LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/2689

 

22.04.2013

 

 

 

 

Antwort

 

der Landesregierung

auf die Kleine Anfrage 972 vom 5. März 2013

der Abgeordneten Birgit Rydlewski   PIRATEN

Drucksache 16/2325

 

 

 

Gleichstellung des Krankheitsbildes Dyskalkulie mit dem der Dyslexie in Schulen in Nordrhein-Westfalen

 

 

 

Die Ministerin für Schule und Weiterbildung hat die Kleine Anfrage 972 mit Schreiben vom 22. April 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter beantwortet.

 

 

 

Vorbemerkung der Kleinen Anfrage

 

Wie das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen völlig zu Recht auf seiner Webseite feststellt, hat eine

 

„beträchtliche Anzahl von Kindern Probleme beim Erwerb der Grundfertigkeiten im Rechnen. Dies hat für die betroffenen Kinder nicht nur Auswirkungen auf das schulische Lernen, sondern auch auf die emotionale und persönliche Entwicklung insgesamt. Es ist daher eine wichtige Aufgabe der Schulen, diese Kinder möglichst frühzeitig und effektiv zu fördern.“

 

(http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Eltern/Beratung/LRS/index.html)

 

In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die Dyslexie unter der Ziffer R48.0 erfasst; die Rechenstörung ist der Ziffer F81.2 zugeordnet und dort wie folgt definiert:

 

"Diese Störung bezeichnet eine Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden".

 

Dyskalkulie ist also ebenso ein klassifiziertes Krankheitsbild wie Dyslexie.

 

Während aber im Runderlass des Kultusministeriums vom 19. 7. 1991 (GABl. NW. I S. 174) über die „Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)“ unter Ziffer 4 die besondere Berücksichtigung der Lese- und Schreibschwäche bei Leistungsfeststellung und -beurteilung gefordert wird, wird die Rechenstörung dort überhaupt nicht erwähnt.

In den 16 Jahre später erstellten „Grundsätzen zur Förderung von Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04.12.2003 i.d.F. vom 15.11.2007) werden Rechenstörungen zwar immerhin erwähnt, die Gleichbehandlung von Dyslexie und Dyskalkulie insbesondere bei Leistungserhebung und Zeugnissen aber noch ausgeschlossen:

 

„Das Erscheinungsbild von besonderen Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern im Rechnen (Rechenstörungen) kann mit einer Lese-Rechtschreibschwäche nicht gleichgesetzt werden. Folglich können auch bei der Leistungsbewertung Rechenstörungen nicht in gleicher Weise berücksichtigt werden wie besondere Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben.“

 

Diese Auffassung wird aber (mittlerweile) nicht mehr von allen Landesregierungen geteilt. So werden in den „Fachlichen Empfehlung zu Fördermaßnahmen für Kinder und Jugendliche mit besonderen Lernschwierigkeiten in den allgemein bildenden Schulen (außer Förderschule) in Thüringen“ vom 20. August 2008 die „Probleme beim Sprechen, Lesen und Schreiben (Schriftspracherwerb)“ den „Problemen beim Rechnen und in mathematischen Lernprozessen“ in allen Belangen (sowohl bei den Fördermaßnahmen, aber auch bei der Berücksichtigung dieser Krankheitsbilder bei Leistungserhebung und Zeugnissen) gleichgestellt.

 

 

Die Fragen 1 und 2 werden zusammen beantwortet.

 

1.         Anerkennt die Landesregierung, dass Dyskalkulie ein ebenso klassifiziertes Krankheitsbild wie die Dyslexie ist?

 

2.       Wenn nein, warum nicht?

 

Für die pädagogischen Fragestellungen eines schulischen Bildungssystems sind nicht die Klassifizierungen nach der ICD 10 der WHO maßgeblich. Das gilt sowohl für die Klassifizierung von Krankheitsbildern als beispielsweise für Behinderungen. Im schulischen Sinne sind allein pädagogische Gesichtspunkte ausschlaggebend, weshalb anstelle der aufgeworfenen medizinischen Begrifflichkeiten in diesem Kontext schulfachlich von besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben  oder  im Rechnen  gesprochen  wird.

 

 

Die Fragen 3, 4 und 5 werden zusammen beantwortet.

 

3.       Wenn ja, hält die Landesregierung die Gleichbehandlung von Dyskalkulikern und Legasthenikern nicht nur im Bereich der jeweiligen Förderung, sondern auch bei der Leistungserhebung und den Zeugnissen von Schülerinnen und Schülern in NRW für geboten?

 

4.       Wenn ja, wie wird diese Gleichbehandlung derzeit gewährleistet bzw. soll sie zukünftig gewährleistet werden?

 

5.       Wenn nein, warum nicht?

 

Sowohl bei einer Lese-Rechtschreibschwäche als auch bei einer Rechenschwäche sind die Lehrkräfte der Schulen aufgefordert, Schülerinnen und Schüler im Rahmen der individuellen Förderung so zu unterstützen, dass sie ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und Fortschritte positiv erleben können. Ein Unterricht, der auf Individualisierung setzt, bietet dazu sowohl im Rahmen innerer als auch äußerer Differenzierung entsprechende Möglichkeiten. Die Schulen erarbeiten dazu schulinterne Förderkonzepte. Um die diagnostischen Kompetenzen der Lehrkräfte zu verbessern, bieten viele Kompetenzteams Fortbildungen an; die Schulen können aber auch im Rahmen ihres eigenen Fortbildungsbudgets bei Bedarf hier Unterstützung erhalten.

Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen den Auswirkungen der Phänomene Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) und Rechenschwäche. Während Schülerinnen und Schüler mit einer LRS ihre fachbezogenen Kompetenzen beispielsweise durch mündliche Beiträge in den Unterricht einbringen können und somit nachweisen können, dass sie beispielsweise Zusammenhänge in Texten durchdrungen haben, ist dies im Bereich von Rechenoperationen im Mathematik-Unterricht sowie in anderen Fächern, in denen mathematische Kompetenzen gefordert werden, oftmals nur bedingt möglich. Denn die möglicherweise verfehlten Rechenoperationen führen in der Konsequenz leider dann zu falschen Ergebnissen, die meistens nicht durch mündliche Beiträge kompensiert werden können.

Aus diesem Grund ist ein Verzicht auf eine Benotung nach den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung  wie ihn der Runderlass „Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)“  phasenweise ermöglicht -  für das Phänomen der Rechenschwäche nicht einfach anwendbar. Dies entspricht auch der Haltung der Kultusministerkonferenz (KMK).

Unabhängig davon gilt jedoch, dass Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler mit ausgeprägten Rechenstörungen ermutigend unterstützen und ihnen – im Rahmen ihrer pädagogischen Gestaltungsspielräume – Möglichkeiten geben, ihre Leistungen und Leistungsfortschritte zu zeigen.

Schulen können Schülerinnen und Schüler  mit einer Rechenschwäche im Rahmen der individuellen Förderung zum Beispiel dadurch unterstützen, dass sie ihnen mehr Zeit für die Bearbeitung von Aufgaben einräumen oder Aufgabenformate wählen, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, auf vorhandenen mathematischen Kompetenzen aufbauend die Anforderungen der Lehrpläne zu erreichen. Zu solchen Gestaltungsspielräumen im Rahmen des schulischen Alltags gehört es auch, durch ergänzende Aufgaben, die thematisch angemessen sind, diesen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit zu zeigen. Dieses kann dann im Rahmen der Leistungsbewertung anerkennend berücksichtigt werden.

Ein grundsätzlicher „Notenschutz“  durch ein Aussetzen der Benotung in Zeugnissen ist jedoch – nicht zuletzt aus Gründen der Gleichbehandlung – im Bereich der Rechenstörungen nicht zulässig, denn ein Abweichen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsbewertung würde zu einer Bevorzugung der Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern führen.