LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/2630

 

16.04.2013

 

 

 

 

Antrag

 

der Fraktion der PIRATEN

 

 

 

 

Verschlechterung der Prozesssituation für Rechtsuchende durch die Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts verhindern

 

 

I.   Barrieren verhindern – Wirksamen Zugang zum Recht gewährleisten

 

Prozesskostenhilfe ist unabdingbar, um den Menschen in Nordrhein-Westfalen unabhängig von ihrem Vermögen und Einkommen in gleicher Weise den Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten. Entscheidend ist lediglich, dass die Erfolgsaussichten und das Kostenrisiko vernünftig abgewogen werden. Mit dem vom Bundesministerium für Justiz vorgelegten Gesetzentwurf (BT-Drs. 17/11472) soll die Prozesskostenhilfe (PKH) und Beratungshilfe nun „effizienter“ gestaltet werden. Das darin vorgesehene Kostensparziel führt jedoch dazu, dass einkommensschwächere Menschen an der Verteidigung oder Verwirklichung ihrer begründeten Rechte in erheblicher und unverhältnismäßiger Weise gehindert werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass neben dem verfassungsrechtlichen Gebot auf einen wirksamen und gleichberechtigten Zugang zum Recht (Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) auch das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 3 lit c EMRK; Art. 47 Charta der Grundrechte der Europäischen Union) verletzt würde. Der vorliegende Gesetzentwurf ist daher abzulehnen.

 

 

II.  Hauptkritikpunkte am Entwurf des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts

 

Im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses im Bundestag am
13. März 2013, kritisierten viele Experten, dass der Entwurf dem Konzept „Gleiche Leistung für weniger Geld“ nicht standhalten kann. Auf der einen Seite birgt die Reform verfassungsrechtliche Bedenken, da einkommensschwächeren Menschen der Zugang zu Gerichten oder zu Rechtsrat unverhältnismäßig erschwert wird. Dies geschieht u.a. durch eine Einschränkung des Personenkreises, welcher Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen darf, durch die Einschränkung der Notwendigkeit der Vertretung und durch erweiterte Möglichkeiten der Aufhebung. Auf der anderen Seite kündigt der Entwurf eine Erhöhung der Personalkosten im Bereich der Justiz an, welche zu nicht unerheblichen Kostenerhöhungen im Landeshaushalt Nordrhein-Westfalen führen wird. Darüber hinaus wird mit Verfahrensverzögerungen zu rechnen sein, die mit der umfassenden Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zusammenhängen.

 

 

Unzureichende Analyse des Ausgabenanstiegs

 

Für viele Experten ist in hohem Maße fraglich, ob die Entwicklung der Ausgaben für die staatliche Kostenhilfe in den letzten Jahren die von den Bundesländern vorgeschlagenen Einsparungen rechtfertigen können. Der Gesetzesvorschlag soll Kosten sparen, die nach Ansicht des Gesetzgebers in den letzten Jahren zugenommen haben. Die Experten gaben dabei jedoch zu bedenken, dass die genaue Analyse vielmehr der Frage bedarf, weshalb die Ausgaben für Prozesskostenhilfe seit Jahren steigen. Zum einen habe der Hilfebedarf in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund der relativen Zunahme einkommensschwächerer Personen zugenommen. So stieg die Zahl der Personen von 2003 bis 2008 mit Einkommen unter 900 Euro um rund 10 Prozent und die sinkenden Einkommen haben die Verschuldungsproblematik privater Haushalte verstärkt. Ferner sei die Neuordnung und Schaffung neuer Gebührentatbestände wie z. B. die Anhebung der Rechtsanwaltsvergütungen mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zum 01.07.2004 maßgeblich verantwortlich für den Anstieg der Prozesskosten. Nicht selten übersteigen die Rechtsanwaltsgebühren die mit der Klage geltend gemachte Summe ganz erheblich. Zuletzt wurden in den vergangenen Jahren mit dem Familien- und Sozialhilferecht zwei Rechtsgebiete reformiert, die in besonderer Weise prozesskostenhilferelevant sind. So konnten unklare Normen im Bereich des SGB II erst durch die Rechtsprechung und Auslegung der Gerichte geklärt werden.

 

Auf Grund dieser Tatsachen ist es nur schwer nachzuvollziehen, weshalb die Landesregierung keine Erklärung dafür abgeben konnte, welche Gründe zu dem erheblichen Anstieg der Ausgaben in den Jahren 2000 bis 2006 geführt haben (Vorlage 16/446). Die Statistiken für Nordrhein-Westfalen belegen jedenfalls, dass seit dem Jahre 2006 die Zahlen zumindest stagnieren oder sogar rückläufig sind. Die moderate Entwicklung der Ausgaben für PKH bleibt somit deutlich hinter dem deutlichen Anstieg von einkommensschwächeren Menschen. Laut Sozialbericht NRW 2012 war im Jahr 2010 mehr als jede siebte Person von relativer Einkommensarmut betroffen (14,7 %). In der Zeit von 2000 bis 2009 hat sich das preisbereinigte verfügbare Pro-Kopf-Einkommen nicht verändert. 2010 lag der durchschnittliche preisbereinigte Bruttostundenlohn mit 18,80 Euro sogar unter dem Niveau des Jahres 2000 (19,20 Euro). Dennoch lassen sich laut Landesregierung die finanziellen Auswirkungen der beabsichtigten Reform kaum prognostizieren. Dies verstärkt den Eindruck, dass die PKH jedenfalls nicht so wesentlich gestiegen ist, dass eine Begrenzung dieser Ausgaben unausweichlich erscheint.

 

 

Unverhältnismäßigkeit der Einsparungen im Vergleich zu den Auswirkungen insbesondere im Familienrecht

 

Auch bei der Beurteilung der Einsparungen im Vergleich zu den einschneidenden Auswirkungen auf einkommensschwächere Menschen waren sich viele Experten einig: Die vorgesehenen Änderungen sind weder angemessen noch verhältnismäßig und stellen einen Rückschritt der bisherigen Regelungen dar. Schon allein eine Erhöhung der Ratenzahlungsdauer um zwei Jahre sei nicht moderat. Sie bedeute eine bis zu sechs Jahre andauernde finanzielle und psychische Belastung der Betroffenen und würde deren Entschluss, einen Rechtsstreit einzugehen, mindern.

 

Die Auswirkungen werden zudem für Rechtssuchende im Familienrecht besonders einschneidend sein. Wie die dem Gesetzentwurf beigefügte Statistik zeigt, werden rund 62 % aller Prozesskostenhilfeanträge beim Familiengericht gestellt und rund 58 % werden vom Familiengericht beschlossen. Dazu kommt der Umstand, dass Kosten für familienrechtliche Streitigkeiten nicht durch eine Rechtsschutzversicherung gedeckt sind. Ein grundlegendes Problem betreffe laut Experten auch den Umstand, dass die Parteien in der Familiengerichtsbarkeit oft Alleinerziehende sind. Da diese Personengruppe zu 90 % Frauen betrifft, sei zudem eine überproportionale Betroffenheit von Frauen zu erwarten (laut Sozialbericht NRW 2012 sind Alleinerziehende und ihre Kinder von einem stark überdurchschnittlichen Armutsrisiko von 37,6% betroffen). In der Anfangsphase des Alleinerziehens werden insbesondere Unterhalts-, Sorgerechts und Umgangsstreitigkeiten geklärt. Die Einkommen Alleinerziehender sind oftmals sehr gering und die Verpflichtung zu Ratenzahlung eine schwere Belastung. Somit würde hier auf unverhältnismäßige Weise gespart werden. Im Vergleich zu den relativ geringen Einsparungen wären jedoch die Folgen für die Betroffenen, die ihre Prozesskostenhilfe mit jahrelangen Ratenzahlungen über Kleinstbeträge aufbringen müssen, beträchtlich.

 

 

Mehrbedarf im Personalhaushalt der Justiz

 

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll durch eine Reihe von Maßnahmen das Ziel erreicht werden, dass die Gerichte die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH umfassend aufklären, um ungerechtfertigte PKH-Bewilligungen zu vermeiden und einer missbräuchlichen Inanspruchnahme von PKH entgegenzuwirken. Vorab ist zu erwähnen, dass sich das Gesetzesvorhaben auf vermutete und nicht näher belegbare Missbrauchsfälle bezieht. Der Entwurf beschränkt sich darauf, sämtliche Antragstellenden unter Generalverdacht zu stellen. Die Experten weisen daher ausdrücklich auf den erhöhten Verwaltungsaufwand hin, der mit erheblichen Personalkosten für die Besetzung von Stellen für Richter, Rechtspfleger und Justizangestellte verbunden sein wird. Diese mit der Umsetzung verbundenen Kosten werden zwar unter „Erfüllungsaufwand der Verwaltung“ im Gesetzentwurf angesprochen, jedoch nicht in ihrer Höhe angegeben. Auf Grundlage dieses Gesetzentwurfes müsste Nordrhein-Westfalen somit unverzüglich eine Aufstockung des Personals vornehmen, um dem Justizgewährungsanspruch nachzukommen, denn zu lange Bearbeitungszeiten führen ansonsten zu einer nicht vertretbaren Verkürzung der Verfahrensrechte.

 

 

III. Der Landtag stellt fest:

 

1.      der vorliegende Gesetzentwurf begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken und birgt zudem die Gefahr, gegen höherrangiges (EU-) Recht zu verstoßen, da er einkommensschwächeren Menschen den Zugang zu den Gerichten oder zu Rechtshilfe in erheblicher und unverhältnismäßiger Weise erschwert;

 

2.      die moderate Entwicklung der Ausgaben für Prozesskostenhilfe unter Berücksichtigung der Zunahme einkommensschwächerer Menschen, der Schaffung neuer Gebührentatbestände sowie der Notwendigkeit zur Klärung von SGB II Tatbeständen, rechtfertigt das im Gesetzentwurf gesetzte Kostensparziel nicht;

 

3.      die Verlagerung der Überprüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf Rechtspfleger und Urkundsbeamten wird nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer zusätzlichen Belastung der Gerichte führen und mit erheblichen Personalkosten verbunden sein.

IV. Der Landtag beschließt:

 

1.      der Landtag lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf zur „Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts“ (BT-Drs. 17/11472) ab;

 

2.      der Landtag fordert die Landesregierung auf, Gesetzesvorhaben auf Bundesebene nicht zu unterstützen, die eine Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts zum Nachteil von einkommensschwächeren Menschen zur Folge hätten;

 

3.      der Landtag fordert die Landesregierung auf, dem Rechtsausschuss sowie dem Ausschuss für Haushalt und Finanzen, einen Bericht vorzulegen, welcher die im Rahmen der Öffentlichen Anhörung vom 13.3.2013 kritisierten Auswirkungen des Gesetzentwurfes auf den Justizhaushalt in NRW erläutert und zu den Ausgaben bzw. Einsparungen sowie den missbräuchlichen Verwendungen von Prozesskostenhilfe in Nordrhein-Westfalen Stellung nimmt.

 

 

 

 

Dr. Joachim Paul

Monika Pieper

Dirk Schatz

Torsten Sommer

 

 

und Fraktion