LANDTAG
NORDRHEIN-WESTFALEN
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Drucksache 16/4164 |
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08.10.2013 |
Antrag
der Fraktion der PIRATEN
Unser Land braucht eine Neukonzeption der Flüchtlingsaufnahme – hin zu einer humanen und dezentralen Unterbringung in ganz NRW
I. Sachverhalt
Asylsuchende werden in Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel auf alle Bundesländer verteilt (AsylVfG §45). Nordrhein-Westfalen ist aufgrund jährlicher Berechnungen entsprechend den Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl verpflichtet, ca. 21 Prozent der Asylsuchenden aufzunehmen. Zu diesem Zweck betreibt das Land mehrere Einrichtungen, u. a. sogenannte Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) in Dortmund und Bielefeld. In den EAE bleiben die ankommenden Menschen in der Regel etwa drei bis acht Tage, danach werden sie auf die Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) in Schöppingen und Hemer verteilt, in denen sie längstens drei Monate verweilen sollen. In den ZUE findet die wichtige Verfahrensberatung statt. Die Verfahrensberatung sorgt für die Beratung in Fragen des Asylverfahrens, vermittelt Fachanwälte und organisiert fehlende Unterlagen und Dokumente. Von den ZUE aus werden die Flüchtlinge schließlich durch die Bezirksregierung Arnsberg auf die 396 Städte und Gemeinden in NRW verteilt – entsprechend dem Einwohner- und Flächenschlüssel.
Aufgrund gestiegener Zugangszahlen (vor allem aus Afghanistan, Syrien und Russland) und mangelnder Vorbereitungen seitens des Landes wird dieses System seit Herbst 2012 stark belastet. Zurzeit werden ankommende Flüchtlinge in verschiedenen Übergangseinrichtungen und Notunterkünften, z. B. in Unna-Massen, Neuss, Burbach und Nieheim, untergebracht. Die EAE und ZUE sind überbelegt: Z. B. wurde die Kapazitätsgrenze in Hemer am 1. Oktober 2013 um ca. 100 Personen überschritten; es werden dort im Schnitt zurzeit 250 Menschen mehr versorgt als ursprünglich vorgesehen. In den ZUE bleiben die Menschen oft nur noch bis zu zwei Wochen und werden dann in die Kommunen weitergeleitet, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Die Kommunen haben aber selbst Schwierigkeiten, Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen, und besitzen weder Erfahrung noch Personal im Bereich der Verfahrensberatung. In den letzten Wochen wurde in der Presse von immer mehr Kommunen berichtet, die Asylbewerber nicht mehr adäquat unterbringen und versorgen können.
Nach §1 Absatz 1 Flüchtlingsaufnahmegesetz sind die Kommunen und Gemeinden des Landes verpflichtet, die ihnen zugewiesenen Menschen aufzunehmen und unterzubringen. Dabei ist das Ministerium für Inneres und Kommunales (MIK) nach § 7 Abs. 3 die oberste Aufsichtsbehörde. Das MIK macht den Kommunen jedoch keinerlei Vorschriften darüber, wie die Menschen in den Kommunen zu versorgen sind. Das spiegelt sich auch im sehr unterschiedlichen Umgang der Kommunen mit den ihnen zugewiesenen Flüchtlingen wider. Teilweise mangelt es in den Unterbringungen an Privatsphäre, ausreichenden hygienischen Verhältnissen und Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe. Schätzungen von Pro Asyl gehen davon aus, dass ein Drittel der Flüchtlinge in NRW in privaten Mietwohnungen, ein weiteres Drittel in kommunalen Unterkünften, die teils Wohnungscharakter haben, und ca. ein Drittel in Lagern lebt. Es gibt Kommunen, die gerade in Gemeinschaftsunterkünften Flüchtlingen nur Sachleistungen statt Bargeld zur Verfügung stellen. Auch die räumliche und technische Ausstattung variiert erheblich.
Am 1.10. wurde der Gesetzentwurf zur Änderung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes (FlüAG) vom Kabinett verabschiedet. Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfes stehen Veränderungen im Zusammenhang mit notwendigen Anpassungen an die aktuelle Rechtsprechung sowie Regelungen der Zuweisung und der Zuweisungskosten. Außerdem bietet die Landesregierung Kommunen, auf deren Gebiet eine Asylbewerberunterkunft des Landes betrieben wird, zukünftig Entlastungen und Anreize an. Mit diesem Entwurf trägt das Land seiner humanitären und rechtlichen Verantwortung gegenüber Flüchtlingen aber nicht ausreichend Rechnung. Andere Bundesländer gehen hier weiter. Exemplarisch werden im Folgenden Beispiele aus den Ländern Baden-Württemberg, Bremen und Berlin vorgestellt.
Baden-Württemberg
Am 23.7.2013 hat das Kabinett in Baden-Württemberg den Gesetzentwurf „Gesetz zur Neuordnung der Aufnahme von Flüchtlingen in Baden-Württemberg, über die Erstattung von Mehraufwendungen aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 18. Juli 2012 und zur Änderung sonstiger Vorschriften“ sowie den Entwurf „Verordnung des Integrationsministeriums über die Durchführung des Flüchtlingsaufnahmegesetzes“ (DVO FlüAG) zur Anhörung freigegeben. Die Landesregierung will damit die Lebensbedingungen von Flüchtlingen in Baden-Württemberg verbessern. Kernpunkte des Gesetzentwurfes sind Verbesserungen der Flüchtlingsunterbringung (Mindeststandards, Favorisierung von Wohnungsunterbringung, urbane Unterkünfte im Ort und nicht weit draußen), Verbesserung der Leistungen (weg vom Sachleistungsprinzip, Deutschkurse von Anfang an) und Verbesserung der Betreuung von Flüchtlingen (verbindliche Standards für die soziale Beratung und Betreuung, Umsetzung der Schulpflicht). Auch in Baden-Württemberg gilt das Konnexitätsgebot.
Bremen
Am 25.4.2012 hat die Bremer Bürgerschaft beschlossen, dass es mehr Flüchtlingen in Bremen ermöglicht werden soll, in privaten Wohnungen zu leben. Kernpunkt der Bestrebungen in Bremen ist es, den geflüchteten Menschen ein selbstbestimmtes Leben und Wohnen zu ermöglichen. Am 7.3.2013 wurde der Mehrheit der Asylsuchenden und Flüchtlinge in Bremen ein sofortiges Recht auf eigene Wohnungen eingeräumt. Bei der Suche nach Wohnungen helfen den Flüchtlingen Berater, damit sie – trotz der angespannten Wohnungssituation in Bremen und möglicher Diskriminierungen von Vermieterseite – eine Chance auf dem Wohnungsmarkt haben.
Berlin
Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) schreibt bestimmte Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte in Berlin vor. Auf die Forderung der Berliner Piratenfraktion nach einem Internetzugang für Bewohner hin werden zukünftig in neuen vertragsgebundenen Unterbringungen Räume mit entsprechender Ausstattung an Hard- und Software sowie Internetzugang zur Verfügung gestellt. Flüchtlingen wird durch diese kostengünstige und einfache Weise ermöglicht, Kontakte zu Verwandten und Bekannten zu halten, Online-Sprachkurse zu belegen und sich über ihre Rechte und Pflichten sowie über die aktuelle Situation in ihren Heimatländern zu informieren.
Am 29.8.13 verabschiedeten alle Fraktionen des Abgeordnetenhauses in Berlin die Erklärung „Gemeinsam wird Berlin seiner Verantwortung gerecht: Recht auf Asyl und Schutz vor Verfolgung und Krieg“. In der Erklärung heißt es u. a., dass Flüchtlinge ein Recht auf menschenwürdige Unterbringung und Betreuung haben. Des Weiteren verurteilte das Berliner Abgeordnetenhaus jede Form von rassistischen, fremdenfeindlichen und Hass schürenden Kampagnen gegen Flüchtlinge.
Auch in NRW gibt es viele Beispiele dafür, wie ein menschenwürdiges Leben für Flüchtlinge gewährleistet werden kann. Ein bundesweit bekanntes Vorbild stammt aus Leverkusen. Dort hat sich gezeigt, dass die dezentrale Unterbringung in Wohnungen nicht nur humaner, sondern auch kostengünstiger ist.
II. Der Landtag stellt fest:
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 hat weitreichende Folgen für die Situation von Flüchtlingen in Deutschland. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren. NRW ist verpflichtet, Flüchtlinge und Asylsuchende menschenwürdig unterzubringen und adäquat zu versorgen.
Die dezentrale Unterbringung in Wohnungen beendet die soziale Isolation und Stigmatisierung von Flüchtlingen in den Gemeinden. Auch die Akzeptanz seitens der einheimischen Bürger wird durch dezentrale Unterbringung gefördert.
Das Leverkusener Modell hat bundesweit Vorbildcharakter und bewährt sich seit mehr als zehn Jahren. Der Landtag empfiehlt den Kommunen in NRW zu prüfen, ob sie das Modell übernehmen können.
Darstellungen eines überraschenden und kaum zu bewältigenden Anstiegs von Flüchtlingszahlen muss in der Öffentlichkeit entschieden entgegengetreten werden. Deutschland nimmt im Verhältnis zur Bevölkerungszahl viel weniger Menschen auf als z. B. Schweden, Belgien oder Luxemburg. In Deutschland wurden 2012 nur 945 Asylsuchende pro eine Million Einwohner registriert. Das ist ein kleiner Beitrag dazu, Menschen zu helfen, die aufgrund der Konflikte in vielen Teilen der Welt in Deutschland Zuflucht und Schutz suchen.
III. Der Landtag beschließt:
Dr. Joachim Paul
Monika Pieper
Frank Herrmann
Simone Brand
und Fraktion