LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/4203

 

11.10.2013

 

 

 

 

Antwort

 

der Landesregierung

auf die Kleine Anfrage 1617 vom 11. September 2013

der Abgeordneten Birgit Rydlewski, Hanns-Jörg Rohwedder und

Torsten Sommer   PIRATEN

Drucksache 16/3992

 

 

Ermittlungsdauer und -verfahren in Fällen rechter Gewalt

 

 

Der Justizminister hat die Kleine Anfrage 1617 mit Schreiben vom 10. Oktober 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Inneres und Kommunales beantwortet.

 

 

Vorbemerkung der Kleinen Anfrage

 

In keiner anderen Stadt in Nordrhein-Westfalen gibt es mehr rechtsextreme Gewalttaten als im westfälischen Dortmund. Häufig finden dort derzeit Demonstrationen mit rechtem Hintergrund statt, nahezu regelmäßig eskaliert die Situation. Immer wieder werden der linken Szene zugehörige Lokale überfallen, und es kommt zu Drohungen oder sogar gefährlichen Körperverletzungen gegenüber einzelnen Personen. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch die Tötung von Thomas „Schmuddel“ Schulz im Jahr 2005 durch einen Angehörigen der Skinheadfront Dortmund-Dorstfeld.

 

Mittlerweile scheinen sich die Rechtsextremisten in Dortmund derart sicher zu fühlen, dass sie im Dezember 2011 beim Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau zu Hause erschienen und dort seiner Frau durch einen als Weihnachtsmann verkleideten Nazi ein „Geschenkpaket“ überreichten und ihn in einem beiliegenden Anschreiben indirekt bedrohten – folgenlos.

 

Aktueller Höhepunkt rechter Gewalt war der Einsatz eines Sprengkörpers, den ein Teilnehmer der Demonstration der Partei "die Rechte" am 31. August 2013 in die Gegendemonstration warf und damit 5 Personen verletzte.

 

 

 

 

 

Dabei werden Ermittlungen gegen rechte Gewalttäter in vielen Fällen dadurch erschwert, dass viele Opfer nur äußerst ungern ihre Hausadresse als ladungsfähige Adresse angeben möchten, was angesichts des bereits geschilderten Ausmaßes und Organisationsgrades rechter Gewalt nachvollziehbar ist. Aus diesem Grund bietet die - auch vom Land geförderte - Beratungsstelle "Back Up" in Dortmund an, in solchen Fällen die Adresse der Beratungsstelle als ladungsfähige Adresse anzugeben. Dies scheint aber noch bei nicht allen Staatsanwaltschaften bekannt oder akzeptiert zu sein.

 

In anderen Fällen erscheint unklar, aus welchen Gründen die Ermittlungen gegen rechte Gewalt offenbar äußerst langsam vorankommen. So kam es beispielsweise nach den rechtsradikalen Ausschreitungen bei der DGB-Kundgebung vom 1. Mai 2009 erst im Jahr 2012 zur Anklageerhebung gegen die mutmaßlichen Rädelsführer.

 

In einem anderen Fall kam es in den frühen Morgenstunden des Sonntags, 12. Dezember 2010, zu einem gemeinschaftlich begangenen Angriff mehrerer mutmaßlicher Neonazis auf die alternative Kneipe “Hirsch-Q” in der Dortmunder Innenstadt. Die mutmaßlichen Neonazis setzten dabei Reizgase, Stühle u.ä. als Schlagwaffen sowie Messer ein. Es gab mehrere Verletzte, die nach einer Erstbehandlung vor Ort mit Rettungswagen zur weiteren Behandlung in umliegende Kliniken eingeliefert werden mussten. Der Überfall wurde von mehreren Überwachungskameras in hoher Qualität aufgezeichnet und die Aufnahmen wurden den Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt; die Polizei war vor Ort und hat Tatverdächtige festnehmen können.

 

Dennoch ist es erst 2 1/2 Jahre später, nämlich am 20. Juni 2013, zu einem Prozessbeginn gegen 9 mutmaßliche Täter am Landgericht Dortmund gekommen.

 

 

1.    Welche Möglichkeiten sieht die Landesregierung, auf die Staatsanwaltschaften des Landes Nordrhein-Westfalen einzuwirken, in begründeten Fällen, z.B. bei Opfern organisierter rechter Gewalt, auch andere Adressen als Wohnort- oder Arbeitsplatzadresse als ladungsfähige Anschrift zu akzeptieren (bspw. die des vom Land geförderten Vereins "Back Up")?

 

§ 68 Absatz 2 und 3 der Strafprozessordnung regelt, dass es Zeuginnen und Zeugen gestattet werden soll, statt des Wohnortes den Geschäfts- oder Dienstort oder eine andere ladungsfähige Anschrift anzugeben, wenn ein begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass durch die

 

Angabe des Wohnortes Rechtsgüter der Zeuginnen und Zeugen oder einer anderen Person gefährdet werden oder dass auf Zeuginnen und Zeugen oder eine andere Person in unlauterer Weise eingewirkt werden wird. Darüber hinaus sieht die Vorschrift vor, dass den Zeuginnen und Zeugen gestattet werden kann, Angaben zur Person nicht oder nur über eine frühere Identität zu machen, wenn ein begründeter Anlass zu der Besorgnis besteht, dass durch die Offenbarung der Identität oder des Wohn- oder Aufenthaltsorts Leben, Leib oder Freiheit der Zeuginnen und Zeugen oder einer anderen Person gefährdet wird.

 

Nach § 68 Absatz 4 Satz 1 der Strafprozessordnung sind Zeuginnen und Zeugen auf diese Befugnisse hinzuweisen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Voraussetzungen der Absätze 2 oder 3 vorliegen. Gemäß § 68 Absatz 5 Satz 1 der Strafprozessordnung gelten diese Regelungen auch nach Abschluss der Zeugenvernehmung.

 

 

Nach Nummer 130a Absatz 2 der bundesweit gültigen Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren prüft die Staatsanwaltschaft, ob Schutzmaßnahmen erforderlich sind, wenn Anlass zu der Besorgnis besteht, dass durch die Angabe des Wohnortes oder durch die Offenbarung der Identität oder des Wohn- oder Aufenthaltsortes Zeuginnen und Zeugen oder eine andere Person gefährdet werden. Unter den Voraussetzungen des § 68 Absatz 2 und 3 der Strafprozessordnung wirkt sie darauf hin, dass Zeuginnen und Zeugen gestattet wird, ihren Wohnort oder ihre Identität nicht preiszugeben. 

 

Die Landesregierung hat keinen Grund zu der Annahme, dass die Strafverfolgungsbehörden des Landes diese Regelungen nicht beachten. Sie sieht zu Maßnahmen daher keinen Anlass. Sofern die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen und die ordnungsgemäße Weiterleitung von Schriftstücken an Zeuginnen und Zeugen dauerhaft gewährleitet ist, kommt auch die Benennung der Anschrift der Beratungsstelle „Back Up“ als ladungsfähige Anschrift in Betracht.

 

Mit dieser für Westfalen zuständigen Beratungsstelle arbeiten im Übrigen die Polizeidienststellen des Landes ebenso vertrauensvoll zusammen wie mit der im Rheinland tätigen „Opferberatung Rheinland“. Vertreterinnen und Vertreter beider Einrichtungen haben im Rahmen von Dienstbesprechungen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kriminalinspektionen „Polizeilicher Staatsschutz“ sowie der Kriminalkommissariate „Kriminalprävention/Opferschutz“ ihre Aufgaben vorgestellt. Opfer von Straftaten politisch rechts motivierter Kriminalität werden auf die Hilfsangebote beider Beratungsstellen hingewiesen.

 

 

2.    Warum ist es im Fall des "Hirsch-Q"-Prozesses erst 2,5 Jahre nach der Tat zu einem Prozessbeginn gekommen, obwohl in diesem Falle die Sachlage eindeutig war und ausreichendes Beweismaterial vorlag?

 

Am 12.12.2010 kam es um 00:47 Uhr zu einem vermutlich von Angehörigen der rechten Szene verübten Übergriff auf die Dortmunder Gaststätte „Hirsch-Q“. Die Gruppe der Angreiferinnen und Angreifer versuchte, gewaltsam in das Lokal einzudringen. Ein Gast erlitt durch Fußtritte Prellungen am ganzen Körper und wurde durch zwei Messerstiche an einem Bein und einem Arm verletzt.

 

Von den Betreibern der Gaststätte wurden den Ermittlungsbehörden noch im Dezember 2010 Videoaufzeichnungen von Überwachungskameras zur Verfügung gestellt. Da die Aufnahmen zur Nachtzeit und bei ungünstigen Witterungsbedingungen entstanden, war ihre aufwändige technische Aufarbeitung erforderlich, um sie für die Beweisführung verwertbar zu machen. Mit dieser Maßnahme wurde das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen noch im Dezember 2010 beauftragt. Die seitens des Landeskriminalamtes erstellten Einzelbilder von an dem Angriff Beteiligten waren zur Identifizierung einzelner Personen jedoch nicht geeignet. Aus diesem Grund wurde am 14.01.2011 eine ergänzende Untersuchung des Materials durch eine Privatfirma für digitale Bildbearbeitung in Auftrag gegeben, die die Identifizierung der Tatbeteiligten allerdings ebenfalls nicht ermöglichte. Während zeitgleich die Vernehmungen der Tatzeuginnen und Tatzeugen sowie spurentechnische Untersuchungen erfolgten, verliefen weitere Bemühungen einer speziellen digitalen Aufarbeitung der Bilder der Überwachungskameras durch andere Bildbearbeitungsunternehmen (u.a. in den Niederlanden) im März und April 2011 erfolglos.

 

 

 

 

Nach Auswertung der vorläufigen Ermittlungsergebnisse durch die Staatsanwaltschaft wurde am 06.05.2011 eine anthropologische Sachverständige mit der Erstellung eines Gutachtens zur Identifizierung der Täter beauftragt. Nach staatsanwaltschaftlichen Sachstandanfragen vom 05.09., 18.10. und 17.11.2011 legte die zwischenzeitlich urlaubs- und krankheitsbedingt verhinderte Sachverständige ihr Gutachten vom 29.11.2011 vor. Nach Auswertung und Zuordnung einzelner Tatbeiträge zu den seitens der Sachverständigen mit hoher Wahrscheinlichkeit identifizierten Personen legte die Polizei die Vorgänge der Staatsanwaltschaft Dortmund am 06.02.2012 vor.

 

Am 24.02.2012 erhob die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht Dortmund Anklage gegen zehn Personen. Die durch zahlreiche Haftsachen und Umfangsverfahren stark belastete Kammer eröffnete das Hauptverfahren, ließ die Anklage zu und bestimmte als ersten Hauptverhandlungstermin den 20.06.2013. In der andauernden Hauptverhandlung sind derzeit Termine bis Dezember 2013 angesetzt.

 

 

3.    Wie lange dauerten die Ermittlungen von der Tat bis zur Anklageerhebung bei politisch motivierten Straftaten in den letzten 10 Jahren in Dortmund? Bitte nach Jahren und Art der Straftat aufschlüsseln.

 

Hierzu liegen der Landesregierung keine validen Daten vor. Eine entsprechende Statistik gibt es nicht. Eine Sondererhebung, die von Hand vorzunehmen wäre, ist in der Kürze der Zeit nicht möglich.

 

 

4.    Wie lange dauern diese Ermittlungen im Vergleich dazu in anderen großen Städten und im Durchschnitt in ganz NRW?

 

Die Antwort zu Frage 3 gilt entsprechend.

 

 

5.    Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung dazu, wie sich ein mehr als zweijähriger Zeitabstand zwischen Tathandlung und Verfahrenseröffnung auf die Opfer, die Zeugen und auf die mutmaßlichen Täter auswirkt?

 

Verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse liegen der Landesregierung nicht vor.