschließungsantrag klarstellen, dass wir das Potenzial der kreativen, wissensbasierten Ökonomie in Nordrhein-Westfalen stärken wollen. Das ist nicht nur gut für die Wirtschaft in unserem Land, sondern bringt uns auch Antworten auf die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, zum Beispiel dem demografischen Wandel, der Rohstoffverknappung und der Energiewende. Sie hingegen fordern nur Erleichterung für Industrie und billigen Strom. So ein Programm reicht heutzutage nicht mehr aus, das ist zu dünn.

Lassen Sie uns einmal über die 75 % der nordrhein-westfälischen Wirtschaft sprechen, die nicht zum Industriesektor zählen, die im CDU-Antrag also gar nicht auftauchen. Der schnellwachsende Kultur- und Kreativbereich beispielsweise erreicht mit einer Bruttowertschöpfung von über 13 Milliarden € einen höheren Betrag als die chemische Industrie und beschäftigt in etwa so viele Menschen wie der Maschinen- und Kraftfahrzeugbau gemeinsam.

Was viele vielleicht nicht wissen: Gerade die Kultur- und Kreativwirtschaft hat sich als stabilisierendes Element in der Wirtschafts- und Finanzkrise erwiesen. In den vergangenen Krisenjahren büßten der Maschinenbau und die Metallindustrie bis zu 20 % der Bruttowertschöpfung ein, die Kultur- und Kreativwirtschaft dagegen nur moderate 3 %.

Eine Wachstumsbranche wie die Industrie- und Kommunikationswirtschaft, deren Bruttowertschöpfung in Deutschland seit 2005 um fast 50 % gestiegen ist, wird übrigens nicht zur klassischen Industrie gezählt. Ich bin deshalb ein wenig erstaunt, dass in dem Antrag Vodafone zwischen ThyssenKrupp und Opel erwähnt wird, das aber nur als Hinweis an Sie.

Ich bin dagegen, einzelne Wirtschaftsbereiche gegeneinander auszuspielen. Industrie und Dienstleistung gehen in vielen Bereichen längst Hand in Hand. Es macht keinen Sinn, hier eine künstliche Spaltung vorzunehmen, wie dies der CDU-Antrag impliziert. Darum haben wir einen eigenen Antrag formuliert, in dem wir uns eindeutig gegen eine solch einseitige Wirtschaftspolitik positionieren, die nur die klassische Industrie im Blick hat.

Denn es kommt doch auf etwas ganz anderes an. Was wirklich zählt ist die Antwort auf die Frage: Wie können wir kreative Menschen und innovative Unternehmen unterstützen, gute Produkte und Dienstleistungen anzubieten? – In der heutigen Wissenschaftsgesellschaft zählen vor allem gute Ideen und ihre Umsetzung. Und hier muss das Land zu allererst für eine moderne Infrastruktur sorgen. Dies ist Pflicht und keine Kür. Und dass wir Piraten beispielsweise eine zeitgemäße Breitbandinfrastruktur für die Menschen und Unternehmen im Land fordern, ist ja kein Geheimnis mehr in diesem Parlament.

Wenn Sie mir einen Kalauer gestatten: Was haben die wirtschaftspolitischen Konzepte der CDU und die Infrastruktur in NRW gemeinsam? – Beide sind auf dem Niveau der 80er-Jahre stehengeblieben.

(Beifall von den PIRATEN – Widerspruch von der CDU)

Aber im Ernst: Wir sollten vermeiden, Debatten zu führen wie vor 30 Jahren. Wissensökonomie und Industrie gehören zusammen, sie sind eben kein Widerspruch. Aber deshalb ist eine einseitige Ausrichtung der Förderung, wie im CDU-Antrag gefordert wird, nicht erstrebenswert und geht an der heutigen Realität vorbei. Unterstützen Sie doch lieber unseren Antrag. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Duin das Wort.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wurden einige Presseartikel zitiert; damit kann man immer arbeiten. Wenn Sie gestern die Zeitung gelesen haben, dann haben Sie festgestellt, dass wir in der Industrie den höchsten Beschäftigungsstand seit neun Jahren und eine sehr positive Entwicklung in einigen Branchen haben, wie zum Beispiel – für manche vielleicht überraschend – im Automotive sector, also in der Fahrzeugindustrie, hier insbesondere bei den Zulieferern, sowie in der Kunststoffindustrie, die in diesem Land, in Nordrhein-Westfalen, besonders stark ist. Nicht umsonst findet gerade dieser Tage – ich werde morgen dort einen Besuch machen – die „K“ hier in Düsseldorf statt, der Ort in der Welt, wo die Geschäfte gemacht und die Innovationen präsentiert werden. Auch im Maschinenbau gibt es eine positive Tendenz. Abbau, insbesondere im Metallbereich, gibt es auch, es bleibt aber der positive Saldo.

Aber, lieber Herr Wüst, den Eindruck erwecken zu wollen, dass, wenn Sie an unserer Stelle wären, es dann das Thema „Kautschuk“ und die damit einhergehenden Auswirkungen auf ein Unternehmen in unserem Land nicht gäbe, …

(Zuruf von Hendrik Wüst [CDU])

– Nein, Sie haben über Lanxess gesprochen.

(Hendrik Wüst [CDU]: Nein!)

– Doch, natürlich. Das steht doch in Ihrem Antrag. Sie sprechen von Lanxess und führen noch ein anderes Beispiel an.

(Zuruf von Hendrik Wüst [CDU])

– Ich gehe jetzt Ihre Beispiele nur durch.

Sie nennen beispielsweise Opel, als ob es mit Ihnen eine Überkapazität auf dem europäischen Automobilmarkt nicht gäbe. Oder Sie erwähnen ThyssenKrupp, als ob es mit Ihnen eine Fehlinvestition in Brasilien oder die weltweite Situation auf dem Stahlmarkt nicht gäbe. Darüber hinaus nennen Sie RWE und E.ON. Ohne Sie hätte es vielleicht nicht diese Probleme bei dem Gestalten der Energiewende gegeben. Das ist wohl wahr.

(Beifall von der SPD und den PIRATEN)

Natürlich hätte es mit Ihnen auch andere Grundstückspreise in Euskirchen gegeben als in Rheinland-Pfalz. Also hier den Eindruck zu erwecken, dass eine Entscheidung einer Landesregierung unternehmerische Entscheidungen beeinflusse, ist schon sehr an den Haaren herbeigezogen.

Ich möchte noch einmal auf Ihren Antrag Bezug nehmen. Sie sagen: Die Gesetzesvorhaben sollten überprüft werden. – Ja, deswegen haben wir ein auch von Ihnen immer wieder als Monster kritisiertes Mittelstandsgesetz, das genau diesen Punkt regelt, das diese Freundlichkeit entsprechend überprüft.

(Beifall von der SPD)

Dann sagen Sie: Die Förderpolitik muss stärker industrielle und gewerbliche Produktionen in den Fokus nehmen. – Genau deswegen machen wir eine solche Clusterstrategie, und zwar nicht irgendwo am grünen Tisch, sondern im engsten Dialog mit den Unternehmen in unserem Land.

Ferner sprechen Sie davon, dass man mit Blick auf die Flächen die Förderpolitik genauer ausrichten sollte. Wir haben im Ausschuss auch schon über die Wirtschaftsförderung für die gewerbliche Wirtschaft gesprochen. Mit dem regionalen Wirtschaftsförderprogramm in unserem Land unterstützen wir ja gerade die strukturschwachen Regionen. Wir haben bei der Förderung und den Förderkonditionen den Schwerpunkt tatsächlich auf Industrie und Gewerbe gelegt.

Unter der Überschrift „Ausbau wirtschaftsnahe Infrastruktur“ wird das meiste Geld für die Herrichtung und Erschließung von Industrie- und Gewerbeflächen eingesetzt. Wir verpflichten sogar die Zuwendungsempfänger, diese Flächen vorrangig und zielgerichtet an Unternehmen des produzierenden Gewerbes zu vermarkten, und sind damit genau auf einem richtigen Weg, was im Übrigen auch, Herr Brockes, von solchen großen Akteuren immer wieder bestätigt wird, dass nämlich die politische und industriepolitische Ausrichtung dieser Landesregierung dort in die richtige Richtung zeigt.

Was wir deutlich machen müssen, ist – das mit Blick auf Herrn Schwerd und die Piraten –, dass es in der Tat nicht so eine Schwarz-Weiß-Malerei – Entweder-oder – geben soll. Wer sich auf der letzten Hannover-Messe umgeguckt hat, hat doch gesehen: Das Zukunftsthema überhaupt ist ein nordrhein-westfälisches, nämlich Industrie 4.0, die Zusammenführung von klassischem Maschinenbau auf der einen Seite in der Verknüpfung mit modernster IT-Technologie auf der anderen Seite. Die Firmen sitzen in Nordrhein-Westfalen und haben hier ihre Heimat, und wir müssen dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Aber wir dürfen dieses Land nicht schlechtreden, so wie es von anderer Seite gemacht worden ist.

(Beifall von der SPD)

Und wir müssen noch etwas tun: Wir müssen uns klar werden, dass die Stärke unseres Landes in den mittelständischen Unternehmen liegt, dass die Stärke unseres Landes in den Familienunternehmen liegt. Wenn Sie im Land unterwegs sind und sich diese Struktur anschauen, dann stellen Sie fest, dass es genau um diese Unternehmen geht. Das meinte ich damit, als ich von dem Raumschiff sprach. Es wird nicht von irgendwo ein großes Raumschiff mit einem internationalen Investor kommen, der mit einem Werk noch einmal 5.000 Arbeitsplätze schaffen wird. Dabei bleibe ich auch. Deswegen brauchen wir trotzdem eine Politik, die genau auf diese Familienunternehmen, auf diesen Mittelstand ausgerichtet ist.

Last but not least: Wir brauchen auch Raum für Kreative. Die Clusterpolitik, die Leitmarktpolitik ist da genau die richtige Antwort, die wir darauf in unserem Land gefunden haben.

Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition: Malen Sie kein schwarzes Bild! Nehmen Sie einzelne Unternehmensmeldungen nicht zum Anlass, um die gesamte wirtschaftliche Situation im Land zu diskreditieren. Wir sind auf einem sehr guten Weg, weil wir die Innovationsfähigkeit, die ein Land braucht, durch unsere Politik, durch die entsprechenden Fördermaßnahmen genau herstellen. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister. – Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir sind somit am Ende der Beratung angelangt.

Wir kommen zur Abstimmung, erstens über den Antrag der Fraktion der CDU. Die antragstellende CDU-Fraktion hat direkte Abstimmung beantragt. Wer dem Antrag Drucksache 16/4154 seine Zustimmung erteilen möchte, den darf ich um das Handzeichen bitten. – Das sind die Fraktionen von CDU und FDP. Wer stimmt gegen den Antrag? – Das sind die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Piratenfraktion. Wer enthält sich? – Es enthält sich der fraktionslose Abgeordnete Kollege Stein. Mit diesem festgestellten Abstimmungsverhalten ist der Antrag Drucksache 16/4154 abgelehnt.

Ich lasse zweitens abstimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion der Piraten Drucksache 16/4230. Wer möchte diesem Entschließungsantrag zustimmen? – Das sind die Piratenfraktion und der fraktionslose Abgeordnete Stein. Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Das sind die Fraktionen von SPD, CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Enthält sich jemand der Stimme? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Entschließungsantrag Drucksache 16/4230 mit großer Mehrheit abgelehnt.

Ich rufe auf:

6   Beschlusslage des Landtags beachten: Presse-Grosso-Vertriebssystem landesrechtlich absichern!

Antrag
der Fraktion der FDP
Drucksache 16/3451

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion Herrn Kollegen Witzel das Wort. Bitte sehr.

(Unruhe)

Ich darf im Übrigen diejenigen, die sich bemüßigt fühlen, jetzt den Saal zu verlassen, herzlich bitten, das möglichst geräuscharm zu tun. – Herr Witzel, bitte.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über das Presse-Grosso-Vertriebssystem ist in diesem Hohen Hause bereits vielfach diskutiert worden, zuletzt ausführlich vor weniger als zwei Jahren auf Initiative der FDP-Landtagsfraktion mit Drucksache 15/3259.

Der Antrag hatte einen sehr sinnvollen Titel: „Meinungsvielfalt durch Netzneutralität sichern, Informationsfreiheit schützen – Das neutrale Vertriebssystem Presse-Grosso hat sich bewährt“. Dankenswerterweise haben sich auch die Fraktionen von CDU, SPD und Grünen diesem Antragsvorhaben zu einer gemeinsamen Initiative angeschlossen.

Der Antrag nennt wesentliche Gründe, warum es gerade zur Vielfaltsicherung so wichtig ist, ein Presse-Grosso-System zu haben. Es ist ein Marktmodell, das dem Verbraucher eine starke Stellung gibt und eben nicht feste Liefer- und Abnahmeverträge vorsieht, die Verlage mit einzelnen Einzelhandelsketten mit marktbeherrschender Stellung verabreden.

Auch gerade kleine Verlage, die kein eigenes Vertriebsnetz aufrechterhalten können, erhalten so die Gelegenheit zu einem Zugang zum Markt zu fairen Konditionen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Wir fördern so Produktinnovationen, weil es natürlich auch einfacher ist, neue Titel in den Markt zu bringen.

In Nordrhein-Westfalen sind aktuell elf selbstständige Presse-Grossisten tätig. Diese erwirtschaften rund 20 % des gesamten Branchenumsatzes und stellen auf einer Fläche von rund 34.000 km² die Versorgung von 24.000 Presseverkaufsstellen sichern.

Dass dies eine wichtige Grundlage der Meinungs- und Informationsvielfalt in Nordrhein-Westfalen ist, darüber waren wir uns bislang auch fraktionsübergreifend immer einig. Leider ist durch die überraschenden Neuwahlen in der Vergangenheit ein Prozess zum Stocken gekommen, nämlich ein Dialogprozess, in dem sich alle Fraktionen verabredet haben, hier der gemeinsamen politischen Erkenntnis entsprechende Taten in der Gesetzgebung folgen zu lassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der eine oder andere mag jetzt fragen: Brauchen wir heute noch genau das, was wir vor zwei Jahren diskutiert haben, nachdem auch der Bund mittlerweile gesetzgeberisch gehandelt hat, nämlich mit der 8. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, womit er auch einen wichtigen Beitrag zur Absicherung des Presse-Grosso-Vertriebssystems geleistet hat?

Wir sind der Auffassung, dass dies ein wichtiger Schritt gewesen ist. Die Landesregierung sieht das nach ihren Äußerungen offenbar auch so. Genauso sind wir uns im Grundsatz mit der Landesregierung darüber einig, dass dies nicht das Ende der Fahnenstange für die Zukunft sein sollte. Ein klarer Rechtsrahmen für das Land ist allemal besser.

(Vorsitz: Vizepräsident Daniel Düngel)

Ich darf die Landesregierung zitieren. In Landtagsdrucksache 16/1766 führt sie aus:

„Durch die Änderung des § 30 GWB im Rahmen der 8. GWB-Novelle werden koordinierte Vereinbarungen zwischen Verlagen und Presse-Grossisten und deren Verbänden dann kartellrechtlich freigestellt, wenn sie den flächendeckenden und diskriminierungsfreien Vertrieb von Zeitungs- und Zeitschriftensortimenten durch die Presse-Grossisten gewährleisten. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung eines neutralen Pressevertriebssystems. Es bleibt abzuwarten, ob diese weitgehenden Maßnahmen zum langfristigen Erhalt des Presse-Grosso-Vertriebssystems beitragen.“

Dann folgt der entscheidende Satz:

„Die Landesregierung ist der Auffassung, dass neben kartellrechtlichen Regelungen auch vielfaltssichernde landesgesetzliche Regelungen zum Erhalt eines neutralen Pressevertriebes sinnvoll sein können.“

Das sehen wir auch so. Deshalb haben wir seinerzeit bewusst beschlossen, dass die Fraktionen des Landtags hier im Sinne einer landesgesetzlichen Absicherung tätig werden. Dies kann der Landtag mit der aktuell vorliegenden Initiative heute noch einmal dokumentieren – wenn uns alle Informationen vorliegen, die die Prüfung der Landesregierung mittlerweile ergeben haben.

Deshalb fordern wir die Landesregierung auch nicht auf, eine Regelung vorzulegen. Das ist aus unserer Sicht weiterhin der Arbeitsauftrag der Fraktionen, der seinerzeit verabredet worden ist. Vielmehr fordern wir die Landesregierung auf, uns die Ergebnisse ihrer hausinternen Prüfung und bisherigen Diskussion über den Sinn und die Zweckmäßigkeit etwaiger landesgesetzlicher Regelungen auch nach Verabschiedung der 8. GWB-Novelle vorzulegen.

Wir sollten die Einigkeit, die es nicht in allen politischen Fragen hier im Haus gibt, an dieser Stelle im Interesse der Meinungsvielfalt und der Vielfaltssicherung nutzen. Ein allseitiger gemeinsamer Kenntnisstand sollte dazu beitragen, dass wir den zwischen den Fraktionen begonnenen Diskussionsprozess nun auch konstruktiv fortsetzen und zu einem positiven Abschluss führen. Insofern regen wir ausdrücklich an: Lassen Sie uns hier den Gesprächsfaden fraktionsübergreifend wieder aufnehmen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Witzel. – Nächster Redner ist der Kollege Vogt für die SPD-Fraktion.

Alexander Vogt (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt, bin ich über den Antrag der FDP zu diesem Zeitpunkt etwas verwundert. Die Absicherung des Presse-Grosso-Systems ist ohne Zweifel ein wichtiges Thema. Das Vorgehen der FDP ist hierbei allerdings etwas merkwürdig. Ich stelle mir schon die Frage, warum Sie gerade diesen Weg gewählt haben.

Wir haben uns im Jahr 2011 hier im Landtag fraktionsübergreifend – Herr Witzel, Sie haben es gerade gesagt; also auch mit Ihrer Beteiligung – für die Sicherung des Presse-Grosso-Systems eingesetzt und einen gemeinsamen Antrag von SPD, Grünen, CDU und FDP in den Landtag eingebracht und beschlossen. Wir hatten hier eine Linie. Diese Linie wurde weiterverfolgt.

Die Zusammenarbeit mit der Landesregierung war bis jetzt aus unserer Sicht reibungslos. Das wird auch in Ihrem hier vorliegenden Antrag deutlich. Sie erwähnen darin die 8. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Dieses positive Ergebnis wurde durch die Mitwirkung von Nordrhein-Westfalen im Bundesrat erzielt.

Allen hier anwesenden Abgeordneten ist doch klar, dass die Informationsfreiheit durch eine vielfältige und facettenreiche Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft gewährleistet wird. Die Sicherung eines diskriminierungsfreien Marktes für Zeitschriften und Zeitungen ist Grundvoraussetzung hierfür. Für die Meinungsfreiheit ist das in unserem Land bestehende neutrale und verlagsunabhängige Presse-Grosso-Vertriebssystem von grundlegender Bedeutung.

(Beifall von Nadja Lüders [SPD])

So weit stimmen wir mit Ihnen überein.

Im internationalen Vergleich hat Deutschland ein ziemlich einmaliges und gut funktionierendes System. Das bestehende Grosso-System ermöglicht einen bedarfsgerechten Zugang zu Zeitungen und Zeitschriften in allen Landesteilen. Nur so können die vielfältigen Titel, die wir an Kiosken, in Bahnhofsbuchläden und anderen Buchläden in den Regalen finden, überhaupt alle dorthin gelangen.

In NRW wird aktuell in über 24.000 Presseverkaufsstellen 20 % des bundesdeutschen Branchenumsatzes gemacht. Elf Grosso-Unternehmen sorgen dafür, dass auch kleine Verlage, die sich kein eigenes Vertriebsnetz leisten könnten, ihre Produkte problemlos und zu fairen Konditionen über das Grosso-System am Markt platzieren können. Das ist eine gute Bilanz für Nordrhein-Westfalen.

Ob auf Länderebene zusätzliche Sicherungen stattfinden müssen, haben wir hier, wie gerade schon angesprochen wurde, diskutiert. Das hat auch unsere Landesregierung im Blick.

Sie als FDP sollten aber ebenso gut wie wir wissen, dass das weitere Vorgehen vom Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf abhängt. Der Bundesverband Deutscher Buch?, Zeitungs- und Zeitschriften-Grossisten hat im Streit mit der Bauer Media Group gegen das Urteil des Landgerichts Köln Berufung eingelegt. Nach dem Urteil des OLG wird doch erst klar, wohin es für NRW gehen kann. Gegebenenfalls ist eine kartellrechtliche Regelung durch die Länder dann nicht mehr möglich. Möglicherweise sieht das Gericht die Regelungskompetenz beim Bund. Wir werden es sehen. Dann – und erst genau dann – ist es an der Zeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen und hier tätig zu werden.

Warum – ich stelle diese Frage gerne noch einmal – jetzt dieser Antrag im Alleingang kommt, ist etwas unverständlich. Mehr Offenheit und die von Ihnen angebotene Zusammenarbeit im Sinne der Sache sind unser Wunsch. Zu gegebener Zeit sollten wir weiter darüber reden. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Vogt. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Schick.

Thorsten Schick (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich über den Antrag der FDP, den die CDU-Fraktion unterstützen wird.

Herr Vogt, natürlich kann man darüber streiten, wann der optimale Zeitpunkt für die Initiative ist. Am Ende des Monats wird es einen Termin vor Gericht geben. Es wird gestritten und geurteilt. Auf der anderen Seite hat der Landtag schon 2011 bekundet, dass er bereit ist, im Bedarfsfall medienrechtliche Grundlagen zu schaffen, um die Vielfalt im Pressevertrieb zu sichern. Ich möchte der Landesregierung nicht absprechen, dass sie sich um dieses Thema gekümmert hat.

(Beifall von Minister Michael Groschek)

Das ist hier und heute gar nicht der Vorwurf. Aber es wäre eine Wertschätzung gegenüber dem Parlament gewesen, wenn sie uns intensiver eingebunden und unterrichtet hätte. Wir als Parlament haben damals die Hand ausgestreckt, sie wurde aber nicht ergriffen.

Dass es Berichtenswertes zu dem Thema gibt, zeigen die vielen Pressemitteilungen aus Ihrem Hause, Frau Ministerin, zuletzt, als das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geändert wurde. Das wäre sicherlich auch für uns als Medienpolitiker ein Aufschlag gewesen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Diese Chance haben Sie allerdings verspielt.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Es ist insofern schade, weil doch eigentlich – das zeigen alle Wortbeiträge – große Einmütigkeit bezüglich der Pressegrossisten herrscht. Gerade vor dem Hintergrund der schwieriger werdenden Bedingungen für Zeitschriften? und Zeitungsverlage ist eine große Sicherheit auf dem Vertriebsweg, ein stabiles Vertriebssystem unheimlich wichtig. Ich möchte nur zwei Aspekte kurz herausgreifen:

Wenn einzelne Verlage ihren eigenen Vertriebsweg aufmachen, dann ist nicht sichergestellt, dass an allen Verkaufsstellen in Nordrhein-Westfalen die gewohnte Breite vorhanden ist. Ich kann mir schlechterdings nicht vorstellen, dass dann am Kiosk an der Bushaltestelle in Hallenberg die gleiche Bandbreite zu haben ist wie etwa an der U-Bahn-Station am Neumarkt in Köln.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Deswegen, meine Damen und Herren, ist es so wichtig, sich um das Thema zu kümmern, zumal es noch ein zweites, sehr schlagkräftiges Argument gibt: Es muss sichergestellt werden, dass gerade kleinere Verlage entsprechend partizipieren können. Gerade die kleineren Verlage sind nicht in der Lage, ihren eigenen Vertriebsweg aufzumachen, sondern sie sind darauf angewiesen, dass es Pressegrossisten gibt, die diese Funktion für sie übernehmen.

Wettbewerb findet mit einem funktionierenden Presse-Grosso an der Ladentheke bzw. am Kioskständer statt und nicht über die Marktmacht der einzelnen Verlage.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Damit ist Deutschland in der Vergangenheit gut gefahren. Das Modell der Pressegrossisten hat unsere Wertschätzung verdient und die Zustimmung zum FDP-Antrag ebenfalls. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Schick. – Für die grüne Landtagsfraktion spricht jetzt der Kollege Keymis.

Oliver Keymis (GRÜNE): Vielen Dank, Herr Präsident. Das tue ich gerne. – Ich will ausdrücklich sagen, dass ich es gut finde, dass das Thema immer wieder aufgerufen wird, auch von der FDP-Fraktion. Wir haben damals einen gemeinsamen Antrag über vier Fraktionen zum Thema „Presse-Grosso“ beschlossen.

Von meinen Vorrednern ist schon ausdrücklich betont worden, worauf es ankommt, nämlich auf Vielfaltsicherung an möglichst vielen Stellen. Mit Interesse habe ich noch einmal nachgeguckt: 24.713 Stellen haben wir, also 2,8 % mehr, als Sie erwähnten, Herr Witzel; wenn man über Prozente spricht, muss man ja jetzt genau sein. Es ist schon eine starke marktliche Voraussetzung für Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Das wollen wir auch gemeinsam sichern.

Wir werden Ihren Antrag jetzt ablehnen, nicht weil er inhaltlich falsch wäre – insbesondere Punkt 2 ist durchaus zustimmungswürdig –,

(Michele Marsching [PIRATEN]: Zu früh oder zu spät? Können Sie sich aussuchen!)

sondern weil wir den Zeitpunkt für falsch halten. Das Urteil des OLG steht noch aus. Wir sollten zunächst einmal abwarten, was das Gericht dazu sagt, um dann eine vernünftige Lösung zu finden, auf die wir uns vermutlich alle – möglicherweise über alle fünf Fraktionen im Landtag hinweg – verständigen können. Das wäre sehr erfreulich und zum Wohle des Presse-Grosso sowohl in Nordrhein-Westfalen wie auch in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Das ist ein wichtiges Signal.

Ich weiß, dass die Landesregierung das Thema kontinuierlich bearbeitet. Darüber informiert sie auch, zumindest wenn man danach fragt. Dann weiß man, dass sie die AG „Presse-Grosso“ ins Leben gerufen hat, an der auch die Bundesebene beteiligt war. Somit können wir sicher sein, dass aufgrund unseres in der Form einmaligen Vertriebssystems die Meinungsvielfalt von Presseerzeugnissen gesichert ist. Das wollen wir auch alle gemeinsam so haben.

Sie sind ein bisschen vorgeprescht. Es ist schade, dass Sie nicht vorher Kontakt aufgenommen haben. Beim letzten Mal haben wir das gemeinsam gemacht. Aber wir wollen uns nicht bei einem Thema auseinanderdividieren, bei dem wir im Prinzip einig sind, dass wir so verfahren wollen. Deshalb freue ich mich, wenn wir demnächst das Urteil aufnehmen und in unsere Arbeit einbinden können. Dann kommen wir hoffentlich gemeinsam zu einer Entscheidung, die das Presse-Grosso auch in Nordrhein-Westfalen sichert. – Ich bedanke mich.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Keymis. – Für die Piratenfraktion hat jetzt der Kollege Schwerd das Wort.

Daniel Schwerd (PIRATEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne und im Stream! Das Presse-Grosso-System ist eine kartellartige Struktur des Vertriebs von Presseerzeugnissen. Wir dulden dieses De-facto-Kartell, um das Entstehen von noch größeren Monopolen zu verhindern, nämlich dann, wenn große Verlage oder große Einzelhändler den Vertrieb übernehmen würden, die dann mit ihrer Macht Einfluss auf die Zusammensetzung des Angebots ausüben könnten.

Das Presse-Grosso-System gewährleistet also eine neutrale Plattform zur Verbreitung von Printmedien. Es ist neutral in der Auswahl der Medien und genauso neutral in der Auswahl der Verkaufsstellen. Wir Piraten kennen dieses Prinzip nur zu gut, man nennt es Plattformneutralität. Sie ist ein grundsätzlicher Pfeiler unseres Programms und gewährleistet an vielen Stellen überhaupt erst faire gesellschaftliche Partizipation. Wir finden sie im Energie? und Telefonsektor, genauso wichtig ist sie im Internet.

Der Erhalt des Presse-Grosso-Systems, das eine flächendeckende und neutrale Versorgung mit einem Vollsortiment an Zeitungen und Zeitschriften gewährleistet, ist also wichtig, um dauerhaft Meinungsvielfalt und Informationsfreiheit im Bereich der Printmedien sicherzustellen. Medien sind eben nicht irgendein beliebiges Produkt wie Butter oder Haarwaschmittel. Insofern haben wir begrüßt, dass das System mit der 8. Novelle des GWB diesen Sommer zumindest bundesrechtlich verankert worden ist.

Jetzt stellt sich auf Länderebene die Frage: Reicht uns das aus, oder hätten wir gerne den doppelten Boden und verankern das Presse-Grosso-Wesen da, wo es im Grunde hingehört, nämlich im Landespressegesetz NRW? Meine Damen und Herren, ich bin mir da, ehrlich gesagt, nicht ganz sicher. Das Gute an dem vorliegenden Antrag der FDP ist, dass er sich auch noch nicht festlegt.

Insofern können wir ihn gerne Punkt für Punkt durchgehen.

„Ja“ zum ersten Spiegelstrich: das Presse-Grosso-Vertriebssystem ist zweifellos wichtig. „Ja“ auch zum zweiten Spiegelstrich: Mit der GWB-Novelle ist ein wichtiger Schritt getan worden. Ebenso ein „Ja“ zum dritten Spiegelstrich: Liebe Landesregierung, informieren Sie uns bitte über die Ergebnisse der länderoffenen Arbeitsgruppe zu diesem Thema, und lassen Sie uns dann gemeinsam überlegen, ob und wie wir das Presse-Grosso-Vertriebssystem auch noch landesrechtlich absichern.

Schließlich reden wir im Ausschuss sowieso gerade über die von der Landesregierung gewünschte Entfristung des Landespressegesetzes NRW, über die wir Piraten übrigens nicht sonderlich glücklich sind. Es macht also Sinn, sich im Kontext des Pressegesetzes noch einmal Gedanken über das Presse-Grosso zu machen.

Insofern finde ich es furchtbar schade, dass wieder einmal ein Antrag abgelehnt wird, nur weil er nicht von der richtigen Fraktion kommt.

(Beifall von den PIRATEN)

Ich empfehle jedenfalls meiner Fraktion, dem Antrag der FDP zuzustimmen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Schwerd. – Für die Landesregierung hat nun Frau Ministerin Dr. Schwall-Düren das Wort.

Dr. Angelica Schwall-Düren, Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Auch ich will sehr differenziert zum Antrag der FDP Stellung nehmen, was einerseits seinen Inhalt und was andererseits seinen Zeitpunkt anbelangt.

Es ist dem Antrag ohne Zweifel zuzustimmen, wenn er die Verabschiedung der 8. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit Blick auf das Presse-Grosso begrüßt. Das tun auch wir.

Wenn Herr Schick einfordert, wir hätten doch zu diesem Zeitpunkt die Gelegenheit nutzen sollen, den Landtag zu informieren, so will ich Ihnen sagen: Einerseits sind die Beratungen im Bundesrat durchaus öffentlich gewesen, andererseits hindert auch niemand den Landtag daran – so wie Sie das mit Ihrem Antrag heute auch erreicht haben –, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen und dann auch eine Bewertung des jeweiligen Vorgangs vorzunehmen.

Ihr Antrag heute reicht allerdings materiell nicht über das hinaus, was der Landtag im November 2011 schon festgestellt hat. Es ist in der Tat unstreitig, dass die landesgesetzliche Absicherung eines neutralen Pressevertriebes nach wie vor uneingeschränkt zu unterstützen ist. Die Frage, die sich aber stellt, lautet: Was ist der richtige Weg und welche Implikationen müssen wir dabei wirklich beachten? Genau aus diesem Grund kommt der Antrag jetzt nicht zum richtigen Zeitpunkt, Herr Witzel.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Es geht ja nicht darum, dass wir hier landesinterne Überprüfungen im luftleeren Raum vornehmen könnten, denn in wenigen Wochen – das ist schon angesprochen worden – wird das Oberlandesgericht Düsseldorf über die Berufung des Bundesverbandes der Grossisten entscheiden.

Diese Entscheidung wird weitreichende Folgen haben. Sollte beispielsweise das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung dem Bund die Kompetenz absprechen, das Presse-Grosso-Vertriebssystem mit einer Dienstleistung gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV zu betrauen, dann müssten die Länder gesetzgeberisch tätig werden, um den kartellrechtlichen Schutz des Presse-Grosso zu gewährleisten.

Demgegenüber gilt: Sollte das Gericht die Kompetenzen des Bundes in diesem Fall bestätigen, dann sind den Ländern jedenfalls kartellrechtliche Maßnahmen mangels eigener Gesetzgebungskompetenz verwehrt. Es macht also keinen Sinn, auf Landesebene heute konkrete rechtliche Schritte anzugehen, die bereits in wenigen Wochen Makulatur sein könnten.

Sobald die Entscheidung des Oberlandesgerichtes Düsseldorf über den Antrag des Bundesverbandes der Grossisten vorliegt, wird die Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Federführung des Landes Nordrhein-Westfalen die nächsten konkreten Schritte beraten. Die Landesregierung wird dann sinnvolle landesgesetzliche Regelungen erarbeiten.

Wir sind selbstverständlich gerne bereit, den Landtag über die Entscheidung des OLG Düsseldorf und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sowie auch über die Ergebnisse der Arbeitsgruppe zu informieren. Damit, Herr Witzel, werden wir dann die Voraussetzungen für weitere gemeinsame Beratungen haben. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Frau Ministerin Dr. Schwall-Düren. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir sind am Schluss der Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt.

Die antragstellende FDP-Fraktion hat direkte Abstimmung beantragt. Somit stimmen wir über den Inhalt des Antrags Drucksache 16/3451 ab. Ich darf fragen, wer für diesen Antrag stimmen möchte. – Die FDP-Fraktion, die CDU-Fraktion, die Piratenfraktion und der fraktionslose Abgeordnete Stein. Wer ist gegen diesen Antrag? – Die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Hat sich jemand enthalten? – Eine Enthaltung in der Piratenfraktion. Damit ist der Antrag Drucksache 16/3451 abgelehnt.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt

7   Ursachenforschung: Die große Anzahl an Krankenständen im öffentlichen Dienst am Beispiel der Polizei in NRW

Große Anfrage 1
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/763

Zwischenbericht
der Landesregierung
Drucksache 16/1570

Antwort
der Landesregierung
Drucksache 16/3389

Ich eröffne die Beratung. Für die Piratenfraktion spricht zunächst der Kollege Schatz.

Dirk Schatz (PIRATEN): Vielen Dank. – Mein allerliebster Lieblingspräsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer hier im Saal! Ein gutes Team ist nur so gut wie sein schwächstes Mitglied, sei es im Sport oder eben auch bei der Belegschaft eines Betriebes bzw. einer Behörde.

Die uns nun vorliegende Antwort auf unsere Große Anfrage stellt in alarmierender Weise dar, was passiert, wenn in einem Betrieb mit mehreren Tausend Beschäftigten immer mehr Menschen immer weniger einsatzfähig sind. Beharrlich versucht die Landesregierung, in ihren Antworten auf unsere Fragen den Eindruck zu erwecken, es werde alles in ihrer Macht Stehende getan, um Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung bei der Polizei sicherzustellen.

In Wahrheit aber – und das belegen die Zahlen – steigt die Anzahl der Krankentage seit Jahren kontinuierlich an.

Nicht mitgerechnet sind dabei diejenigen Beschäftigten, die zwar im Dienst sind, krankheitsbedingt aber nicht in der Lage sind, die volle Leistung erbringen zu können.

Anstatt dieses Problem nun offen anzugehen und endlich die Ärmel hochzukrempeln, werden die Zahlen auch noch frisiert. So werden zum Beispiel im PersIS, in dem entsprechenden System, in einem Jahr eben nicht volle 365 Tage berechnet, wie beispielsweise bei den Krankenkassen üblich, sondern nur 252 Tage erfasst, sprich: ein Arbeitsjahr ohne Wochenenden und Feiertage.

Das heißt im Klartext: Bei einem Polizisten, der am Wochenende krank wird, obwohl er Dienst hätte, werden zwei Krankheitstage statistisch nicht erfasst. Die Folgen liegen auf der Hand: Die verbleibenden Beschäftigten werden dadurch zusätzlich enorm belastet. Alleine im Jahr 2012 haben die Kolleginnen und Kollegen in NRW 1,8 Millionen Überstunden erarbeitet. Davon wurden 1,2 Millionen durch Freizeit und 550.000 durch Vergütungen ausgeglichen, 50.000 Überstunden wurden einfach unter den Teppich gekehrt.

Die Landesregierung scheint jedoch weiterhin krampfhaft an ihrem Führungsstil festzuhalten. So versuchte sie, uns im ersten Zwischenbericht noch davon zu überzeugen, dass durch die krankheitsbedingten Ausfälle lediglich eine Umverteilung der anfallenden Arbeiten stattfinden würde. Irgendwann hat sie dann erkannt, dass es wohl doch nicht so einfach ist und eben nicht nur eine Umverteilung stattfindet, und hat daraufhin das Wort „lediglich“ im zweiten Bericht gestrichen. Von den knapp 6 Millionen Überstunden, die die Polizeibeamten ohnehin schon vor sich herschieben und die immer weiter aufgebaut werden, will ich gar nicht erst sprechen.

Was viele bereits ahnten, wurde nicht ausgesprochen. Anzeichen wurden einfach ignoriert – und das, obwohl bereits 2009, liebe Grüne, durch Ihre Anfrage schockierende Ergebnisse ans Licht gebracht wurden. Alarmierend hoch nannten Sie die Krankenstände in Ihrem Antrag, in dem Sie eine verbindliche Umsetzung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements forderten. Auch die Experten im anschließenden Sachverständigengespräch waren sich darüber einig, dass akuter Handlungsbedarf besteht.

Vier Jahre und ein Regierungswechsel später jedoch sind die guten Vorsätze schon wieder vergessen. Verbindlich werden sollten die Maßnahmen mit dem Ziel der frühzeitigen Prävention und der langfristigen Arbeitsplatzsicherung. Dabei herausgekommen ist hingegen ein freiwilliges System, das viele Behörden nur auf dem Papier stehen haben. Die fehlende Ernsthaftigkeit belegen Sie mit diesen Antworten schwarz auf weiß.

Die Landesregierung versucht insofern zu beschwichtigen, als ohnehin zwei von drei angebotenen Verfahren von den Beschäftigten abgelehnt würden. Das spiegelt aber nicht die gesamte Realität wider. Es darf uns nicht wundern, wenn Verfahren des betrieblichen Eingliederungsmanagements aufgrund mangelnder Erfahrung im Umgang mit diesen Verfahren sowie aufgrund fehlerhafter Ausführung abgelehnt werden. Das löst bei den Beschäftigten natürlich Unbehagen aus.

Die Ablehnung geschieht in der Regel deshalb, weil in der Maßnahme das Wort „Ausgliederungsmanagement“ gleich mitschwingt. Ich kann Ihnen auch erklären, warum das so ist: Der Datenschutz wird in diesem Bereich immer noch nicht ernst genommen. Die Informationen, gerade zu den Gesundheitszuständen, werden nämlich auch für weitere Verfahren, wie zum Beispiel zur Feststellung der Dienstfähigkeit, benutzt. Selbst die Bekanntgabe einer Schwerbehinderung oder die Erkenntnisse über Diagnosen werden häufig zum Anlass genommen, die Dienstfähigkeit eines Beamten feststellen zu lassen.

Und dann wundern Sie sich, dass keiner mitmachen will. Es muss endlich die versprochene landesweite verbindliche Dienstvereinbarung her, damit kontinuierliche Fortbildungen erfolgen können und Integrationsteams beteiligt werden. Darüber hinaus müssen dringend umfassende Standards zur Einhaltung des Datenschutzes erstellt werden. So kann es jedenfalls nicht weitergehen.

Mir fehlt leider die Redezeit, um noch auf weitere Einzelheiten in der Antwort der Regierung einzugehen. Ich kann jedoch zusammenfassend sagen, dass Sie mit dem Sprichwort „Problem erkannt, Gefahr gebannt“ alleine nicht weiterkommen werden. Vielmehr sind konkrete Handlungsschritte notwendig. Dazu gehört unter anderem auch die Verbesserung von Arbeitsschutzmaßnahmen, die Beteiligung von Betriebsärzten, die regelmäßige Durchführung von Gefährdungsanalysen und vieles mehr.

Es gibt viel zu tun, liebe Landesregierung. Sie sind nun in der Verantwortung, Ihr Team wieder einsatzfähig zu machen. Denn Sie wissen ja: Gesunde und motivierte Mitarbeiter sind der Schlüssel zu einem erfolgreichen Betrieb und einer hohen Arbeitszufriedenheit. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Schatz. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Bialas. – Nein, es spricht der Kollege Dahm in Vertretung für Herrn Bialas. Bitte schön.

Christian Dahm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Besucherinnen und Besucher! Herr Bialas ist erkrankt, insofern springe ich für ihn ein.

Im Namen meiner gesamten Fraktion möchte ich insbesondere den Beschäftigten im Ministerium für Inneres und Kommunales sowie denen in den nachgeordneten Behörden für die vorliegende ausführliche Informationsaufbereitung meinen ausdrücklichen Dank und Respekt aussprechen. Herzlichen Dank, Herr Minister. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diesen Dank weitergeben würden. Sie haben dem Plenum vorab einen ausführlichen Zwischenbericht vorgelegt. Das ist in einem solchen parlamentarischen Verfahren alles andere als alltäglich oder gar selbstverständlich.

Meine Damen und Herren, den Frauen und Männern im Polizeidienst wird psychisch wie auch physisch vieles abverlangt. Daher ist sowohl die rein statistische Erfassung als auch die seriöse Bewertung der Ursachenbestimmung differenziert von den Datenerhebungen anderer Krankenstatistiken zu sehen. Dies gilt erst recht im Hinblick auf die Rückschlüsse und Forderungen für zukünftige Maßnahmen, um das hohe Niveau der Leistungsfähigkeit unserer Polizei in diesem Land zu sichern.

In dieser Großen Anfrage, Herr Schatz, die offenbar Ihre Handschrift trägt, werden aber munter Begriffe vertauscht und inflationär verwendet, und dabei wird keine ausreichende Differenzierung beispielsweise zwischen Regierungsbeschäftigten und Polizeibeamten sowie Gründen des Krankheitsvorfalls vorgenommen. Darüber hinaus wird auch nicht zwischen Krankheit und Dienstunfall differenziert.

Heute sprechen Sie davon, dass die vorgelegten Zahlen frisiert sind. Ich denke, der Innenminister wird gleich noch etwas dazu sagen. Ich halte Ihre heutige Darstellung für eine Unverschämtheit. Das muss ich einmal in aller Deutlichkeit hervorheben.

Sie setzen in der Großen Anfrage die Überstunden mit den Krankheitsstunden ins Verhältnis. Ich weiß nicht, ob das überhaupt ins Verhältnis gesetzt werden sollte. Des Weiteren stellen Sie dar, dass Buchungen im Buchungssystem im Schichtdienst vorgenommen werden. Auch das entbehrt jeder Grundlage. Ich hätte von Ihnen insbesondere mehr Sachkenntnisse erwartet. Aber wahrscheinlich sind meine Ansprüche in diesem Fall doch zu hoch.

Das Ziel einer leistungs- und zukunftsfähigen nordrhein-westfälischen Polizei bedarf daher einer ganzheitlichen Herangehensweise. In diesem Zusammenhang vermag der vorliegenden parlamentarischen Großen Anfrage nur eines abzugewinnen sein, nämlich, dass es sinnvoll ist, sich dem Sachstand der Entwicklung ausschließlich statistisch zu nähern. Doch hinsichtlich der Ursachenbestimmung und der Ergreifung zielführender Maßnahmen aus einem Guss bringt uns der sprichwörtliche Vergleich von Äpfeln mit Birnen im Ergebnis wahrlich nicht weiter.

Um Strategien und daraus resultierende Lösungen zu entwickeln, hat sich die Landesregierung zusammen mit den regierungstragenden Fraktionen hier im Hohen Haus entsprechende ganzheitliche Ziele gesetzt.

Diese umfassen nämlich neben der reinen statistischen Erfassung das Portfolio von zahlreichen Maßnahmen, beispielsweise die Erhöhung der Einstellungszahlen – dazu kommen wir ja gleich noch – und beispielgebend präventive Maßnahmen im Dienstbetrieb. Ich will hier nur das Stichwort „Gesundheitsmanagement“ nennen. Dazu gehört auch die Gestaltung von verträglichen unumgänglichen Verwendungsänderungen im Laufe des Dienstverhältnisses, aber auch – ganz entscheidend dabei – die unerlässlich notwendige Beteiligung der Beschäftigtenvertretung.

Meine Damen und Herren, all das hätte dieser Großen Anfrage nicht bedurft. Denn viele dieser Maßnahmen sind seit Anfang bzw. Mitte 2010 bereits in erheblichem Umfang angegangen worden. Dafür darf ich insbesondere unserem Innenminister danken. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Dahm. – Für die CDU-Fraktion spricht der Kollege Golland.

Gregor Golland*) (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Krankenstand unserer Polizei ist ein Spiegelbild ihres inneren Zustandes. Die Zahlen in der Antwort auf die Große Anfrage Drucksache 16/763 und im Bericht der Landesregierung zum Krankenstand in der Landesverwaltung Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2012 sind erschreckend.

Der Krankenstand hat ein bedrohliches Ausmaß angenommen. Von insgesamt 50.041 Beschäftigten im Bereich der Polizei sind 42.455 im Jahre 2012 krank gewesen. Bezogen auf die Soll-Arbeitszeit sind die Beamtinnen und Beamten 8,19 % krank. Diese Quote ist damit mehr als doppelt so hoch als der durchschnittliche Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung aller Versicherten im Vergleichszeitraum.

Besonders auffällig ist dabei, dass es einen deutlichen Anstieg der Fehltage in den unteren Besoldungsgruppen und bei den älteren Beamten gibt. Vor allem die Langzeiterkrankungen länger als 30 Tage erreichen einen bedenklichen Hochstand. Betrachtet man die Entwicklung der letzten Jahre, so nehmen langfristige und mehrfache Erkrankungen weiter zu. In konkreten Zahlen für das Jahr 2012 bedeutet dies, dass 6.894 Beschäftigte der Polizei NRW länger als fünf Wochen krank gemeldet waren.

Auf Seite 17 der Beantwortung der Großen Anfrage ist zu lesen, dass die Anzahl der Krankentage auf den Rekordwert von 843.427 im Polizeivollzugsdienst zugenommen hat. 843.427 Tage! Das ist nicht hinnehmbar.

Auch die durchschnittliche Anzahl der erkrankungsbedingten Fehltage ist im Bereich der Polizei angestiegen und liegt inzwischen bei rund 20 Krankentagen pro Beamten pro Jahr, siehe Seite 21.

Bei sonstigen Landesbeamten liegt die durchschnittliche Anzahl der erkrankungsbedingten Fehltage „nur“ bei rund 17 Tagen im Jahr, siehe hierzu Seite 22.

Länger als 120 Tage am Stück und damit dauerkrank sind zurzeit 756 Beschäftigte der Polizei NRW, auch hier der Verweis auf Seite 24.

Das ist alles in allem eine schlechte Situation für die Betroffenen und für die innere Sicherheit unseres Landes.

(Beifall von der CDU)

Natürlich sind Polizeibeamte besonderen Belastungen und gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt. Ihr Dienst ist oft geprägt von Schichtarbeit, sehr vielen Überstunden, harten körperlichen und psychischen Aufgaben und Herausforderungen. Des Weiteren werden aber auch die Beamten im Durchschnitt immer älter und gleichzeitig einer immer höheren Arbeitsverdichtung ausgesetzt. Umorganisationen und Restrukturierungen fordern zudem ihren Tribut.

Die Folgen sind offensichtlich, angefangen von Motivationsverlusten und der inneren Kündigung geht es weiter bis zum Burn-out. Die Negativspirale nimmt an Fahrt auf.

Dabei sind es gerade die Menschen, die für die innere Sicherheit sorgen. Neben aller technischen Unterstützung und Entlastung ist der Faktor Mensch entscheidend für den Schutz unserer Bürger.

Von der Landesregierung erwarte ich daher ein zielführendes und ganzheitliches Gesundheitsmanagement, welches wissenschaftliche Erkenntnisse, Führungsverhalten und Einbindung der Betroffenen mit konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation verbindet.

Unter dem Strich hat sich seit dem Regierungswechsel 2010 folglich keine Verbesserung bezüglich der gesundheitlichen Situation bei der Polizei ergeben.

Auf Seite 35 der Antwort der Landesregierung zur Großen Anfrage wird nur ausgeführt, dass die zuständigen Behörden im Rahmen des Gesundheitsberichtes für das Jahr 2011 erstmalig über den Umsetzungsstand verbesserter Ansätze berichtet hätten. Auf den Seiten 35 bis 38 werden schlagwortartig mehrere Themen aufgelistet, über die in diesem Zusammenhang berichtet worden sei.

Allerdings findet sich keine Aussage zu der Frage, was genau berichtet wurde und wie die Landesregierung die Berichtsergebnisse bewertet. Gerade dies wäre jedoch im Hinblick auf eine politische Bewertung, Herr Innenminister Jäger, interessant gewesen. An diesem Punkt, lieber Herr Minister, bitte ich Sie darum, konkrete Inhalte und nachvollziehbare Ergebnisse vorzulegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Freund und Helfer, unsere Polizei, braucht jetzt unsere Hilfe und unsere Unterstützung. Das Ministerium und die Landesregierung müssen endlich nachhaltig geeignete Maßnahmen ergreifen – der Innenminister lächelt schon –, um die Ursachen der Krankenstände zu bekämpfen und die Folgen abzumildern. Unsere Polizeibeamtinnen und -beamten haben ein Anrecht auf die richtige Fürsorge ihres Dienstherrn. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege Golland. – Für die Fraktion Bündnis90/Die Grünen spricht die Kollegin Schäffer.

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegin Monika Düker, meine Vorvorgängerin im Amt als innenpolitische Sprecherin, hat den Krankenstand bei der Polizei ja bereits im Jahr 2009 hier im Landtag bereits auf die Tagesordnung mit einer Kleinen Anfrage und einem Antrag gehoben. Die Kleine Anfrage wird ja auch in der Großen Anfrage zitiert.

Angesichts der hohen Anzahl von Polizeibeamtinnen und -beamten, die länger als sechs Wochen im Jahr arbeitsunfähig waren, halte ich es nach wie vor auch für wichtig, dass wir uns hier als Parlament mit diesem Thema offen beschäftigen.

Man kann zwar einen gewissen Rückgang im Zeitraum von 2008 bis 2009 erkennen – und zwar ist die Anzahl der länger als sechs Wochen erkrankten Beschäftigten um 9 % gesunken –, aber es sind eben immer noch 6.900 Personen, die länger als sechs Wochen erkrankt waren.

Das finde ich nach wie vor eine erschreckende Zahl, die uns als Abgeordnete alarmieren sollte, weil wir eine Verantwortung gegenüber den Polizeibeamtinnen und -beamten haben. Wir wissen, dass der Polizeiberuf ein sehr verantwortungsvoller Beruf ist und die Polizistinnen und Polizisten im Dienst hohen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt sind.

Wir haben es zwar geschafft, die Einstellungsermächtigung für den Polizeidienst zu erhöhen – im nächsten Jahr werden erstmals 1.400 Beamtinnen und Beamte ihre Ausbildung abgeschlossen haben, was auch im Haushaltsplan 2014 berücksichtigt ist.  Nichtsdestotrotz steigt das Durchschnittsalter in den Kreispolizeibehörden. Das werden wir durch die Neueinstellungen zwar abmildern, aber nicht komplett aufhalten können. Man kann sich ausrechnen, dass wir es tendenziell mit mehr kranken Beschäftigten bei der Polizei zu tun haben werden, wenn die Beschäftigten älter werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns des Themas annehmen.

Außerdem fällt gerade bei der Polizei die Arbeit nicht weg, wenn Beschäftigte krank sich, sondern die Aufgaben sind nach wie vor vorhanden. Das heißt, andere Polizeibeamtinnen und ?beamte müssen diese Aufgaben auffangen. Aus diesem Grund und weil die Arbeitsbelastung sowieso schon hoch ist und weil wir die Steigerung des Durchschnittsalters haben, müssen wir uns die Aufgaben der Polizei ansehen und in die Aufgabenkritik einsteigen, aber wir müssen uns auch die bisherigen Organisationsstrukturen der Polizei anschauen. Ziel muss sein, dass die Polizei ihren Aufgaben weiterhin nachkommen kann und auf der Straße präsent ist.

Wir haben im Koalitionsvertrag mit der SPD deutlich gemacht, dass wir ein umfassendes Gesundheitsmanagement für alle Bereiche der Landesbehörden haben und die Wiedereingliederung von kranken Beamtinnen und Beamten im Innendienst verbessern wollen. Das betriebliche Eingliederungsmanagement für Beschäftigte, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig waren, ist für den Arbeitgeber, also auch für das Land, gesetzlich vorgegeben. Wir sind gesetzlich dazu verpflichtet. Auch jenseits der gesetzlichen Verpflichtung ist es jedoch sinnvoll, Beschäftigten nach einer längeren Krankheit den Weg zurück in den Dienst zu begleiten, ihnen zu helfen, um erneuten Erkrankungen vorzubeugen.

Nicht nur die Wiedereingliederung ist ein Thema, sondern auch die Gesundheitsprävention. Man muss sich die Frage stellen: Welche Strukturen, welche Aufgaben bei der Polizei machen eigentlich krank? Auch diesen Aspekt dürfen wir nicht völlig aus den Augen verlieren.

Der Antwort auf die Große Anfrage kann man entnehmen, dass derzeit an einer landeseinheitlichen Dienstvereinbarung über die Ausgestaltung des betrieblichen Eingliederungsmanagements bei der Polizei gearbeitet wird. Dieses Thema sollten wir uns, wenn die Vereinbarung fertig ist, noch einmal in den Innenausschuss und in den Unterschuss „Personal“ holen, um es dort intensiv zu diskutieren. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Frau Kollegin Schäffer. – Für die FDP-Fraktion spricht Frau Kollegin Schneider.

Susanne Schneider (FDP): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst wünsche ich unserem Kollegen und Polizisten Herrn Bialas von Herzen gute Besserung.

Zum Thema: Die uns vorliegenden Fragen und die Antworten scheinen mir zu ungenau, um die Ursachen der Krankenstände hinreichend aufzuklären. Fakt ist jedoch, dass der Polizeiberuf nicht zu den gesündesten gehört. Meiner Meinung nach liegen die Ursachen für den vergleichsweise hohen Krankenstand auf der Hand. Unsere Beamten leisten eine unglaublich wertvolle Arbeit und sind tagtäglich erheblichen Belastungen ausgesetzt, die sich auf Dauer, zum Beispiel durch den Wechselschichtdienst, noch verstärken.

Die körperliche Belastung beginnt beim klassischen vielen Sitzen – sowohl am Schreibtisch als auch im Streifenwagen. Andere körperliche Belastungen stellen die Festnahme sich widersetzender Verdächtiger oder der Wegtransport von Demonstranten dar.

Die Beamten in Spezialeinheiten oder Hundertschaften, die für die Sicherheit in Fußballstadien sorgen, bei Demonstrationen zugegen sind oder beispielsweise die Sicherung der Castor-Transporte übernehmen, tragen häufig schon mit ihrer Ausrüstung über 20 kg zusätzlich am Körper und das häufig einen ganzen Tag. Auf die extreme Lärmbelastung für die Diensthabenden bei den genannten Anlässen möchte ich gar nicht weiter eingehen.

Als Ausgleich wird den Beamten im Außendienst Dienstsport angeboten. Ob dieses Angebot ausreichend ist, sollte überprüft werden. Wir müssen die Beamten motivieren, und diese müssen sich auch selbst motivieren, Sport zu treiben. Denn ihre körperliche Fitness ist für ihre Tätigkeit und vor allem für die eigene Gesundheit unverzichtbar. Eine sinnvolle Sportart ist sicher das Schwimmen. Um dies zu betonen, hat der frühere FDP-Innenminister Wolf als Einstellungsvoraussetzung für Polizisten den bestandenen Rettungsschwimmer eingeführt.

Oft noch schwerwiegender als die körperliche Belastung ist im Polizeiberuf die psychische: durch Gespräche mit potenziellen Selbstmördern, Tote bei Unfällen, die Überbringung von Todesnachrichten und eventuell den Einsatz der Schusswaffe. Auch bei psychischen Belastungen ist eine Verstärkung mit zunehmender Dauer zu beobachten, zum Beispiel wenn Beamte in so erschütternden Bereichen wie Tötungsdelikten, Kindesmissbrauch oder Kinderpornografie ermitteln.

Oft trifft es Polizisten und Polizistinnen auch völlig unerwartet, wenn sich ein vermeintlicher Routineeinsatz zu einer brisanten Lage entwickelt und in kürzester Zeit Entscheidungen mit oft gravierenden Folgen für alle Beteiligten getroffen werden müssen.

Immer mit im Dienst sind die Risiken. Werde ich selbst verletzt? Hat der Demonstrant, der mich bespuckte, eine ansteckende Krankheit? Was ist, wenn der Verletzte mit Hepatitis oder HIV infiziert war? Traumatisierende Ereignisse wie Leichenfunde, schwere Verkehrsunfälle mit Toten, eigene Verletzungen oder – ich glaube das Schlimmste, was einem Beamten widerfahren kann – ein Kollege, der den Einsatz nicht überlebt.

Nach besonders belastenden Einsätzen ist kompetente Hilfe und Fürsorge notwendig. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen bietet deshalb ihren Beamtinnen und Beamten eine Ad-hoc-Betreuung rund um die Uhr an. Für die medizinisch-psychologische Erstbetreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen steht ein Team aus Polizeiärzten, Psychologen und erfahrenen Beamten bereit.

Besonders wichtige Aspekte zur Senkung des Krankenstandes durch langwierige Erkrankungen, insbesondere Depressionen und Angstzustände, sind ambulante psychotherapeutische Behandlungen und die Prävention. Doch die Wartezeit auf ein erstes Gespräch beim Psychotherapeuten beträgt in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich 13,8 Wochen – zu lange für den Beamten, dem es schlecht geht. Diese Wartezeit muss reduziert werden.

Unser Gesundheitssystem kann viele Erfolge bei der Prävention von psychischen Erkrankungen vorweisen. Das machen zahlreiche Projekte der Krankenkassen bei Maßnahmen zur Stressbewältigung in Betrieben und Verwaltungen deutlich.

Mit dem Gesetz zur Gesundheitsvorsorge wollte das FDP-geführte Bundesgesundheitsministerium diese Aktivitäten in Zukunft verstärken. Dies wurde jedoch durch die Blockadepolitik von Rot-Grün im Bundesrat verhindert.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren, wichtig für die Psyche unserer Polizisten ist auch die Wertschätzung ihrer Arbeit, beispielsweise durch einen zusätzlichen Stern oder durch die Verbesserung der Einkommenssituation. Dass viele Beamte für die nächsten zwei Jahre keine Erhöhung ihrer Bezüge erwarten dürfen, wirkt sich sicherlich nicht positiv auf deren Wohlbefinden aus.

(Beifall von der FDP)

Die FDP-Landtagsfraktion konnte dem Vorschlag der Landesregierung zur Beamtenbesoldung nicht zustimmen und hat daher Klage eingereicht. – Ich danke Ihnen.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Frau Kollegin Schneider. – Für die Landesregierung hat jetzt der Minister für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen das Wort. Ralf Jäger, bitte schön.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Große Anfrage 1 richtet den Blick auf die Leistungsfähigkeit der Polizei in Nordrhein-Westfalen. Klar ist: Ganz wesentlich hängt diese Leistungsfähigkeit von der Leistungsfähigkeit des Personals ab. Dass ein hoher Krankenstand Auswirkungen auf diese Leistungsfähigkeit hat, liegt auf der Hand. Deshalb ist die Frage nach Maßnahmen und nach Ursachen die richtige Vorgehensweise, um den Krankenstand zu verringern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Piraten, wenn die Beantwortung dieser Fragen Ihr Anspruch war, dann muss ich sagen: Ihre Anfrage ist dem nicht gerecht geworden. Anders gesagt: Die Themenstellung ist zwar richtig, aber Ihre Fragen gehen am Thema vorbei. In Ihrer Großen Anfrage fragen Sie nämlich nur Zahlen, Daten und Quoten ab. Das mag nützlich sein, wenn man sich das Problem statistisch vor Augen führen will, aber es hilft wenig bei der Ursachenermittlung, wenn man ernsthaft weiterkommen will. Es hilft auch nicht dabei, Lösungen zu finden, die die hohe Leistungsfähigkeit der Beamtinnen und Beamten dauerhaft erhalten. Dazu bedarf es in der Tat einer vertiefenden Analyse.

Weiter hilft uns dabei nur eine Gesamtstrategie, und an dieser Gesamtstrategie arbeiten wir. Wir haben uns als Landesregierung ganz zu Anfang ein wichtiges Ziel gesetzt: Wir wollen alles dafür tun, um unsere Polizei für die Zukunft gut aufzustellen, und zwar ganzheitlich und in allen Bereichen. Deshalb haben wir im November 2010 gemeinsam mit dem Polizeihauptpersonalrat eine Vereinbarung getroffen, um ein behördliches Gesundheitsmanagement einzurichten.

Wir alle wissen, dass der Polizeiberuf den Kolleginnen und Kollegen vieles abverlangt, physisch und psychisch. Deshalb gibt es den – Ihnen, glaube, durchaus bekannten – Sporterlass, mit dem wir auch die Führungspersonen in die Pflicht nehmen, eben weil wir wissen, Frau Schneider, dass ein fitter Körper wichtig ist und auch als Ausgleich für die eine oder andere Belastung in diesem wichtigen Beruf dient.

Wichtig ist: Seit 2011 haben wir die Zahl der Einstellungen von Polizeivollzugsbeamtinnen und -be-amten deutlich erhöht, weil wir dem demografischen Wandel begegnen müssen und das hohe Niveau unserer Polizei erhalten wollen. Wir brauchen diese jungen Beamtinnen und Beamten dringend.

Frau Schneider, wenn Sie sagen, eine Ursache für den hohen Krankenstand sei die hohe Belastung: Diese Belastung wäre deutlich niedriger, wenn die alte, schwarz-gelbe Landesregierung bei den Einstellungen die gleichen Anstrengungen an den Tag gelegt hätte, die wir an den Tag gelegt haben.

(Zuruf von der FDP)

Wir haben heute bei der Polizei eine schwarz-gelbe Lücke von 2.500 Beamtinnen und Beamten. Hätten wir die zur Verfügung, wäre die Belastung der Kolleginnen und Kollegen deutlich niedriger.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Das ist die Märchenstunde von Herrn Jäger! Das ist unerträglich!)

Darüber hinaus müssen wir auch andere Bereiche angehen. Es gilt zum Beispiel, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu schaffen. Wir sind dabei, diese Interessen der Beschäftigten mit den Erfordernissen des Dienstbetriebs abzugleichen. Wir werden im Rahmen der Dienstrechtsreform zu Vorschlägen kommen und die richtigen Schlüsse ziehen.

Wir arbeiten übrigens auch an einer Lösung für die Gruppe der Beamten mit eingeschränkter Verwendung. Um sinnvolle und verträgliche Ansätze zu finden, haben wir bereits vor der Großen Anfrage der Piraten eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit diesem Thema beschäftigt. Außerdem gibt es seit Anfang des Jahres eine Arbeitsgruppe „Schichtdienstmanagement“. Diese Arbeitsgruppe soll Vorschläge für moderne Schichtdienstmodelle unterbreiten, denn auch auf diesem Feld müssen wir Lösungen finden, die mitarbeiterfreundlich, aber vor allem auch gesundheitsverträglicher sind.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, das sind wichtige Mosaiksteine, die wir zusammensetzen müssen, um ein stimmiges und stabiles Gesamtbild zu bekommen. Dabei gibt es viel zu tun. Das Ziel ist eine leistungsfähige und zukunftsfähige Polizei. Daran arbeiten wir. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Minister Jäger. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe hier die Beratung und stelle fest, dass die Große Anfrage 1 der Piratenfraktion damit erledigt ist.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt:

8   Fairen Wettbewerb schaffen: Klare energiewirtschaftliche Regelungen bei der Vergabe von Konzessionen für Strom- und Gasnetze

Antrag
der Fraktion der SPD und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Drucksache 16/4153

Entschließungsantrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4237

Ich eröffne die Beratung und erteile für die CDU-Fraktion dem Kollegen Dr. Optendrenk das Wort. – Nein, sorry, ich habe mich vertan. Ich war in der Liste schon ein bisschen weiter. Herr Dr. Optendrenk, Sie haben noch ein gutes halbes Stündchen Zeit.

Ich muss mich bei dem Kollegen van den Berg von der SPD-Fraktion entschuldigen. Er hat die Ehre, bei diesem Tagesordnungspunkt den Reigen zu eröffnen. Bitte sehr.

Guido van den Berg (SPD): Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wären auch flexibel gewesen. Ich glaube, daran wäre es nicht gescheitert.

Vizepräsident Daniel Düngel: Ich weiß nur nicht, ob Herr Dr. Optendrenk die richtige Rede vorbereitet hätte.

Guido van den Berg (SPD): Ich glaube, in der Sache, kann man da gar nicht so weit auseinanderliegen, wenn man kommunalpolitische Bezüge hat. Das ist zumindest meine Hoffnung, was diesen Tagesordnungspunkt betrifft.

Als Regierungsfraktionen legen wir Ihnen heute einen Antrag vor, der, glaube ich, eine hohe Aktualität hat, denn er leistet einen wertvollen Beitrag zu dem Thema Energiewende, wie wir sie umsetzen und an welchen Stellen wir wirklich Verbesserungen erzielen können.

Die Rolle einer dezentralen Energieversorgung wird steigen; das ist völlig klar. Umso wichtiger ist es, dass man die Kommunen in die Lage versetzt, dass sie ihren Beitrag leisten und sich um die dezentrale Versorgung kümmern, aber nicht nur um die Versorgung, sondern auch darum, dass die Netze so umgestaltet werden, dass sie künftig auch zu Einspeisenetzen werden, also intelligente Netze entstehen.

Das ist nicht simpel, sondern eine komplizierte Angelegenheit. Wir haben auf Landesebene schon über Bausteine beraten. Ich erinnere an den § 107 der Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen, mit dem wir die wirtschaftliche Betätigung wieder ermöglicht haben. Wir befinden uns jetzt bei einem neuen Schritt, bei dem es darum geht, wie wir bei den Konzessionsvergaben die Kommunen stärken können, die vor schwierigen Aufgaben stehen.

Wer selber in einem Stadtrat aktiv ist, der weiß, dass Konzessionsvergaben mit zu den kompliziertesten Sachverhalten gehören, die einem in einer Ratsperiode widerfahren können. Alleine dadurch, dass das nur alle 20 Jahre passiert, kann man auf wenig Erfahrung zurückblicken. Es sind meistens die Ratsmitglieder mit der goldenen Stadtnadel, die länger als 25 Jahre dabei sind, die einem überhaupt Erfahrungswerte vermitteln können. Häufig ist es auch so, dass die Verwaltung sich auf einer Ebene befindet, auf der sie eigentlich gar nicht so viel Expertise hat, wie sie braucht.

Als Erstes passiert dann meistens, dass die Stunde der Berater kommt. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten: Es werden mehrere Hunderttausend Euro in Gutachten und Expertisen umgesetzt, die man sich einkauft. Auch Rechtsanwaltskanzleien verdienen sich an dieser Stelle eine goldene Nase.

Es passieren Dinge, die ebenfalls schwierig sind: Wie werden eigentlich die Ratsmitglieder eingebunden? Ich kann – ebenfalls aus eigener Erfahrung – berichten, dass es hochkompliziert ist, überhaupt die relevanten Unterlagen zu erhalten, alles das, was man dort eigentlich an Einschätzungen, an Vertragswerken, Entwürfen, Gegenüberstellungen usw. bräuchte. Wie erfolgt letztendlich die Ausschreibung?

Meine Damen und Herren, es gibt einen schönen Artikel aus der „Wirtschaftswoche“ vom 07.06.2010, der also schon ein paar Tage alt ist, in dem auf den berühmten § 46 des Energiewirtschaftsgesetzes verwiesen wird. Es heißt: „Grund für die Lücken im Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahr 2005“ – es geht um das Problem vieler Kommunen; als Beispiel wird Pulheim aufgeführt – „ist: Der Gesetzgeber vergaß, dem Verkäufer der Netze vorzuschreiben, dem Käufer alle Daten vorzulegen.“

Damit wird einen Kernpunkt des Problems beschrieben, das wir an dieser Stelle haben, dass nämlich eigentlich nicht alle Daten verfügbar sind, die man an dieser Stelle bräuchte, alle vollständigen Netzdaten, alle wirtschaftlichen und technische Daten. Es geht dabei um die Frage, wo eigentlich Übergabepunkte ins überregionale Netz festgelegt werden etc.

Meine Damen und Herren, wir haben Ihnen deswegen Vorschläge zur Transparenz bei Netzdaten vorgelegt. Wir haben Ihnen darüber hinaus einen Vorschlag unterbreitet, in dem es darum geht, in der Frage nachzufassen, wie letztendlich eine Objektivierung stattfindet und was eine angemessene Vergütung ist. Der Fall Pulheim, den ich genannt habe, ist an der Stelle wirklich ganz eklatant. Dort war es seinerzeit so, dass der Stadtkämmerer bereit war, 14 Millionen € zu bieten, das Unternehmen aber 31 Millionen € und damit mehr als Doppelte als Netzwert verlangte. Man sieht ganz konkret, wohin das führt, nämlich zu langwierigen Verfahren. Letztendlich muss danach geschaut werden, was im Übergang passiert.

Ich will eine letzte Bemerkung machen, die an der Stelle, denke ich, auch wichtig ist: Häufig geht es um einen Kampf zwischen David gegen Goliath, aber nicht nur. Manchmal ist es auch ein Kampf Goliath gegen Goliath. Im Beispiel Pulheim, das ich genannt habe, war es so, dass hinter dem Stadtwerk, das dort gegründet wurde, nicht nur eine kommunale Struktur stand, sondern ein anderer Energieriese. Das war in diesem Fall Veolia. Letztendlich wurde auf Kosten eines kleinen Stadtwerkes ein großer Kampf von Energiegiganten ausgetragen. Zwischen den Fronten befanden sich die ehrenamtlichen Ratsmitglieder, die das alles nach Feierabend bewerten sollten.

Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass wir an der Stelle ein paar Planken einziehen und versuchen, das in eine ordentliche Bahn zu lenken. Dazu soll der Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen, dienen. Ich freue mich auf die Beratung im Fachausschuss und bin ganz sicher, dass wir – wenn wir konstruktiv an die Sache herangehen – einen guten Beitrag für die Kolleginnen und Kollegen in ehrenamtlichen Stadträten leisten können. Ich habe oft über Pulheim gesprochen, weil das in meinem Wahlkreis liegt. Ich hoffe, dass das auch für Pulheim gilt. – Vielen Dank, meine Damen und Herren!

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Daniel Düngel: Vielen Dank, Herr Kollege van den Berg. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Frau Kollegin Brems.

Wibke Brems (GRÜNE): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir es auf dem Feld der Energiepolitik einmal nicht mit einem technisch komplexen, sondern mit einem juristisch komplexen Sachverhalt zu tun: Die Vergabe von Konzessionsverträgen für Strom und Gas stellt Kommunen häufig vor eine große Herausforderung. Mein Vorredner, Herr van den Berg, hat das eben schon ausgeführt. Gleichzeitig ist das Thema von immenser Bedeutung für die Kommunen. Darüber hinaus ist es meist mit dem Ziel einer Umsetzung einer Energiewende vor Ort verbunden. Denn ein Netz hängt zwar nicht direkt damit zusammen, dass die Energiewende vor Ort gelingt; sie ist aber häufig Startpunkt für Stadtwerke mit einer eigenen Erneuerbaren-Energien-Versorgung.

Auf den ersten Blick erscheinen die Rahmenbedingungen für die Konzessionsvergabe gesetzlich geregelt. Die Praxis der letzten Jahre zeigt jedoch, dass die aktuellen Regelungen nicht ausreichen. Im Gegensatz zur schwarz-gelben Vorgängerlandesregierung, die als Entschuldigung für ihr Nichtstun bei diesem Thema in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Kollegen Becker und Priggen den Respekt der Autonomie kommunaler Entscheidungsprozesse anführt, meinen wir, dass trotz dieses Respekts politisches Handeln erforderlich und möglich ist.

Wir haben drei Aspekte herausgearbeitet:

Zunächst einmal die Datenherausgabe! Es existieren zwar gesetzliche Regelungen, dass eine Herausgabepflicht der Netzdaten besteht; allerdings gibt es keinerlei Regelung über den Umfang und die Details. Diese Informationen sind für Bewerber um die Konzessionen ganz essenziell. Nur so können sie natürlich ein Angebot abgeben, das ihnen einerseits überhaupt erst Chancen auf zukünftige Gewinne ermöglicht, andererseits nicht zu niedrig liegt, um die Konzession zu erhalten. Einige Altkonzessionäre geben jedoch die Daten nur unvollständig heraus.

Man überlege sich einmal, wie das im Alltag wäre: Ein Käufer darf beim Händler einen Gebrauchtwagen nur von ganz weitem kurz anschauen, muss dann aber ein Gebot abgeben, ohne auch nur einen einzigen Blick unter die Motorhaube werfen zu können. Dass dabei dann kein adäquates Angebot oder kein angemessener Vertrag herauskommt, ist, finde ich, vollkommen klar.

Das heißt, wir sehen hier ein absolutes Ungleichgewicht. Im Fall der Konzession kann es dann eben dazu kommen, dass der Altkonzessionär wieder mit dabei ist. Das, finden wir, müsste dringend geändert werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Der zweite Aspekt ist die Vergütung der Altkonzessionäre. Bei nahezu jeder Neukonzessionsübernahme kommt es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen darüber, welcher Preis an den bisherigen Konzessionär zu bezahlen ist.

Dass es bei Preisverhandlungen zunächst zu Auseinandersetzungen zwischen Käufer und Verkäufer kommt, das liegt in der Natur der Sache. Häufig sind jedoch gerade die Forderungen des Altkonzessionärs überzogen hoch. Auch hier zeigt ein Blick ins Gesetzbuch zunächst, dass ein wirtschaftlich angemessener Preis zu erzielen ist. Doch wie genau dieser Preis zu ermitteln ist, darüber entscheiden letztendlich häufig Gerichte.

Es ist auch an dieser Stelle Zeit für ein objektives Verfahren, damit schneller Rechtssicherheit für Kommunen und kommunale Unternehmen besteht und nicht jahrelanges Warten auf Gerichtsentscheidungen gerade die neu gegründeten kommunalen Unternehmen belastet.

(Vorsitz: Präsidentin Carina Gödecke)

Gerade in diesen Fällen, bei denen ein jahrelanger Rechtsstreit anhängig ist, besteht das dritte Handlungsfeld, das wir in unserem Antrag beschreiben. Auch in Übergangszeiten zwischen Alt- und Neukonzessionär sollte sichergestellt werden, dass die betreffende Gemeinde hinterher nicht unter Gerichtsverfahren zu leiden hat, sondern die vertraglich vereinbarte Konzessionsabgabe auch wirklich erhält.

All diese Aspekte sollten in einer Bundesratsinitiative aufgegriffen werden. Wir sollten es in den Ausschüssen gemeinsam diskutieren. Ich freue mich auf diesen Austausch. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Brems. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Kufen.

Thomas Kufen (CDU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will versöhnlich aufgreifen, was die beiden Vorredner schon deutlich gemacht haben. Auch wir können Ihrem Ansinnen sehr viel abgewinnen, weil wir festgestellt haben, dass Kommunalpolitik unabhängig von der Gemeindegröße – das können kleine, mittlere oder auch große Städte sein – in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich an Komplexität gewonnen hat.

In den Kommunen sind Themen quasi wie unter einem Brennglas anzuschauen. Da geht es um demografische Entwicklungen, um Integration, um Arm und Reich, um Arbeitsmarkt, um öffentliche Kassen, die leer sind, aber auch um das Gestalten der Energiewende und die Rolle der Stadtwerke.

Wir stellen fest, dass insbesondere die Vertragsgestaltungen, auch die Vorgaben von den kommunalen Verwaltungen, oft nicht so sind, dass ehrenamtliche Kommunalpolitiker mit gutem Gewissen Entscheidungen treffen können, sondern so, dass sie vielfach sehr unsicher sind.

Gelegentlich – das kennen Sie sicher auch aus Ihren politischen Erfahrungen – gibt es Sachverhalte, bei denen man, je tiefer man einsteigt, nicht umso klarer wird, sondern umso unsicherer, ob die Entscheidung, die man trifft, wirklich die richtige ist.

Insofern können wir dem Ansinnen, das Sie vortragen, es für die Kommunen transparenter und einfacher zu machen, sehr viel abgewinnen.

Wir haben das so verstanden, dass der Antrag, wie Sie ihn formuliert haben, mit drei Feldern und Prüfoptionen, eine nicht ausgesprochene Einladung ist, gemeinsam etwas zu tun. Sie machen den Vorschlag einer Bundesratsinitiative, obwohl wir gar nicht wissen, an welche Bundesregierung sich die Initiative richten wird. Sicher ist der eine oder andere daran beteiligt. Dass es eine Bundesregierung gibt, an der keiner von uns beteiligt ist, kann ich mir nicht vorstellen, so viel Fantasie habe ich nicht. Ich denke gleichwohl, dass wir in der Ausschussberatung schauen können, wie wir gemeinsam im Interesse der Kommunen unseren Beitrag leisten.

Denn eines ist doch offensichtlich: Das Handbuch, das zum Beispiel der Verband kommunaler Unternehmen gerade zum Thema „Konzessionsverträge“ regelmäßig aktualisiert herausgibt, gehört zu den Publikationen, die am meisten abgegriffen werden. Meine Befürchtung ist, dass der Wälzer, wenn er am Ende bei den ehrenamtlichen Kommunalpolitikern ankommt, nicht bis zur letzten Seite durchgelesen wird.

Das zeigt auch: Das ist ein sehr komplizierter Sachverhalt. Da gilt es, im Interesse von Daseinsvorsorge und im Interesse der Kommunen für Sicherheit zu sorgen und das kommunale Ehrenamt zu stärken. Da machen wir gerne mit. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kufen. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Brockes.

Dietmar Brockes*) (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier heute einen Antrag zur Konzessionsvergabe. Sie haben seitens der Fraktionen von SPD und Grünen den Antrag unter die Überschrift „Fairen Wettbewerb schaffen: Klare energiewirtschaftliche Regelungen bei der Vergabe von Konzessionen für Strom- und Gasnetze“ gesetzt. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir an dieser Stelle beieinander sind.

Aber, meine Damen und Herren, wenn man den Antrag liest, muss man feststellen, dass er an der einen oder anderen Stelle doch über das Ziel hinausschießt. Doch auch da wäre es gut und konstruktiv, wenn wir im Ausschuss weiter darüber beraten.

Nun zur Antragslage.

Die Situation ist Folgende: Unternehmen, die derzeit Netze betreiben, sind bestrebt, diese Netze weiter zu betreiben; ganz klar. Unternehmen, die noch keine Netze betreiben oder ihr Netzgebiet erweitern wollen, sind bestrebt, Netze so einfach wie möglich zu übernehmen. Im Zuge der gegenwärtigen Rekommunalisierung sind es meist die kommunalen Unternehmen, die die Netze übernehmen wollen. Es ist an dieser Stelle also ein klassisches Spannungsfeld.

Was wir da brauchen, sind gesetzliche Regelungen, die die berechtigten Interessen der verschiedenen Marktteilnehmer in einen angemessenen Ausgleich bringen. Dies, Herr Kollege van den Berg, hat die Bundesregierung im Grundsatz bereits mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes 2011 getan. Das, was Sie eben angeführt haben, ist meines Erachtens also schon in großen Teilen bereinigt worden.

Aber man kann das Energiewirtschaftsgesetz an einigen Stellen sicherlich präzisieren, zum Beispiel bei der Pflicht des bisherigen Nutzungsberechtigten zur Zahlung der vertraglich vereinbarten Konzessionsabgabe gegenüber der Gemeinde auch nach Jahresfrist, wenn die Netze noch nicht übergeben wurden.

Aber bitte halten Sie sich doch an das, was Sie in der Überschrift Ihres Antrags versprechen. Was Sie stattdessen bezwecken, ist, in Ihrem Antrag alle Hürden für eine Rekommunalisierung aus dem Weg zu räumen. Hier schießen Sie meines Erachtens über das Ziel hinaus.

Der Antragstext macht dies sehr deutlich. Ich zitiere:

„Nachteile für Kommunen und kommunale Unternehmen bei der Konzessionsvergabe sind unangemessen und müssen deshalb beseitigt werden.“

Also egal was, alles ist unangemessen. – Ich muss sagen, da sind die Piraten doch schon etwas weiter. Im Entschließungsantrag wird die Forderung aufgestellt, dass kommunale Netzübernahmen nicht unangemessen beschränkt werden dürfen. – Diese beiden Formulierungen machen aus meiner Sicht doch einen großen Unterschied aus.

Meine Damen und Herren, es ist doch so: Der Netzbetreiber muss gemäß § 1 Energiewirtschaftsgesetz eine sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche Versorgung der Allgemeinheit mit Strom gewährleisten. Wenn Kommunen ihre Netze wieder übernehmen wollen und hierzu in der Lage sind, dann muss dies in einem Ausschreibungsverfahren und nach fairen Regeln geschehen. Soweit bin ich da ganz bei Ihnen, meine Damen und Herren von SPD und Grünen; denn das gebietet ja auch die kommunale Selbstverwaltungsgarantie.

Was Sie hier vorhaben, ist aber etwas anderes. Sie begünstigen den auf den Kommunen lastenden Erwartungsdruck, die Energieversorgung möglichst umfassend in die kommunalen Hände zu übernehmen. Sie treiben sie dazu, Aufgaben anzunehmen, die sie womöglich nicht erfüllen können. Es macht nämlich einen Unterschied, ob ein Netz mit 15.000 Kunden oder eines mit 100.000 Kunden betreut werden muss. Nicht jede Kommune ist breit genug aufgestellt, um diese Risiken entsprechend zu tragen.

Es gilt, dieses managen zu können. Denken Sie mal an die Umstellung auf Smart Grids. Dass das Know-how dazu gerade bei den Kommunen und nicht bei den privaten Netzgesellschaften liegen soll, können Sie doch nicht ernsthaft behaupten. Nicht immer hat sich der Staat in der Vergangenheit im Vergleich zu Privaten als besserer Unternehmer erwiesen – unter anderem deshalb, weil er andere, übergeordnete Zielsetzungen und andere Rahmenbedingungen verfolgt, die teilweise ja politisch vorgegeben werden.

Ich denke aber, es lohnt sich in der Sache, im Ausschuss weiter zu beraten und nach Möglichkeit eine gemeinsame Position zu finden, für die vielleicht gar nicht der Weg über den Bundesrat gesucht werden muss, sondern die direkt in die Politik in Berlin einfließen kann. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Brockes. – Für die Piraten spricht Herr Kollege Schmalenbach.

Kai Schmalenbach (PIRATEN): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kollegen! Liebe Zuschauer! Der Netzbetrieb bei Strom und Gas ist ein entscheidender Faktor im Energiesystem. Dazu gehören insbesondere auch die lokalen Verteilnetze. Zum Teil sind sie in kommunaler Hand, zum Teil waren sie es und sind von überregionalen Betreibern übernommen worden. In der Regel wird alle 20 Jahre neu darüber entschieden.

Bei der dezentralen Energiegewinnung kann es sich für die Kommunen lohnen – das ist auch unser Ansatz –, diese Netze zurückzuerobern bzw. zurückzukaufen, die Energiewende möglichst dezentral zu gestalten und intelligente Energienetze vor Ort zu bauen. Das kann aus wirtschaftlichen Gründen geschehen, aber auch aus Gründen, die sich aus der Energiewende ergeben.

Im Hinblick auf die Regionalisierung der Erzeugungsanlagen bietet der Betrieb aber auch die Möglichkeit, die Energiewende vor Ort mitzugestalten. Kommunen müssen frei entscheiden können, ob sie das wollen. Die aktuelle Regelung steht dem jedoch im Weg. In der Regel sind die Preise zu hoch, um die Netze zurückzugewinnen.

Mir fehlt beim Ausgangsantrag das klare Bekenntnis zum Ertragswertverfahren. Dazu hätte ich mir eine klarere Aussage gewünscht.

Es stehen also Verhandlungen über technische Fragen und vor allem über den Kaufpreis an. Da gibt es tatsächlich ein Problem; denn wenn ich die Daten über das Netz im Vorfeld nicht habe, dann kann ich schlecht entscheiden, ob es das Geld wert ist.

An der Stelle möchte ich Frau Brems gratulieren. Eine Regel im Netz ist eigentlich: Auto-Vergleiche funktionieren nie. Ihrer hat funktioniert. Glückwunsch dazu!

Herr Brockes, ich muss hier mal die Intention unseres Entschließungsantrages offenlegen.

(Beifall von den GRÜNEN)

– Es tut mir leid, Herr Brockes, die Intention war eigentlich, die Diskussion darüber zu führen, wann Entschließungsanträge sinnvoll sind und wann nicht. Wir sind der Meinung, dass der gestrige der rot-grünen Koalition nicht sinnvoll war. Wir hätten uns eigentlich gewünscht, dass unser Entschließungsantrag heute nicht zugelassen wird. Das war aus meiner Sicht das eigentliche Ziel. Ich wollte eine Diskussion darüber führen, ob dieses Spiel, das Rot-Grün gestern mit uns gespielt hat – Entschuldigung, ich muss es so nennen –, legitim war oder nicht. Dementsprechend haben wir den Antrag der rot-grünen Koalition – tatsächlich „copy, remix, share“, wie wir es vertreten – recycelt. Also: So viel anders ist der nicht.

(Lachen von den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Schmalenbach, es wird Sie nicht wundern, dass Herr Kollege Priggen Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen möchte.

Kai Schmalenbach (PIRATEN): Sehr gerne, Herr Priggen.

Reiner Priggen (GRÜNE): Ganz herzlichen Dank für die Gelegenheit. Weil ich den Kollegen Brockes lange kenne und Sie, Herr Schmalenbach, das jetzt etwas komplex erklärt haben, frage ich einfach noch mal nach: Sie haben unseren Antrag genommen, ihn komplett abgeschrieben und ihn dann, um uns zu provozieren, so gestellt. Das ist auch völlig in Ordnung. Aber der Kollege Brockes hat dann Ihren Antrag gelobt, weil er weiter sei als unserer. So ist es doch, oder?

(Kai Schmalenbach [PIRATEN]: Genau!)

– Wunderbar.

(Heiterkeit von den GRÜNEN)

Kai Schmalenbach (PIRATEN): So kann man das tatsächlich herunterbrechen.

(Beifall von den PIRATEN)

Aber natürlich haben wir etwas daran verändert.

(Zurufe von der FDP: Aha! – Reiner Priggen [GRÜNE]: Was denn? Die Einleitung?)

– Herr Brockes wird seine Verbesserungen vermutlich im Sub-Text gefunden haben.

Von daher sage ich: Das ist ein schöner Antrag. Wir sind uns tatsächlich, wie Herr van den Berg es sagte, in den Zielen sehr einig. Ich glaube, wir werden das auch relativ gut durch die Ausschüsse bekommen, sodass am Ende ein gemeinsames Werk stehen wird. Vielen Dank dafür.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schmalenbach. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Duin.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vorteil eines Ministers ist: Man wird genau vorbereitet. Deswegen hat mir mein Haus …

(Zuruf von Ministerin Sylvia Löhrmann)

– Genau das ist der Fall, Frau Kollegin. Deswegen hat man mir noch mal aufgeschrieben: Im zweiten Bullet wurde das Wörtchen „oft“ ergänzt. – Und: In der Aufforderung an die Landesregierung ist unter Nr. 2 statt „insbesondere sicherzustellen“ geschrieben worden „vorrangig sicherzustellen“.

Ich hoffe, wir haben die Textarbeit bei uns im Haus ordentlich gemacht. Wir kommen übrigens zu dem Ergebnis, dass wir inhaltlich beiden Anträgen durchaus zustimmen können, dass die inhaltlichen Unterschiede nicht so groß sind, als dass wir uns dort verkämpfen müssten.

Meine Damen und Herren, ein Konzessionsvergabeverfahren für das Wegerecht des Gas- und Stromnetzes einer Kommune ist in der Tat – darauf ist gerade von denen, die kommunalpolitische Erfahrungen haben, hingewiesen worden – kein Kinderspiel. Es passiert auch nicht alle Tage, sondern ziemlich genau alle 20 Jahre. Das führt in manchen Fraktionen dazu, dass man die Hälfte noch fragen kann, da sie beim ersten Mal noch dabei waren.

(Lachen von der CDU)

In anderen Fraktionen ist es nicht ganz so. Deswegen geht es darum, rechtliche Vorgaben zu schaffen, die klar sind.

Aktuell sind die rechtlichen Vorgaben ziemlich rudimentär. Der Altkonzessionär ist nicht selten ein großer Konzern mit ausgewiesener juristischer Expertise. Daher haben wir gelegentlich eine David-gegen-Goliath-Situation, die in der Praxis nicht selten dazu führt, dass die notwendigen Netzdaten eben nicht herausgegeben werden, dass die Netzübergabeverhandlungen mit dem Neukonzessionär nur schleppend vorankommen und dass nach Ablauf der Jahresfrist die Konzessionsabgabezahlung an die Kommune eingestellt wird. – Das alles haben wir in der Praxis so erlebt.

Das ist für die jeweilige Kommune eine rechtlich unsichere und finanziell bedrohliche Situation. Hier gilt es Rechtssicherheit zu schaffen. Das bringen die gerade genannten Anträge zum Ausdruck, die sich sehr sach- und fachorientiert mit dem Thema der Vergabe von Gas- und Stromnetzkonzessionen auseinandersetzen.

Ich habe mich auch deswegen darüber gefreut, weil in meinem Haus ebenfalls an diesem Thema gearbeitet wird. Eine ins Leben gerufene Gruppe, die sich aus Mitgliedern der kommunalen Spitzenverbände, dem VKU, dem BDEW sowie Fachjuristen zusammensetzt, hat sich gerade in der letzten Woche erst der defizitären Rechtslage angenommen und im Grunde die gleichen Regelungsnotwendigkeiten, wie auch in den Anträgen genannt, identifiziert. Das sind: die wirtschaftlich angemessene Vergütung für die Netzübergabe, die vollständige Herausgabe der relevanten Daten über das Netz sowie die Weiterzahlung der Konzessionsabgabe über die Jahresfrist hinaus. Außerdem sieht der Kreis Regelungsbedarf bei der Gewichtung der Ziele des § 1 des Energiewirtschaftsgesetzes im Verhältnis zum garantierten Recht auf kommunale Selbstverwaltung und des Nebenleistungsverbots insbesondere hinsichtlich kommunaler Energie- oder auch Klimaschutzkonzepte.

Diese Initiative der Landesregierung ist die logische Fortsetzung der Unterstützung der Kommunen bei der Rekommunalisierung. Schon im Koalitionsvertrag haben die Fraktionen die Rekommunalisierung der Netze grundsätzlich begrüßt und den Kommunen Hilfestellung bei Rechtsfragen, Beratung und Refinanzierungsmöglichkeiten zugesagt. Dies geschieht ja auch. Zusätzlich haben wir uns bereits vor einem Jahr im Rahmen einer Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes im Bundesrat in diesem kommunalfreundlichen Sinne ausgesprochen.

Herr Brockes, es sind eben nicht alle Dinge bei der damaligen Reform mitaufgenommen worden. Unsere Initiative ist damals noch am Widerspruch der Bundesregierung gescheitert. Aber das mag sich ja nun ändern.

Netzübernahmen mit dem Ziel der Rekommunalisierung sind allerdings immer auch mit großen wirtschaftlichen Risiken verbunden, die auch durch die Verbesserung des rechtlichen Rahmens für die Vergabe und die Übertragungsverfahren nicht gänzlich beseitigt werden können. Hier gilt es dann, vor Ort sehr verantwortungsbewusst mit der Entscheidung über die Konzessionsvergabe umzugehen.

Genau deswegen, damit das geschehen kann, lassen Sie uns diese rechtlichen Defizite angehen und dafür sorgen, dass die rudimentäre Rechtslage durch wirkliche Rechtssicherheit ersetzt wird, auch und gerade im Sinne der angesprochenen Kommunalpolitiker! – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen nicht vor. – Das bleibt auch so. Dann schließe ich die Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrages Drucksache 16/4153 einschließlich des Entschließungsantrages Drucksache 16/4237, über dessen Entstehungsgeschichte wir ja jetzt eine Menge gehört haben, an den Ausschuss für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerkfederführend –, an den Ausschuss für Kommunalpolitik sowie an den Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zur Mitberatung. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Möchte jemand dagegen stimmen? – Sich enthalten? – Das ist beides nicht der Fall. Dann haben wir so überwiesen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt

9   Abschaffung der Roaming-Gebühren für Mobilfunkgespräche innerhalb der EU

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4159

Ich eröffne die Beratung und erteile als erstem Redner für die antragstellende Fraktion der CDU Herrn Kollegen Dr. Optendrenk das Wort.

Dr. Marcus Optendrenk (CDU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Versetzen Sie sich doch bitte mit mir einen Moment in folgende Situation: Sie wohnen in der Region Aachen, im Selfkant, in Nettetal, in Kleve oder in Gronau. Sie leben zwischen 1 und 5 km von der deutsch-niederländischen Grenze entfernt, Sie haben einen Handyvertrag mit einem deutschen Anbieter abgeschlossen, aber ständig telefonieren Sie im niederländischen Handynetz, weil bei Ihnen zu Hause das niederländische Netz stärker sendet als das Ihres deutschen Anbieters. Dann zahlen Sie und alle, die Sie anrufen, für die Gespräche einen Auslandstarif. Das können Hunderte Euro im Jahr werden. Sie sind in Deutschland, in Nordrhein-Westfalen, aber Sie zahlen Handygebühren, als wären Sie ständig im Ausland unterwegs.

Nicht anders geht es Unternehmen, die ihre Betriebe in grenznahen oder grenzüberschreitenden Gewerbegebieten entlang der deutsch-niederländi-schen Grenze haben. Das ist ein Kostenfaktor für die Unternehmen, das ist eine Behinderung ihrer Geschäfts- und Wachstumschancen. Sie haben alle keine Chance, das zu ändern, es sei denn, sie ziehen weg. Aber gerade das ist nicht die Idee eines gemeinsamen Europas.

Dort, wo Grenzen verschwinden, wo Barrieren beseitigt werden, Zusammenwachsen gefördert werden soll, da behindern Roamingtarife ganz konkret in der Praxis. Die Lage an einer Binnengrenze der EU wird damit zum Wettbewerbsnachteil, und das, obwohl wir Mobilität von Personen, Waren und Dienstleistungen in der ganzen EU wollen.

Dieses Beispiel zeigt: Auch in der Telekommunikation brauchen wir in Europa einen echten Binnenmarkt. Roaminggebühren sind in einem solchen Binnenmarkt ein Fremdkörper.

Gleiches gilt für alle Aktivitäten, die darüber hinaus zwischen den Mitgliedstaaten stattfinden. Wenn jemand etwa einen Geschäftspartner in Frankreich, Belgien oder Polen anruft, dann ist das für die Telekommunikationsunternehmen im Zeitalter von Satelliten und Breitband kein zusätzlicher Kostenfaktor mehr. Da stöpselt kein Mitarbeiter im Fernmeldeamt mehr per Hand eine Leitung; das läuft nach dem gleichen System wie ein Handytelefonat hier innerhalb von Düsseldorf.

Deshalb ist es richtig, dass Brüssel im Rahmen seiner Möglichkeiten auf ein Ende der Roaminggebühren in der EU hinarbeitet. Und wir als Land Nordrhein-Westfalen sollten das nach Kräften unterstützen.

Im Juli 2013 hat der Industrieausschuss des Europäischen Parlamentes einstimmig eine Resolution zur Abschaffung der Roaminggebühren in der EU bis Ende 2015 verabschiedet. Die EU-Kommissarin Neelie Kroes hat sich dem angeschlossen und kürzlich gefordert: Das Roaming, die letzte Grenze in Europa, muss fallen.

Seit 2007 ist das Datenvolumen des Roaming-Marktes um 630 % gestiegen. Das zeigt: Die Verflechtungen über die alten nationalen Grenzen hinweg werden auch in der Telekommunikation immer intensiver. Bürger und Unternehmen agieren zunehmend so, als gebe es diese Roaminggrenze nicht, und trotzdem bezahlen sie dafür, derzeit europaweit etwa 5 Milliarden € pro Jahr.

Europa ohne Grenzen, ein Raum des Friedens, der Freiheit, des Wohlstandes – das ist doch die zentrale Botschaft unserer gemeinsamen Europapolitik hier im Landtag. Gerade in Zeiten, in denen es die europäische Idee nicht immer leicht hat, sollten wir gemeinsam für eine Initiative arbeiten, die jedem einzelnen Bürger in unserem Land deutlich macht: Europa ist etwas Gutes, Europa ist auch gut für mich ganz persönlich.

Ich bin davon überzeugt: Je mehr allen Bürgerinnen und Bürgern bewusst ist, welchen praktischen Nutzen Europa für uns alle hat, umso leichter ist es auch, die notwendigen Grundsatzentscheidungen im Großen zu treffen und durchzuhalten. Das war schon die Grundphilosophie der europäischen Verträge: Wirtschaftlicher Fortschritt, sichtbare Vermehrung des Wohlstands der Mitgliedsländer sollten das Fundament dafür schaffen, die europäische Idee nicht nur in den Köpfen von Politikern und Wissenschaftlern zu verankern, sondern für jeden einzelnen Menschen attraktiv zu machen.

Das ist damals gelungen. Bitte arbeiten wir gemeinsam daran, dass es auch in Zukunft gelingt, und fangen mit einem solchen kleinen Beispiel in der Praxis an. – Ich bitte um wohlwollende Unterstützung unserer Initiative.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Optendrenk. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Schlömer.

Dirk Schlömer (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer auf der reichlich gefüllten Tribüne! Die exorbitant hohen Kosten für Mobilfunknutzer, die ihre Telefone und mittlerweile immer mehr auch ihre Smartphones im europäischen Ausland nutzen, stehen klar der Idee eines gemeinsamen Binnenmarktes entgegen.

Insofern weist der Antrag der CDU-Fraktion über die Abschaffung der Roaminggebühren für Mobilfunkgespräche innerhalb der EU sachlich in die richtige Richtung.

Auch die SPD-Fraktion begrüßt die Initiativen zur Abschaffung der Roaminggebühren und fordert die EU auf, entsprechende Regelungen zu entwickeln und zügig umzusetzen.

Der vorliegende Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission Drucksache 2013/0309 beinhaltet allerdings weit mehr als diese Regelung. Wir haben es hier mit einem Entwurf zu tun, der ein ganzes Paket mit Neuregelungen zum gesamten Bereich der Telekommunikation beinhaltet. Die positiven Ansätze, also der Wegfall der Roaminggebühren und die Abschaffung unterschiedlicher Tarife für In- und Auslandsgespräche im Festnetz, gehen in diesem Gesamtpaket leider unter.

Zwar sollen die Mobilfunkanbieter ab 2016 ihren Kunden das Nutzen der Mobilfunkangebote zu den gleichen Konditionen anbieten, die auch in den jeweiligen Inländern gelten, doch dies soll keine zwingende Verpflichtung sein. Stattdessen soll auch die Option bestehen, dass im europäischen Ausland jeweils andere Telefonanbieter des jeweiligen Landes genutzt werden können, wenn der inländische Telefonanbieter die gleichmäßige Tarifierung für In- und Auslandsgespräche nicht vorsieht.

Hierzu soll es dann möglich sein, beim Grenzübertritt per SMS einen kurzzeitigen Vertrag mit Nutzung der gleichen SIM-Karte abzuschließen.

Sehr geehrter Herr Dr. Optendrenk, was bedeutet das denn für die Menschen, die in der Grenzregion leben? Müssen die jedes Mal, wenn ein Netzwechsel stattfindet, einen neuen Vertrag abschließen? Ich glaube, dass es sehr schwierig sein wird, mit der jetzt vorliegenden Regelung eine zufriedenstellende Lösung für diese Menschen zu erreichen. Nebenbei bemerkt: Momentan kann man mit der manuellen Netzauswahl schon vieles beheben.

Dass die vorgesehene Regelung praktikabel ist, möchte ich infrage stellen. Schließlich wird auch ein Vertrag geschlossen, für den es notwendig ist, sich die einzelnen Kriterien dieses Vertrages mal durchzulesen. Wer ein Smartphone hat und sich anschaut, wie klein darauf die Vertragsbedingungen für zusätzlich abzuschließende Verträge bei irgendwelchen Applikationen erscheinen, der wird wissen, dass es sehr schwierig ist, dies alles tatsächlich zu realisieren. Naja: Bei der nächsten Handyrechnung wird man dann sehen, was für einen Vertrag man abgeschlossen hat.

Unakzeptabel ist allerdings auf jeden Fall, dass mit dem vorliegenden Verordnungsentwurf wiederum ein Angriff auf die Netzneutralität gestartet wird. Durch die Hintertür soll die Netzneutralität ausgehebelt werden. Das ist der Grund, warum dieser Verordnungsentwurf äußerst umstritten ist.

Dieser Sachverhalt, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion, kommt in Ihrem Antrag allerdings gar nicht vor. Man kann fast den Eindruck gewinnen, dass die Kolleginnen und Kollegen der CDU sich bei ihrer Argumentation hauptsächlich auf die in der Presse genannten Regelungen zu den Roaminggebühren beziehen.

Aber genau das stelle ich in Abrede, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich gehe davon aus, dass die CDU sich sehr wohl mit den Inhalten dieses Verordnungsentwurfs beschäftigt hat und damit ganz bewusst verschweigt, welche negativen Auswirkungen sich aus diesem Verordnungsentwurf der EU-Kommission tatsächlich ergeben.

Neben den vorgenannten Punkten existieren zusätzliche Regelungen, die bedeuten, dass die Netzneutralität bezüglich der Übersendung der Datenpakete ausgehebelt werden soll. Es gibt zwar ein klares Bekenntnis der Europäischen Kommission, wonach es den Unternehmen verboten sein soll, Übersendungen von Internetinhalten zu blockieren oder zu drosseln, und dass jeder Nutzer einen uneingeschränkten Zugang zum offenen Internet haben soll. Daneben soll es den Unternehmen aber erlaubt werden, ihre Angebote zu differenzieren, zum Beispiel hinsichtlich der Geschwindigkeit. Das hat wiederum nichts mit Netzneutralität zu tun.

Ich glaube, dass es noch erheblichen Gesprächsbedarf zu diesem Verordnungsentwurf der EU-Kommission gibt, und freue mich selbstverständlich auf die weiteren Beratungen im entsprechenden Ausschuss. – Danke schön.

(Beifall von der SPD und den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schlömer. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Bolte.

Matthi Bolte (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Optendrenk, Sie haben sehr pathetisch ausgeführt, was die Abschaffung der Roaminggebühren für das europäische Projekt bedeutet. Grundsätzlich sind wir uns völlig einig darin – Sie haben die einstimmigen Beschlüsse auf der EU-Ebene auch zitiert –, dass parteiübergreifend durchaus eine große Bereitschaft besteht, die Abschaffung der Roaminggebühren als einem Projekt der Verordnung zum Telekommunikationsmarkt positiv zu begleiten.

Grundsätzlich würde ich auch die Einschätzung teilen, dass Europa dadurch im Alltag erfahrbar wird. Für die Bürgerinnen und Bürger ist es sicherlich gut, Europa in Form eines Projektes zu erfahren, das in ihrem Alltag eine positive Rolle spielt. Durch dieses Projekt zeigt sich wieder: Europa ist nicht nur die böse Bürokratie und nicht nur etwas, was mich Geld kostet, sondern auch etwas, was sich positiv in meinem Alltag niederschlägt. – Die Bürgerinnen und Bürger sehen also, dass sie vom Projekt Europa profitieren können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Es ist auch wichtig, zumindest bei diesem Projekt ein gemeinsames Bekenntnis dazu abzugeben, zusammen an einem europäischen Telekommunikationsmarkt arbeiten zu wollen. Das ist ein Ziel, bei dem Europa wirkt. Ich glaube, dass es sich hier auch um einen Bereich handelt, bei dem viele Menschen zusammen darauf hinwirken müssen, dass ein solches Ziel erreicht wird; denn es sind schon viele Berichte darüber im Umlauf, dass es massiven Lobbydruck gibt, sich von diesem Projekt abzuwenden.

Man muss aber nicht mit ganz so viel Pathos von dieser Verordnung reden, wie Sie das getan haben, Herr Kollege; denn bei der vorliegenden Verordnung gibt es auch eine ganze Reihe von Themen, die sehr kritisch diskutiert werden. Insbesondere die Netzneutralität war in den letzten Wochen immer wieder Gegenstand von kritischen Diskussionen.

Wir als Grüne kritisieren mit allem Nachdruck, dass es sich in der Verordnung von Frau Kroes um eine De-facto-Abkehr vom Grundsatz der Netzneutralität handelt. Netzneutralität bedeutet gleichberechtigte Übertragung von Datenpaketen. Sie ist das Erfolgsgeheimnis des offenen und freien Internets, wie wir es heute kennen.

Der Ausschuss für Kultur und Medien hat am 10. Oktober 2013 – einige Kolleginnen und Kollegen waren dabei – eine große Anhörung zu dieser Thematik und zum Stellenwert des Grundsatzes der Netzneutralität durchgeführt. Ich fand es beeindruckend, zu hören, wie wichtig dieses Thema für ein freies und offenes Internet ist und welche große Rolle es für Start-ups, kleine Unternehmen und Innovationen aus dem wirtschaftlichen Bereich, aber auch für freie Projekte wie die Wikipedia spielt. Der Vertreter von Wikimedia Deutschland hat uns sehr umfangreich und sehr ausführlich dargelegt, wie zentral der Grundsatz der Netzneutralität für freie Projekte wie nicht nur die Wikipedia, sondern – das fand ich sehr sympathisch – auch die bessere Wikipedia, also die Entwicklung von Zukunftsprojekten in diesem Bereich, ist.

Es ist bedauerlich, dass die Kommission in ihrem Verordnungsentwurf die Abkehr von der Netzneutralität ermöglicht und das Zweiklasseninternet de facto legalisiert – insbesondere vor dem Hintergrund, dass es seit Jahren Druck aus dem Europäischen Parlament gibt. Das Europäische Parlament fordert die Kommission immer wieder auf, auf die Gewährleistung des Grundsatzes der Netzneutralität hinzuwirken. Darin, dass diese Forderung nicht aufgenommen wird, sehen wir eine Abkehr seitens der Kommission von dieser Forderung.

Zugleich sehen wir aber, dass es in der jüngeren Vergangenheit auch auf der nationalstaatlichen Ebene in Deutschland keinerlei Bewegung bei diesem Projekt gab. Die abgewählte Bundesregierung hatte das Projekt der Netzneutralität noch in ihrem Koalitionsvertrag stehen, hat es dann aber jahrelang verschleppt. Die FDP stand da die ganze Zeit auf der Bremse. Bei dem, was am Ende ins neue Telekommunikationsgesetz hineingeschrieben wurde, ist keine Spur mehr davon zu erkennen, dass man die Relevanz des Projekts Netzneutralität abzusichern verstanden hätte. Es ist aber auch vier ganze Jahre lang kein Wille erkennbar gewesen.

(Beifall von Hans Christian Markert [GRÜNE] und Dirk Schlömer [SPD])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen das Zweiklasseninternet verhindern. Deswegen sind wir vor einigen Monaten hier als rot-grüne Mehrheit aktiv geworden. Wir sind aber auch bereit, an dem Projekt des europäischen Telekommunikationsmarktes mitzuarbeiten, weil wir es hier mit zwei wichtigen Verbraucherrechten zu tun haben.

Präsidentin Carina Gödecke: Die Redezeit.

Matthi Bolte (GRÜNE): Zum einen geht es darum – das ist, glaube ich, parteiübergreifender Wille –, die Abzocke beim Roaming zu beenden. Es ist wichtig, dass wir uns dabei jetzt auf den Weg machen.

Zum anderen ist Netzneutralität als ein zentrales Verbraucherrecht im digitalen Zeitalter zu gewährleisten. Dort haben wir noch einige Arbeit vor uns. An dieser Stelle sollten wir auch als Land durchaus Druck machen. Hier hat die neue Bundesregierung, die sich gerade in der Bildung befindet, eine große Aufgabe. Wir müssen aus Deutschland endlich Druck machen, damit es in Europa Netzneutralität gibt; denn Europa ist dabei der Schlüssel. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bolte. – Für die FDP spricht der Kollege Dr. Wolf.

Dr. Ingo Wolf (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die bisherigen Beiträge zu dem Thema haben gezeigt, dass viel Übereinstimmung besteht. Deswegen sollten wir versuchen, Herr Dr. Optendrenk, das auch in einen gemeinsamen Antrag zu überführen.

Sie haben zu Recht das begrüßenswerte Ziel ausgerufen, die Abschaffung der Roaminggebühren, die Vermeidung von Zusatzkosten. Aber auch die wettbewerbliche Öffnung, ein wichtiges Thema als Konsequenz der Reise? und Niederlassungsfreiheit in Europa, gehört zwingend dazu.

Richtig ist, dass in Brüssel bereits eine Initiative auf dem Weg ist. Das eine oder andere kann man durchaus kritisch begleiten. Wenn wir das am Ende zusammenbinden könnten, fände ich das gar nicht schlecht. Die Idee jedenfalls, das Telefonroaming an der Stelle abzuschaffen, halte ich für vernünftig.

Die Problematik im grenznahen Raum – Herr Optendrenk hat es geschildert – kann ich bestätigen. Auch ich komme aus einem grenznahen Bereich, es sind 26 km bis nach Belgien. Das ist ein Ärgernis, auch wenn Frau Kroes dies in der Antwort auf eine Kleine Anfrage als Scheinproblem bezeichnet hat. Ich kann nur sagen: Es ist ein Problem; Sie haben es dargestellt. Das würde sich mit der Abschaffung des Roaming sicherlich erübrigen.

Mir ist noch wichtig, dass wir den Blick nicht nur unmittelbar auf die Telefonie werfen, sondern auch auf das Datenroaming. Sie wissen, dass vermehrt über das Internet gearbeitet wird, dass Webbrowser, Apps und Internettelefonie an der Tagesordnung sind. Unsere Kinder nutzen das fast nur noch. Über WhatsApp, Skype, Viber wird versucht, zu kommunizieren. Das macht ein Riesendatenvolumen aus. Interessanterweise wird genau das Datenroaming nicht von der Verordnung erfasst.

Meines Erachtens müssten wir sie auf das erweitern, was heute State of the Art ist, damit man auch für die zusätzlichen neuen Medien, also die Internettelefonie, keine Roaminggebühren zu bezahlen hat. Denn man kann allein durch versehentliches, unabsichtliches Geraten in den anderen Raum zu astronomischen Rechnungen verdonnert werden. Ich meine, auch an der Stelle muss eingegriffen werden, damit wir in einem vereinigten Europa möglichst zu einem vereinigten Telefon? und Datennutzungsraum kommen. Auch wenn wir die Vereinigten Staaten von Amerika nicht analog in Europa haben, muss das Ziel jedenfalls ein einheitlicher Telefonie? und Datenübertragungsraum sein.

Ich würde mich sehr freuen, wenn wir in den Beratungen zu einem gemeinsamen Antrag kommen könnten, um das mit entsprechender Verve Richtung Berlin und anschließend Richtung Brüssel zu vertreten. – Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wolf. – Für die Piraten spricht der Kollege Kern.

Nicolaus Kern (PIRATEN): Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Roaminggebühren sind nicht nur ein teures Ärgernis für Verbraucher, sie sind auch Ausdruck eines nicht funktionierenden, oligopolistisch organisierten Telekommarktes in Europa. Wenn Netzanbieter hohe Entgelte für Telefonate, SMS und mobiles Internet im Ausland ohne nennenswerte Gegenleistung berechnen, dann werden die europäischen Verbraucher über den Tisch gezogen.

(Beifall von den PIRATEN)

Hier hat die EU viel zu spät mit der Deckelung der Roaminggebühren reagiert. Wir Piraten fordern seit Langem die Abschaffung der verbraucherfeindlichen Roaminggebühren in Europa. Dies ist besonders in Grenzregionen ein großes Ärgernis; Herr Dr. Optendrenk hat es sehr anschaulich geschildert. Wir begrüßen daher grundsätzlich die Stoßrichtung des Antrags der CDU. Doch der EU-Entwurf, der im CDU-Antrag etwas unreflektiert behandelt wird, bedarf einer genaueren Analyse; Kollege Schlömer von der SPD hat einiges sehr Treffendes und Richtiges dazu ausgeführt, insbesondere betreffend die Gefährdung der Netzneutralität in dem Bereich.

Die Frage ist, ob die in der EU-Verordnung enthaltenen Regelungen wirklich zu einer endgültigen Abschaffung der Roaminggebühren im Sinne der Verbraucher führen. Da haben wir Piraten so unsere Zweifel. So will die Kommission die Anbieter langfristig dazu bewegen, dass sie ihren Kunden im In? und Ausland die gleichen Tarife anbieten, entweder über das eigene Netz oder über sogenannte Roamingvereinbarungen mit ausländischen Anbietern. Entscheidend aus Verbrauchersicht ist, dass dies nicht mit Preiserhöhungen der nationalen Tarife einhergeht. Auch die Roamingvereinbarungen, die Anbieter untereinander abschließen sollen, bergen erhebliches Diskriminierungspotenzial. Wenige große Telekomkonzerne dominieren schon heute den europäischen Markt. Über Roamingabkommen könnten sie ihre Marktmacht auf Kosten kleinerer regionaler Anbieter weiter ausbauen.

Zudem enthält die EU-Verordnung noch weitere Schlupflöcher, mit denen Anbieter weiterhin höhere Tarife für die Handynutzung im Ausland durchdrücken können, insbesondere für die mobile Datenübertragung. Wir Piraten bleiben dabei: Verbraucherschutz hat absoluten Vorrang. Wir sagen: Menschen schützen, nicht Profite. Gerade die Verbraucherschutzvorstöße aus Brüssel stellen sich immer wieder als unzureichend oder sogar als Mogelpackung heraus. Das werden wir im Ausschuss ansprechen und dort unsere Anregungen einbringen.

Grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass in diesem Fall auch ein fraktionsübergreifender Antrag im Bereich des Möglichen liegt; das haben wir schon einige Male erlebt. Ich würde mich freuen, wenn es an der Stelle auch wieder klappt. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Duin.

Garrelt Duin, Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Herrn Dr. Optendrenk dankbar, dass er am Anfang das praktische Beispiel geschildert hat. An meinem früheren Wohnort habe ich es fast wöchentlich erlebt, dass ich im holländischen Netz telefoniert habe. Das ist aber nicht der alleinige Anlass, um den es sich hier dreht.

Wir wissen: Im Frühjahr hob der Europäische Rat die Bedeutung des digitalen Binnenmarktes für das Wachstum hervor und rief zu konkreten Maßnahmen für eine möglichst baldige Verwirklichung des Binnenmarktes für die Informations- und Kommunikationstechnologie auf.

Im Einklang mit den Zielen der Strategie Europa 2020 hat die EU-Kommission daraufhin am 11. September dieses Jahres einen Verordnungsvorschlag über Maßnahmen zum europäischen Binnenmarkt der elektronischen Kommunikation vorgelegt, in dem der bestehende Rechtsrahmen der Union für die elektronische Kommunikation ergänzt und angepasst werden soll.

Die allgemeinen Ziele des Vorschlags für einen Binnenmarkt der elektronischen Kommunikation sind zum einen, Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen ohne grenzbedingte Beschränkungen oder ungerechtfertigte Zusatzkosten einen Zugang zu elektronischen Kommunikationsdiensten in der Europäischen Union zu verschaffen, und zum anderen, Unternehmen, die einen Sitz in der EU haben, die Möglichkeit einzuräumen, elektronische Kommunikationsnetze und ?dienste EU-weit anzubieten.

Darüber hinaus enthält die Verordnung Änderungen der Roaming-Verordnung in der Gemeinschaft, wonach die Vorleistungskosten beim Roaming bis 2016 schrittweise auf das Inlandspreisniveau abgesenkt werden sollen.

Die Beratungen innerhalb der europäischen Organe stehen noch bevor. Der Antrag der Fraktion der CDU begrüßt die Initiative der EU-Kommission, die Roaminggebühren bis zum Jahr 2016 schrittweise abzuschaffen. Außerdem fordern Sie uns als Landesregierung auf, sich dafür einzusetzen, möglichst rasche Beratungen im Europäischen Parlament und im Rat zu ermöglichen.

Inhaltlich – das will ich ausdrücklich sagen – sind die Forderungen der Fraktion der CDU durchaus zu begrüßen. Allerdings gehen die geplanten Gesetzesänderungen der Kommission weit über die Absenkungen der Roaminggebühren hinaus. Das ist in der bisherigen Debatte auch schon deutlich geworden. Der Grund dafür, dass wir Ihrem Antrag letztlich nicht zustimmen würden, liegt darin, dass wir erhebliche Bedenken haben gegenüber dem Entwurf der Kommission für einen Verordnungsvorschlag über Maßnahmen zum europäischen Binnenmarkt der elektronischen Kommunikation.

Der Bundesrat wird über die geplante Verordnung in seinen Ausschüssen sehr zeitnah beraten, nämlich in der Woche vom 21. bis zum 25. Oktober 2013. Die geplante Absenkung der Roaminggebühren wird dort von der Landesregierung unterstützt.

Allerdings sehen wir mit Sorge, dass mit dem Verordnungsvorschlag darüber hinausgehende nationale Kompetenzen auf die EU-Ebene verlagert werden sollen, und zwar in der Form, dass das bestehende hohe nationale Regelungs- und Schutzniveau, das in Teilen weit über die vorgeschlagenen EU-Vorgaben hinausgeht, durch eine bindende EU-Verordnung konterkariert würde.

Die Landesregierung sieht auch die Harmonisierungsregelung im Bereich der Frequenzregulierung bzw. des Vergabeverfahrens kritisch. Die nationale Hoheit der Frequenzverwaltung hat sich als geeignetes und effizientes Mittel erwiesen, um das notwendige Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aspekten zu wahren.

Ein Mehrwert ist bei der vorgeschlagenen Regelung durch die Kommission aus unserer Sicht nicht zu erwarten. Deswegen wird sich die Landesregierung in den Beratungen des Bundesrates noch in diesem Monat für die stärkere Berücksichtigung der Interessen der Länder stark machen, ohne dieses eine Kernanliegen in irgendeiner Weise dabei gefährden zu wollen. – Herzlichen Dank.

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Minister. – Weitere Wortmeldungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen nicht vor. Das bleibt auch so.

Dann schließe ich die Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt, und wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/4159 an den Ausschuss für Europa und Eine Welt. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Ist jemand dagegen? – Stimmenthaltungen? – Beides nicht der Fall. Dann ist so überwiesen.

Ich rufe auf:

10       Fahrscheinloser ÖPNV für alle Vorschulkinder

Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4163

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende Fraktion Herrn Kollegen Bayer das Wort.

Oliver Bayer (PIRATEN): Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Liebe Eltern! Liebe Vorschulkinder! Dabei hoffe ich natürlich, dass die Vorschulkinder nicht verpflichtet werden, Landtagsdebatten zu verfolgen.

(Jochen Ott [SPD]: Und Sie haben Kinder?)

Ich fand das jedenfalls immer sehr doof, wenn „Die Sendung mit der Maus“ für wichtige Bundestagsdebatten ausfiel. Kommen wir aber nun zum Antrag.

(Zuruf von Jochen Ott [SPD] – Heiterkeit von der SPD)

Wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, dann muss man handeln. Bei der folgenden Regelungslücke ist das der Fall, und das Handeln dürfte hier wirklich leichtfallen. Wir haben den Anspruch in der Politik – und gerade in der Verkehrspolitik –, die besonderen Bedürfnisse von Kindern zu berücksichtigen.

Die Formulierungen im ÖPNV-Gesetz sind eindeutig in der Feststellung, dass den spezifischen Belangen von Kindern Rechnung zu tragen ist. Dem wird auch dadurch versucht, Rechnung zu tragen, dass Kinder unter sechs Jahren unentgeltlich und fahrscheinlos – daher unser schöner Antragstitel – mit Bus und Bahn fahren können.

Ab dem Alter von sechs Jahren erhalten Kinder ermäßigte Einzelfahrscheine. Ermäßigte Zeitkarten – also Monatskarten – gibt es allerdings erst ab der Einschulung. Das sind die vergünstigten Schülertickets mit der Bedingung „Schulpflicht“. Nicht jedes sechsjährige Kind ist jedoch auch zeitgleich schulpflichtig.

Zwischen dem sechsten Geburtstag und der Einschulung können einige Monate vergehen, und das sind bis zu zehn Monate, in Einzelfällen auch bis zu 22 Monate und mehr. Für diese Kinder gibt es ausschließlich die Zeitkarten zum Erwachsenenvollpreis. Das ist eine vom Gesetzgeber offensichtlich nicht beabsichtigte Lücke in einer Kette von entgeltfreien und ermäßigten Fahrtmöglichkeiten bis hin zum jungen Erwachsenenalter.

Dass viele Eltern ihre Kinder als Fünfjährige ausgeben und somit schwarzfahren lassen und viele Kontrolleure erst gar nicht nach dem Alter der Kinder fragen, mag eine Umgehungsmöglichkeit sein; deshalb fällt auch die Lücke nicht so auf.

(Jochen Ott [SPD]: Haben Sie eigentlich Kinder von sechs oder sieben?)

Aber diese Art von Bug-Fix ist nicht in unserem Sinne.

(Beifall von den PIRATEN – Jochen Ott [SPD]: Mich hat noch nie einer nach dem Alter meiner Tochter gefragt!)

Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten, diese Lücke zu schließen: durch Aufnahme der betroffenen Kinder in den Geltungsbereich des Schülertickets, durch die Schaffung einer neuen Kategorie von nichtschulpflichtigen Kindern unter 14 Jahren – wie sie beim Einzelticket besteht – oder durch die Erweiterung der unentgeltlichen Beförderung von Kindern bis zur Einschulung.

Die dritte Variante ist die beste; sie ist auch am einfachsten umzusetzen. Hierzu muss nämlich lediglich eine einzige Zeile in den Allgemeinen Beförderungsbedingungen von Nordrhein-Westfalen etwas geändert werden.

Das Verkehrsministerium als oberste Aufsichtsbehörde hat gemäß ÖPNV-Gesetz die Möglichkeit, entsprechenden Einfluss auszuüben, wie wir das zum Beispiel vom Sozialticket kennen.

Somit stehen wir vor einem ähnlichen Problem wie schon beim Thema „Roaming“, haben aber eine sehr einfache und elegante Lösungsmöglichkeit, die schnell umzusetzen ist.

Vor 14 Jahren wurde hier schon einmal ein verwandtes Thema besprochen. Damals ging es um das Pilotprojekt zum verbundweiten Schülerticket. Der Tenor des damaligen Verkehrsministers Steinbrück war, man müsse versuchen, die Unlogik zwischen dem billigen Semesterticket und dem Jobticket und dem relativ teuren Tarif für Schüler zu beseitigen. Der Abgeordnete der Grünen, Peter Eichenseher, sagte, dass es seit Jahren das Ziel der Grünen gewesen sei, ein preiswertes, landesweit einheitliches Schülerticket zu entwickeln.

Auch wenn beide Redner inzwischen nicht mehr Mitglieder des Landtages sind, gehe ich davon aus, dass sich die Positionen und Zielsetzungen von Rot-Grün seitdem nicht geändert haben. Damals ging es um ein verbundweites Schülerticket für 14,50 DM, also ca. 7 €. Der heutige Ist-Stand fällt im Vergleich weit zurück. Wir behandeln in diesem Antrag auch nur eine vergleichsweise kleine Fehlerbehebung im System. Es handelt sich also nur um einen ganz kleinen Ausschnitt dessen, was damals verlangt wurde.

Man fragt sich vielleicht: Warum muss man das Parlament dafür bemühen? Könnte das nicht auch anders gehen? Immerhin geht es um die Beförderungsbedingungen. Daran sind doch auch die Verkehrsbetriebe beteiligt. – Diese Sache hat jedoch nicht funktioniert. Die Verkehrsbetriebe verweisen auf den Landtag, wenn man sie fragt. Insofern machen wir es doch so, wie wir es auch in vergleichbaren Situationen gemacht haben. Außerdem können wir damit eventuelle Probleme bezüglich des Konnexitätsprinzips lösen. Wie im Antrag erwähnt, kostet das auch ein bisschen Geld.

Im Koalitionsvertrag werden Kinder und ihre Ansprüche mehr als 100 Mal erwähnt. Machen wir doch einmal einen kleinen Schritt für sie! Trotz der Eindeutigkeit, wie dieses Problem zu lösen ist, wollen wir es zunächst im Ausschuss besprechen. Dann können wir vielleicht noch ein paar Änderungen hinzufügen, damit es zur Zufriedenheit aller umgesetzt wird. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Bayer. – Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Löcker.

Carsten Löcker*) (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns heute mit einem Antrag der Piratenfraktion zum Thema „barrierefreier Nahverkehr“. Das ist grundsätzlich vernünftig und ein gutes Thema, das viel öfter diskutiert werden sollte. Denn es gibt diesbezüglich sicher noch eine Menge zu tun.

Allerdings muss sich jeder Antrag auch einem sogenannten Alterstauglichkeitstest unterziehen, und den haben wir nach der Prüfung Ihres Antrags natürlich durchgeführt. Ich möchte Ihnen einmal mitteilen, wie die derzeitige Ausgangslage ist bzw. wie sie sich jedenfalls uns darstellt.

Bislang gibt es die landesweite Regelung, dass Kinder unter sechs Jahren unentgeltlich befördert werden. Das haben Sie auch gerade festgestellt. Wenn nun alle Kinder – wie es der Antrag vorsieht, meine Damen und Herren – bis zum Tag der Einschulung unentgeltlich befördert werden, wird sich das wirtschaftlich nicht wirklich auf die Verkehrsunternehmen auswirken. Denn der Anteil der sechsjährigen Kinder, die noch keine Schule besuchen, an den erzielten Fahrgeldeinnahmen ist kaum der Rede wert.

Wenn wir das täten, müssten wir auf der anderen Seite – weil der Antrag entsprechend formuliert ist – dafür sorgen, dass Kinder unter sechs Jahren, die eine Schule besuchen, in Zukunft zahlungspflichtig würden. Das ist, glaube ich, auch die Konsequenz aus Ihrem Ansinnen.

Problematisch wird es allerdings, wenn die Umsetzung des Antrags sozusagen vollzogen wird, also Tickets in den U-Bahnen und Bussen kontrolliert werden. Denn bis jetzt ist offen, wie der Nachweis des Besuches bzw. Nichtbesuches einer Schule erfolgen soll. Und – um es einmal deutlich zu sagen – eine Ausweispflicht besteht weder für Grundschulkinder noch für Kindergartenkinder. Ich frage mich, wie ein Kindergartenkind nachweisen soll, dass es noch nicht zur Schule geht. Denn aufgrund der nicht vorhandenen Ausweispflicht ist eine Trennung von sechsjährigen Schulkindern, für die heute bereits gemäß Schülerfahrkostenverordnung eine entsprechende Einnahmeverpflichtung an die Verkehrsunternehmen besteht, und nicht schulpflichtigen sechsjährigen Kindern kaum möglich. So sehen wir das zumindest. Hierüber könnten dann auch noch, würde man es tatsächlich auf diese Weise umsetzen, Einnahmeverluste entstehen.

Auf der Ebene des real existierenden Nahverkehrs, also bei den Verkehrsunternehmen, wurde ich – nachdem man das gemeinsam erörtert hatte – gefragt, mit welchen Problemen wir es hier im Landtag eigentlich zu tun hätten, worüber wir diskutieren würden und ob wir nichts anderes zu tun hätten. Der Herr schloss mit den Worten: Da wird über beförderungsbedingten Klimbim nachgedacht.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ich möchte diesen Kommentar mit meiner eigenen Einschätzung komplettieren, meine Damen und Herren. Ich selbst war auch 25 Jahre lang im Nahverkehr unterwegs. In meiner Tätigkeit ist ein solcher beförderungsbedingter Sachverhalt noch nie vorgekommen.

Und deshalb will ich auf die heutige Situation hinweisen. NRW hat mit der heute gültigen Freifahrtregelung und den Altersgrenzen für Kinder bereits einheitlich über alle Verkehrsverbünde hinweg eine sehr großzügige Regelung umgesetzt. Und die funktioniert sogar, meine Damen und Herren. Es gibt nämlich einen Beförderungsfall zwischen null und 14 Jahren.

Grundsätzlich, ob mit oder ohne Fahrausweis, sind die Kinder immer in der Obhut des Unternehmens. Deshalb kann auch nicht wirklich etwas passieren. Aus diesem Grund glaube ich, dass dieser Antrag trotz der anstehenden Beratung in den Fachausschüssen, die geführt werden muss, keine Chance auf Umsetzung hat.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Appell schließen, der meiner Meinung nach angemessen ist. Wir sollten uns in den nächsten Wochen gemeinsam um die wirklich wichtigen Themen kümmern. Diese haben wir bereits letzte Woche im Verkehrsausschuss unter den Stichwörtern „Sanierungsstau beseitigen“ und „Benachteiligung des Landes Nordrhein-Westfalen bei den Mittelzuweisungen des Bundes beseitigen“ erörtert.

Abschließend empfehle ich Ihnen einen Blick auf die heute eröffnete Homepage „Initiative für eine zukunftsfähige Infrastruktur“ unter der Internetadresse „www.damit-deutschland-vorne-bleibt.de“. In diesem Sinne wünsche ich eine gute Beratung im Fachausschuss. Wie wir das Ganze einschätzen, habe ich vorgetragen.

(Beifall von der SPD)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Löcker. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Rehbaum.

Henning Rehbaum (CDU): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Antrag der Piraten liegt uns ein gefühlter 17. Anlauf dazu vor, Ihr Lieblingsprojekt, den fahrscheinlosen Nahverkehr, einzuführen. In diesem Fall geht es um den fahrscheinlosen Nahverkehr für Vorschulkinder über sechs Jahre. Das wirkt etwas konstruiert. Nichtsdestotrotz haben wir uns natürlich damit beschäftigt.

Noch einmal zur heutigen Situation: Kinder bis zum sechsten Lebensjahr genießen die Freifahrt im kompletten Netz, allerdings mit Begleitung.

Kinder ab dem sechsten Lebensjahr, die zur Schule gehen, kriegen eine Schülerfahrkarte oder – je nachdem, wie die Konstellation ist – fahren mit dem freigestellten Schülerverkehr zur Schule. In der Freizeit im Netz unterwegs, zahlen auch diese Kinder den Kindertarif. Denn die Schülerfahrkarte gilt ja in ihrer Grundform immer nur für die Relation von zu Hause bis zur Schule.

Kinder ab dem sechsten Lebensjahr, die noch nicht eingeschult sind, brauchen erst einmal keine Schülerfahrkarte, weil sie keine Schüler sind, zahlen in der Freizeit aber ebenfalls den Kindertarif.

Wenn man den Vorschlag der Piraten durchdekliniert, dann können wir das am besten an einem Beispiel machen. Zwei Kinder fahren jeweils mit ihren Eltern am Sonntag mit dem Bus in den Zoo. Nennen wir sie einmal Peter und Paul. Peter ist sechs Jahre alt und geht in die erste Klasse. Mama und Papa zahlen den Regelfahrpreis. Der kleine Peter zahlt den Kinderfahrpreis. Paul ist ebenfalls sechs Jahre alt, ist aber noch im Kindergarten, warum auch immer.

(Heiterkeit von Jochen Ott [SPD])

Mama und Papa zahlen den Regelfahrpreis. Es ist der Wunsch der Piraten, dass der kleine Paul freie Fahrt haben soll, weil er noch im Kindergarten ist. Also: Paul, sechs Jahre alt, freie Fahrt zum Zoo, Peter, sechs Jahre alt, soll den Fahrpreis bezahlen.

(Jochen Ott [SPD]: Dann streiten die sich ja!)

– Ja, genau, noch schlimmer.

(Jochen Ott [SPD]: Das ist aber ungerecht!)

Das Ganze ist also ein bisschen paradox und nicht ganz zu Ende gedacht.

Ich möchte an der Stelle noch einmal ganz allgemein feststellen: Das Bus- und Bahnangebot ist kostendeckend nicht möglich. Die Mittel des Staates sind aber auch begrenzt. Der Bürger möchte ein attraktives Angebot. Die Bürger erwarten aber auch eine der Verantwortung von Bus-, Straßenbahn- und Lokführern angemessene Entlohnung.

Die CDU-Fraktion hält es daher nach wie vor für richtig, dass sich die Nutzer von Bus und Bahn ab dem sechsten Geburtstag mit der Zahlung eines angemessenen Fahrpreises an der Finanzierung der Beförderungsleistung beteiligen. „Geiz ist geil“ ist ja vorbei. Darüber sind wir auch froh. Genau wie Elektronikprodukte haben auch Beförderungsleistungen mit Bus und Bahn ihren Wert und damit ihren Preis.

(Vorsitz: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg)

Die CDU-Fraktion lehnt daher auch diesen Vorstoß für einen „ÖPNV für lau“ entschieden ab, stimmt aber einer Überweisung des Antrages an den Fachausschuss zu. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rehbaum. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Herr Kollege Beu.

(Jochen Ott [SPD]: Herr Uhlenberg, ich hatte eine Zwischenfrage angemeldet! Sie haben mich einfach übersehen! Schade! – Gegenruf: Das kommt schon einmal vor! – Jochen Ott [SPD]: Aber es wäre eine schöne gewesen! – Gegenruf: Beim nächsten Mal!)

– Das ist hier nicht angekommen. Das tut mir sehr leid. Vielleicht hing das mit dem Vorsitzwechsel gerade zusammen.

(Jochen Ott [SPD]: Aber es hat hier geleuchtet!)

Ansonsten kriegen wir das schon mit. – Vielleicht gehen Sie mal eben kurz zu dem Kollegen rüber. Aber wir haben es dann nicht für das Protokoll. Das tut mir leid. Das war sicherlich eine wichtige Zwischenfrage. – Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Rolf Beu*) (GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Landtag hat ja zumindest für uns und für mich das Ergebnis, dass ich auch immer weiter lerne. Ich habe heute zwei Sachen gelernt. Erstens habe ich eine vermeintliche Tariflücke neu entdeckt. Zweitens habe ich praktisch wieder gelernt, dass Peer Steinbrück hier einmal Verkehrsminister war. Das ist tatsächlich bei mir in Vergessenheit geraten.

(Christof Rasche [FDP]: Er hat nichts bewegt!)

Also vielen Dank an die Piraten für diese beiden  mich betreffenden Weiterbildungsmaßnahmen.

Ich will Ihnen, Herr Bayer, aber auch noch etwas anderes sagen. Sie schreiben hier von der „Vorschule“. Ich bin auch von einer Schulpolitikerin gebeten worden, darauf hinzuweisen, dass das schon seit Langem „Elementarbereich“ heißt

(Heiterkeit von Jochen Ott [SPD])

und dass dieser Elementarbereich im Prinzip auch ein eigener Teil der Bildung ist und der Begriff „Vorschule“ hier eigentlich nicht mehr angebracht ist.

(Beifall von Daniela Jansen [SPD])

Aber jetzt zum Ernst der Sache: Wir fragen uns wirklich, was Sie mit diesem Antrag nun wollen, außer dass Sie zum wiederholten Mal die Diskussion über den – wie heißt er? – „fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehr“, also im Prinzip über den Nulltarif, hier weiter fortführen wollen, und zwar immer mit anderen Komponenten.

Man kann natürlich trefflich darüber nachdenken, ob bei dieser Konstruktion einzelne Personen in NRW tatsächlich nachteilig betroffen wären. Unsere Ermittlungen haben aber ergeben, dass kein Verkehrsbetrieb bisher von einem Fall berichten kann, bei dem ein Kind im Elementarbereich, weil es die falsche Fahrkarte hatte, aus dem Bus oder aus der Bahn geworfen wurde, oder ein Kontrolleur oder Schaffner von einem sechsjährigen Kind 40 € Strafe für das Schwarzfahren verlangt hat oder es, wie gesagt, des Fahrzeugs verwiesen hat.

Man sollte sich tatsächlich hier ernsthaften Problemen des öffentlichen Verkehrs widmen. Dazu zählt diese vermeintliche Tariflücke, die vielleicht NRW-weit ein Dutzend Mal in 20 Jahren vorgekommen ist, wirklich nicht.

Wenn Sie sich wirklich mit Tariflücken auseinandersetzen wollten, Herr Bayer, kann ich Ihnen eine weitere Tariflücke zeigen. Es ist beispielsweise so, dass Abiturienten irgendwann im Frühjahr die Schule verlassen, das Hochschulstudium aber erst im September oder Oktober danach beginnt und sie dazwischen keine Möglichkeit haben, mit dem Ticket, das sie vorher von der Schule bekommen haben, bis zum Hochschulstudiumsbeginn zu fahren. Das ist ein Problem, das viel größer und viel weitergehender ist.

Aber auch dafür sind nicht wir zuständig. Dafür sind die Verkehrsverbünde zuständig. Dafür können die Verkehrsverbünde auch Lösungsansätze schaffen. Dabei sind sie, glaube ich, zumindest im südlichen Rheinland auch auf gutem Wege.

Man könnte die Diskussion hier beenden. Aber wenn Sie die Diskussion im Fachausschuss haben wollen, werden wir uns natürlich der Überweisung nicht verwehren. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Beu. – Für die FDP-Fraktion spricht Herr Kollege Rasche.

(Jochen Ott [SPD]: Jetzt bin ich aber mal gespannt! – Christof Rasche [FDP]: Ich weiß nicht, wann Peter und Paul Namenstag haben! – Heiterkeit von Jochen Ott [SPD])

Christof Rasche (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um den ÖPNV und seine Stärkung geht, wenn es darum geht, mehr Menschen in Busse und in Bahnen zu bringen, ist die FDP dabei. Ich glaube, das machen alle fünf Fraktionen in diesem großen Hause gleichermaßen.

Hier geht es jetzt um einen konkreten Fall. Hier geht es um Kinder. Tatsache ist: In Nordrhein-Westfalen können Kinder unter sechs Jahren in Begleitung kostenlos fahren. Kinder über sechs Jahre, die die Schule besuchen, bekommen ein ermäßigtes Ticket. Kinder, die über sechs Jahre alt sind und die Schule noch nicht besuchen, bekommen zumindest im VRR und im VRS auch ein ermäßigtes Ticket. Ich weiß nicht genau – das ließ sich so schnell nicht eruieren –, welche Ausnahmetatbestände es in Westfalen gibt. Aber ich denke, dafür gibt es auch eine Lösung.

Hier wird also ein Problem formuliert, das es gar nicht gibt. Hier wird ein Haar in der Suppe gesucht, das man selbst mit Lupe nicht findet.

Deshalb finde ich es gut, dass der Antrag in den Ausschuss überwiesen wird. Denn dann können uns die Piraten ja noch einmal erklären, um wen es denn tatsächlich geht. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP, der SPD und der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Rasche. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Groschek.

(Jochen Ott [SPD]: Kannst du das einmal erklären, bitte!)

Michael Groschek, Minister für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Ich schließe mich als Verkehrsminister heute bei diesem Punkt vollinhaltlich dem Kollegen Rehbaum an.

(Zurufe von der SPD: Oh! – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Mit einer Ausnahme: Bei mir heißen die Kinder Paul und Paula, weil bei uns alles gegendert ist, Herr Kollege Rehbaum.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Heiterkeit)

Ansonsten ist dies kein Indiz für mein Abstimmungsverhalten am Sonntag. – Vielen Dank.

(Heiterkeit und Beifall von Jochen Ott [SPD] – Vereinzelt Beifall von der CDU und der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Minister. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir sind damit am Schluss der Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/4163 an den Ausschuss für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehrfederführend – sowie an den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend zur Mitberatung. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll im federführenden Ausschuss in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer dem seine Zustimmung geben kann, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer kann dem nicht zustimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt

11       Bewerberinnen und Bewerbern mit mittleren Bildungsabschlüssen wieder eine Ausbildungsperspektive bei der Polizei eröffnen

Antrag
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4156

Ich eröffne die Beratung und erteile für die antragstellende CDU-Fraktion Herrn Kollegen Lohn das Wort.

Werner Lohn (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag zielt darauf ab, unsere Polizei im Land dauerhaft mit geeignetem, motiviertem und ausreichendem Nachwuchs auszustatten. Kurz gesagt, es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunftsfähigkeit unserer Polizei – ein Ziel, das wohl von allen Fraktionen unterstützt werden kann.

Deswegen will ich vorab sagen: Ich würde mich freuen, wenn wir diese Debatte und die Beratungen im Anschluss ohne parteipolitisches Gezänk führen könnten, um gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten, die die Polizei weiterbringt und auf die Dauer handlungsfähig macht. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.

Ich möchte kurz und vorwurfsfrei unsere wesentlichen Gründe dafür schildern, dass unserer Meinung nach Realschüler und andere Absolventen mittlerer Bildungsabschlüsse die Zugangsmöglichkeit zum Bachelorstudium bei der Polizei bekommen sollten.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wegen der demografischen Entwicklung wird Nordrhein-Westfalen bis 2025 ungefähr 400.000 Einwohner weniger haben. Gleichzeitig scheiden viel mehr Menschen aus dem aktiven Berufsleben aus, als wir Schulabsolventen haben. Das führt zu einem harten Wettbewerb um die besten Köpfe im Land. Wenn unsere Polizei da erfolgreich mithalten will, muss die Politik sie dazu in die Lage versetzen.

Wie sieht es heute aus? Seit 2008 dürfen sich in Nordrhein-Westfalen nur noch Bewerberinnen und Bewerber mit mindestens Fachabitur den Zugang zur Polizei wünschen; nur sie haben eine Chance, zum Studium zugelassen zu werden. Wegen der vorgenannten Gründe ist allerdings ernsthaft zu befürchten, dass wir in Zukunft keine ausreichende Anzahl an geeigneten Bewerbern für den Polizeidienst mehr erlangen werden.

Beim aktuellen Bewerbungs- und Auswahlverfahren bei der Polizei, das gerade abgeschlossen worden ist und zum Einstellungstermin 2014 wirksam wird, sind für 1.500 Studienplätze 8.000 Bewerbungen eingegangen. Trotz des doppelten Abiturjahrgangs konnte also das Niveau der Bewerbungszahlen gerade gehalten werden. Aus Gesprächen mit Polizeipraktikern im Bereich Werbe- und Auswahldienst weiß ich, dass von diesen 8.000 eingegangenen Bewerbungen nur 4.000 vollständig waren. Es können also nur 4.000 Bewerber dem eigentlichen Auswahlverfahren zugeführt werden, weil nur sie die Voraussetzungen erfüllen.

Da ist eine Grenze erreicht, bei der eine qualifizierte Personalauswahl zumindest infrage gestellt werden kann. Wenn ich für 1.500 Leute, die ich einstellen kann, nur 4.000 effektive Bewerbungen habe, ist die Auswahl nicht so groß, wie man sie sich wünscht. Eigentlich sagen Experten, man braucht das Fünf- bis Siebenfache der Ausbildungsplätze an Bewerbern. Das wäre in unserem Fall eine Bewerberzahl von 7.000 bis 10.000.

Wie können wir erreichen, künftig eine ausreichende Anzahl von Bewerbungen geeigneter junger Leuten zu haben?

Feststellen will ich am Anfang, dass wir definitiv keine Abstriche an der Leistungsfähigkeit und am Ausbildungsniveau bei der Polizei vornehmen wollen.

Zweitens will ich feststellen, dass das Studium und auch die Ausbildung für den gehobenen und höheren Dienst, also die zweigeteilte Laufbahn, durch unseren Vorschlag definitiv nicht infrage gestellt werden soll.

Man kann die erforderliche Anzahl an Bewerbungen wahrscheinlich nur erreichen, wenn wir Realschülern und Absolventen mittlerer Schulabschlüsse den Zugang irgendwie ermöglichen. Dafür gibt es gute Beispiele in Rheinland-Pfalz, Hessen und Niedersachsen. Wichtig ist: Wenn ein Realschüler oder eine Realschülerin einen Eignungstest macht, muss das Auswahlverfahren so streng sein und die Eignungsdiagnostik so professionell sein, dass die Wahrscheinlichkeit, dass er bzw. sie später die Fachhochschulreife nachholen und das Studium absolvieren kann, sehr groß ist.

Zum Abschluss: Es gibt heute in Nordrhein-Westfalen in der Polizei noch jede Menge Polizisten, die teilweise in leitender Funktion sind, die mit einem Realschulabschluss zu uns gekommen sind und gute, um nicht zu sagen hervorragende Arbeit leisten. Mir liegt es auch als ehemaliger Leiter eines Ausbildungsjahrgangs bei der Polizei am Herzen, hier zu einer Lösung zu kommen.

Deshalb möchte ich darauf verweisen, dass in der Zeitschrift „Deutsche Polizei“, Ausgabe Januar 2013, der Gewerkschaft der Polizei aus Anlass der Verabschiedung von Peter Hugo, dem ehemaligen stellvertretenden Landesvorsitzenden der GdP, Folgendes stand, was bemerkenswert ist:

„Peter Hugo ist mit einem Realschulabschluss und einer anschließenden Berufsausbildung bei der Polizei eingestiegen und wurde bereits in jungen Jahren bis zur Besoldungsgruppe A13“

 – meine Anmerkung: Erster Polizeihauptkommissar –

„befördert. Möglich war dieser Weg nur, weil damals Nachwuchspolizisten durch polizeiinterne Kurse die Fachhochschulreife nachholen und zum Kommissar aufsteigen konnten. ‚Das war schon ein Highlight, dass ich das machen durfte‘, sagt Peter Hugo.“

Dieses Zitat von der Gewerkschaft der Polizei und die Stellungnahmen anderer Verbände lassen mich die Hoffnung haben, dass wir wirklich fraktionsübergreifend an einer Lösung arbeiten, die die Polizei zukunftsfähig macht. Die Polizei wird es Ihnen und uns danken. – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herrn Kollege Lohn. – Für die SPD-Fraktion spricht Herr Kollege Dahm.

Christian Dahm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lohn, ich glaube, ich kann mich Ihrer Rede in weiten Teilen anschließen. Im Fokus dieses Antrags stand Ihre bereits im Frühjahr dieses Jahres gestellte parlamentarische Kleine Anfrage. Die hat die Landesregierung dahin gehend beantwortet, dass derzeit kein Bedarf besteht, für Realschülerinnen und Realschüler oder Bewerberinnen und Bewerbern mit vergleichbaren Abschlüssen eine Zugangsmöglichkeit zum dualen Studium bei der Polizei unseres Landes zu schaffen.

Seit dem Frühjahr – also bis Herbst 2013 – ist noch nicht allzu viel Zeit vergangen. Ich könnte meine Rede hier eigentlich beenden. Jedenfalls sage ich vor diesem Hintergrund: Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ganze derzeit neu zu thematisieren.

Im Gegensatz – das haben Sie, Herr Lohn, eben angesprochen – zu den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Hessen und Niedersachsen, die eine Regelung im Sinne Ihres Antrags eingeführt haben, ist hierzulande nämlich kein rückläufiges Bewerbungsaufkommen zu verzeichnen. Die potenzielle Zielgruppe für die Direkteinstellung in den gehobenen Polizeivollzugsdienst in Nordrhein-Westfalen ist wesentlich größer als die in anderen Bundesländern. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Schulabgängerinnen und -abgänger mit einer Fachhochschulreife beziehungsweise dem Abitur in NRW.

Ich will noch einmal hervorheben, dass die Zahl der Bewerbungen für den gehobenen Dienst seit 2009 kontinuierlich gestiegen ist. Seit 2012 – das haben Sie selbst eben ausgeführt, Herr Kollege Lohn – haben sich über 8.000 junge Menschen bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen beworben.

In Ihrem Antrag stellen Sie fest, dass die Einstellungsermächtigungen seit Jahren nicht voll ausgeschöpft werden. Da haben Sie recht; das ist so. Aber dem tragen wir schließlich Rechnung, indem wir die Einstellungszahlen im Jahr 2013 von 1.400 auf 1.477 und für das kommende Jahr auf 1.500 angehoben haben. Damit tragen wir der Abbrecherquote Rechnung. Wir wollen, dass die 1.400 schließlich auch wie vorgesehen in den Behörden ankommen.

Lassen Sie mich kurz darauf eingehen, dass bereits heute junge Menschen mit einem mittleren Bildungsabschluss die Möglichkeit haben, in den Polizeiberuf zu kommen, beispielsweise über den Meisterbrief oder über eine abgeschlossene, mindestens zweijährige Berufsausbildung mit einer anschließenden beruflichen Tätigkeit von mindestens drei Jahren. Über die Verordnung zum Berufsbildungshochschulzugang besteht eine weitere, direkte Zugangsmöglichkeit. Das ist im Übrigen eine Zielgruppe, die wir stärker in den Fokus nehmen müssen und bei der nach meiner Auffassung noch ein erhebliches Bewerberpotenzial liegen dürfte.

Es mag natürlich sein, dass in Zukunft weiter gehende Optionen zu prüfen bzw. zu entwickeln sind. Doch das wäre nach meiner Auffassung erst bei deutlich sinkenden Bewerbungszahlen der Fall. Wir werden und wollen uns da wahrlich nicht verschließen.

Vielmehr – das ist ein Punkt, den wir sicherlich auch im zuständigen Fachausschuss erörtern sollten – sollten wir das derzeitige Bewerbungsverfahren kritisch beleuchten. Das bürokratische Bewerbungsverfahren, die hohe Zahl der Bewerber, die nicht berücksichtigt werden, weil die Bewerbungsunterlagen nicht vollständig eingereicht werden, und die lange Zeitdauer bis zur Einstellungszusage sollten wir im Fachausschuss noch einmal hinterfragen.

Mir bleibt festzustellen, dass wir hierzulande im Wettbewerb um die besten Köpfe stehen. Der öffentliche Dienst und damit auch der Polizeidienst müssen weiterhin attraktiv gestaltet werden. Es gilt, hier weiterhin Anreize zu schaffen. Auch deshalb wollen wir am Ausbildungsniveau, an der Ausbildungsfähigkeit, aber auch an der zweigeteilten Laufbahn nichts infrage stellen. Ich bin sehr froh, dass Sie das eben angesprochen haben.

Wir sollten das im Fachausschuss weiter erörtern. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Dahm. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Schäffer.

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind uns einig: Der Polizeiberuf ist ein äußerst interessanter, vielfältiger und spannender Beruf. Zum Glück gibt es auch heute noch viele junge Menschen, die sich für diesen Beruf interessieren und sich auch tatsächlich bewerben. Die Zahlen sind von Herrn Lohn gerade genannt worden.

Wir hatten in den letzten Jahren immer Bewerberzahlen zwischen 7.000 und 7.500. Zuletzt waren es, glaube ich, über 8.200 Bewerberinnen und Bewerber, die sich für diesen Beruf interessieren und in das Bewerbungsverfahren gehen. Ich finde, das sind sehr erfreuliche Zahlen; denn natürlich sollte die Polizei die Möglichkeit haben, jeweils die Besten eines Jahrgangs auszuwählen.

Im CDU-Antrag wird auf die Abbrecherquote bei den Polizeianwärterinnen und -anwärtern Bezug genommen, also bei denjenigen, die ihre Ausbildung nicht abschließen. Es ist gerade darauf hingewiesen worden, dass wir im Haushaltsentwurf 2014 eine Einstellungsermächtigung von 1.500 Kommissaranwärterinnen und -anwärtern haben, wobei die Zahl von 1.400 nur in dem Maße überschritten werden darf, wie Anwärterinnen und Anwärter im Ausbildungsjahrgang drei Jahre zuvor die Ausbildung abgebrochen haben. Das heißt, dass wir hier die Abbrecherquote auffangen und damit gewährleisten wollen, dass nach wie vor genügend Polizistinnen und Polizisten im Dienst ankommen.

Ich möchte gerne noch einen anderen Aspekt in die Debatte einbringen, den ich für diese Diskussion wichtig finde. Ich glaube nämlich, man muss sich anschauen, wer sich bei der Polizei bewirbt. Mittlerweile gehen erfreulicherweise sehr viele Frauen in den Polizeidienst. Wir haben zwar immer noch mehr männliche als weibliche Bewerber, aber bei denjenigen, die die Ausbildung anfangen, ist das Verhältnis ungefähr fifty-fifty. Das finde ich sehr erfreulich.

Wir haben aber noch ein Manko beim Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht dementsprechend im Polizeidienst ankommen, der doch eigentlich ein Spiegelbild der Gesellschaft sein sollte. In Nordrhein-Westfalen hat ungefähr ein Viertel der Menschen einen Migrationshintergrund. Menschen – Jugendliche –, die diesen Hintergrund haben, bringen ganz andere Kompetenzen mit, häufig auch eine Mehrsprachigkeit. Ich glaube, dass das der Polizei gut tun würde.

Ich weiß, dass die Polizei in NRW auch schon versucht, Migrantinnen und Migranten anzuwerben, aber ich finde – auch wenn man sich die Zahlen anschaut –, es sind noch zu wenige. Ungefähr 12 bis 15 % der Bewerberinnen und Bewerber haben einen Migrationshintergrund. Von denen, die eingestellt werden, also den Kommissaranwärterinnen und ?anwärtern, haben dann aber nur 11 % einen Migrationshintergrund.

Da stellt sich schon die Frage: Wo verlieren wir die? – Ich habe gelesen, dass es auch an den Sprachtests liegt, also an der Beherrschung der deutschen Sprache. Klar ist natürlich, dass man keine Abstriche machen kann, weil es um klare juristische Aussagen im Polizeidienst geht. Ich finde, es ist aber schon eine Frage, wie wir es schaffen, mehr Migrantinnen und Migranten für den Polizeidienst zu begeistern.

Wenn jemand mehr als nur Deutsch sprechen kann – zum Beispiel Türkisch, Arabisch usw. –, wäre es vielleicht eine Möglichkeit, diese Fähigkeit beziehungsweise Kompetenz im Auswahlverfahren stärker zu gewichten. Darüber müssen wir tatsächlich noch einmal sprechen: Wie schaffen wir es, mehr Migrantinnen und Migranten für die Polizei anzuwerben, damit sich das Spiegelbild der Gesellschaft in der Polizei wiederfindet?

(Beifall von Hans-Willi Körfges [SPD])

Ich glaube, es wäre ein sehr hoher Gewinn für die Polizei und die Integrationspolitik in Nordrhein-Westfalen insgesamt, wenn wir das schaffen würden.

(Beifall von den GRÜNEN und Hans-Willi Körfges [SPD])

Ansonsten ist es schon angesprochen worden: Es gibt durchaus für Real- und Hauptschulabgängerinnen und -abgänger die Möglichkeit, in die Polizei zu kommen und das Studium zu absolvieren. Ich finde gut, dass wir alle einer Meinung sind, dass wir am Studium und der zweigeteilten Laufbahn festhalten wollen. Es ist meines Erachtens für Nordrhein-Westfalen ein großer Gewinn, dass unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten studiert haben müssen.

Aber die Frage, wer einen Zugang zum Studium hat, ist schon relevant. Es gibt heute schon Zugangsmöglichkeiten für diejenigen, die kein Abitur haben. Ich nenne den Meisterbrief im Handwerk oder die zweijährige Berufsausbildung mit anschließender dreijähriger beruflicher Tätigkeit, die es möglich machen, zu studieren.

Zum CDU-Antrag! Wir haben momentan durchaus eine ausreichende Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern. Das kann sich natürlich ändern. Deshalb bin ich durchaus der Meinung, dass man sich das Thema noch einmal anschauen kann und sogar muss. Auch stellt sich die Frage, ob es bei den Fähigkeiten, die die Bewerberinnen und Bewerber mitbringen, nicht eine größere Bandbreite geben müsste, und ob es nicht sinnvoll ist, auch andere Personenkreise so zu qualifizieren, dass sie teilnehmen können oder ihnen die Zugänge ermöglicht werden.

Dazu müssen wir tiefer in die Zahlen einsteigen. Das wünsche ich mir für die entsprechende Debatte im Ausschuss.

(Beifall von den GRÜNEN und Hans-Willi Körfges [SPD])

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Frau Kollegin Schäffer. – Für die FDP-Landtags-fraktion spricht Herr Kollege Dr. Orth.

Dr. Robert Orth*) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten hat man so viel Einmütigkeit bei einem Antrag, auch wenn die Sozialdemokratie natürlich, weil der Antrag nicht von Ihnen vorgelegt wurde, gesagt hat, eigentlich sei er überflüssig. Aber solange Sie nur von „überflüssig“ sprechen, heißt das eigentlich: Sie stimmen ihm zu. – Das finde ich prima.

Mir fehlt im Antrag der CDU allerdings eine Aussage dazu, was wir denn mit den Polizistinnen und Polizisten machen, die hinterher die Fachoberschulreife nicht erlangen. Ich denke, darüber müssen wir im Ausschuss noch sprechen.

Wir begrüßen sehr, dass auch mittleren Abschlüssen der Zugang zur Polizei eröffnet werden kann. Wir stellen dabei die zweigeteilte Laufbahn überhaupt nicht in Frage, müssen uns aber fragen, ob wir nicht auch mehr praktische Begabungen im Polizeidienst brauchen, die wir früher immer hatten, für die aber heute eine formale Hürde besteht.

Wir wollen eine durchlässige Gesellschaft. An der Stelle möchte ich den Grünen ausdrücklich zustimmen. Das bedeutet, dass man mit den formalen Bildungsabschlüssen am Anfang der Karriere noch Chancen hat, sich weiter zu qualifizieren und zu steigern.

Deswegen glaube ich, dass dieser Antrag gut ist. Wenn Sozialdemokraten das Bewerbungsverfahren kritisch sehen, wie gerade geschehen, kann ich nur sagen: Wenn man Polizeiwerbevideos in die Welt setzt, wie sie vor kurzem im Internet zu sehen waren, sehen auch wir Bewerbungsverfahren bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen zurzeit sehr kritisch, meine Damen und Herren.

Berücksichtigt man dann auch noch, dass Beamtinnen und Beamte bei der Polizei von Gehaltserhöhungen zunächst einmal ausgespart werden, hat das auch Auswirkungen auf die Zahl der Interessentinnen und Interessenten für die Polizei. Auch von daher sehen wir Bewerbungsverfahren heute kritisch, weil den Menschen einfach die Gehaltsperspektive fehlt.

Insofern denke ich schon, dass es des heutigen Antrags bedarf. Ich würde mir wünschen, dass die Sozialdemokratie gerade am Bewerbungsverfahren für die Polizei einmal kräftig arbeitet. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Orth. – Für die Fraktion der Piraten spricht der Kollege Schatz.

Dirk Schatz (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der CDU-Fraktion beinhaltet eine Forderung, die auch die Piratenfraktion fordert und umsetzen möchte. Von daher unterstützen wir diesen Antrag ausdrücklich.

Es wird oft als Argument gegen die Zulassung von Realschülern vorgebracht, dass man das Niveau der Ausbildung nicht herabsenken möchte. So sagt es zum Beispiel auch Herr Plickert, der Vorsitzende der NRW-GdP, der in einem Fernsehinterview im Zusammenhang mit diesem Antrag von Billigpolizei und Absenken des Niveaus sprach.

Ich möchte eins ganz deutlich machen: Ein Abitur alleine macht noch lange keinen guten Polizisten. Zum Polizeiberuf als Ganzes gehört definitiv weitaus mehr als das Erfüllen dieser rein formalen Voraussetzung. Umgekehrt würde natürlich auch nicht jeder ohne Abitur oder Fachabitur automatisch ein schlechter Polizist werden, zumal das der Antrag ja auch gar nicht erreichen will. Er will weder das Niveau senken noch eine Ausbildung zulassen, ohne dass jemand mindestens das Fachabitur haben muss. Im Gegenteil: Er will den Menschen, die den Polizeiberuf ergreifen möchten, dabei helfen, diese formale Voraussetzung zu erfüllen, sodass diese Menschen dann genauso qualifiziert sind wie jeder andere, der diese Voraussetzung jetzt schon erfüllt.

Das ist auch bitter nötig, da das Interesse am Polizeiberuf mindestens stagniert, wenn nicht sogar seit Jahren zurückgeht. Es steigt noch nicht einmal ansatzweise so stark an, wie es bei den derzeitigen und zukünftig geplanten Einstellungszahlen eigentlich vonnöten wäre. Diese Zahlen waren vielleicht bei 480 Einstellungen noch in Ordnung. Aber bei einer Verdreifachung der Einstellungszahlen ist das nicht mehr der Fall. Selbst Ihre Zahlen für die aktuelle Bewerbungsrunde – Herr Lohn hat es gerade erwähnt – lassen einem die Haare zu Berge stehen: Für das Jahr 2014 haben sich gerade einmal 8.400 Personen beworben, und das trotz doppelten Abiturjahrgangs und lustiger Rap-Videos. Es sind noch einmal 200 Bewerber weniger als im Jahr zuvor.

Also selbst bei Ihren Angaben kommen wir über eine Quote von 1:5 nicht hinaus. Hinzu kommt – auch das hat Herr Lohn erwähnt –, dass diese Zahlen noch geschönt sind: Wir haben zum Beispiel die Zahlen aus einer im Jahr 2012 beantworteten Kleinen Anfrage von mir: Von den angeblich einstmals 7.500 Bewerbern haben letztlich nur 4.200 am Auswahltest teilgenommen, weil viele die Bewerbung nicht vollständig hatten, ihre Bewerbung zurückgenommen haben, zu alt waren oder eben keine ausreichende Schulbildung hatten. Und das bei 1.400 Einstellungen im Jahr 2012! Von diesen 4.200 sind übrigens am Ende noch einmal ungefähr 1.000 in der Nachauswahl herausgeflogen, zum Beispiel beim Polizeiarzt.

Das heißt, die waren förmlich gezwungen, fast jeden zweiten Bewerber zu nehmen, also so ziemlich jeden, der zumindest irgendwie gerade noch geeignet war. Das ist keine Bestenauslese mehr, das ist maximal Mittelmaßauslese.

Das Schlimme ist, anscheinend kennen Sie Ihre Zahlen. Denn um den Mangel an geeigneten Bewerbern auszugleichen, senken Sie bereits selbst seit Jahren die Hürden für die Zugangsberechtigung immer weiter ab. Also, im Prinzip genau das, was Sie verhindern wollen, befördern Sie selbst, um zumindest noch ein paar Bewerber im Spiel zu halten und noch ein wenig Auswahl vorzugaukeln.

Ich nenne einmal das Beispiel Sport. Zunächst einmal haben Sie schon vor Jahren damit angefangen, die sportliche Leistungsfähigkeit eines Bewerbers nicht mehr selbst zu überprüfen, sondern die Bewerber den Nachweis durch das Deutsche Sportabzeichen selbst erbringen zu lassen. Die Folge waren immer mehr Beschwerden der Ausbilder über die mangelnde sportliche Leistungsfähigkeit der Auszubildenden. Kein Wunder, wenn man das DSA auch mit Wandern ablegen kann, falls es überhaupt abgelegt wird. Denn es ist auch kein Problem, bei den Bekannten aus Sportvereinen zu fragen, ob man nicht ein Auge zudrücken kann.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Seit dem 1. Januar dieses Jahres kommt noch erschwerend die Reform des Sportabzeichens hinzu. Vorher gab es in den verschiedenen Altersgruppen nur eine einzige Leistungsstufe, die für das Bestehen des DSA erfüllt werden musste. Jetzt gibt es drei Leistungsstufen getrennt nach Bronze-, Silber- und Gold-Leistungen, wobei die jetzigen Stufen Silber und Gold – ein Zwischending daraus – ungefähr das widerspiegeln, was vor der Reform den Mindestanforderungen entsprach.

Was machen Sie? Natürlich nehmen Sie weder Silber noch Gold. Nein, Sie entscheiden sich für Bronze, den geringsten Anforderungen. Ich habe einmal nachgeschaut. Die Ergebnisse, die jetzt erbracht werden müssen, um bei der Polizei eingestellt zu werden, würden nicht einmal für eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen reichen.

Eine ganz wichtige Sache. Damit komme ich zum Schluss. Frau Schäffer hat es auch gerade erwähnt.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Mostofizadeh zulassen?

Dirk Schatz (PIRATEN): Ja, bitte.

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Herr Kollege, Sie haben eben vorgetragen, dass man beim Ablegen des Sportabzeichens im Verein mal ein Auge zudrücken könnte und man insofern suggeriert, dass Leute in die Auswahl hineinrutschen könnten, die dort gar nicht hingehören. Haben Sie Belege dafür, dass das so ist?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege, bitte.

Dirk Schatz (PIRATEN): Das werden die bestimmt nicht sagen. Glauben Sie nicht, dass es in der Praxis nicht passiert?

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Doch!)

Wenn Sie das glauben, dann halte ich Sie für naiv.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Danke! – Sigrid Beer [GRÜNE]: Das ist ja echt nett!)

Eine ganz wichtige Sache. Damit komme ich zum Schluss. Wie gesagt, Frau Schäffer hat es gerade erwähnt. Der Landesregierung ist es – das ist auch gut so – ein ganz wichtiges Anliegen, mehr Bewerber mit Migrationshintergrund in den Polizeidienst zu bekommen. Das begrüße ich sehr. Aber würde die Landesregierung einmal in ihre eigenen Statistiken schauen, dann würde sie feststellen, dass man die Zahl der potenziellen Bewerber aus dem Bereich des Migrationshintergrunds mit der Einbeziehung der Realschüler nahezu verdoppeln könnte.

Wegen all der eben genannten Gründe bin ich mir sicher, dass dieser Antrag nicht zu einer Absenkung des Niveaus führen wird, sondern ganz im Gegenteil. Er wird zu einer signifikanten Besserung des Leistungsniveaus führen. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Schatz. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vieles ist bereits gesagt. Ich will nur noch wenig hinzufügen. Ich glaube, dass die Polizei in Nordrhein-Westfalen ein attraktiver Arbeitgeber ist. Ich stelle das immer wieder in den Gesprächen mit den jungen Beamtinnen und Beamten fest.

Ich freue mich darüber, dass die Frage der zweigeteilten Laufbahn bei der nordrhein-westfälischen Polizei von keiner Fraktion infrage gestellt wird. Denn das ist wesentlich für die Attraktivität und Qualität der nordrhein-westfälischen Polizei.

(Beifall von der SPD und Verena Schäffer [GRÜNE])

Es ist in dem Antrag der CDU bereits genannt, dass nicht nur das Abitur und die Fachhochschule geeignet sind, um in Nordrhein-Westfalen Polizeibeamter zu werden, sondern beispielsweise der Meisterbrief oder aber eine mindestens zweijährige Berufsausbildung und dreijährige Berufserfahrung die allgemeine Zulassung zum Fachhochschulstudium und auch eine Zugangsberechtigung bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen darstellt.

Ich gebe jedoch genauso zu, dass von den Bewerbungen, die im Rahmen der Einstellungskampagne in diesem Jahr eingegangen sind, gerade 237 genau diesen Zugang wählen. Da ist noch viel Luft nach oben. Ich fände es gut, wenn wir im Ausschuss beraten könnten, wie wir dies erzielen können.

Herr Dr. Orth, Ihre Bemerkung zu dem Video. Die FDP ist in der Tat der Experte dafür, wie man mit Ironie Marketing betreibt. Ich sage nur: gelbe Schuhsohlen mit einer 18, Guido-Mobil und Spaßpartei. Von daher war Ihr Hinweis in der Sache sicherlich nützlich. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Minister. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Wir sind damit am Ende der Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/4156 an den Innenausschuss. Die abschließende Beratung und Abstimmung soll dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer dem seine Zustimmung geben kann, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer kann dem nicht zustimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Überweisung einstimmig erfolgt.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

12       Gesetz zur Offenlegung der Bezüge von Sparkassenführungskräften im Internet

Gesetzentwurf
der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/4165

erste Lesung

Ich eröffne die Beratung und erteile für die Fraktion der Piraten Herrn Kollegen Schulz das Wort.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer hier im Saal und zu Hause am Stream! Zunächst einmal, ich dachte, das mit der Spaßpartei wären wir. Aber man lernt nie aus.

Kommen wir zu dem von uns hier vorgelegten Gesetzentwurf zur Offenlegung der Bezüge von Sparkassenführungskräften im Internet, Tagesordnungspunkt 12.

Wie wir den Presseberichten in den letzten Tagen und Wochen entnehmen konnten, können die bestehenden Transparenzregeln des Sparkassengesetzes in Verbindung mit dem Transparenzgesetz Nordrhein-Westfalen bezüglich der Veröffentlichungspflichten der Sparkassen als politisch und formaljuristisch ineffektiv betrachtet und bezeichnet werden. Dies belegen auch die zähflüssigen, wenngleich durchaus nachhaltigen Bemühungen des Finanzministeriums, der Sache Herr zu werden.

Nach wie vor gibt es in Nordrhein-Westfalen Sparkassen, die nur sehr zögerlich ihren Veröffentlichungsmöglichkeiten nachkommen, den Bitten nachkommen. Es gibt immer noch einige – wir haben sie im Ausschuss als „kleine gallische Dörfer“ bezeichnet –, die sagen, unsere Sparkassen müssen nicht veröffentlichen

Diesem politischen Ausgangspunkt widmet sich unser Antrag erneut. Wir hatten das schon einmal im Zusammenhang mit der Novellierung des Sparkassengesetzes im Monat Juli, allerdings etwas davon abweichend auch differenziert.

Wie zu vernehmen war und ist, sieht unter anderem das Finanzministerium die Materie der Veröffentlichungspflichten – wohlgemerkt: der Pflichten – durch das Handelsgesetzbuch als abschließend geregelt. Auch in den verschiedenen Ausschussberatungen war es immer wieder einhellige Meinung, das Handelsgesetzbuch regele das abschließend. Die Möglichkeiten im Sparkassengesetz seien damit erschöpft.

Die Hinwirkungspflichten, die in § 19 Abs. 6 des Sparkassengesetzes – in Verbindung mit dem Transparenzgesetz – geregelt sind, können daher allenfalls als Krücke bezeichnet werden. Wie sich zeigt, stützt diese Krücke auf jeden Fall nicht, denn eine Verpflichtung lässt sich daraus eben nicht entnehmen. Es bleibt also bei Goodwill-Aktionen der Sparkassen, ob sie nun veröffentlichen oder nicht. Auch die BaFin kann da wenig helfen. Es gibt auch keine rechtliche Handhabe, zu einer Verpflichtung zu kommen.

Mit Blick auf die Bindungswirkung des Handelsgesetzbuches gilt für die Sparkassen Folgendes: Tatsächlich stellt das HGB eine Materie des Wirtschaftsrechts dar, für die der Bund die Gesetzgebungskompetenz hat. Das Transparenzgesetz in Verbindung mit dem derzeitigen Regelungsbestand des Sparkassengesetzes ist ein eher stumpfes Schwert. Gerade deshalb sollte die neue Veröffentlichungspflicht der Sparkassen – so, wie wir sie vorschlagen – nicht im Zusammenhang mit den handelsrechtlichen Bilanz- und Veröffentlichungspflichten – wie in § 19 des Sparkassengesetzes geregelt – festgelegt werden, sondern sie sollte selbstständig als Transparenzgebot im Sinne des Verfassungs- und Organisationsrechts der Sparkassen in einem neuen Abschnitt in das Sparkassengesetz aufgenommen werden. Für dieses – sprich: für das Verfassungsorganisationsrecht der Sparkassen – haben nämlich die Länder die Gesetzgebungskompetenz. Es gibt also Kollision im Sinne der konkurrierenden Gesetzgebung nach Artikel 74 des Grundgesetzes.

Das OLG Köln hat in dem vielfach zitierten und herangezogenen Urteil dazu ausgeführt:

„Im Bereich des Sparkassenwesens fällt die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht einschränkungslos an. Es wird vielmehr zwischen dem Sparkassenverfassungsrecht und dem Sparkassenorganisationsrecht als sogenanntem formellen Sparkassenrecht einerseits sowie andererseits dem materiellen Sparkassenrecht unterschieden, welches die Geschäftspolitik und die Wirtschafts- und Geschäftsführung der Sparkassen betrifft.“

Insofern mag es also sein, dass der Transparenzgedanke als selbstständige demokratisch und rechtsstaatlich begründete organisationsrechtliche Kategorie den Kollegen der Exekutive im Finanzministerium vielleicht noch etwas fremd ist. Wir sollten hier aber im Rahmen der Legislative, wo wir immer wieder hören, dass gerade dazu der Mut besteht, den Transparenzgedanken in verschiedene Gesetze hineinzutragen, auch hier aufbringen. Wir sollten auch hier durch einen neuen Abschnitt im Sparkassengesetz den Weg öffnen, eine Verpflichtung aufzunehmen, die diesem Transparenzgedanken grundsätzlich besser entspricht.

Dies gilt umso mehr, als wir nicht den vielfach kritisierten Ansatz der differenziert individualisierten Veröffentlichung in Geschäftsberichten oder Bilanzen bzw. in Jahresabschlüssen oder Anhängen dazu präferieren, sondern eben den Weg über ein barrierefrei zu erreichendes Portal innerhalb des Sparkassenorganisationsrechts.

In diesem Sinne werbe ich im Namen der Piratenfraktion für eine offene und – vor allem im Sinne der auch seitens der Regierungsfraktionen und der Landesregierung stets bekundeten Transparenzbestrebungen – ergebnisorientierte Beratung in den Ausschüssen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Schulz. – Für die SPD-Fraktion spricht der Herr Abgeordnete Kämmerling.

Stefan Kämmerling (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Damen und Herren der Fraktion der Piraten möchten, dass Sparkassenvorstände und Sparkassenverwaltungsräte ihre Bezüge offenlegen. Das wollen sie landesgesetzlich pflichtig regeln. Ich will gerne zugeben: Das Anliegen ist mir durchaus sympathisch. Leider reicht das aber nicht. Als Gesetzgeber müssen wir uns nämlich nicht mehr und nicht weniger die Frage stellen, ob ein Vorhaben rechtlich sauber umsetzbar ist.

Fußend auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Grundgesetz obliegt die Gesetzgebungskompetenz bezüglich Kreditinstituten nun einmal dem Bundesgesetzgeber. Hiervon macht dieser unter anderem mittels des Handelsgesetzbuches umfassend Gebrauch. Er macht – das ist hier von elementarer Bedeutung – mit § 285 Nr. 9 HGB auch umfassend Gebrauch von der Aufgabe zur Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse von Bund und Ländern gemäß Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz. Auf gut Deutsch bedeutet das nichts anderes, als dass der Bund zu Recht verhindert, dass es gegebenenfalls zu 16 unterschiedlichen Transparenzregelungen in den 16 Ländern der Bundesrepublik kommt.

(Beifall von Hans-Willi Körfges [SPD])

Es gibt drei bundesgesetzlich geregelte Transparenzstufen, mit denen landesrechtliche Transparenzregelungen nicht kollidieren dürfen. Die höchste bundesgesetzliche Transparenzstufe kennen wir bei börsennotierten Aktiengesellschaften. Nur dort müssen explizit Angaben zu Gehältern und Pensionen etc. gemacht werden. Sparkassen sind keine Aktiengesellschaften und erst recht nicht börsennotiert. Darum führe ich das hier nicht weiter aus.

Lassen Sie mich zur mittleren bundesgesetzlichen Transparenzstufe kommen. Der gemäß müssen nicht börsennotierte Unternehmen die Gesamtbezüge eines Geschäftsjahres offenlegen. Nach bundesgesetzlicher Regelung müssten Sparkassen somit allenfalls Gesamtbezüge darstellen. Wollen Sie das landesgesetzlich verpflichtend anders regeln, brechen Sie nach meiner Auffassung Bundesrecht. Das dürfen Sie nicht.

Ich komme zur untersten Transparenzstufe. Nach dieser kann selbst die Angabe der Gesamtbezüge unterbleiben, wenn sich anhand dieser die Bezüge eines einzelnen Organes feststellen ließen. Diese Regelung in § 286 Abs. 4 HGB wäre bei diversen nordrhein-westfälischen Kleinst-Sparkassen mit unter drei Vorstandsmitgliedern relevant. Darum geht es auch hier. Weichen Sie landesgesetzlich hiervon ab, brechen Sie Bundesrecht, und das dürfen Sie nicht.

Diese Erkenntnis ist übrigens auch nicht neu. Es lohnt ein Blick auf die sehr gute damalige Begründung bei der Einbringung des Transparenzgesetzes NRW. Ich zitiere daraus:

„Das Handelsrecht, insbesondere die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften, unterfällt als Teil des Wirtschaftsrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 des Grundgesetzes grundsätzlich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes.“

Geltendes Bundesrecht, sehr geehrte Damen und Herren, kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass ein Landesgesetz einen bestimmten elektronischen Veröffentlichungsort für die Höhe von Bezügen festsetzt.

Darüber hinaus sind die Transparenzangaben der Sparkassen heute bereits elektronisch abrufbar. Wer den Namen seiner Sparkassen in Verbindung mit dem elektronischen Bundesanzeiger googelt, gelangt ohne größeren Aufwand zu den gewünschten Informationen. Nicht nur das. Der Ort, wo die Informationen abgelegt sind, ist zudem sogar standardisiert. Sämtliche Angaben finden sich grundsätzlich immer im Anhang zum Jahresabschluss.

Ich will die Welt jetzt aber auch nicht schöner malen, als sie ist, liebe Kolleginnen und Kollegen der antragstellenden Fraktion. Sehr geehrter Herr Kollege Schulz, bei 99 von 105 Sparkassen in Nordrhein-Westfalen funktioniert die dargestellte Regelung. Bei sechs funktioniert sie nicht, und das sind eindeutig sechs zu viel. Sparkassenaufsicht und Kommunalaufsicht sind hier glasklar aufgefordert, die Hinwirkungspflicht der Träger im Rahmen von Prüfungen einzufordern.

Ich komme zum Schluss: Die erschöpfenden bundesgesetzlichen Regelungen entfalten eindeutig eine Sperrwirkung für den Landesgesetzgeber, eine direkte Verpflichtung der Sparkassen durch ein Gesetz des Landes steht eindeutig Bundesrecht entgegen.

Im Kern, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, trägt nun einmal der Verfassungsgrundsatz: Bundesrecht bricht Landesrecht. Ihr Antrag vermag leider nicht zu erläutern, warum dieser Verfassungsgrundsatz ausgerechnet für Ihren Gesetzentwurf nicht gelten sollte. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege Kämmerling, wenn Sie bitte noch einen Moment am Rednerpult bleiben. Es liegt eine Kurzintervention des Herrn Abgeordneten Schulz von der Piratenfraktion vor. Herr Abgeordneter Schulz, bitte schön.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr verehrter Herr Kollege Kämmerling, erst einmal vielen Dank dafür, dass Sie unserem Antrag grundsätzlich von der Sache her positiv gegenüberstehen. Sie haben vorhin richtig ausgeführt, dass Bundesrecht nicht durch Landesrecht gebrochen werden kann und haben sich da insbesondere auf bestimmte Transparenzstufenregelungen bezogen, die in der Tat im Bundesrecht geregelt sind. Das hat auch das OLG Köln ganz eindeutig festgestellt, hat aber auch – und das hatte ich auch ausgeführt – ebenso darauf hingewiesen, dass selbstverständlich Regelungsgegenstände, die der Geschäftspolitik und Wirtschafts- bzw. Geschäftsführung der Sparkassen angehören, eben materielles Sparkassenrecht, nicht durch Landesrecht gebrochen werden kann.

Ich hatte dazu ausgeführt, dass es sich hierbei – bei dem von uns vorgeschlagenen Regelungstatbestand – um Sparkassenverfassungsrecht und Sparkassenorganisationsrecht, also sogenanntes formelles Sparkassenrecht handelt. Sind Sie damit gleichermaßen meiner Auffassung, dass wir als Landesgesetzgeber sehr wohl formelles Sparkassenrecht in dem Sinne der Anfügung einer Transparenzverpflichtung und Veröffentlichungsverpflichtung regeln dürfen?

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kämmerling, bitte schön.

Stefan Kämmerling (SPD): Vielen Dank. Herr Kollege Schulz, zunächst einmal habe ich ja schon umfassend ausgeführt, dass wir in Nordrhein-West-falen funktionierende Transparenzregelungen haben. Wir haben eine elektronische Veröffentlichung. Ich habe auch ausgeführt – und da bin ich ganz bei Ihnen –, dass es nicht überall funktioniert. Bei 96 Sparkassen in Nordrhein-Westfalen funktioniert es, bei sechs nicht. Da müssen wir nachbessern. Da müssen wir dafür sorgen, dass sowohl die Kommunalaufsicht wie auch die Sparkassenaufsicht – ich will nicht sagen – gemaßregelt werden, aber dass man bei ihnen darauf hinwirkt, dass sie die Verpflichtung zur Offenlegung ernst nehmen. Hier sind zwei Ministerien gefragt, das Finanzministerium sowie das Ministerium für das Innere.

Ansonsten bin ich der Meinung, dass weiterhin der Verfassungsgrundsatz gilt: Bundesrecht bricht Landesrecht. Darum würde ich Ihren Ausführungen nicht folgen wollen.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Kämmerling. – Für die CDU-Fraktion spricht Herr Kollege Jung.

Volker Jung*) (CDU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Herr Kämmerling, in sehr vielen Dingen stimme ich mit Ihnen vollkommen überein. Als die seinerzeitige Landesregierung das Transparenzgesetz für öffentliche Unternehmen auf den Weg gebracht hat, gab es fraktionsübergreifend Zustimmung. Damals wie heute ließ man sich von dem richtigen Grundsatz leiten, dass es in unserem demokratischen Rechtsstaat der Normalfall sein sollte, wenn die Bezüge von öffentlich Bediensteten bekannt gemacht werden, denn naturgemäß stehen öffentliche Unternehmen im besonderen Fokus der Bürgerinnen und Bürger.

Mit dem letztendlich einstimmig beschlossenen Transparenzgesetz hat das Land Nordrhein-Westfalen damit bundesweit eine Vorreiterrolle übernommen. Auf Grundlage dieses Gesetzes haben mittlerweile 97 der 105 Sparkassen in Nordrhein-Westfalen Angaben zu den Vergütungen gemacht, zwei sind auf dem Weg. Insgesamt sind 99 Sparkassen diesen wichtigen Schritt auf dem Weg zu mehr Transparenz mitgegangen. Da sage ich ganz deutlich: Das ist auch gut so.

Das damals mit Augenmaß eingebrachte Gesetz hat sich deshalb als praxisgerecht erwiesen. Dass immer noch sechs Sparkassen keine Angaben machen, können wir natürlich nicht hinnehmen, Herr Kämmerling, da sind wir vollkommen einer Meinung. Das ist nicht zu akzeptieren, und ich denke, das sehen alle Fraktionen so.

Es muss unser aller Ziel sein, dass sämtliche Sparkassen ausnahmslos die Vergütungen offenlegen, sonst wird die Akzeptanz derer ausgehöhlt, die sich gesetzeskonform verhalten. Und Gesetze sind da, damit sie eingehalten werden.

Ich bin der Meinung, hier ist der Finanzminister gefragt. Es ist bedauerlich, dass der Minister Walter-Borjans es in seiner inzwischen dreijährigen Amtszeit nicht geschafft hat, landesweit bei allen Sparkassen auf eine Umsetzung hinzuwirken. Dass ihn das vielleicht wurmt, kann ich gut verstehen, aber mehr als Ankündigungspolitik gibt es bisher nicht. Deinen harten Worten und den öffentlichkeitswirksamen Rufen nach mehr Transparenz müssen jetzt endlich Taten folgen.

Wir haben uns in den vergangenen Sitzungen des Haushalts- und Finanzausschusses schon mehrfach damit beschäftigt, wie die Hinwirkungspflicht des Trägers auszulegen ist. Der Finanzminister begnügt sich dabei mit der Auffassung, dass man diese nicht allgemein, sondern nur im konkreten Fall würdigen könne. Leider hat er unsere konkrete Nachfrage nach der rechtlichen Ausgestaltung bislang immer noch nicht beantwortet.

Liebe Kollegen von der Piratenfraktion, ich kann es daher schon verstehen, dass diese zurückhaltenden Auskünfte des Finanzministers Sie nicht zufriedenstellen, und Sie sich dadurch veranlasst gesehen haben, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Im Kern verlangen Sie erstens, die bisherige Hinwirkungspflicht der Träger auf eine Veröffentlichungspflicht der Sparkassen selbst auszuweiten, und zweitens einen Abruf dieser Informationen über eine zentrale Datenbank im Internet.

Die rechtliche Umsetzung im Gesetzentwurf bleibt allerdings hinter den Forderungen zurück. Das ist auch nicht verwunderlich. Denn eine weitergehende Regelung über das verabschiedete Transparenzgesetz hinaus ist schlichtweg rechtlich unmöglich. Dazu hat Herr Kämmerling eindeutig Stellung bezogen.

Der Bund hat in der konkurrierenden Gesetzgebung bei wirtschaftsordnenden Gesetzen seine Kompetenz abschließend ausgereizt. Dem Land bleiben nur die wahrgenommenen Möglichkeiten im Transparenzgesetz.

Zur Forderung einer Internet-Datenbank: Herr Schulz, Realität ist doch, dass die Sparkassen ihre Geschäftsberichte bereits jetzt auf ihren Internetseiten zur Verfügung stellen. Hier sind sie für jedermann einsehbar und abrufbar. Nach meinem Politikverständnis ist es nicht Aufgabe des Gesetzgebers, diese jetzt nochmals optisch „aufzuhübschen“. Hier sehe ich keinen weiteren Handlungsbedarf, als Gesetzgeber tätig zu werden.

Wichtiger finde ich, dass das Finanzministerium endlich Klarheit darüber schafft, wie die Hinwirkungspflicht in der Praxis auszusehen hat. So freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Jung. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Mostofizadeh.

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur verfassungsrechtlichen und rechtlichen Einordnung des Gesetzentwurfs der Piraten haben der Kollege Kämmerling und Kollege Jung das Notwendige vorgetragen. Auch ich hätte auf den Gesetzentwurf der schwarz-gelben Landesregierung aus dem Jahre 2009 und da insbesondere auf Seite 24 hingewiesen, was die rechtliche Einordnung anbetrifft.

Ich will noch einen anderen Aspekt hier ansprechen, weil es auch um die Haltung geht, wie man mit diesen öffentlichen Bezügen umgeht. Wir hatten noch vor Kurzem den Fall, dass Kollege Hegemann seinem SPD-Kollegen im Verwaltungsrat der Sparkasse eine Strafzahlung angedroht hat, wenn er weiterhin die Bezüge offenlege, die er im Verwaltungsrat der Sparkasse bekomme. Das ist eine Art und Weise des Umgangs, die wir für falsch halten.

Ich will noch einen Schritt weitergehen. Die Transparenz, die jetzt in den Sparkassen gegeben ist, sowohl was die Vorstände als auch was die Verwaltungsräte anbetrifft, hat auch dazu geführt, dass wir und die Öffentlichkeit sehr genau wissen, wie viel dort überhaupt bezogen wird. Da meine ich nicht nur die aktiven Bezüge, sondern auch die Versorgungsbezüge der Sparkassenvorstände.

Deswegen ist es auch richtig, dass sich die Verbände jetzt mit der Frage befassen müssen, welche neuen Compliance-Regeln dort einzuhalten sind, damit sie nicht ausufern. Während ein Sparkassenvorstand in Essen über 500.000 € bekommt und der Oberbürgermeister nicht einmal ein Drittel davon, dann, glaube ich, ist das auch eine Frage, über die wir uns unterhalten können.

(Beifall von den GRÜNEN)

Damit meine ich keine Neiddebatte à la Steinbrück und sonstiger Interviews, sondern die Frage: Was sind die jeweiligen Ämter im Einzelnen wert?

Ich will noch eines in Richtung Piraten hinzufügen: Sie reden immer von Transparenz und meinen, sie erfunden zu haben. Dieses Transparenzgesetz gibt es seit 2009.

(Beifall von Hans-Willi Körfges [SPD])

Es wird jetzt massiv vollzogen. Wir sind den Leuten hinterhergelaufen, insbesondere in Form des Finanzministeriums, und jetzt auch noch mit der „Keule“ des Ministeriums für Inneres und Kommunales. Da brauchen wir keine Nachhilfe. Sie wollen Effekt haschen, und Sie wollen nicht für mehr Transparenz sorgen.

Ich kann Ihnen aber eine Empfehlung abgeben: Beteiligen Sie sich an der Diskussion um die Frage zum Beispiel, welche Subventionen an einzelne Unternehmen oder an öffentliche Institutionen gegeben werden, und ob auch diese Institutionen ihre Bezüge offenlegen sollten. Wir sind nämlich seit mehreren Jahren da hinterher und sagen: Auch die haben kein Recht, ihre Gehälter und Bezüge zu …

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Wenn wir es machen, sagen Sie auch, es sei Ihre Idee gewesen!)

– Herr Kollege Paul, da haben wir eine entsprechende Expertise und Sie eben nicht. Deswegen ist es auch unsere Aufgabe, da hinterherzugehen und für noch mehr Transparenz zu sorgen.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Priggen zulassen?

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Geht das?)

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Bitte schön.

Reiner Priggen (GRÜNE): Herr Kollege Mostofizadeh, können Sie sich noch an die bittere Stunde erinnern, als der Kollege Hegemann einen Sparkassenvorstand, der seine Gehälter offenlegen wollte, mit Strafanzeige bedroht hat?

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Das hat er gerade gesagt! – Zurufe)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege, bitte schön.

Mehrdad Mostofizadeh*) (GRÜNE): Jetzt müsste ich den Kollegen Priggen eigentlich rügen, dass er mir nicht richtig zugehört hat.

(Heiterkeit – Hans-Willi Körfges [SPD]: Dich kann man nicht oft genug hören! – Reiner Priggen [GRÜNE]: Ich ziehe die Frage zurück.)

Aber dass in der Vestischen Sparkasse offensichtlich vorübergehend andere Gesetze gegolten haben, habe ich vorhin schon dargestellt.

Ich halte es für einigermaßen erstaunlich, dass man erstens überhaupt so miteinander umgeht und dass zweitens der Kollege Hegemann den Gesetzentwurf eines schwarzen Finanzministers nicht gelesen hat und die Gesetzeslage nicht kannte.

Nach vorne sei mir folgende Bemerkung gestattet, weil ich glaube, dass der Gesetzentwurf der Piraten –  da bitte ich ausdrücklich das Finanzministerium und auch die Landtagsverwaltung um Prüfung – nicht beratungsfähig ist. Ich halte den Gesetzentwurf für rechtswidrig. Kollege Kämmerling hat vorgetragen, warum. Wenn über ihn ohnehin nicht abgestimmt werden kann, muss man sich schon überlegen, inwieweit wir ihn dann auch in der Tiefe noch beraten.

Eines will ich vermeiden – das ist auch Ziel der ganzen Veranstaltung –, dass die Piraten behaupten, wir wollten keine Transparenz, wir wollten es nicht ins Sparkassengesetz hineinschreiben. Nein, es geht um etwas anderes: Wir wollen effektive Transparenz, und wir wollen das mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzen. Ich habe die Geschichte beschrieben, wo noch Handlungsbedarf ist. Darauf sollten wir uns konzentrieren. – Danke schön.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Mostofizadeh. – Für die Fraktion der FDP spricht der Kollege Witzel.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aufgrund der bereits von meinen Vorrednern vorgetragenen rechtlichen Fragen muss in der Tat im Beratungsverfahren geprüft werden, wie mit den vorgeschlagenen Regelungen umgegangen werden kann. Ich sage ausdrücklich: Das Anliegen in der Sache ist natürlich berechtigt. Es sind auch Initiativen notwendig, sich um die Vollzugsdefizite bei diesem Gesetz zu kümmern.

Weil das hier eben etwas unvollständig dargestellt worden ist, als nur von den sechs Sparkassen gesprochen worden ist, die nach Analyse des Finanzministers gar nichts tun, aber der Finanzminister vor einem Monat in seinem Status-Bericht auch darauf hingewiesen hat, dass es 29 Sparkassen von 105 in diesem Land gibt, immerhin über ein Viertel, die zwar etwas an Publikationen machen, aber längst nicht in dem Umfang, wie es erforderlich ist, müssen wir natürlich auch nicht nur über sechs Fälle reden, sondern über all die Fälle, bei denen es noch Umsetzungsdefizite gibt.

Nach dem Bericht des Finanzministers handelt es sich bei den schwarzen Schafen insbesondere um Finnentrop, Fröndenberg, Haltern, Hilden, Ratingen, Velbert, Kleve, Radevormwald, Hückeswagen, Rheine und Wermelskirchen.

Wir müssen hier als Parlament klarmachen: Es ist für uns nicht akzeptabel, wenn Recht und Gesetz mit selbstbewusster Ansage vor Ort nicht befolgt werden. Insbesondere für hohe Repräsentanten einer Anstalt öffentlichen Rechts, die ansonsten gerne von Privilegien profitiert, die ihr in diesem Status vonseiten der öffentlichen Hand eingeräumt werden, ist das eine bemerkenswerte Haltung.

Bei dieser Frage geht es um Steuergeld, weil wir kommunale Eigentümer und damit eine Gewinnabführung an den städtischen Haushalt haben und weil viele Projekte, die der Arbeit vor Ort zugutekommen, aus der gemeinnützigen Tätigkeit der Sparkassen finanziert werden. Deshalb ist es schon wichtig, wie viel Budget wofür übrig bleibt.

Für die FDP-Landtagsfraktion will ich ausdrücklich erklären: Wir wollen keine Sozialneiddebatte. Wir gönnen auch jedem, der viel Verantwortung übernimmt und hart arbeitet, dass er dafür ordentlich und anständig und wettbewerbsfähig bezahlt wird.

Es geht hier um Corporate Governance. Deshalb haben Bürger auch ein Anrecht darauf, zu erfahren, was vor Ort im öffentlichen Bereich gezahlt wird.

Es geht um Fragen der Gleichberechtigung. All diejenigen, die es nach der Verabschiedung des Sparkassengesetzes hier im Parlament als ihre Verpflichtung empfunden haben, sich an Recht und Gesetz zu halten, wundern sich etwas, wenn andere es Jahre später noch nicht tun und das offenbar weitgehend folgenlos bleibt.

Insofern gibt es große Unterschiede zwischen den Sparkassen und der Handhabung vor Ort. Einige veröffentlichen das ganz transparent; es ist für jedermann kostenfrei über die Homepage oder den Geschäftsbericht einzusehen. Andere veröffentlichen zwar, aber das ist schon etwas schwieriger aufzufinden und mit Kosten verbunden: im Handelsregister oder im Bundesanzeiger. Einige wenige veröffentlichen auch gar nichts.

Wie wichtig es ist, dass vollständig veröffentlicht wird, sieht man daran, dass ein verzerrtes Bild entsteht, wenn nur Teilkomponenten angegeben werden. Die „WZ“ hat das, um einen ganz aktuellen Fall zu nennen, diese Woche am Beispiel des bei der Stadtsparkasse Düsseldorf nach vier Jahren ausscheidenden Vorstands Andreas Goßmann dargestellt. Hätte man nur das Fixum ausgewiesen, wären das 390.000 €. Zusammen mit den variablen Bezügen sind es nach Angaben der „WZ“ schon über 500.000 €. Interessant ist vor allem – mein Vorredner hat es gesagt –, dass hier angeblich für einen 52-Jährigen 13 Jahre lang, bis er 65 wird, knapp 200.000 € jährlich gezahlt werden, weil man sich entschieden hat, sich vertraglich zu trennen. Diese Angaben zeigen, wie wichtig es ist, einen solchen Sachverhalt vollständig darzustellen und nicht nur Teilkomponenten zu publizieren.

Hier muss die Landesregierung die Frage beantworten, warum sie es bei all ihren Gesprächen mit den Sparkassenverbänden zugelassen hat, dass die Musterverträge eine so lange Zeit nicht angepasst worden sind. Seit fünf Jahren gilt die neue Rechtslage. Der Finanzminister weist darauf hin, dass es eine rechtliche Eindeutigkeit der Handhabung gibt, und empfiehlt auch ausdrücklich, diesen Transparenzbezug in die Anstellungsverträge hineinzuschreiben. Und dann werden fünf Jahre lang von den Sparkassenverbänden – wie gerade eingeräumt – die Vertragsklauseln nicht angepasst. Es wird keine Transparenzklausel aufgenommen. Jetzt sagt der Finanzminister: Wenn alles gut läuft, sind wir vielleicht 2015 so weit, dass wir über den Verweis auf die Transparenzklausel auch eine entsprechende Handhabung haben.

Die Sparkassenverbände haben hier im Landtag etwas anderes in Aussicht gestellt.

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Kollege Witzel, Ihre Redezeit.

Ralf Witzel (FDP): Herr Präsident, ich komme sofort zum Ende. – Angesichts der vielen Punkte Ihres Entgegenkommens als Landesregierung gegenüber den Sparkassen müssen Sie hier die Frage beantworten: Warum haben Sie mit den Verbänden nicht früher auch entsprechende Maßnahmen verabredet? – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Witzel. – Nun spricht der fraktionslose Kollege Stein.

Robert Stein (fraktionslos): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch den Zuschauern auf der Tribüne und im Stream sage ich: Seien Sie gegrüßt. – Der vorliegende Gesetzentwurf der Piratenfraktion will per gesetzliche Regelung die Verpflichtung erreichen, dass alle Sparkassen Transparenz sicherstellen. Die Bezüge jedes einzelnen Mitgliedes des Vorstandes, des Verwaltungsrates und ähnlicher Gremien sollen demnach gesondert veröffentlicht werden müssen. Dies soll möglichst barrierefrei geschehen, und zwar über eine zentral aufrufbare Datenbank. Der vorliegende Gesetzentwurf fordert damit die verpflichtende Umsetzung von § 19 Abs. 6 des geltenden Sparkassengesetzes.

Notwendig wird dieser Entwurf genau deshalb – wir haben das hier schon gehört –, weil sich bis zum aktuellen Zeitpunkt sechs Sparkassen weigern, dieser Vereinbarung im Rahmen des bestehenden Gesetzes nachzukommen und – darauf hat Herr Witzel bereits hingewiesen – 29 weitere nur kleckerweise dieser Verpflichtung nachkommen. Wir können davon ausgehen, dass diese Problematik jedes Jahr aufs Neue stattfinden wird. Insofern ist eine verbindliche Regelung auf jeden Fall angebracht. Das sollten wir außer Frage stellen.

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

Jetzt bin ich ein wenig verwundert. Herr Kämmerling, Sie haben gerade für die SPD ausgeführt – Herr Börschel hat sich auf der Klausurtagung gegenüber Herrn Schulz ähnlich geäußert –, dass eine juristische Umsetzung sehr anzuzweifeln sei. Sie beziehen die Aussage, dass eine Verpflichtung per Gesetz nicht mit der Verfassung oder mit Bundesrecht zu vereinbaren sei, wohl auf Ihr Urteilsvermögen. Ich bin sehr erstaunt; denn mit dieser Einstellung nimmt sich die SPD einfach so heraus, ein mögliches Urteil aus Münster, Karlsruhe oder von welchem Gericht auch immer vorwegzunehmen.

Ich kann Ihnen sagen: Es gibt guten Grund, dass Exekutive, Judikative und Legislative in unserem System getrennt sind.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist sicherlich auch Ihnen bekannt. Hier entscheidet niemand vorab oder stellvertretend für Münster, Karlsruhe oder irgendeine andere richterliche Instanz.

Mich wundert diese Aussage aber auch im Hinblick auf die Bewertungsfähigkeit der SPD in solchen Sachen allgemein. Schließlich müssen wir in Betracht ziehen, dass die letzten Haushalte – den Nachtragshaushalt will ich mal mit einbeziehen – allesamt verfassungswidrig waren. Die SPD hat ganz sicher keine Zweifel an deren Verfassungskonformität gehabt und wurde dann richtigerweise eines Besseren belehrt.

In der jüngsten Vergangenheit haben Sie sich ebenfalls gegen die Expertise anerkannter Rechtswissenschaftler gesperrt, die im Bereich der Inklusion, des Kommunal-Soli und der Beamtenbesoldung große Bedenken in Bezug auf die Verfassungskonformität in aller Deutlichkeit geäußert haben. Heute wurde bekannt, wie Sie der Presse entnehmen können, dass zahlreiche Kommunen – 49 sind es mindestens – gegen den Kommunal-Soli klagen werden.

Verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich Ihrer Gesetzentwürfe wischen Sie also einfach mit einer Handbewegung weg und lassen es dann sozusagen auf den Versuch ankommen, was in diesen Fällen – das muss man eindeutig so festhalten – wohl schlichtweg Ihr politischer Wille ist.

(Lachen von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Das ist Ihr gutes Recht, niemand kann Sie hindern, genau so zu verfahren. Allerdings entsteht da bei mir – und nicht nur bei mir – folgender Anschein, der Sie auch ein Stück weit Ihrer Glaubwürdigkeit beraubt: Immer dann, wenn Sie etwas politisch wollen, spielt die Verfassungsmäßigkeit im Vorfeld keine Rolle, in allen anderen Fällen schwingen Sie sich zum Vorabrichter über Recht und Verfassung auf.

Vizepräsident Oliver Keymis: Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Schluss. Die drei Minuten sind um.

Robert Stein (fraktionslos): Ich bin sofort fertig. – Die vorgeschlagene Regelung der Piratenfraktion, die meines Erachtens eindeutig weniger strittig ist als so manches andere, was hier eingebracht wird, ist nicht nur einen Versuch wert, sie ist zwingend notwendig, damit das Sparkassengesetz nicht zu einem zahnlosen Tiger verkommt.

(Lachen von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Die Überweisung begrüße ich, Herr Mostofizadeh. Ich denke, wir alle haben noch etwas Klärungsbedarf. Wenn hinterher die Einsicht siegt, dass eine gesetzlich verankerte Veröffentlichungspflicht doch mitgetragen werden kann, wäre es umso schöner, wenn wir das auch erreichen würden. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Landesregierung in Vertretung des zuständigen Ministers Dr. Walter-Borjans Frau Ministerin Schäfer. Bitte schön.

Ute Schäfer, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport: Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Herr Stein, Sie sagen, verfassungsrechtliche Bedenken seien einfach beiseite gewischt worden. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen. Denn immerhin sprechen wir bei dem Transparenzgesetz über ein Gesetz, das in der 14. Legislaturperiode von allen Fraktionen einstimmig verabschiedet worden ist.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und der CDU)

Dem lag nicht die Rechtsauffassung der SPD zugrunde – das will ich noch mal eindeutig sagen –, sondern die Rechtsauffassung aller Experten und Expertinnen, die in das damalige Anhörungsverfahren eingebunden waren.

(Michele Marsching [PIRATEN]: Um das Gesetz geht es doch gar nicht!)

Ich möchte Sie schlicht und einfach bitten, sich sachkundig zu machen und vielleicht auch noch mal in den Parlamentspapieren nachzulesen, die man ja im Internet aufrufen kann. Und das ist doch nachdrücklich Ihre Stärke, die Sie immer wieder betonen.

Also: Es hat tatsächlich eine eingehende juristische Analyse gegeben. Es gab eine umfassende politische Diskussion. Mit der Hinwirkungspflicht der Träger wurde der bundesrechtlich vorgegebene Rahmen ausgeschöpft. Mehr war an der Stelle nicht möglich. Das hat das Land Nordrhein-Westfalen mit allen Fraktionen seinerzeit so beschlossen. Auf die Parlamentspapiere habe ich Sie hingewiesen; lesen Sie es einfach noch mal nach.

Sie hätten erkennen können, warum eine Hinwirkungspflicht der Träger von Sparkassen normiert wurde und warum eben keine direkte Verpflichtung der Sparkassen selber gesetzlich festgeschrieben werden konnte. Entgegen Ihrer Behauptung begründet die Hinwirkungspflicht der Träger von Sparkassen somit keinen Grund für eine Transparenzverweigerung der Sparkassen durch die Sparkassen selber.

Vizepräsident Oliver Keymis: Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Stein?

Ute Schäfer, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport: Ja, bitte.

Vizepräsident Oliver Keymis: Das ist nett von Ihnen. – Bitte schön, Herr Stein.

Robert Stein (fraktionslos): Vielen Dank, Frau Ministerin. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es mir in meinen Ausführungen nicht um das Transparenzgesetz aus dem Jahre 2009 ging, sondern dass ich allgemein meine Erfahrungen mit dem Habitus und der Art und Weise, wie vonseiten der rot-grünen Koalition in dieser Legislaturperiode mit solchen Dingen umgegangen wird, erwähnt habe? Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?

Ute Schäfer, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport: Herr Stein, Sie haben hier zu einem Gesetzentwurf der Piraten gesprochen. Zu Ihrer allgemeinen Haltung zu anderen Parteien hinsichtlich der Verfassung werde ich mich nicht äußern, dazu werde ich auch keine Stellung beziehen. Nur, Ihre Einschätzung, dass von diesem Parlament alle verfassungsrechtlichen Dinge beiseite gewischt würden, teile ich nicht. Das wollte ich zum Ausdruck bringen.

(Vereinzelt Beifall von der SPD – Zuruf von den PIRATEN: Trotzdem falscher Bezug!)

Im Übrigen, meine Damen und Herren von den Piraten, ist Ihnen dies im Haushalts? und Finanzausschuss am 19. September noch einmal in aller Ausführlichkeit dargelegt worden. Warum dann nur ganz kurze Zeit später wieder die Forderung kommt, die bestehende indirekte Regelung, also die Hinwirkungspflicht der Träger, durch eine direkte Regelung zu ergänzen, bleibt rätselhaft.

Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen, ein Wort zu dem von Ihnen angeregten elektronischen Informationsregister: Die Veröffentlichung der Jahresabschlüsse nebst Anhang im Elektronischen Bundesanzeiger ist bereits bundesgesetzlich vorgeschrieben. Der Bundesgesetzgeber hat somit die zentrale Publizität beim Elek-tronischen Bundesanzeiger festgelegt. Die zentrale Einreichung und die Speicherung der Unterlagen beim Elektronischen Bundesanzeiger erlauben eine einheitliche Handhabung der Darstellung für den Onlineabruf. – Das heißt, das, was Sie hier einfordern, gibt es bereits. – Es lässt sich also feststellen, dass all diese Daten öffentlich zugänglich sind, im Internet abrufbar, auch für die Piraten.

Es gab vor Kurzem – darauf hat Herr Mostofizadeh hingewiesen – eine umfassende und detaillierte Berichterstattung der Medien über die Gehälter der Sparkassenvorstände in Nordrhein-Westfalen. Es wurden konkrete Zahlen von Sparkassen miteinander verglichen. Die Berichterstattung hat gezeigt: Alle Angaben sind gut auffindbar und leicht auswertbar.

Jetzt noch mal zu der Zahl 99 von 105: In der Tat gibt es eine Entwicklung, einen Prozess. Man kann sagen, dass immer mehr Sparkassen die Dinge offenlegen, sowohl die Vorstände als auch die Verwaltungsräte. – Herr Witzel, die 29, die Sie eben angesprochen haben, die Ihnen auch genannt wurden, erklären sich damit, dass sie dieses im Jahr 2013 auch offenlegen wollen.

Ich weise noch mal darauf hin, dass der Finanzminister im März dieses Jahres einen Brief an die Sparkassenverbände geschrieben und nachdrücklich darauf hingewiesen hat, dass alles offengelegt werden muss. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch die sechs, die jetzt noch nicht berichtet haben, in den Prozess eingebunden werden. Für die sechs der 105 muss man nicht noch mal eine umfängliche parlamentarische Beratung machen; denn solche Dinge entwickeln sich. Ich kann für die Landesregierung nur sagen, dass hier alles unternommen worden ist, um das Transparenzgesetz mit dem gebotenen Nachdruck umzusetzen.

Noch eine Anmerkung zu Herrn Witzel. Sie haben gesagt, im Bundesanzeiger würden bestimmte Dinge nur gegen Kosten veröffentlicht. Dazu kann ich Ihnen mitteilen, dass der Bundesanzeiger grundsätzlich kostenlos veröffentlicht. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin. Bleiben Sie bitte am Pult. Es gibt eine Kurzintervention, angemeldet von der FDP-Frak-tion. Dazu gebe ich jetzt Herrn Witzel das Wort. Bitte schön, 90 Sekunden Kurzintervention.

Ralf Witzel (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin Schäfer, Sie haben gerade freundlicherweise auf einen Teil der Aspekte, die ich in meiner vorherigen Rede angesprochen habe, Bezug genommen. Weil ich Sie nicht mit einer direkten Konfrontation überraschen wollte, hatte ich vorab noch einen Punkt genannt mit der Bitte an die Landesregierung, auch dazu noch etwas zu sagen.

Mit Blick auf die Entwicklung haben Sie gerade zutreffend dargelegt, dass es mittlerweile – fünf Jahre, nachdem dieses Hohe Haus erstmals dazu Beschlüsse gefasst hat – eine Verbesserung gegeben hat.

Dennoch drängt sich die Frage auf, warum das Ganze bislang nicht aktiver von den Sparkassenverbänden betrieben worden ist. Herr Vizepräsident Jürgen Wannhoff von den Sparkassen hat ausweislich Ausschussprotokoll 16/279 in diesem Jahr im Ausschuss berichtet, dass nahezu 100 % der Sparkasseninstitute vor Ort die Regelungen einhalten. Das war zu einem Zeitpunkt, als Ihr Finanzminister für die Landesregierung festgestellt hat, dass in seinem Zuständigkeitsgebiet 19 von 71 Instituten dies noch nicht getan haben.

Deshalb bitte ich Sie, etwas zu dem Aspekt zu sagen, den ich eben auch angeschnitten habe: Hat es das Land angesichts der vielen im Paket stattgefundenen Verhandlungen mit den Sparkassen in diesem Jahr nicht versäumt, im Kontext mit Verzicht auf Sparkassenfusionen und anderen Fragen

(Zuruf von den GRÜNEN: Sind das noch 90 Sekunden?)

diesen Punkt verbindlicher zu verabreden?

Ute Schäfer, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport: Herr Witzel, wenn ich Sie richtig verstanden habe – ich bitte um Nachsicht; das ist nicht ganz mein Fachbereich –, dann ist der Träger im Grunde verantwortlich für die Hinwirkungspflicht. Die Hinwirkungspflicht des Trägers sieht so aus, dass zurzeit Verträge nur bei entsprechender Transparenz verlängert werden. Verlängert der Träger den Vertrag eines bislang intransparenten Vorstandsmitgliedes, so ist er hierfür gegenüber der Aufsicht begründungspflichtig. Ich denke, das übt einen entsprechenden Druck in den Gremien aus.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Ministerin, für die Beantwortung.

Nur zur Klarstellung: Herr Witzel hat genau 93 Sekunden für die Kurzintervention gebraucht. Hier wird alles ganz genau gemessen. Herrlich! Die Technik macht es möglich.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 16/4165 an den Haushalts- und Finanzausschussfederführend – sowie an den Ausschuss für Kommunalpolitik. Wer stimmt dem zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist einstimmig so überwiesen, wie es gute Tradition im Hause ist.

Tagesordnungspunkt

13       Gesetz zur Regelung des Strafvollzuges in Nordrhein-Westfalen (Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen – StVollzG NRW)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4155

erste Lesung

Ich eröffne die Beratung. Für die CDU-Fraktion hat unser Kollege Herr Kamieth das Wort. Bitte schön.

Jens Kamieth (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute sprechen, will die CDU-Landtagsfraktion von der Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen, die den Bundesländern und damit auch Nordrhein-Westfalen für den Strafvollzug durch die Föderalismusreform eingeräumt wurde.

Bereits zehn Bundesländer haben bisher eigene Strafvollzugsgesetze geschaffen. Rot-Grün hat das in NRW in den vergangenen drei Jahren leider versäumt, obwohl gerade der Strafvollzug in dieser Zeit immer wieder Negativschlagzeilen gemacht hat.

Der vorliegende Gesetzentwurf meiner Fraktion orientiert sich an den bestehenden Strafvollzugsgesetzen anderer Bundesländer. Wir schaffen damit die Grundlage für einen modernen und sicheren Strafvollzug. Gleichzeitig verbessern wir den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Dabei spielen Opferschutz und die Wiedereingliederung der Gefangenen in die Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Diese beiden Vollzugsziele – der Schutz der Allgemeinheit und die Wiedereingliederung der Gefangenen – sind gleichrangig.

Zu den Kernpunkten unseres Gesetzes: Der Opferschutz spielt darin eine wichtige Rolle. So muss zum Beispiel ein Vergewaltigungsopfer rechtzeitig darüber in Kenntnis gesetzt werden, wenn sein Peiniger wieder auf freien Fuß gesetzt wird, oder gegebenenfalls einen Auskunftsanspruch zur Durchsetzung von zivilrechtlichen Ersatzansprüchen gegen den Täter erhalten.

Die Devise der CDU lautet: Opferschutz vor Täterschutz.

(Beifall von der CDU)

Außerdem soll der geschlossene Vollzug laut § 13 unseres Gesetzentwurfs künftig der Regelvollzug werden. Damit schlagen wir ganz bewusst einen anderen Weg ein als das bislang geltende Strafvollzugsgesetz des Bundes, das den offenen Vollzug als Regelvollzug ansieht.

Wir sind der Ansicht, dass die Realität diesen sozialromantischen Denkansatz 35 Jahre nach Inkrafttreten des Bundesstrafvollzugsgesetzes eingeholt hat.

(Beifall von der CDU – Lachen von der SPD)

Denn tatsächlich, liebe Frau Kollegin Lüders: In Nordrhein-Westfalen sind rund 80 % der Gefangenen im geschlossenen Vollzug untergebracht, weil sie schlicht und einfach nicht für den offenen Vollzug geeignet sind.

(Zurufe von der SPD: Kerker! Mit Daumenschrauben!)

Drogenabhängigkeit, soziale, schulische, berufliche Defizite sind bei Gefangenen eben nicht die Ausnahme, sondern bedauerlicherweise der Regelfall. Und damit steht dies einem offenen Vollzug vielfach entgegen.

Durch die Normierung des geschlossenen Vollzugs als Regelvollzug passen wir das Recht also letztendlich der Vollzugswirklichkeit an.

Darüber hinaus kann auf diese Weise die große Anzahl von Fällen reduziert werden, in denen der offene Vollzug für Entweichungen oder für die Begehung von Straftaten missbraucht wird. Damit wollen wir nicht zuletzt auch die Reputation des Strafvollzuges und seiner Bediensteten in der Öffentlichkeit verbessern.

Durch umfangreiche Vorschriften zum Schutz der Anstalten, der Gefangenen und der Bediensteten gewährleistet unser Entwurf zudem ein Höchstmaß an Sicherheit. Ich denke an die offene optische Überwachung, § 45 Abs. 2 des Entwurfes, oder die Beobachtung, § 50 Abs. 2 Nr. 2 des Entwurfes. Das sind Maßnahmen, die nach der Pannenserie der letzten drei Jahre endlich wieder Ruhe und Ordnung in den nordrhein-westfälischen Strafvollzug einkehren lassen sollen.

Den strengen Regeln für die Sicherheit unserer Bevölkerung während der Haft stehen aber weitreichende Regeln für eine optimale Eingliederung bzw. Resozialisierung der Inhaftierten zur Seite. So wird die Entlassungsvorbereitung durch ein verzahntes Übergangsmanagement deutlich gestärkt. In diesem Zusammenhang wird der Vollzug dazu verpflichtet, bereits sechs Monate vor der Entlassung darauf hinzuarbeiten, dass der Gefangene nach seiner Entlassung über eine geeignete Unterbringung, eine Arbeits- oder Ausbildungsstelle verfügt und gegebenenfalls in nachsorgende Maßnahmen vermittelt wird.

Schließlich trägt unser Gesetzentwurf natürlich dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 Rechnung. Hiernach soll bei Gefangenen, bei denen anschließende Sicherungsverwahrung angeordnet oder im Urteil vorbehalten wurde, künftig schon der Vollzug der Haft darauf abzielen, eine Vollstreckung der Sicherungsverwahrung von vornherein zu vermeiden. Die dafür nötigen Behandlungsangebote sind in den §§ 66 bis 68 unseres Entwurfs festgeschrieben.

Aus Zeitgründen möchte ich auf die weiteren Neuerungen nicht im Detail eingehen. Ich rede von dem Verbot, Zellen mit mehr als drei Häftlingen zu belegen, von einem Aufwendungsersatzanspruch gegenüber Gefangenen, die vorsätzlich oder grob fahrlässig sich oder andere verletzt oder das Anstaltseigentum beschädigt haben, und nicht zuletzt von der Absage an das Entfernen von Tätowierungen oder sonstige kosmetische Behandlungen auf Kosten der Steuerzahler. Darüber haben wir bereits im Ausschuss lange gestritten. Im Gegensatz zu SPD und Grünen sind wir dagegen, dass diese Maßnahmen als Gesundheitsfürsorge weiterhin dem Steuerzahler aufzubürden sind.

Meine Damen und Herren, mit unserem Entwurf lade ich Sie ein, die Diskussion im Sinne eines rechts-sicheren, zukunftsgewandten und sicheren Strafvollzuges im Ausschuss weiterzuführen. Ich freue mich auf die Diskussion, gerne auch über die zugerufene Kostenfrage. Dazu haben wir auch schon einige Ideen parat, liebe Frau Hanses. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege. – Nun spricht für die SPD-Fraktion Frau Lüders.

Nadja Lüders (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich lobe Ihre Fleißarbeit, Herr Kamieth, und die Ihrer Fraktion bei dem vorgelegten Gesetzentwurf. Guckt man aber genauer hin, erkennt man, dass Sie sich dafür eben nicht die anderen zehn Strafvollzugsgesetze der Länder angeguckt haben, sondern lediglich alles aus der Schublade der ehemaligen Justizministerin Frau Müller-Piepenkötter gezogen haben.

Wie Sie wissen, bereiten wir seit 2012 ein Strafvollzugsgesetz hier im Lande vor. Wir haben 2012 die Leitlinien dazu verabschiedet. Sie haben sich damals nicht daran beteiligt. Bei uns gilt eben: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Ich will es vorwegnehmen: Ihr Gesetzentwurf zeigt teilweise gute Ansätze, ist zugleich aber auch sehr rückwärtsgewandt.

Ein positiver Aspekt ist der Opferschutz. Den stellen Sie richtigerweise in die Mitte Ihres Gesetzes. Wenn ich aber Ihren Sprechzettel lese, auf dem Sie wieder einmal in einer abstrusen Weise einen Vorfall darstellen, der persönliche Rückschlüsse auf das Opfer zulässt, frage ich mich ernsthaft, ob Sie es mit dem Opferschutz wirklich so genau nehmen.

Die absolute Rückwärtsgewandtheit zeigt sich darin, dass Sie den geschlossenen Vollzug als Regelvollzug einführen wollen. Da verkennen Sie nicht nur die Realitäten, sondern jedwede empirische Forschung, die besagt, dass alleine der offene Vollzug ein wesentliches Element der Resozialisierung ist.

Insbesondere – darauf lege ich besonderen Wert – verkennen Sie gerade die Situation von Frauen im Vollzug. Denn nur der offene Vollzug gewährleistet eine Bindung an die Familie, an die Kinder. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf gerade mal zwei Sätze dazu gesagt, wie Sie gedenken mit schwangeren Gefangenen umzugehen.

Das Wegsperren alleine bietet keine Sicherheit. Für uns ist ein effektiver Behandlungsvollzug, wie wir ihn für unser Strafvollzugsgesetz in NRW vorsehen, der richtige Weg.

Sie haben gerade gesagt, dass Sie tatsächlich darüber nachdenken, einen sinnvollen Vollzug anzuwenden. Dazu komme ich konkret auf § 5 Abs. 2 Ihres Gesetzentwurfs zu sprechen. Dort heißt es richtigerweise:

„Den Gefangenen sollen gezielt Maßnahmen angeboten werden, die ihnen die Möglichkeit eröffnen, sich nach Verbüßung der Strafe in die Gesellschaft einzugliedern“

– das ist erst mal positiv; aber im Nachsatz formulieren Sie dann aber eine Einschränkung –,

„soweit sie solcher Maßnahmen bedürfen und solche für sich nutzen können.“

Gefangenen fehlt es aber leider oftmals an der Erkenntnis, was ihnen tatsächlich nützt. Deswegen liegt für uns der Sinn eines Behandlungsvollzuges darin, dass die Gefangenen erst einmal Kompetenzen erlernen müssen, um straffrei zu leben.

(Beifall von der SPD)

Und deswegen ist auch Ihre ach so tolle CDU-Neuheit der festgeschriebenen Belegungszahl von maximal drei Gefangenen nichts Neues. Die ist schon im Bundesstrafvollzugsgesetz normiert. Ich kann zwar nicht ganz nachvollziehen, dass Sie das über alle Maße loben; aber das mag Ihnen zugestanden werden.

Positiv bewerten wir sicherlich, dass Sie von verzahntem Übergangsmanagement reden. Das ist der richtige Weg. Beim Blick in Ihr Regelungswerk wird mir allerdings ein wenig übel, muss ich sagen. Denn danach soll die elektronische Fußfessel als Mittel der Weisung eingesetzt werden.

(Hans-Willi Körfges [SPD]: Hört, hört!)

Rein rechtssystematisch habe ich dieses Mittel immer als ein Mittel der Führungsaufsicht verstanden. Sie können mich im Ausschuss sicherlich eines Besseren belehren.

(Beifall von der SPD)

Darüber hinaus führen Sie aus, dass Sie insbesondere das Sicherheitsverwahrungsvollzugsgesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgreifen wollen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie haben wahrscheinlich am 24. April 2013 in diesem Saal gepennt; denn damals haben wir in zweiter Lesung das Sicherheitsverwahrungsvollzugsgesetz NRW verabschiedet und uns genau diese Regelungen vorgenommen.

Des Weiteren heben Sie die Sicherheit hervor, die Sie in dem Gesetz geregelt haben wollen. Sie haben dabei aber nichts anderes gemacht, als die Regelungen des Bundesgesetzgebers zu übernehmen. Was daran neu sein soll, weiß ich nicht. Unserer Meinung nach sind diese Regelungen weiterzuentwickeln. Das ist der richtige Weg. Und da geht nun mal Gründlichkeit vor Schnelligkeit.

Ich möchte noch kurz auf das Thema „Tätowierungen“ eingehen, das Sie ja schwer zu beunruhigen scheint. Sie sollten mal Ihren Gesetzentwurf richtig lesen, wonach auf die Entfernung von Tätowierungen aus kosmetischen Gründen kein Anspruch bestehen soll. Die Entfernung von Tätowierungen aus kosmetischen Gründen hat es in Justizvollzugsanstalten nie gegeben. Es gab immer nur Entfernungen von tätowierten Symbolen, die wie die Knastträne oder die drei Punkte auf dem Daumen stigmatisieren. Eines ist mir dabei besonders wichtig – und dafür ist jeder Cent an Steuergeld richtig investiert ?, und zwar dass wir verfassungsfeindliche Symbole bei denjenigen, die wir in die Freiheit entlassen wollen, entfernen können. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Kollegin Lüders. – Für die grüne Fraktion spricht nun Frau Hanses.

Dagmar Hanses*) (GRÜNE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass der vorgelegte Gesetzentwurf der CDU zum Strafvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen eine Fleißarbeit ist, möchte ich ebenfalls infrage stellen. Denn ich habe durchaus Parallelen zu Regelungen benachbarter Bundesländer gefunden.

Ich erlebe die CDU an der Stelle ungeduldig. Das ist das gute Recht der Opposition, ungeduldig zu sein und Gesetze einzufordern und hier auch eigene Entwürfe vorzulegen. Doch, liebe CDU, nur Geduld, mit der Zeit wird aus Gras Milch. Denn Sie wissen, für uns sind Grundlage für ein Strafvollzugsgesetz die Leitlinien des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen. In 13 Schwerpunkten hat die Landesregierung im Juni 2012 veröffentlicht, was in einem breiten Prozess mit den Leuten aus der Praxis erarbeitet wurde. Schade, dass Sie diese geschätzten und anerkannten Leitlinien nicht so eingearbeitet haben, wie wir uns das vorstellen.

Wir sehen in Ihrem Entwurf eine Überbetonung von Sicherheit und Strafe. Dabei verdrängen Sie, dass jede Haft irgendwann endet und dass es deshalb wichtig ist, die Resozialisierung als das vorrangige Ziel des Vollzugs zu beschreiben. Sie sagen, Sicherheit und Schutz der Allgemeinheit seien ein Ziel. Aber wir denken, das ist eher eine Methode und nicht das Ziel.

Zu dem konsequenten verzahnten Übergangsmanagement in Ihrem Entwurf haben wir noch erheblichen Gesprächsbedarf. Da freuen wir uns auf die Beratungen.

Wir denken, dass verbindliche vollzugsöffnende Maßnahmen – dazu gehören eben auch Ausführungen, aber die fehlen da gänzlich – eingearbeitet werden müssen, damit Resozialisierung gelingen kann.

Wir begrüßen auch, dass Sie den Opferschutz aufgenommen haben. Doch Ihre Gleichung „Opferschutz vor Täterschutz“ geht aus unserer Sicht nicht auf. Denn eine aktive Täterarbeit ist für uns der beste Opferschutz für morgen. Wir brauchen jetzt Instrumente für die Menschen, die jetzt Opfer von Gewalt geworden sind. Auch die haben ein Recht auf Information, Beratung und Begleitung.

Ihre Ansätze zum Bereich Arbeit, Ausbildung, Weiterbildung – das ist ein Bereich, der uns noch besonders wichtig ist – sind ein erster Schritt. Auch da lohnt sich die weitere Beratung.

Ich habe zu einem Paragrafen noch eine Frage. Das werden wir sicher im Ausschuss noch besprechen. Aber die kann ich ja hier schon mal stellen. Sie beschreiben in § 74 die Unterbringung von Gefangenen mit Kindern. Meinen Sie die Mutter-Kind-Einrichtung in Fröndenberg? Oder sollte die Justiz eine Vater-Kind-Gruppe schaffen? Oder ist das einfach bei der Übernahme des Textes aus dem benachbarten Landes so geblieben, denn da wird nur von „Gefangenen“ gesprochen und nicht von „Müttern“? Diese und andere Fragen haben wir.

Noch eine Anmerkung zum Schluss: Die Reputation des Strafvollzuges haben Sie hier zu Recht angesprochen, die öffentliche Wahrnehmung des Strafvollzuges auch in den Medien. Dazu tragen wir, glaube ich, hier gemeinsam bei. Daran, wie wir über Inhaftierte sprechen, ob wir sie als Menschen wahrnehmen. können wir gemeinsam arbeiten. Ich erlebe da in den letzten Monaten an der einen oder anderen Stelle positive Entwicklungen. Es hilft den Menschen draußen, den Menschen, die da drin arbeiten, und den Menschen, die dort leben, wenn wir den Strafvollzug nicht skandalisieren, sondern sachlich darüber sprechen.

Ich war auch verwundert über die Betonung der Tätowierung. Dem, was die Kollegin Lüders dazu gesagt hat, kann ich mich nur voll anschließen.

Ansonsten freuen wir uns auf die weiteren Beratungen im Ausschuss und sind gespannt, wie wir in der Sache weiterkommen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Frau Hanses. – Angesichts der fragenden Gesichter einiger Kollegen werden Sie sicher für eine Antwort bereitstehen. Die guckten so ein bisschen, als Sie sagten, aus Gras würde Milch. Das klären Sie dann bitte im Einzelnen mit denen.

(Heiterkeit)

– Manche haben schon eine Ahnung.

Kommen wir zum nächsten Redner. Für die FDP-Fraktion steht Herr Kollege Wedel bereit. Sie haben das Wort. Bitte schön.

Dirk Wedel (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Föderalismusreform I steht den Ländern die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug zu. Da in Nordrhein-Westfalen bisher für den Vollzug der Freiheitsstrafe an Erwachsenen von dieser noch kein Gebrauch gemacht wurde, erscheint es lobenswert, dass die CDU-Fraktion heute einen Gesetzentwurf für ein Strafvollzugsgesetz NRW vorgelegt hat.

(Zuruf von Hans-Willi Körfges [SPD])

In der Tat besteht erheblicher Handlungs- und Modernisierungsbedarf. Allein schon die dringliche und begründete Frage nach den resozialisierenden und desozialisierenden Wirkungen des Strafvollzugs erfordert eine Überprüfung und Anpassung bestehender Vollzugskonzepte.

Das gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass das in Nordrhein-Westfalen weiterhin geltende Strafvollzugsgesetz des Bundes von 1976 neuere Erkenntnisse und Entwicklungen lediglich in geringem Umfang abbildet.

Positiv hervorzuheben ist auch, dass Sie in Ihrem Entwurf ausdrücklich Regelungen für Gefangene mit angeordneter und vorbehaltener Sicherungsverwahrung treffen. Solche Vorschriften fehlen in NRW ja noch, was wir bei den Beratungen des Sicherheitsverwahrungsvollzugsgesetzes moniert haben.

Der Gesetzentwurf der CDU stellt in weiten Teilen eine Kopie des in Hessen geltenden Strafvollzugsgesetzes dar. Leider, meine Damen und Herren von der CDU, haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf aber wesentliche Elemente des Behandlungsvollzuges gegenüber dem hessischen Gesetz verkürzt. Lassen Sie mich dies im Einzelnen erläutern.

Der Entwurf erhebt in § 13 Abs. 1 den geschlossenen Vollzug zum Regelfall, ohne dass der offene Vollzug – anders als im hessischen Gesetz – auch nur erwähnt wird. Nicht jeder Gefangene ist für den offenen Vollzug geeignet. Das wissen auch wir, meine Damen und Herren. In NRW sind etwa 30 % der Inhaftierten im offenen Vollzug untergebracht. Möchten Sie das zurückdrehen? Jeder Gefangene hat eine andere Persönlichkeit. Aus unserer Sicht ist daher ein individuell-zentrierter Behandlungsansatz der richtige Weg. Der kann durch die Unterbringung im offenen Vollzug bei entsprechender Eignung und durch geeignete Vollzugslockerungen insbesondere in der Entlassungsvorbereitung beschritten werden.

Meine Damen und Herren, auch an dieser Stelle haben Sie das hessische Gesetz gekürzt. Für Gefangene, die in sozialtherapeutischen Anstalten eine besonders intensive Betreuung erfahren, haben Sie die Besonderheiten der Entlassungsvorbereitung gleich ganz aus dem Gesetzestext – in Hessen § 16 Abs. 3 – entfernt.

Dabei wissen wir doch, dass der in einer solchen Anstalt Untergebrachte ein besonderes Therapiebedürfnis hat und dementsprechend mitunter auch in der Entlassungsvorbereitung anders behandelt werden muss, als das im Regelvollzug der Fall ist.

Das sogenannte Tätowierungsentfernungsverbot – § 24 Abs. 1 – greift einen kürzlich im Rechtsausschuss beratenen Einzelfall auf.

Aber, meine Damen und Herren, was machen Sie denn mit denen, bei denen etwa verfassungsfeindliche Symbole entfernt werden müssen, damit das Vollzugsziel, die Loslösung von Extremisten, erreicht werden kann?

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Ist das Entfernen eines solchen Symbols dann auch unzulässig? Außerdem sollte sich, wie ich meine, Gesetzgebung nicht an Einzelfällen orientieren.

(Beifall von der FDP – Vereinzelt Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Für rechtsstaatlich nicht erträglich erachte ich schließlich § 50 Abs. 4 Ihres Entwurfs. Da muss, damit bei Ausführung die Fesselung des Gefangenen unterbleibt, anders als in Hessen positiv feststehen, dass keine Entweichungsgefahr besteht. Diese Feststellung wird man aber mit dieser Sicherheit kaum jemals treffen können, sodass es de facto nur noch gefesselte Ausführungen geben würde.

(Zuruf von der SPD: Knebel!)

Schlussendlich haben Sie in § 74 auf Mutter-Kind-Einrichtungen im Vollzug gleich ganz verzichtet – und das, obgleich wir wissen, dass Kinder Inhaftierter als mitbestrafte Dritte angesehen werden können, für die es besonderer Maßnahmen bedarf. Meine Fraktion hat hierzu kürzlich einen Antrag eingebracht, der derzeit im Rechtsausschuss behandelt wird.

Insofern sehe ich noch umfassenden Diskussionsbedarf und freue mich in ganz besonderer Weise auf die Beratungen im Fachausschuss. – Vielen Dank.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Wedel. – Für die Piratenfraktion spricht Herr Schulz.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich sehe erheblichen Diskussionsbedarf im Ausschuss. Wie wir in dieser Legislaturperiode in mehreren Bereichen der Justizgesetzgebung feststellen mussten, fehlt ein Strafvollzugsgesetz NRW, sodass ich insbesondere auf die Beratungen zum Jugendstrafvollzugsgesetz, aber auch, wie in der Debatte schon erwähnt, auf die Gesetzgebungspraxis zum Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz Bezug nehme.

An verschiedenen Stellen hatten wir gesagt: Oh, da kommt ja noch ein Strafvollzugsgesetz. Lasst uns das dann gegebenenfalls generaliter regeln. – In diese Lücke – so könnte man meinen – stößt nunmehr die CDU und legt einen Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes vor. Das ist insofern beachtenswert, als er vorgelegt wird.

Wie Herr Kollege Wedel über die einzelnen Aspekte zu sprechen, würde den zeitlichen Rahmen sprengen. Ich habe bereits auf sechs oder sieben eng beschriebenen DIN-A-4 Seiten verschiedene Kritikpunkte aufgeführt. Ich möchte also an dieser Stelle keinen Katalog der Einzelkritikpunkte aufmachen. Dafür haben wir sicherlich noch im Verlauf der Beratungen im Ausschuss Zeit und Gelegenheit.

Ich möchte allerdings einige Aspekte hervorheben und dabei ganz besonders auf die doch so strikte Abkehr vom offenen Vollzug als Regelvollzug eingehen. Ganz ehrlich, Law and Order ist eine feine Sache, aber eine Rückkehr in Zeiten jenseits der vorletzten Jahrhundertwende wollen wir doch sicherlich nicht.

(Hans-Willi Körfges [SPD]: Da war nicht alles schlecht!)

– Da war sicherlich nicht alles schlecht, Herr Körfges, aber ich glaube, lieber Herr Kollege, Sie meinten das jetzt anders, als es jetzt vielleicht gewertet werden könnte.

Vollzugsziele, Opferschutz: Ja, darauf können wir uns selbstverständlich einigen als einen ganz wesentlichen Aspekt im Bereich der Adhäsion und im Bereich des Ausgleichs von Opfern, Opferschutz vor Täterschutz, keine zweite Meinung dazu.

Allerdings halte ich es für falsch, den Resozialisierungsgedanken hier völlig über Bord zu werfen. Wenn wir das als Begründungsansatz, sehr geehrter Herr Kollege Kamieth, für die Abkehr vom offenen Vollzug als Regelvollzug sehen, wird mir – das muss ich ganz ehrlich sagen – ein bisschen schwarz vor Augen. Da haben Sie nämlich ausgeführt: Soziale und schulische Defizite stehen einem offenen Vollzug grundsätzlich entgegen. – Sorry, Herr Kollege Kamieth, aber diesem Gedanken vermag ich nicht zu folgen. Wahrscheinlich gilt das auch meine Fraktion; wir haben es noch nicht im Detail erörtert.

Gleichzeitig konnte ich mir bei der Lektüre des Gesetzentwurfs an einigen Stellen ein leichtes Schmunzeln – bei aller Ernsthaftigkeit – nicht verkneifen. Denn wir treffen an vielen Stellen alte Bekannte, auch aus der Beratungspraxis in dieser Legislaturperiode:

Ich nenne zum Beispiel die Nr. 8 der Leitlinien in § 46 des Entwurfs die Hintertür: jeder JVA ihren eigenen Drogenspürhund. Das war ein Antrag der FDP vom 15. Mai 2013. Hier muss man beachten – das kam auch in den Beratungen heraus –, dass bereits mit Drogenspürhunden gearbeitet wird. Die FDP wollte aber für jede Haftanstalt einen eigenen Hund.

Ein ähnliches Schicksal teilen auch § 8 Abs. 4 und § 39 Abs. 5 des Entwurfs. Die dortigen Normierungen stellen wieder Hintertüren für einen abgelehnten Antrag der CDU-Fraktion vom 24. April 2013 dar. Darin ging es um die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch gemeinnützige Arbeit. Sehr pikant allerdings ist das im Entwurf genannte Beispiel, dass die Gefangenen zehn Jahre arbeiten sollen, um auf diese Weise ihre Verfahrenskosten zu tilgen. Wenn man das hochrechnet und berücksichtigt, dass die Leute auch noch Taschengeld und nach der Entlassung Überbrückungsgeld brauchen, muss man sich fragen, ob das innerhalb von zehn Jahren überhaupt leistbar ist.

Man könnte die Liste noch fortsetzen. Nicht zuletzt sprach Frau Kollegin Lüders an, dass Frauen als Gefangene nicht so berücksichtigt sind. Uns fehlt zum Beispiel auch eine Regelung bezogen auf die immer älter werdenden Gefangenen. Auch darüber wird man sicherlich noch reden müssen.

Insgesamt bietet dieser Gesetzentwurf eine Menge Diskussionsstoff. Wir werden die Debatte wahrscheinlich über einen längeren Zeitraum führen müssen. Ich bin gespannt, was der Herr Justizminister dazu noch zu sagen hat. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. – Danke.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Schulz. – Herr Justizminister Kutschaty hat das Wort. Bitte schön.

Thomas Kutschaty, Justizminister: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Landesregierung arbeitet intensiv an verschiedenen gesetzlichen Grundlagen für den Justizvollzug in Nordrhein-Westfalen. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass seit Mitte 2010 im Bereich des Justizvollzugs schon drei Gesetzentwürfe der Landesregierung verabschiedet worden sind, darunter das Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz und das Jugendarrestvollzugsgesetz, das bundesweit das Erste seiner Art war.

Der Regierungsentwurf für ein Erwachsenenlandesstrafvollzugsgesetz ist auf Fachebene fertiggestellt und soll so bald wie möglich dem Landtag zugeleitet werden. Bei der Ausarbeitung lege ich aber, anders als die CDU, besonderen Wert auf eine qualifizierte Beteiligung vor allem der Vollzugspraxis, um einen ausgewogenen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen, der den Bedürfnissen aller möglichst langfristig gerecht wird. Das kostet etwas mehr Zeit. Diese sollten wir uns nehmen. Das halte ich nicht nur für äußerst wichtig, sondern auch für handwerklich geboten.

Bis zum Inkrafttreten eines Landesstrafvollzugsgesetzes besteht auch keine Regelungslücke, die zu einem übereilten Handeln nötigt, da die Regelungen des Bundesstrafvollzugsgesetzes fortgelten. Eine Beeinträchtigung der „Einheitlichkeit vollzuglicher Grundsätze“, so der CDU-Antrag, erschließt sich mir daher auch nicht.

Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist aber schon deshalb abzulehnen, weil er nahezu eins zu eins – Herr Kollege Wedel hat es dankenswerterweise dargestellt – dem hessischen Strafvollzugsgesetz entspricht. Wir haben, abgesehen von einigen Änderungen, die Verweise auf hessische Normen betreffen, sage und schreibe in 84 Paragrafen mit rund 300 Absätzen nur sieben Veränderungen gezählt. Schon in der Terminologie weicht der Entwurf von unseren Landesgesetzen ab, sodass er sich keineswegs, wie behauptet, in unsere Vollzugsgesetze einbetten lassen würde.

Das Vollzugsgesetz eines anderen Bundeslandes abzuschreiben – ja, das hätten auch wir schon vor drei Jahren tun können. Zwar gibt es bei Gesetzen keinen Urheberrechtsschutz, aber wir haben den Anspruch, ein für Nordrhein-Westfalen passendes Gesetz auszuarbeiten.

Der vorgelegte – man möchte hier Anführungszeichen hinzusetzen – Entwurf der CDU-Fraktion enthält inhaltlich an der einen oder anderen Stelle begrüßenswerte Regelungen. Er enthält aber zuvörderst infolge versäumter Anpassungen auch zahlreiche handwerkliche Schwächen sowie unaufgeklärte Widersprüche zu geltendem Landesrecht und neueren Bundesgesetzen und berücksichtigt die Bedürfnisse der Vollzugspraxis nur unzureichend. Der Entwurf schweigt zu notwendigen Kostenfolgen und verzichtet auch darauf, schlüssige Modelle zur Umsetzung aufzuzeigen.

Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Regelung zu den Opferinformationsrechten berücksichtigt weder das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26. Juni dieses Jahres noch die europäischen Mindeststandards der sogenannten zweiten Opferschutzrichtlinie. Auch die Vorgaben des Gesetzes zur Verbesserung der Sicherheit in Justizvollzugsanstalten vom 27. Oktober 2009 finden nur eingeschränkt Berücksichtigung.

Die Regelung zur Sozialtherapie in § 12 des Entwurfs erweitert zwar, bundesweite Kritik aufgreifend, in grundsätzlich begrüßenswerter Weise den Kreis der zur Sozialtherapie zugelassenen Gefangenen. Den Kreis zu erweitern ist sicherlich sinnvoll, löst aber einen erheblichen Mehrbedarf an sozialtherapeutischen Plätzen aus, der im Haushaltsplan nicht so einfach aufzufangen ist.

Auch darüber hinaus vermag dieser Entwurf nicht zu überzeugen. Er weist offene Widersprüche zu den von der Landesregierung bereits im Jahr 2012 beschlossenen Leitlinien für den Strafvollzug auf. Die Resozialisierung der dem Strafvollzug anvertrauten Gefangenen sollte oberste Richtschnur für die Vollzugsgestaltung sein. Entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung ist den Gefangenen im Rahmen eines aktivierenden Behandlungsvollzugs eine echte Chance auf eine Resozialisierung einzuräumen. Die Möglichkeiten der Unterbringung von Gefangenen im offenen Vollzug sind auszuschöpfen, um einen unnötigen Verlust von sozialen Bindungen zu vermeiden.

Der vorgelegte Entwurf erklärt hingegen den geschlossenen Vollzug zum Regelvollzug. Der Bevölkerung wird eine absolute Sicherheit vorgespielt, die es im Vollzug und auch in anderen Lebensbereichen, wie man ehrlicherweise sagen muss, nicht geben kann. Der Entwurf birgt die Gefahr, dass Entscheidungen einseitig zulasten von lockerungsgeeigneten Gefangenen getroffen werden, ohne dass im berechtigten Interesse der Allgemeinheit und der Opfer tatsächlich auch ein Mehr an Sicherheit eintritt.

Der verfassungsrechtliche Resozialisierungsauftrag erfordert schließlich auch eine Stärkung der Außenkontakte der Gefangenen. Die im Entwurf der CDU vorgesehene eine Stunde Regelbesuchszeit bleibt insoweit aber – um nur ein Beispiel zu nennen – hinter dem Standard anderer Bundesländer zurück.

(Beifall von der SPD)

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns daher in diesem wichtigen Bereich des Strafvollzugs nichts über das Knie brechen, sondern konstruktiv an einem ausgewogenen, auf den Vollzug in Nordrhein-Westfalen zugeschnittenen Entwurf arbeiten. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Minister Kutschaty. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat hat die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 16/4155 an den Rechtsausschuss empfohlen. Wer stimmt dem zu? – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall, und damit ist er einstimmig überwiesen.

Wir kommen zu:


14       Gesetz zur Änderung des Polizeiorganisationsgesetzes (POG NRW)

Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU
Drucksache 16/4157

erste Lesung

Ich eröffne die Beratung und erteile noch einmal dem Herrn Kollegen Kamieth das Wort. Bitte schön.

Jens Kamieth (CDU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Zoll ist eine Bundesbehörde. Gemäß den Vorschriften des Zollverwaltungsgesetzes ist er unter anderem für die Überwachung der Zollgrenzen sowie für die Einnahme von Bundessteuern, von Zöllen für die Europäische Union und für die Einfuhrumsatzsteuer zuständig. Er verhindert die Zufuhr von Fälschungen in den Wirtschaftskreislauf und vollstreckt öffentlich-rechtliche Geldforderungen des Bundes. Insgesamt schützt der Zoll somit die Wirtschaft vor Wettbewerbsverzerrungen, die Verbraucher vor mangelhaften Waren aus dem Ausland und die Bevölkerung vor den Folgen grenzüberschreitender organisierter Kriminalität.

Zu diesem Zweck sind die Zollbeamten auch in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Wenn sie dabei zollbehördliche Kontrollen durchführen, kommt es vor, dass beispielsweise Mängel an einem Lastkraftwagen auffallen oder dass sie bemerken, dass Fahrzeugführer unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stehen. Allerdings fehlt dem Zoll bisher die gesetzliche Befugnis, um entsprechenden Verdachtsmomenten nachzugehen. Deshalb müssen die Zollbeamten in diesen Fällen die Polizei verständigen. Den verdächtigen Fahrzeugführer bzw. das verdächtige Fahrzeug dürfen die Zollbeamten jedoch nur so lange festhalten, wie ihre zollbehördliche Kontrolle andauert.

Erscheint die Polizei also nicht rechtzeitig bis zum Abschluss der zollbehördlichen Kontrolle, so müssen die Zollbeamten den Lkw mit erheblichen Mängeln oder den unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehenden Fahrer weiterfahren lassen.

Dieser Zustand ist aus Sicht der CDU-Fraktion nicht hinnehmbar. Deshalb bringen wir den vorliegenden Gesetzentwurf ein, der eine Änderung der nordrhein-westfälischen Polizeiorganisation vorsieht. Dadurch erhalten die Beamten der Zollverwaltung die notwendige Eilkompetenz, um mögliche Tatverdächtige in Zukunft bis zum Eintreffen der Polizei an ihrer Weiterfahrt zu hindern.

Die Zollbeamten werden damit übrigens den Beamten der Bundespolizei gleichgestellt, denen § 9 des nordrhein-westfälischen Polizeiorganisationsgesetzes schon heute eine entsprechende Befugnis einräumt. Die mit unserem Gesetzentwurf vorgeschlagene Gleichstellung von Bundespolizei und Zoll ist aus meiner Sicht nicht nur sachgerecht, sondern längst überfällig. Es leuchtet jedenfalls nicht ein, weshalb der uniformierte und bewaffnete Zollbeamte in entsprechenden Einsatzsituationen in Nordrhein-Westfalen schlechter gestellt sein sollte als die Beamten der Bundespolizei.

Im Ergebnis wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf für alle Bürgerinnen und Bürger Nordrhein-Westfalens ein Zuwachs an Sicherheit geschaffen. Andere Bundesländer wie zum Beispiel Bayern, Baden-Württemberg oder Brandenburg haben ihre Polizeigesetze bereits vor einiger Zeit entsprechend geändert. Im rot-rot regierten Brandenburg wurde die Änderung übrigens durch einstimmigen Beschluss aller im Landtag vertretenen Fraktionen vorgenommen. Ich gehe deshalb davon aus, dass auch der Gesetzentwurf in diesem Hohen Haus auf breite Zustimmung treffen wird, und bitte darum, der Überweisungsempfehlung in den Innenausschuss zuzustimmen. – Vielen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt spricht für die SPD-Fraktion Kollege Stotko.

Thomas Stotko (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Überweisungsempfehlung zuzustimmen, das ist das einzige, was wir machen können, so leid mir das tut. Denn bezüglich der Entstehung dieses Gesetzentwurfs, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, frage ich mich schon: Woher kommt der? – Man schaut ein bisschen herum und stellt fest: Einen fast wortgleichen Antrag hat die CDU-Fraktion im Dezember letzten Jahres in Bremen gestellt. Dazu sage ich: Gut abgeschrieben! – Die Vollzugsbeamten der Zollverwaltung waren nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei uns in diesem und im letzten Jahr und haben dafür geworben.

Was mich – nachdem wir die Entstehung geklärt haben – jedoch ein bisschen wundert, ist, dass Sie selber den Betroffenen nicht gesagt haben, dass es gar keinen Sinn macht, und dass Sie denen nicht das Gleiche gesagt haben, was Sie denen während Ihrer Regierungszeit im Jahr 2009 gesagt haben. Im Jahr 2009 hat die abgewählte CDU/FDP-Landesregierung unter Innenminister Wolf eine Untersuchung in Auftrag gegeben, um genau das zu prüfen, und ist zu dem Ergebnis gekommen: Es gibt keinen Bedarf. – Das hat sie im Übrigen auch dem Bundesfinanzminister mitgeteilt.

(Zustimmung von Dr. Robert Orth [FDP])

– Dankbarerweise sind Herr Orth und ich einmal einer Meinung. Dass ich das hier noch erleben darf.

„Es gibt keinen Bedarf“ – das war die feste Auffassung der alten Landesregierung. Warum Sie das zu Ihrer Regierungszeit abgelehnt haben, aber jetzt als Opposition fordern, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, erschließt sich mir nicht.

Am wenigsten nachvollziehbar ist für mich, dass Sie gerade selber sagen: Wir brauchen Einheitlichkeit! Das ist überfällig! Wir reden über die Gleichstellung mit der Bundespolizei! – Wer regiert denn in der Bundesrepublik? Wer kann denn die Gleichstellung der Bundespolizisten mit den Mitarbeitern des Bundes bei der Zollverwaltung bundesweit ganz leicht herstellen? – Das sind doch Sie im bisherigen Deutschen Bundestag und wenn wir über Koalitionsverhandlungen reden, dann von mir aus auch im zukünftigen Deutschen Bundestag.

Wir können doch den Menschen schlecht erklären, dass es einen Flickenteppich gibt, dass es für einen Straftäter, über den Sie gerade gesprochen haben, einen Unterschied macht, wenn er auf der A45 fährt, ob er in Burbach in Nordrhein-Westfalen oder in Haiger in Hessen, ein paar Kilometer weiter, angehalten wird.

Diesen Unterschied können nur Sie beheben. Sie haben nicht zufällig nur drei Bundesländer von 16 benannt. Wenn wir das bundesweit regeln wollen, frage ich: Wo sind denn Ihre Initiativen im Deutschen Bundestag während der letzten Jahre gewesen? – Es gibt keine.

Es ist, glaube ich, gut, wenn sich Bundeszollbeamten und Landespolizei heute in Verbindung setzen und der Zoll sagt: Wir machen demnächst eine Schwerpunktkontrolle. Es könnte sein, dass wir uns bei euch melden bei dem Versuch, jemanden festzuhalten, bei dem wir festgestellt haben, dass es ein flüchtiger Straftäter oder jemand ist, der unter Alkohol- oder Drogenmissbrauch fährt.

Deshalb zum Abschluss: Ihr Gesetzentwurf gehört nicht hierhin, sondern in den Deutschen Bundestag. Wir werden daher Ihren Entwurf ablehnen und befinden uns dabei übrigens in guter Gesellschaft. Denn der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei fordert ebenfalls – gemeinsam mit uns – eine bundesweite Regelung. Ein schönes Thema für Koalitionsverhandlungen in Berlin! – Besten Dank.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Stotko. – Für die grüne Fraktion spricht nun Frau Schäffer.

Verena Schäffer (GRÜNE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits heute haben die Bediensteten der Zollverwaltung hoheitliche Aufgaben wie zum Beispiel das Anhalten von Personen mit Waren im Rahmen der Überwachung des Verkehrs im grenznahen Bereich, das heißt bis zu einer Tiefe von 30 km von der Grenze bis ins Landesinnere. Allerdings finde ich schon, dass man bei der Forderung nach einer Ausweitung der Befugnisse, die letztendlich Rechte der Betroffenen einschränken, grundsätzlich darüber reden muss, ob es diese Notwendigkeit überhaupt gibt. Ich finde es grundsätzlich auch problematisch, zu sagen: Wir weiten Befugnisse einfach mal so aus.

Mit diesem Gesetzentwurf wollen Sie die Eingriffsbefugnisse unserer Landespolizei auf die Vollzugsbeamtinnen und -beamten des Bundesfinanzministeriums übertragen, was – dem können wir uns auch anschließen – offensichtlich von vielen als nicht notwendig erachtet wird.

Das Thema als solches ist nicht wirklich neu. Die Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft fordert die Eilbefugnisse für die Vollzugsbediensteten der Zollverwaltung in den entsprechenden Landespolizeigesetzen, sagt aber eigentlich auch, dass wir hier eine bundeseinheitliche Regelung bräuchten. Abgesehen davon, dass Polizeirecht Landesrecht ist und es daher vermutlich immer einen Flickenteppich an unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen in den Polizeigesetzen geben wird, haben meines Wissens bisher nur die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen entsprechende Regelungen in ihren Landespolizeigesetzen. Brandenburg ist gerade schon vom Kollegen angesprochen worden. Es wurde gesagt, es habe bei der Abstimmung im Landesparlament ein einstimmiges Ergebnis gegeben.

Das stimmt so nicht ganz. Denn die Grünen haben sich in Brandenburg bewusst enthalten, haben dem Gesetz also nicht zugestimmt. In Schleswig-Holstein braucht man übrigens keine gesetzlichen Veränderungen, weil da Zollvollzugskräfte bereits auch vom Polizeibegriff im Landesgesetz umfasst sind.

Was jedoch ganz interessant ist: Die SPD, der Abgeordnete Mike Bischoff, im brandenburgischen Landtag hat vor der Diskussion über das Gesetz im Landtag dort eine Kleine Anfrage gestellt und gefragt, welche Erfahrungen es in den unterschiedlichen Ländern eigentlich gibt, die diese Regelung in ihren Polizeigesetzen haben. Dabei ist zum einen für Baden-Württemberg herausgekommen, was ich nicht so verwunderlich finde, dass die abgefragten Zollbehörden mit dieser Regelung ganz zufrieden sind.

Doch für Bayern – das ist das eigentlich Spannende, weil Bayern gerade auch angesprochen worden ist – ist festgestellt worden, dass von dieser Regelung – die Regelung ist Ende 2007 gefasst worden und am 1. Januar 2008 in Kraft getreten – in dem Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis zur Auskunft des bayerischen Innenministeriums am 12. Oktober 2011, also im Prinzip fast ganze vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, von dieser Eilkompetenz der Zollverwaltungsbehörden, die Sie als CDU-Fraktion so beschwören, überhaupt nicht Gebrauch gemacht geworden ist.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Ich finde, das zeigt sehr deutlich, dass anscheinend keine Notwendigkeit für diese Regelung, für diese Eilbefugnisse besteht, zumindest in Bayern nicht. Doch auch die Landesinnenminister sind bisher zu dem Ergebnis gekommen, zumindest mehrheitlich, dass es für diese Regelung offenbar keine Notwendigkeit gibt, nicht in ihren Ländern. Denn das Bundesfinanzministerium, wie gesagt zuständig für die Zollverwaltung, ist in dieser Frage bereits mehrfach an die Länder herangetreten. Bisher ist diesem Wunsch nicht entsprochen worden.

Ich kann mich dem für die grüne Fraktion im Landtag nur anschließen, dass wir keine Notwendigkeit und keinen Bedarf sehen. – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Kollegen Dr. Orth das Wort.

Dr. Robert Orth*) (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe tatsächlich heute das erste Mal geklatscht, als Herr Stotko geredet hat.

(Thomas Stotko [SPD]: Ja, ja!)

Ich bin mir sicher, das war kein Fehler. Denn ich glaube, in dieser Sache, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, liegen Sie isoliert und allein und auch falsch.

Der Zoll ist für den Zoll da, und der Zoll ist keine Hilfspolizei – so wie wir auch in der Vergangenheit die Baupolizei abgeschafft haben, wie auch die Gerichtsvollzieher nicht mit der Schusswaffe herumrennen und den, der eine falsche eidesstattliche Versicherung abgibt, direkt festnehmen und mitnehmen können.

Es ist vor allen Dingen so, dass der Zoll beim Bund angesiedelt ist. Wir sind der Meinung, dass Polizeiarbeit nun einmal Kernkompetenz der Länder ist, und da wollen wir auch keine weiteren Vermischungen zulassen.

(Beifall von der FDP und Verena Schäffer [GRÜNE])

Ich finde, wir sollten sogar diesen Antrag zum Anlass nehmen, über die Befugnisse der Bundespolizei in diesem Parlament erneut zu diskutieren und nachzudenken. In meinen Augen ist es nicht zwingend, dass der Bund Polizeikräfte vorhält, die alle Bahnanlagen sichern und die am Flughafen zu Reibungspunkten mit der Länderpolizei kommen. Ich glaube, dass wir uns deswegen auch mit der Zollverwaltung keinen Gefallen tun würden.

Die Polizei muss vor allen Dingen die Örtlichkeiten kennen. Es gibt viele andere Dinge, die zu berücksichtigen sind. Die Staatsanwaltschaften sind in der Regel ja auch für die Haftbefehle zuständig etc. pp.

Ich will es kurz machen: Wir stimmen natürlich der Überweisung zu. Doch ich weiß jetzt schon, wie ich nächstes Mal im Plenum abstimme, nämlich mit Ablehnung. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Piratenfraktion erteile ich Herrn Kollegen Schatz das Wort.

Dirk Schatz (PIRATEN): Vielen Dank, Herr Präsident! An dieser Stelle kann ich das mit diesem Gesetzentwurf ebenfalls relativ kurz machen. Ich habe zurzeit noch eine etwas neutrale Haltung. Ich habe bisher von denjenigen, die dagegen gesprochen haben, noch kein valides Argument gehört, dass man sagen kann: Das geht auf gar keinen Fall.

Herr Stotko, Sie haben sicherlich Recht, wenn Sie sagen, ein Flickenteppich ist unangebracht; das kann der Bundesgesetzgeber machen.

(Zuruf von Thomas Stotko [SPD])

Aber wir können nicht ständig auf den Bundesgesetzgeber warten. Wenn wir es selbst regeln können, warum nicht?

Andererseits muss ich aber ganz klar sagen: Ob wir, wenn es keinen Bedarf gibt und wir wirklich über absolute Ausnahmefälle reden, die vielleicht noch nie eingetreten sind, unbedingt eine Erweiterung der Zollbefugnisse brauchen, weiß ich nicht. Dann bin ich gespannt, was die Beratung im Ausschuss ergibt. Wie gesagt, ich habe momentan noch eine etwas neutrale Haltung.

Was man jetzt schon sagen kann: Es geht hier ausdrücklich und ausschließlich um die Erweiterung der Eilzuständigkeit. Es geht nicht darum, dem Zoll grundsätzlich Polizeibefugnisse zu geben, sondern nur im absoluten Ausnahmefall, wenn die örtliche zuständige Polizeibehörde nicht oder nicht rechtzeitig eingreifen kann. Das ist das Einzige, worum es hier geht. So steht es ausdrücklich im Gesetzentwurf. Das ist auch das, was Herr Kamieth gerade gesagt hat.

Ob es notwendig ist, weiß ich nicht. Aber was ich auf jeden Fall sagen kann, ist, dass diese Eilzuständigkeit meiner Meinung nach in dem Antrag, wenn Sie ihn so durchbekommen wollen, nicht hinreichend dargelegt ist, zwar in der Begründung, aber nicht in dem entsprechenden Gesetzestext. Ob Sie unbedingt den kompletten Absatz 2 für die Beamten des Zolls entsprechend gelten lassen müssen, weiß ich nicht. Das kann man mit Sicherheit noch einschränken.

Aber – wie gesagt – ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss. Dann werden wir sehen, was dabei herauskommt. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Schatz. – Für die Landesregierung spricht Herr Minister Jäger.

Ralf Jäger, Minister für Inneres und Kommunales: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, hier werden Lösungen für Probleme gesucht, die eigentlich gar nicht existieren.

Die Übertragung der Eilzuständigkeiten an Zollbeamte ist übrigens seit Jahren Thema im Arbeitskreis II der Innenministerkonferenz, und seit Jahren gibt es eine deutliche Mehrzahl der Länder, die keinen Bedarf hierin sehen. Dazu gehört übrigens auch Nordrhein-Westfalen, weil wir eine außerordentlich gute Zusammenarbeit zwischen den Polizeibehörden in Nordrhein-Westfalen und den Zollbehörden haben und Polizeidienststellen bei Kontrollen selbstverständlich einbezogen werden. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister. – Meine Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Gesetzentwurfs Drucksache 16/4157 an den Innenausschuss. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um sein Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Beides ist nicht der Fall. Damit ist diese Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen. – Vielen Dank.

Ich rufe auf:

15       Entwurf einer Verordnung zur Selbstüberwachung von Abwasseranlagen – Selbstüberwachungsverordnung Abwasser – SüwVO Abw

Vorlage
des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt,
Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz
Vorlage 16/1131

Beschlussempfehlung und Bericht
des Ausschusses
für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Drucksache 16/4174

Ich eröffne die Beratung und erteile als erstem Redner für die SPD-Fraktion Herrn Kollegen Meesters das Wort. Bitte schön.

Norbert Meesters (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Dichtheitsprüfung“ und die daraus resultierende Verordnung haben uns jetzt wirklich lange Zeit begleitet. Es ist gut, dass wir nun nach langen Diskussionen den parlamentarischen Prozess mit der vorliegenden Verordnung zu einem guten und bürgerfreundlichen Ende führen.

Die neue Verordnung schafft Klarheit und beseitigt offene Fragen. Ich freue mich sehr, dass die alte Regelung der CDU mit der flächendeckenden Prüfung und ihren starren Fristen endgültig in die Geschichte eingeht. Sie war schlicht nicht praxistauglich und hat die Menschen belastet. Ich bin froh, dass wir mit dem Beschluss des Landtags vom 27. Februar dieses Jahres eine deutliche Entlastung geschaffen haben. Schließlich regelt die Selbstüberwachungsverordnung, die wir heute abschließend beraten, Detailfragen zu den Lockerungen, auch hinsichtlich der Fristen.

Lassen Sie mich einige Punkte herausstellen: Wir haben eine praktikable und bürgerfreundliche Lösung gefunden. In Wasserschutzgebieten wird es nun eine festgelegte Frist zur Erstprüfung bestehender Abwasseranlagen geben. Alle Haushaltungen außerhalb von Wasserschutzgebieten werden von Prüffristen freigestellt.

Die Selbstverwaltung der Kommunen wird zudem durch die erfolgte Gesetzesänderung und die nun vorliegende Rechtsverordnung gestärkt. Wir stellen es in das Ermessen der Kommunen, ob und wie sie Satzungen in ihrem Gemeindegebiet erlassen. So können vor Ort angepasste Lösungen gefunden und umgesetzt werden.

Nur zur Erinnerung und um Legendenbildungen sowie falschen Behauptungen in der Öffentlichkeit zu begegnen: Der neuen Regelung liegt das Wasserhaushaltsgesetz des Bundes zugrunde, das jeden Hauseigentümer verpflichtet, für den ordnungsgemäßen Zustand seiner Abwasserleitungen zu sorgen. Dabei haben wir Augenmaß walten lassen und die Regelungen so zurückhaltend wie möglich formuliert.

Für alle, die auch Verantwortung für den Erhalt gesunden Trinkwassers tragen, ist klar, dass der Besorgnisgrundsatz in Wasserschutzgebieten gilt, da die Sicherheit unseres Trinkwassers ein hohes Gut ist. Damit bin ich mir einer großen Zustimmung im Land sicher; denn die kritische Diskussion um den Einsatz der Fracking-Technologie bei der Gasgewinnung zeigt deutlich, wie wichtig den Menschen das Lebensmittel „Wasser“ und dessen Gefährdung ist.

Es ist sehr schade, dass die CDU heute von ihren eigenen Regelungen der Vergangenheit nichts mehr wissen will und die Sicherheit unseres Trinkwassers dem Zufall überlassen möchte. Das von ihr vorgeschlagene Konzept, erst dann zu prüfen, wenn Gefahr im Verzuge ist, ist schlicht gesagt grober Unfug und untauglich. Denn dass Gefahr im Verzuge ist, merkt man beim Wasserschutz oft erst, wenn der Schaden eingetreten ist, wenn das Kind sozusagen in den Brunnen gefallen ist.

Eine Wiederholungsprüfung steht nach der neuen Verordnung erst nach 30 Jahren an. Auch hier ist eine Regelung gefunden worden, dass die Prüfung abweichend von der gültigen DIN-Norm nicht schon nach 20 Jahren erfolgen muss.

Last but not least: Soziale Härten und Ungerechtigkeiten müssen im Sanierungsfalle selbstverständlich vermieden werden. Ich erinnere an dieser Stelle gerne noch einmal daran, dass die Landesregierung ein entsprechendes Investitionsprogramm initiiert hat, über das Bürgerinnen und Bürger zinsgünstige Kredite erhalten können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der vorliegenden Verordnung werden die beiden Aspekte Trinkwasserschutz und Bürgerfreundlichkeit so gut wie möglich in Einklang gebracht. Damit hat die Landesregierung eine Lösung gefunden, damit haben wir eine Lösung in unser aller Sinne gefunden.

Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die CDU-Fraktion spricht als nächster Redner Herr Kollege Hovenjürgen.

Josef Hovenjürgen (CDU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Meesters, diese Einschätzung können wir nicht teilen. Dieses Gesetz ist nicht bürgerfreundlich, es ist nicht bürgernah.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Sie verkennen die Bewertungen vieler Experten, die klar sagen: Es gibt keinen belegbaren Beweis, der darstellt, dass undichte Abwasserleitungen in privaten Bereichen zu Gefährdungen des Trinkwassers führen. Diese Belege gibt es nicht.

(Norbert Meesters [SPD]: Alles Behauptungen!)

Über diesen Sachverhalt setzen Sie sich hinweg. Der „begründete Verdacht“ wäre der richtige Weg gewesen. Sie bleiben beim Generalverdacht und schaffen im Land einen Flickenteppich. Die einen müssen untersuchen, weil sie in einer Trinkwasserschutzzone wohnen, die anderen nicht. Dabei wissen Sie sehr genau, dass zum Beispiel Grundwasserstöcke über die Trinkwasserschutzzonen hinausgehen. Wenn Sie das, was Sie hier vorgetragen haben, ernst meinten,

(Norbert Meesters [SPD]: Meine ich!)

nämlich den Schutz des Trinkwassers zu erreichen, dann müssten Sie die Trinkwasserstöcke schonen und flächendeckend untersuchen. Dazu haben Sie sich nicht durchringen können, weil Sie wissen, dass Sie hier eher der Kanal-Branche entgegenkommen wollen, als den Bürgerinnen und Bürgern ein bürgerfreundliches Gesetz vorzulegen.

(Beifall von der CDU und der FDP – Norbert Meesters [SPD]: Unfassbar!)

Insofern konterkarieren Sie die Aussagen der Ministerpräsidentin, die eine bürgerfreundliche Lösung herbeiführen wollte. Was jetzt kommt, Herr Meesters, ist im Prinzip das Verlagern der Verantwortung an die Städte. Es ist unfassbar, dass Sie das den Städten übertragen.

(Norbert Meesters [SPD]: Ihre Märchenstunde!)

Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen: Sie werden viel Unruhe in die Regionen und die Stadträte tragen. Sie dürfen das ausbaden, weil Sie keinen Mut hatten, eine vernünftige Lösung zu finden, nämlich hier den begründeten Verdacht als Grundlage für ein Handeln zu wählen. Das wäre vollkommen ausreichend gewesen.

(Norbert Meesters [SPD]: Das ist grober Unfug!)

Es hätte dem Trinkwasserschutz entsprochen. Das, was Sie hier machen, Herr Meesters, ist, wie Sie gerade ausführen, grober Unfug.

(Beifall von der CDU und der FDP – Norbert Meesters [SPD]: Das müssen Sie ja sagen!)

Deswegen noch einmal: Wenn das, was Sie hier vorstellen, bürgerfreundlich ist, möchte ich gar nicht erleben, was dann bei Ihnen noch alles herauskommen kann. Mit Bürgerfreundlichkeit hat das nichts zu tun.

Es war ein langer Beratungsprozess. Auch wir haben lange den Hinweisen aus dem Hause geglaubt und sind ihnen gefolgt, bis wir eben bereit waren, uns mit anderen Experten deutlicher auf diese Sachverhalte einzulassen.

(Norbert Meesters [SPD]: Die habe ich in der Anhörung nicht gehört, Ihre Experten!)

Diesen Mut haben Sie leider nicht besessen. Herr Meesters, es gibt auch ein wenig Unruhe bei Ihnen. Ich kann es ja verstehen, ich möchte das auch nicht verteidigen, was Sie heute hier beschließen wollen. Das wäre mir auch unangenehm.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Insofern habe ich, Herr Meesters, Verständnis dafür, dass man sich schwer dabei tut.

(Zuruf von Inge Howe [SPD])

– Frau Kollegin, Sie haben 1995 die Dichtheitsprüfung in das Baurecht geschrieben. Dann haben Sie mit Ihrem Koalitionspartner die Fristen eingeführt. Wir als schwarz-gelbe Koalition haben es dann in das Wasserhaushaltsgesetz überführt. Dann haben wir uns als schwarz-gelbe Koalition weiterentwickelt und haben auch in der Diskussion mit Verbänden, mit betroffenen Bürgern eine Haltung eingenommen, die meiner Meinung nach der Realität vor Ort entspricht.

Im Übrigen vielleicht ein Hinweis: Die Abwassersituation im ländlichen Raum, die Abwassersituation in unseren Kommunen hat sich Jahr für Jahr verbessert. Sie hat sich nicht verschlechtert. Wenn sich aber die Qualität der Abwasserentsorgung verbessert, warum muss ich dann in dieser Rigorosität durchgreifen, anstatt zu sagen: Wir verbessern die Situation, und deswegen reicht es, wenn sich ein begründeter Verdacht ergibt, als Kontrollnotwendigkeit aus!? Diesen Mut haben Sie nicht besessen. Das werden Sie den Menschen vor Ort erklären müssen.

(Beifall von der CDU)

Sie werden erklären müssen, dass die Städte dies jetzt selbst regeln müssen. Wir werden einen Flickenteppich bekommen. Wo Satzungen gelten, muss ich sie nicht aufheben. Wo Trinkwasserschutzzonen sind, muss ich eingreifen. Im Grenzbereich, straßenzugsähnlich, muss ich den einen eine Dichtheitsprüfung aufgeben, und die anderen sind davon befreit. Das alles geben Sie den Städten mit in den Rucksack der Dinge, die sie sowieso schon zu tragen haben.

Das ist kein guter Tag für den Trinkwasserschutz und auch kein guter Tag für unsere Bürger. Es ist eine schlechte Rechtsverordnung, die unsere Zustimmung nicht finden kann. – Herzlichen Dank.

(Beifall von der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Herr Kollege Markert.

Hans Christian Markert*) (GRÜNE): Lieber Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Josef Hovenjürgen, den Streit um die historische Wahrheit kannte ich bis jetzt nur von Altlinken. Aber vielleicht hast du dich da ja heute entsprechend geoutet.

(Zurufe von der CDU: Ooh!)

Ich stimme dir aber im Übrigen zu: Das war ein langer Beratungsprozess, hast du gerade wohl gesagt, und dem ist auch so. Als Fazit nach diesem langem Beratungsprozess kann man sagen: Ja, wir haben einen Kompromiss gefunden, und ich finde, es ist auch ein guter Kompromiss.

(Beifall von den GRÜNEN)

Aus grüner Sicht sage ich: Es war uns wichtig, die wichtigste Ressource, die wir haben, das Wasser, zu schonen und zu schützen. Das gilt unabhängig vom Gelehrtenstreit, ob es dröppelt oder nicht, für Wasserschutzgebiete, weil wir jedenfalls in diesen Gebieten ganz besonders sorgfältig sein müssen. Und es freut mich, dass wir das verteidigt haben.

Ich gestehe zu: An anderer Stelle haben wir jetzt mehr Grandezza gezeigt. Das waren ein Lernprozess unsererseits und ein Entgegenkommen. Das zeichnet einen guten Kompromiss aus, dass jeder ein bisschen geben muss.

Ich würde mir wünschen, dass wir an dieser Stelle diesen langen Prozess gut abschließen können, dass wir tatsächlich jetzt einen guten Kompromiss tragen können. Denn, wenn wir zurückblicken, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP – Kanal-Kai ist ja auch hier –, dann weiß ich, dass wir oftmals nett gestritten haben, und jeder von uns weiß auch, von wo wir gekommen sind.

Deswegen freue ich mich, dass wir jetzt dieses Kapitel abschließen können und danke ausdrücklich, ähnlich wie der Kollege Meesters, den vielen Leuten, die zum Gelingen dieses Prozesses beigetragen haben, unter anderem den vielen Fleißigen, die in den Ministerien daran gearbeitet haben und immer wieder neue Herausforderungen, die die Politik ihnen aufgegeben hat, gemeistert haben. Herzlichen Dank dafür! Ich danke natürlich auch den vielen kritischen Menschen im Land, die dazu beigetragen haben, dass wir diesen Kompromiss finden konnten.

In diesem Sinne: Schöne Ferien, alles Gute und weiterhin gute Beratung beim Gewässerschutz, vielleicht auch bei Themen, die viele Menschen im Land weitaus mehr umtreiben! – Herzlichen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Ich danke Ihnen, Herr Kollege Markert, und erteile für die FDP-Fraktion Herrn Kollegen Höne das Wort.

Henning Höne (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute wird dann also die rot-grüne Parlamentsmehrheit die entsprechende Verordnung zum bereits beschlossenen Gesetz zur Dichtheitsprüfung beschließen. Damit hat zumindest vorerst das jahrzehntelange Ringen, kann man schon fast sagen, um die Dichtheitsprüfung ein Ende.

Aber, Herr Kollege Meesters, Herr Kollege Markert, es ist kein guter Tag für die Bürger. Außer Ihnen selber, und das auch nur sehr spärlich, klatscht im Land auch niemand für diese Regelung, die Sie hier gefunden haben, Beifall.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Ich weiß, Sie können das nicht mehr hören – ich würde es an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch nicht mehr hören können und hören wollen –, aber wir können Sie da auch nicht entlassen: Wenn Frau Ministerpräsidentin Kraft in der heißen Wahlkampfphase 2012 wieder und wieder von der großen Bühne herunter verspricht: „Von meiner Seite aus würde ich Omas klein Häuschen davon erst einmal ausnehmen“, und dann ein solches Gesetz, eine solche Verordnung kommt, dann kann man das nur mit einem Wort beschreiben, nämlich: Wortbruch.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Sie haben immer wieder die zahlreichen Bedenken, die zahlreichen Hinweise, die wir hier vorgetragen haben, ignoriert. Aber es gab nicht nur die Bedenken der Opposition hier im Hause – damit könnte ich vielleicht noch im politischen Geplänkel leben, dass Sie das so zur Seite schieben –, es gab ja doch auch viele kritische Stimmen in den entsprechenden Anhörungen, die das deutlich gemacht haben: Es ist grotesk, Prüfpflichten in Wasserschutzgebieten einzuführen, ohne auf den wissenschaftlichen Nachweis zu warten, der beschreiben wird oder eben auch nicht, dass ein Gefährdungspotenzial von privaten Abwasserleitungen ausgeht.

Denn bei allen Differenzen haben wir uns ja im Prinzip überhaupt nicht mehr über industrielle, gewerbliche Abwasserleitungen gestritten; da besteht Einigkeit hier im Hause. Es geht nur um die privaten Abwasserleitungen. Natürlich gilt auch da: Wasser ist unsere wichtigste Ressource, und Kanäle müssen dicht sein. Ich meine, Kollege Hovenjürgen sagte das einmal im Ausschuss: Es gibt kein Menschenrecht auf einen undichten Kanal, weder gewerblich, weder industriell noch privat.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Darum ist es richtig, dass wir das Monitoring jetzt bekommen werden. Das war nicht nur richtig, sondern es war meines Erachtens auch überfällig. Aber alleine die Tatsache, dass Sie, bevor dieses Monitoring abgeschlossen ist, schon über erste Fristen sprechen, dass erste Fristen scharf geschaltet werden, bevor das Monitoring abgeschlossen ist, zeigt doch, dass Sie hier nicht richtig nachgedacht haben. Das zeigt Ihren Aktionismus. Das zeigt, dass Sie sich am Ende mit der Sache gar nicht mehr so auseinandersetzen wollten und konnten, wie es die Bürgerinnen und Bürger eigentlich verdient hätten.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Nun kann man sich natürlich freuen, dass die Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Wasserschutzgebiete relativ sicher sind. Aber dabei sollten wir diejenigen nicht vergessen, die in Wasserschutzgebieten wohnen, die davon betroffen sind, auf die jetzt möglicherweise hohe Kosten zukommen.

Immerhin sind knapp über 15 % der Landesfläche Wasserschutzgebiete. Ihre Voreiligkeit können Sie den Bürgerinnen und Bürgern da nicht erklären. Wir kommen zu dem eben schon angesprochenen Flickenteppich. Das wird die Akzeptanz für diese Maßnahmen noch weiter reduzieren, wenn das überhaupt noch möglich ist.

Noch einmal kurz zur historischen Wahrheit: Ich meine, man kann es immer wieder ansprechen. Dann können wir wieder anfangen, wo wir 1995 wie wo was eingeführt haben, wo wann was übertragen wurde. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nun wirklich nichts als Nebelkerzen. Denn am Ende des Tages muss die Politik ehrlich und mutig genug sein – da bricht sich auch keiner einen Zacken aus der Krone –, zu sagen: Wir haben etwas dazugelernt.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Und die Bürgerinnen und Bürger, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, interessiert herzlich wenig, was denn vor zehn, vor 15 Jahren war. Sie interessiert, ob sie jetzt einen Bescheid ins Haus bekommen, dass sie sanieren müssen, dass sie prüfen müssen. Hören Sie auf mit diesen Nebelkerzen! Schauen Sie nach vorne! Darum geht es in der Politik.

Wir als FDP-Fraktion haben dieses Gesetz schon aus vielen guten Gründen abgelehnt. Diese Verordnung werden wir konsequenterweise natürlich auch ablehnen.

(Lebhafter Beifall von der FDP und der CDU)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Abgeordneter. – Für die Piratenfraktion – er steht auch schon am Rednerpult – erteile ich Herrn Kollegen Rohwedder das Wort.

Hanns-Jörg Rohwedder (PIRATEN): Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und liebe Zuschauer! Die Diskussion im zuständigen Ausschuss, in dem wir die Rechtsverordnung beraten haben, ergab keine neuen Argumente und Fakten. Diese Verordnung dient einfach nur dem einen Zweck: das Gesetz wieder zu verschärfen, dessen erster Entwurf minimal verändert wurde, um Druck aus der Diskussion zu nehmen. Man wollte versuchen, den zu Recht erbosten Bürgern Sand in die Augen zu streuen.

Das ist bei den drei Oppositionsfraktionen hier im Landtag nicht gelungen und bei den Bürgern auch nicht. Ich zitiere einmal aus einer Mail, die verschickt wurde:

Mit dieser Rechtsverordnung bricht Frau Kraft ihr Wort. Was ist eigentlich aus dem Ziel der Landesregierung geworden, aus Betroffenen Beteiligte zu machen und vermehrt auf Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu setzen? Bei diesem ganzen Verfahren war davon nichts zu spüren. – Zitat Ende.

(Beifall von den PIRATEN)

Genauso sieht es aus. Es gab keinen Dialog. Diese Verordnung muss neu und anders verfasst werden – je eher, desto besser. Sie ist überhaupt nicht zustimmungsfähig. Herr Höne und Herr Hovenjürgen haben schon genauer erläutert, warum nicht.

In der Beratung im Ausschuss und eben auch hier in den Redebeiträgen der Regierungsfraktionen hieß es: Jetzt ist Schluss mit Diskussion über die Dichtheitsverordnung. Im Ausschuss und hier eben wurde gesagt: Wir haben es zu einem guten Ende gebracht. – Nein, Sie haben es weder zu einem guten Ende gebracht noch überhaupt zu einem Ende. Das kann ich Ihnen versichern. Gesetz und Verordnung in dieser Form werden nicht zur Zufriedenheit in der Bevölkerung führen. Ganz im Gegenteil: Die Bürgerinitiativen sind weiter aktiv mit Informationsveranstaltungen und Neugründungen. So wird in Dorsten am 28. Oktober eine neue Bürgerinitiative nach einer Informationsveranstaltung gegründet werden.

Es ist noch lange nicht Schluss, und das ist gut so. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN, der CDU und der FDP)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Rohwedder. – Für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Remmel das Wort.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie kennen alle Pippi Lang-strumpf.

(Zurufe von der SPD: Nicht singen! – Heiterkeit – Weitere Zurufe)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Jetzt sind wir alle sehr gespannt, Herr Minister.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Wenn ich mir das so anschaue, dann mag das für ein Kind und eine Kindesentwicklung vorteilhaft sein, etwas von Pippi Langstrumpf zu haben, nämlich: Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt.

(Zurufe – Unruhe)

Aber ob das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Leitgrundsatz für parlamentarisches verantwortliches Handeln ist, das glaube ich eher nicht. Da hat man sich den Realitäten zu stellen. Da hat man sich gesetzlichen Rahmenbedingungen zu stellen. Da hat man sich auch einer gesetzlichen Verantwortung zu stellen, die man in der Vergangenheit selbst ausgeübt hat. Das ist das, woran Sie heute scheitern.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Insofern ist das ein Lehrstück für ein parlamentarisches Bubenstück, was Sie hier heute aufführen.

(Zuruf von Josef Hovenjürgen [CDU])

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Herr Minister Remmel, entschuldigen Sie. Herr Minister Remmel, …

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Ich möchte den Gedanken ausführen.

Am Ende stellen Sie sich diesen Realitäten nicht und übernehmen keine Verantwortung. Wenn Sie Rückgrat hätten, dann hätten Sie den Menschen draußen im Land erklärt, dass wir ein Bundesgesetz haben. Im Wasserhaushaltsgesetz des Bundes ist geregelt, dass Abwasserleitungen funktionssicher und sicher sein müssen. Und Sie hätten den Menschen auch erklärt, dass es einen Bundesminister und eine Bundesregierung gibt, die mit einer Rechtsverordnung auf Bundesebene hätte klären können, wie dieses Gesetz denn auszulegen ist.

(Zuruf von Kai Abruszat [FDP])

Und Sie hätten vielleicht auch den Menschen erklärt, dass Sie selber in der Vergangenheit ein solches Gesetz gemacht haben und dann auch noch Bestrafung wollten.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Darf ich noch mal fragen, Herr Minister?

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Nein, ich möchte den Gedanken ausführen.

All das haben Sie nicht erklärt, sondern Sie haben dieses Thema populistisch genutzt, um darauf Ihre Suppe zu kochen, die der Sache nicht angemessen ist.

Nun sind wir am heutigen Tage am Ende einer Debatte – in der Tat.

(Kai Abruszat [FDP]: Vorerst!)

Ein wenig hat mich die eine oder andere Debatte, die wir miteinander geführt haben, an diesen Film erinnert: „Und täglich grüßt das Murmeltier.“ Da war es auch am Ende des Tages so, dass nur die Liebe es geschafft hat, aus dem immer wiederkehrenden Film den Hauptdarsteller zu retten.

(Heiterkeit – Zurufe – Jochen Ott [SPD]: Die Liebe! – Kai Abruszat [FDP]: Jetzt bin ich aber gespannt!)

Nun ist das im parlamentarischen Leben mit der Liebe so eine Sache. Aber die Liebe im Parlamentarismus ist die Verantwortung. Die Verantwortung haben Sie nicht wahrgenommen.

(Zurufe von der CDU: Oh!)

Die Verantwortung wird von den Koalitionsfraktionen wahrgenommen. Die Koalitionsfraktionen küssen jetzt sozusagen das Gesetz. Damit kommen wir aus dem Film heraus. – Vielen Dank.

(Heiterkeit und anhaltender Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Minister Remmel. – Seien Sie so nett, noch einmal ans Rednerpult zurückzukehren; denn es gibt die Anmeldung einer Kurzintervention durch die FDP-Fraktion für den Abgeordnetenkollegen Höne. Er hat jetzt zunächst für bis zu 90 Sekunden das Wort. Herr Kollege Höne, bitte.

(Günter Garbrecht [SPD]: Die Antwort aber bitte singen!)

Henning Höne (FDP): Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister Remmel, als Sie von Liebe und Küssen sprachen, konnte ich nicht mehr bei mir halten und musste mich noch einmal zu einer Kurzintervention melden.

(Heiterkeit und Beifall von der FDP, der SPD und den GRÜNEN)

Lieber Herr Minister Remmel, Sie verweisen hier die ganze Zeit auf den Bund, auf das Wasserhaushaltsgesetz. Ich frage mich: Was ist denn eigentlich mit den anderen Bundesländern, die sich – auch unter grüner Federführung – nicht zu einer solchen Lösung haben durchringen können?

(Beifall von der FDP und der CDU)

Zum Thema „Vergangenheit“ habe ich gerade ein, zwei Punkte genannt. Sie sprechen hier davon, Verantwortung zu übernehmen. Dann hören Sie doch auf, Nebelkerzen zu schmeißen und immer nur auf die Vergangenheit zu schauen. Sehen Sie nach vorne. Niemand bricht sich einen Zacken aus der Krone, wenn er auch mal hier an dieser Stelle einen Fehler eingesteht.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Herr Minister, Sie haben gesagt, man müsse sich der Realität stellen. Wenn Sie wirklich das täten, was Sie hier predigen, nämlich sich der Realität zu


stellen, wäre es doch nur folgerichtig, das Monitoring und dessen Ergebnisse abzuwarten; denn mehr Realität als eine solche wissenschaftliche Untersuchung werden Sie nicht bekommen. Das hieße aber, dass Sie Fristen nach hinten verschieben müssten, sodass nicht erste Fristen greifen, bevor wir bei dieser Realität angekommen sind.

Der letzte Punkt: Sie selber haben schon mal eine Verordnung aus Ihrem Hause vorgelegt, in der das Thema „begründeter Verdacht“, wie das CDU und FDP in ihrem gemeinsamen Gesetzentwurf vorgeschlagen haben, auch stattgefunden hat.

(Zuruf von der CDU: Hört, hört!)

Wenn das alles rechtswidrig wäre, würde das doch im Umkehrschluss bedeuten, dass Sie und Ihr Haus mal einen Entwurf vorgelegt haben, der mit Bundesrecht nicht vereinbar war. Bei allem Geplänkel zwischen Regierung und Opposition: Das traue ich weder Ihnen noch Ihrem Hause zu. Insofern: Hören Sie auch an dieser Stelle mit den Nebelkerzen auf.

(Anhaltender Beifall von der FDP und der CDU – Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Jetzt hat Herr Minister Remmel für 90 Sekunden das Wort zur Entgegnung.

Johannes Remmel, Minister für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz: Es tut mir leid; von Ihnen wurden jetzt keine neuen Argumente vorgetragen, sodass ich es mir spare, darauf zu entgegnen. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass Sie sich nicht zum Küssen entschlossen haben. Ich habe es auch nicht anders erwartet. – Vielen Dank.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Meine Damen und Herren, so weit Kurzintervention und Gegenrede. – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe deshalb die Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in Drucksache 16/4174, dem Entwurf einer Verordnung zur Selbstüberwachung von Abwasseranlagen Vorlage 16/1131 unverändert zuzustimmen. Wer dieser Beschlussempfehlung des Ausschusses zustimmen möchte, den darf ich um sein Handzeichen bitten. – Das sind die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt gegen diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Fraktionen von CDU und FDP, die Piratenfraktion sowie der fraktionslose Abgeordnetenkollege Stein. Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist diese Empfehlung mit den genannten Voten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mehrheitlich angenommen und dem Entwurf einer Verordnung Vorlage 16/1131 die Zustimmung erteilt. – Herzlichen Dank.

Meine Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Ende unserer heutigen Sitzung angelangt.

Ich berufe das Plenum wieder ein für Mittwoch, den 27. November 2013, 10 Uhr.

Bis dahin wünsche ich Ihnen eine angenehme, erfolgreiche Zeit und heute noch einen schönen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen. – Ich bedanke mich.

Schluss: 18:35 Uhr

*)    Von der Rednerin bzw. dem Redner nicht
überprüft (§ 96 GeschO)

 

Dieser Vermerk gilt für alle in diesem Plenarprotokoll so gekennzeichneten Rednerinnen und Redner.