LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/2896

 

07.05.2013

 

 

 

 

Antrag

 

der Fraktion der PIRATEN

 

 

 

 

Keine europaweite Einführung von Gigalinern „durch die Hintertür“ – Folgenabschätzung für NRW dringend erforderlich!

 

 

I. Sachverhalt

 

Sogenannte Gigaliner sind Riesen-Lastkraftwagen mit einer Länge von bis zu 25,25 Metern und einem Gesamtgewicht von bis zu 60 Tonnen. Der Einsatz von Gigalinern ist umstritten. Über die Auswirkungen einer Einführung von Gigalinern unter anderem hinsichtlich der CO2- und Schadstoffbelastung, Transportverlagerung, Straßenverkehrssicherheit sowie Infrastruktur- und Lärmbelastung – samt ihrer externen Kosten für die Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft – herrscht in der Wissenschaft Unklarheit. Experten können nicht abschließend benennen, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen eine flächendeckende Einführung von Gigalinern auf die Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft haben würde. Es gibt jedoch begründete Hinweise darauf, dass die durch den Einsatz von Gigalinern entstehenden Vorteile des Verkehrsträgers Straße gegenüber der Schiene mit der Externalisierung beträchtlicher Kostenteile erkauft werden müssten.

 

Dem in der EU geltenden Subsidiaritätsprinzip Rechnung tragend, räumt die bislang geltende EU-Richtlinie 96/53/EG vom 25. Juli 1996 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, den Verkehr von Gigalinern innerhalb der eigenen Grenzen freizugeben. Der grenzüberschreitende Einsatz ist in der EU jedoch nicht zulässig. In mehreren EU-Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) und der Schweiz wurden oder werden Feldversuche durchgeführt, nur in Schweden und Finnland sind Gigaliner generell zulassungsfähig.

 

In Deutschland beteiligen sich sieben Bundesländer versuchsweise am streng reglementierten Einsatz von Gigalinern auf bestimmten Straßen. Abschließende Erkenntnisgewinne aus dem umstrittenen Modellversuch in Deutschland liegen noch nicht vor. Nordrhein-Westfalen hat sich nach intensiver politischer Debatte dazu entschlossen, sich nicht an diesem Feldversuch zu beteiligen.

 

Am 23. April 2013 hat die Europäische Kommission nun den Legislativvorschlag KOM(2013)195 vorgelegt, mit dem die geltende Richtlinie 96/53/EG überarbeitet werden soll. Bestandteil des Vorschlags ist die Öffnung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Gigalinern zwischen zwei aneinandergrenzenden Mitgliedstaaten unter der Bedingung, dass beide betroffenen Mitgliedstaaten den Einsatz bereits gestatten. Der europäische Gesetzgeber sieht demnach den internationalen Wettbewerb durch die genannten Verkehrstätigkeiten nicht maßgeblich beeinträchtigt, „wenn der grenzüberschreitende Einsatz auf zwei Mitgliedstaaten beschränkt bleibt, in denen die vorhandene Infrastruktur und die Anforderungen der Straßenverkehrssicherheit dies zulassen“. Auf diese Weise beabsichtigt der europäische Gesetzgeber ein Gleichgewicht zwischen dem Recht der Mitgliedstaaten, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, eigene Beförderungslösungen zu beschließen, und der notwendigen Einhaltung des Grundsatzes der Nichtbeeinträchtigung des EU-Binnenmarktes herzustellen.

 

Die beschriebene Regelung zum Einsatz von Gigalinern wurde auf Druck des Europäischen Parlaments in den Richtlinientext mit aufgenommen, um eine parlamentarische Debatte zu ermöglichen. Der Richtlinienvorschlag KOM(2013)195 enthält keine Folgenabschätzung der Öffnung des grenzüberschreitenden Einsatzes von Gigalinern und gibt somit auch keinerlei Auskunft über die zu erwartenden Auswirkungen, inklusive der Mehrkosten durch die erhöhte Beanspruchung von Infrastrukturen, auf die einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen wie Nordrhein-Westfalen als bedeutendem Transitland in der EU.

 

 

II. Der Landtag stellt fest

 

1.    Die Auswirkungen des grenzüberschreitenden Einsatzes von Gigalinern, insbesondere auf stark belastete Transitländer wie Nordrhein-Westfalen, hinsichtlich der CO2- und Schadstoffbelastung, Transportverlagerung, Straßenverkehrssicherheit sowie Infrastruktur- und Lärmbelastung sind im erforderlichen Umfang wissenschaftlich noch nicht geklärt. Zu diesem Zwecke laufen sowohl in einigen deutschen Bundesländern als auch in anderen EU-Mitgliedstaaten Feldversuche zur genaueren Bestimmung der Folgeauswirkungen und Effekte.

 

2.    Mittels der Zulassung des grenzüberschreitenden Einsatzes von Gigalinern zwischen zwei aneinandergrenzenden EU-Mitgliedstaaten, die den Einsatz (beispielsweise zu Testzwecken) bereits erlauben, wird politischer wie auch wirtschaftlicher Druck auf diejenigen Mitgliedstaaten ausgeübt, die den innerstaatlichen Einsatz nicht zulassen, sich der Einführung von Gigalinern anzuschließen. Politischer wie wirtschaftlicher Druck ergibt sich insbesondere aus den zu erwartenden Wettbewerbsnachteilen für die nationale Logistikbranche im Vergleich zur Konkurrenz aus EU-Staaten, die Gigaliner zulassen.

 

3.    Die Zulassung des Gigaliner-Verkehrs führt aufgrund der durch niedrigere Stückkosten erzielten Wettbewerbsvorteile des Straßengüterfernverkehrs gegenüber dem Schienengüterfernverkehr sowie dem kombinierten Verkehr zu einer womöglich erheblichen Verlagerung des Transportaufkommens von der Schiene auf die Straße.

 

4.    Die konditionierte Öffnung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Gigalinern in der EU, wie im Legislativvorschlag KOM(2013)195 vorgesehen, läuft der von der nordrhein-westfälischen Landesregierung verfolgten verkehrspolitischen Strategie der Verlagerung des Frachtverkehrs von der Straße auf die Schiene grundsätzlich zuwider.

 

5.    Das Fehlen einer in vergleichbaren EU-Legislativvorschlägen üblicherweise enthaltenen Folgenabschätzung sowie die Nichtberücksichtigung der anfallenden Mehrkosten auf nationaler und regionaler Ebene, insbesondere in Bezug auf stark belastete Transitländer wie Nordrhein-Westfalen, stellt ein eklatantes Versäumnis seitens des europäischen Gesetzgebers dar. In dieser Form ist der Legislativvorschlag KOM(2013)195 daher nicht zustimmungsfähig.

 

 

III. Der Landtag beschließt

 

Der Landtag bittet die Landesregierung sich auf allen Ebenen dafür einsetzen, dass

 

1.    es in der Europäischen Union nicht zu einer Einführung des Gigaliner-Verkehrs „durch die Hintertür“ kommt, indem im Zuge der Erlaubnis des grenzüberschreitenden Einsatzes von Gigalinern zwischen zwei aneinandergrenzenden EU-Mitgliedstaaten, politischer und wirtschaftlicher Druck auf diejenigen Mitgliedsstaaten ausgeübt wird, die den Einsatz ablehnen.

 

2.    ohne vorherige ganzheitliche Folgenabschätzung, insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen auf stark belastete Transitländer wie Nordrhein-Westfalen, keine Liberalisierungsschritte des Gigaliner-Verkehrs in der EU unternommen werden.

 

3.    entsprechende Artikel aus dem vorliegenden Legislativvorschlag KOM(2013)195 gestrichen bzw. angepasst werden.

 

4.    durch geeignete Maßnahmen eine noch stärkere Belastung der Straße durch den Güterverkehr im Allgemeinen und den Schwerlastverkehr im Besonderen vermieden wird. Dazu zählt insbesondere der Erhalt und Ausbau der Schiene für den Gütertransport.

 

 

 

 

Dr. Joachim Paul

Monika Pieper

Oliver Bayer

Stefan Fricke

Nicolaus Kern

 

 

und Fraktion