LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/2584

 

10.04.2013

 

 

 

 

Antrag

 

der Fraktion der PIRATEN

 

 

Inhaltliche Stellungnahme gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG zum

 

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Ein-/ Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union

KOM(2013) 95 final

 

und

 

Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Registrierungsprogramm für Reisende

KOM(2013) 97 final

(„Smart Borders“-Paket)

 

 

Der Landtag beschließt:

 

Der Landtag Nordrhein-Westfalen bittet die Landesregierung, sich dafür einzusetzen, dass der Bundesrat folgende Punkte in seiner Stellungnahme berücksichtigt:

 

 

Der Bundesrat möge gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG zum Legislativvorschlag KOM(2013) 95 folgende Stellungnahme abgeben:

 

1.      Der Bundesrat anerkennt das Ziel der Europäischen Kommission, mit dem Verordnungsvorschlag KOM(2013) 95 die Verwaltung der Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Schengen-Raum) zu verbessern und somit den Ein- und Ausreiseverkehr an den Außengrenzen effizienter und sicherer zu gestalten.

 

2.      Der Bundesrat hat allerdings grundsätzliche Zweifel daran, dass mit der Einführung eines Einreise-/ Ausreisesystems (EES) die von der Europäischen Kommission gewünschten Sicherheits- und Effizienzgewinne im Außengrenzenmanagement erzielt werden können. Vielmehr bewertet der Bundesrat das vorgeschlagene EES als unverhältnismäßige Komplettüberwachung von Reisenden aus Drittstaaten, die zu einer menschenunwürdigen Vorverurteilung von Nicht-EU-Ausländern führt.

3.      Beim Verordnungsvorschlag KOM(2013) 95 bestehen nach Auffassung des Bundesrats schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken, sowohl hinsichtlich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als auch des deutschen Verfassungsrechts. Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene massenhafte Erhebung, Speicherung und behördliche Weitergabe von personenbezogenen Daten (u.a. Name, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Geschlecht, Reisedokument, ausstellende Behörde, Fingerabdrücke) im Zuge der Einführung eines Einreise-/ Ausreisesystems zur Erfassung der Einreise- und Ausreisedaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen des Schengen-Raums ist aus Sicht des Bundesrats mit dem in der EU-Grundrechtecharta verankerten Schutz personenbezogener Daten (Artikel 8) nicht zu vereinbaren. Darüber hinaus weist der Bundesrat darauf hin, dass eine flächendeckende Erfassung und Kontrolle aller Reisenden in der Vergangenheit vom Bundesverfassungsgericht bereits als nicht verhältnismäßig angesehen wurde und davon auszugehen ist, dass das EES einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich nicht standhalten würde.

 

4.      Der Bundesrat bewertet die Erfassung, Speicherung und Weitergabe von biometrischen Daten wie dem Fingerabdruck als einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Privatsphäre der Reisenden. Diese Sichtweise stützt auch die Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 04.12.2008 - 30562/04 und 30566/04), der den Fingerabdruck als personenbezogene Information und somit als schützenswert definiert hat.

 

5.      Artikel 4 des Legislativvorschlags KOM(2013) 95 nennt als eines der Ziele des EES sowie zur Begründung der Einführung des EES die Möglichkeit, sogenannte „Overstayer“ in der EU besser aufspüren und identifizieren zu können, um somit eine Verringerung der Anzahl von „Overstayer“ herbeizuführen. Da aber auch mit den vorgeschlagenen Maßnahmen allein aufgrund der vielfältigen Ein- und Ausreisewege eine lückenlose Erfassung aller Einreise- und Ausreisebewegungen an den Außengrenzen der EU nicht zu erwarten ist, sowie die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zu mehr Behördenkontakten für Drittstaatsangehörige führen, ist nicht zu erkennen, wie die massenhafte Speicherung von personenbezogenen Daten zur effektiven Verringerung der Anzahl von „Overstayer“ beitragen soll. Vielmehr sieht der Bundesrat die Gefahr, dass aufgrund der lückenhaften Erfassung der Ein- und Ausreise in die EU Drittstaatsangehörige unberechtigterweise als „Overstayer“ erfasst und bei erneuter Einreise dementsprechend als „Verdächtige“ behandelt werden. Hinzu kommt, dass beim vorgeschlagenen EES die Beweislast zur Richtigstellung einer unberechtigten Kategorisierung als „Overstayer“ auf Seiten der Reisenden liegt. Es ist nach Auffassung des Bundesrats nicht zu rechtfertigen, dass fehlerhaft kategorisierte Reisende ihre Unschuld erst durch die Freigabe aller ihrer Daten beweisen müssen.

 

6.      Der Bundesrat bewertet das vorgeschlagene EES vor dem Hintergrund des hohen Kostenrahmens als vollkommen unverhältnismäßig hinsichtlich des potenziellen Nutzens für die Verbesserung der Außengrenzenverwaltung im Schengen-Raum.

 

7.      Der Bundesrat weist darauf hin, dass der europäische Gesetzgeber es versäumt hat, im Verordnungsvorschlag auf die Schwierigkeiten bei der Einführung vergleichbarer Systeme in anderen Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika, einzugehen. Berechtigte Befürchtungen der mangelnden Realisierbarkeit des EES aufgrund einschlägiger Erfahrungen in den USA, namentlich die Nichtvolloperabilität des US-amerikanischen Grenzmanagementsystems US-VISIT sowie der Nichtrealisierung des Grenzüberwachungssystem SBINET aufgrund technischer Probleme und explodierender Kosten, werden im Verordnungsvorschlag nicht entkräftet.

8.      Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Zugriff auf die durch das EES erhobenen sensiblen personenbezogenen Daten zu einem späteren Zeitpunkt auch für Strafverfolgungszwecke ermöglicht werden soll. Genannter Datenzugang soll von einem Monitoring abhängen, welches ebenfalls prüft, ob das EES gleicherweise „zur Bekämpfung terroristischer und anderer schwerer Straftaten beitragen könnte […].“ (KOM(2013) 95, Artikel 46 (5)). Die Verwendung der im Rahmen des EES erhobener und gespeicherter personenbezogener Daten geht weit über die eigentliche Zielsetzung einer effektiveren und sichereren Ein- und Ausreise für Drittstaatsangehörige hinaus und stellt eine Zweckentfremdung der erhobenen Daten dar. Aufgrund der Tatsache, dass der Verordnungsentwurf keine Auskunft darüber gibt, welche Behörden zu welchen Bedingungen auf die sensiblen personenbezogenen Daten werden zugreifen können, besteht die Gefahr von schweren zukünftigen Datenschutzverletzungen im Rahmen der Strafverfolgung in der Europäischen Union.

 

9.      Der Bundesrat befürchtet, dass es im Zuge der Einführung des EES zu einer schleichenden Ausweitung der Datenerfassung, -speicherung und -weitergabe auf EU-Bürger kommen kann. Der Bundesrat lehnt die Anwendung auf EU-Bürger entschieden ab.

 

Der Bundesrat möge gemäß §§3 und 5 EUZBLG zum Legislativvorschlag KOM(2013) 97 folgende Stellungnahme abgeben:

 

10.   Der Bundesrat anerkennt das Ziel der Europäischen Kommission, den Ein- und Ausreiseverkehr für Vielreisende an den Außengrenzen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union komfortabler und schneller zu gestalten.

 

11.   Der Bundesrat bezweifelt, dass die von der Europäischen Kommission gewünschte „Entlastung“ bezüglich des aus der Einführung des EES resultierenden erhöhten Aufwands bei der Ein- und Ausreise aus dem Schengen-Raum mittels der Einführung eines Registrierungsprogramms für Reisende (RTP) erreicht werden kann.

 

12.   Der Bundesrat erhebt grundlegende verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich des RTP. Die Erfassung von sensiblen personenbezogenen Daten, beispielsweise Fingerabdrücke und Angaben zur wirtschaftlichen Situation, stellt eine Verletzung des in Deutschland geltenden Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung dar. Darüber hinaus besteht bei der Datenerhebung, -speicherung und -weitergabe die Gefahr schwerwiegender Datenschutzverletzungen in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

 

13.   Der Bundesrat sieht in der im Legislativvorschlag KOM(2013) 97 ausdrücklich präferierte Differenzierung von Drittstaaten nach unterschiedlichen „Risikofaktoren“ im Rahmen des RTP eine menschenunwürdige Stigmatisierung von Reisenden aus Drittstaaten mit einem erhöhten Risikoprofil. Dies steht nach Auffassung des Bundesrats im direkten Widerspruch zum in Artikel 19 (3) des Legislativvorschlags genannten Anspruch der Gleichbehandlung aller Antragssteller und registrierter Reisender. Der Bundesrat weist darauf hin, dass eine Ungleichbehandlung von Antragstellern oder im Rahmen des RTP registrierten Reisenden nicht mit dem in Artikel 21 (1) der EU-Grundrechtecharta verankerten Grundsatz der Nichtdiskriminierung vereinbar ist. Genannter Artikel verbietet die Diskriminierung „[…] wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung […]“.

 

14.   Der Bundesrat befürchtet, dass es im Zuge der Einführung des RTP zu einem entgegengesetzten Effekt des von der Europäischen Kommission intendierten Sicherheitsgewinns kommen kann. Der Bundesrat ist vielmehr der Auffassung, dass durch die Vorabregistrierung im Rahmen des RTP Kriminellen die Möglichkeit gegeben wird, Vor-Ort-Kontrollen zu umgehen und somit einfacher in die Europäische Union ein- bzw. auszureisen.

 

15.   Der Bundesrat befürchtet, dass es im Zuge der Einführung des RTP zu einer schleichenden Ausweitung der Datenerfassung, -speicherung und -weitergabe auf EU-Bürger kommen kann. Der Bundesrat lehnt die Anwendung auf EU-Bürger entschieden ab.

 

 

 

Monika Pieper

Nicolaus Kern

Frank Herrmann

 

und Fraktion