LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/2891

 

07.05.2013

 

 

 

 

Antrag

 

der Fraktion der PIRATEN

 

 

 

 

Wirksame Bekämpfung von Menschenhandel nur in Verbindung mit nachhaltigen Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung der Betroffenen möglich – Richtlinienkonforme Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU

 

 

 I.    Menschenhandel in NRW bedeutet Verbrechen im Dunkelfeld

 

Die im Lagebild des Landeskriminalamtes NRW dargelegten rückläufigen Zahlen im Jahr 2011 bestätigen die große Besorgnis darüber, dass die Aussagebereitschaft der von Menschenhandel betroffenen Kinder, Frauen und Männer zunehmend seltener geworden ist. Im Jahr 2011 gab es in NRW nur 95 Verfahren, bei denen es um Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ging. Im Jahr zuvor waren es noch 131 Verfahren. Die Zahl der Opfer sank von 147 auf 113, die der Tatverdächtigen von 182 auf 148. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass ein Rückgang dieser menschenverachtenden Form der Kriminalität zu verzeichnen war. Die Kooperation mit den Betroffenen ist einfach schwieriger geworden und eine wirksame Bekämpfung des Meschenhandels somit erschwert (nach 62 Hinweisen und Anzeigen im Jahr 2010, waren es im Jahr 2011 nur noch 28).

 

Diese dramatische Entwicklung hängt auch damit zusammen, dass der Kampf gegen Menschenhandel immer noch primär als Kriminalitätsbekämpfung verstanden wird. Danach sehen Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte die Betroffenen von Menschenhandel vorrangig als Zeuginnen und Zeugen im Rahmen der Strafverfolgung gegen die Täter oder als Beschuldigte auf Grund ihres illegalen Aufenthaltes. Zwischen Verbrechensbekämpfung, Sicherheits- und Migrationspolitik fehlt es an der Wahrnehmung der Betroffenen als Rechtssubjekte. Da verwundert es nicht, dass sich das Misstrauen der Betroffenen in staatliche „Hilfe“ verstärkt. Rechte auf (vorübergehenden) Aufenthalt, sichere Unterbringung, materielle und psychosoziale Unterstützung, Entlohnung und Entschädigung können die Betroffenen nur wahrnehmen, wenn sie als Zeuginnen oder Zeugen zu einer Aussage bereit sind. Als ersten Schritt ist es daher notwendig, Aufenthaltsmöglichkeit und/oder Schutzmaßnahmen unabhängig davon zu gewährleisten, ob die Betroffenen sich dazu entscheiden eine Zeugenaussage zu machen oder nicht. Einerseits verhindert dies das Risiko, die Betroffenen für die strafprozessrechtliche Verfolgung zu instrumentalisieren. Anderseits kann dem Vorwurf entgegengetreten werden, die Aussage der Opferzeugen sei durch bestimmte Maßnahmen „erkauft“ worden.

 

 

II.    Entkoppelung von Aufenthaltserlaubnis und/oder Schutzmaßnahmen von der Kooperationsbereitschaft der Betroffenen

 

Im Rahmen eines öffentlichen Fachgesprächs des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 19. März 2012 zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels waren sich die Experten einig, dass das Aufenthaltsrecht Dreh- und Angelpunkt für die Verbesserung der sozialen, aber auch rechtlichen Lage der von Menschenhandel Betroffenen ist. Dabei könnte das „Italienische Modell“ als Vorlage dienen. Es sieht im Wesentlichen die Abkoppelung des Aufenthaltsrechtes von Opfern des Menschenhandels von ihrer Aussagebereitschaft bei den Strafverfolgungsbehörden vor. Die damit verbundene Skepsis, dass Betroffene ihre Notsituation nur vortäuschen, um die Schutzmaßnahmen in Anspruch nehmen zu können, wurde bislang weder in Italien noch in anderen Ländern mit ähnlichen Systemen wie z.B. in den Niederlanden, festgestellt. Eine aufenthaltsrechtliche Regelung unabhängig von der Kooperationsbereitschaft ist jedenfalls unerlässlich und aus humanitären Gründen geboten, um den Betroffenen die notwendige Unterstützung und Betreuung zu ermöglichen. So bestätigte es auch der Petitionsausschuss im Bundestag.

 

In der Richtlinie 2011/36/EU werden Fragen zum Aufenthaltsstatus der Betroffenen nicht geregelt. Zu diesem Zweck wird in Erwägungsgrund 17 auf die Richtlinien 2004/81/EG und 2004/38/EG (Umsetzung in Deutschland mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (Richtlinienumsetzungsgesetz), in Kraft seit 28.08.2007) verwiesen. Die vorliegende Richtlinie erfasst jedoch Schutzmaßnahmen für Opfer von Menschenhandel unabhängig von ihrer Kooperationsbereitschaft. Dieser Ansatz genügt menschenrechtlichen Grundsätzen und ist für die Gewinnung von Zeugen erforderlich. Kritisch ist dabei jedoch Erwägungsgrund 18 zu sehen, wonach die Mitgliedstaaten nach dem Ablauf der Zeit, in der das Opfer von Menschenhandel über die mögliche Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden nachdenkt, keine Hilfe und Unterstützung mehr für die Opfer gewähren müssen. Nur im Falle von notwendiger medizinischer Hilfe soll diese weiter gewährt werden. Eine effektive Strafverfolgung setzt jedoch voraus, dass die Betroffenen, die in Strafverfahren als Zeugen aussagen, ein Aufenthaltsrecht in Deutschland über die Dauer des Strafverfahrens hinaus erhalten. Empirische Studien zur Auswirkung ergänzender Bleiberechtsregelungen auf die Aussagebereitschaft von Betroffenen von Menschenhandel und eine damit gegebenenfalls verbundene Erhöhung der Aufklärungsquote existiert laut Innenministerium bislang nicht. Nach § 25 Abs. 4 S. 2 Aufenthaltsgesetz ist eine Aufenthaltserlaubnis verlängerbar, wenn die Aufenthaltsbeendigung eine außergewöhnliche Härte darstellt. Individuelle körperliche oder psychische Belastungen, die in kausalem Zusammenhang mit Menschenhandel stehen, finden bislang jedoch kaum Beachtung.

 

 

III.    Abkehr von der Dominanz der Strafverfolgung hin zu einem menschenrechtlichen Ansatz – Richtlinienkonforme Umsetzung der EU-Richtlinie 2011/36/EU

 

Die fristgerechte Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU bis zum 6. April 2013 scheiterte an den unterschiedlichen Ansichten der schwarz-gelben Bundesregierung. Es ist geplant, dieses Versäumnis nun in den nächsten Monaten nachzuholen. Neben der strafrechtlichen Änderungen sollen auch Zugeständnisse im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht erfolgen. Trotz der klaren Vorgaben wird der vom Bundesministerium der Justiz vorgelegte Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/Jl des Rates gegen Menschenhandel den vielschichtigen Anforderungen des Richtliniengebers jedoch nicht gerecht. Die Richtlinie geht von einem integrierten, ganzheitlichen und menschenrechtsbasierten Vorgehen bei der Bekämpfung von Menschenhandel aus. Der Entwurf beschränkt sich bislang aber allein auf die Umsetzung des strafrechtlichen Teils der Richtlinie (Art. 2-10). Unbeachtet bleiben jedenfalls die folgenden Vorgaben:

 

·         Unterstützung und Betreuung von Opfern des Menschenhandels (Art. 11);

 

·         Schutz der Opfer von Menschenhandel bei Strafermittlungen und Strafverfahren (Art. 12);

 

·         allgemeinen Bestimmungen über Unterstützungs-, Betreuungs- und Schutzmaßnahmen für Kinder, die Opfer von Menschenhandel sind (Art. 13);

 

·         Unterstützung von Kindern, die Opfer von Menschenhandel sind (Art. 14);

 

·         Schutz von Kindern, die Opfer von Menschenhandel sind, bei Strafermittlungen und Strafverfahren (Art. 15);

 

·         Unterstützung, Betreuung und Schutz unbegleiteteter Kinder, die Opfer von Menschenhandel sind (Art. 16);

 

·         Entschädigung der Opfer (Art. 17);

 

·         Regelungen zur Prävention (Art. 18);

 

·         Einsatz nationaler Berichterstatter oder gleichwertiger Mechanismen (Art. 19);

 

·         Maßnahmen zur Koordination der Strategie der Union zur Bekämpfung des Menschenhandels (Art. 20).

 

Auch die Neue Richtervereinigung, der Deutsche Juristinnenbund und das Deutsche Institut für Menschenrechte Berlin begegnen dieser einseitigen Auslegung der Richtlinie höchst kritisch. Begründend führen letztere aus, dass nach Art. 288 AEUV die Richtlinien hinsichtlich ihres Ziels jedenfalls verbindlich sind, es den Mitgliedstaaten nur überlassen ist, die Wahl der Form und Mittel zur Erreichung dieses Ziels zu wählen. Der EUGH hat diese Wahlfreiheit insoweit präzisiert, als die Mitgliedstaaten Richtlinien unter der Berücksichtigung der praktischen Wirksamkeit (effet utile) in der am besten geeigneten Weise umzusetzen haben. Diesem Gebot kommt besondere Bedeutung zu, wenn wie in vorliegendem Fall, subjektive Rechtspositionen betroffen sind und die bestehenden Ermessensvorschriften im deutschen Recht nicht ausreichen. Es besteht somit ein Regelungsbedarf, wonach die in der Richtlinie 2011/36/EU aufgezählten Maßnahmen zur Unterstützung und Betreuung der Betroffenen dringend notwendig sind und daher einheitlich in nationales Recht umgesetzt werden müssen.

 


 

 

IV.    Der Landtag stellt fest:

 

1.    Menschenhandel ist eine schwere Form der Menschenrechtsverletzung und die in diesem Zusammenhang begangenen Straftaten können nur durch ein effektives Zusammenspiel von Strafverfolgung, Opferschutz und Prävention wirksam bekämpft werden. Strafverfolgung alleine genügt nicht. Es müssen gezielte und nachhaltige Maßnahmen zum Schutz der Betroffenen sowie zu deren Unterstützung getroffen werden, wobei Kinder und unbegleitete Kinder und Minderjährige als ganz besonders schutzwürdig anzusehen sind;

 

2.    Die Strafverfolgung muss von den Opferrechten entkoppelt werden. Die Rechte der Betroffenen müssen unabhängig davon gewährleistet werden, ob sie sich für eine Kooperation bei der Strafverfolgung entscheiden oder nicht. Denn der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a Aufenthaltsgesetz und die damit verbundene Möglichkeit Unterstützungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen, ist bislang nicht an die persönliche Situation der Betroffenen geknüpft. Dies betrifft Menschen, die traumatisiert sind, die aus Angst nicht aussagen können oder deren Aussage strafrechtlich nicht verwertbar ist. Das birgt die große Gefahr, dass die Betroffenen als Zeugen in Strafverfahren instrumentalisiert werden, da nicht deren Wohlergehen und Rechte, sondern eine erfolgreiche Strafverfolgung Grund für die Erteilung des Aufenthaltstitels ist. Der Schutz vor Ausweisung ist für die Betroffenen von Menschenhandel von großer Bedeutung, um sie zu schützen und gleichzeitig die Täter effektiv zu verfolgen;

 

3.    Wenn sich Betroffene dazu entschließen, eine Aussage zu machen, dann ist ihnen größtmöglicher Schutz während und nach dem Verfahren zu gewährleisten;

 

4.    Die Verabschiedung der Richtlinie 2011/36/EU mit dem Ziel, neben der Verbesserung der Strafverfolgung und Verhinderung von Straftaten auch einen besseren Schutz der Betroffenen zu erreichen, ist zu begrüßen.

 

5.    Der vorliegende Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU des europäischen Parlamentes und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/Jl des Rates gegen Menschenhandel ist nicht ausreichend und auch nicht richtlinienkonform.

 

 

V.    Der Landtag beschließt:

 

1.    Der Landtag fordert die Landesregierung auf sich auf Bundesebene für die zügige und richtlinienkonforme Umsetzung der Richtlinie 36/2011/EU einzusetzen;

 

2.    Der Landtag fordert die Landesregierung auf, Gesetzesvorhaben auf Bundesebene zu unterstützen, die eine Änderung des Aufenthaltsrechts für Betroffene von Menschenhandel unabhängig von ihrer Kooperationsbereitschaft zum Inhalt haben;


 

 

3.    Der Landtag fordert die Landesregierung auf eine externe Institution mit dem Auftrag zu betrauen, eine empirische Studie zu den Auswirkungen ergänzender Bleiberechtsregelungen auf die Aussagebereitschaft von Betroffenen von Menschenhandel und einer damit gegebenenfalls verbundenen Erhöhung der Aufklärungsquote zu verfassen.

 

 

 

 

Dr. Joachim Paul

Monika Pieper

Dirk Schatz

Frank Herrmann

 

 

und Fraktion