LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN
16. Wahlperiode

 

Drucksache  16/2326

 

18.03.2013

 

 

 

 

Antwort

 

der Landesregierung

auf die Kleine Anfrage 892 vom 5. Februar 2013

des Abgeordneten Frank Herrmann   PIRATEN

Drucksache 16/2063

 

 

 

Minderjährige in Abschiebehaft

 

 

 

Der Minister für Inneres und Kommunales hat die Kleine Anfrage 892 mit Schreiben vom 18. März 2013 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Justizminister beantwortet.

 

 

 

Vorbemerkung der Kleinen Anfrage

 

Die Antworten der Bundesregierung auf zwei große Anfragen (BT-Drucksache 17/7442 und BT-Drucksache 17/7446) zur Situation und Praxis in deutschen Abschiebegefängnissen haben gezeigt, dass sich im Jahre 2010  1.754 Menschen in NRW in Abschiebehaft befanden, darunter auch Jugendliche unter 18 Jahren. Unbegleitete Minderjährige – d. h. ausländische oder staatenlose minderjährige Personen, die ohne Begleitung eines nach dem Gesetz verantwortlichen Erwachsenen nach Deutschland eingereist sind – dürften nach der UN-Kinderrechtskonvention nicht in Abschiebehaft genommen werden.

 

Nach Art. 7 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB) richtet sich die Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach dem Recht des Staates, dem der Betroffene angehört. Nach Art. 24 des EGBGB muss eine Vormundschaft eingerichtet werden, wenn die elterliche Sorge ruht und sich der nach ausländischem Recht Minderjährige im Inland aufhält.

 

 

Vorbemerkung der Landesregierung

 

Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) genießt keinen absoluten Vorrang vor dem deutschen Asyl- und Ausländerrecht. Dies gilt auch nach der Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung zur UN-KRK im Juli 2010.

 

Diese Vorschrift steht damit auch einer Beendigung des Aufenthaltes im Bundesgebiet sowie einer zur Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung erforderlichen Sicherungshaft nicht generell und unter allen Umständen entgegen. Erforderlich ist für jeden Einzelfall, dass eine Abwägung zwischen den Belangen des Betroffenen und den öffentlichen Belangen stattfindet.

 

Zur Konkretisierung der hier einschlägigen bundesgesetzlichen Regelung des § 62 AufenthG hat das damalige Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen über die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum AufenthG hinaus Abschiebungshaftrichtlinien (AHaftRL) erlassen, die allgemeine Standards vorgeben. In diesen AHaftRL wird explizit auf den in Artikel 20 Absatz 3 GG verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit dem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG hingewiesen. Dieses Verfassungsgebot zwingt zu einer Abwägung des öffentlichen Interesses an der Sicherung der Abschiebung mit dem Freiheitsanspruch der Betroffenen. Darüber hinaus werden in den AHaftRL für die Inhaftierung besonders Schutzbedürftiger hohe Maßstäbe angelegt, so auch für Minderjährige.

 

Danach sind vor einem möglichen Haftantrag gegen u. a. Minderjährige bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit insbesondere Fragen des Kindeswohls und des Schutzes der Familie umfassend zu berücksichtigen.

 

In den Fällen, in denen auf eine Abschiebungshaft nicht verzichtet werden kann, muss die zu sichernde Abschiebung mit größtmöglicher Beschleunigung betrieben werden, um die Haftdauer so kurz wie möglich zu halten.

 

Die Inhaftnahme von Minderjährigen und Familien betreffend regeln die AHaftRL konkret, dass – außer bei Straffälligkeit – in nachstehenden Fällen grundsätzlich von einem Antrag auf Abschiebungshaft abgesehen werden soll:

 

       Bei Minderjährigen, wenn

 

      sie eine Schule besuchen, eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle haben oder noch bei ihren Eltern leben oder

      sie entsprechend § 42 Absatz 1 SGB VIII durch ein Jugendamt in Obhut genommen und in einer geeigneten Jugendhilfeeinrichtung untergebracht werden können oder

      ein dem Wohl des Minderjährigen entsprechender Haftplatz nicht zur Verfügung steht;

 

       bei Minderjährigen unter 16 Jahren,

 

       bei Alleinerziehenden mit Kindern unter 14 Jahren.

 

Soweit die Anordnung von Abschiebungshaft gegen Eltern mit einem oder mehreren Kindern unerlässlich ist, darf grundsätzlich nur ein Elternteil in Haft genommen werden.

 

Darüber hinaus soll Sicherungshaft nach § 62 Absatz 4 AufenthG aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zunächst nur für drei Monate, bei Minderjährigen nur für sechs Wochen beantragt werden.

 

Dies vorausgeschickt beantworte ich die Fragen wie folgt:

 

 

1.         In welchen Staaten liegt eine Rechts- und Geschäftsfähigkeit nicht mit Vollendung des 18. Lebensjahres vor?

Bitte nach dem Alter und anderen/weiteren notwendigen Kriterien aufschlüsseln.

 

Die Rechts- und Geschäftsfähigkeit im Herkunftsstaat der Betroffenen ist für die Anordnung von Sicherungshaft ohne Belang. Für die Abschiebungshaft ist allein die Frage von Bedeutung, ob die Betroffenen nach deutschem Recht als minderjährig zu gelten haben. Maßgeblich für den Eintritt der Volljährigkeit ist das BGB.

 

 

2.         Wie viele Personen, die ohne sorgeberechtigte Personen eingereist sind und nach Art. 7 EGBGB nicht rechts- und geschäftsfähig sind, befanden sich in den Jahren 2010, 2011 und 2012 in NRW in Abschiebehaft?

Bitte nach Herkunftsland, Lebensalter, Geschlecht und Haftdauer aufschlüsseln.

 

Wie in der Antwort zu Frage 1 ausgeführt ist für die Anordnung von Sicherungshaft allein von Bedeutung, ob es sich um nach deutschem Recht Minderjährige handelt.

 

Auf Antrag nordrhein-westfälischer Ausländerbehörden wurden im Betrachtungszeitraum drei unbegleitet eingereiste männliche Minderjährige (UM) vorübergehend in Abschiebungsgewahrsam genommen, zwei UM im Jahre 2011 und ein UM im Jahre 2012

 

       Ein 17-jähriger tunesischer Staatsangehöriger wurde 2011 auf Antrag der Ausländerbehörde mit Kenntnis des Jugendamtes für 41 Tage gemeinsam mit seinem volljährigen Cousin inhaftiert und sollte mit diesem zu den Eltern im Heimatland rückgeführt werden. Die Eltern waren entsprechend informiert. Da während der Haftzeit keine Identitätspapiere beschafft werden konnten und eine Verlängerung der Haftzeit unverhältnismäßig erschien, wurde der Betroffene aus der Abschiebungshaft entlassen und der Clearingstelle für Minderjährige in Bielefeld zugeführt.

       Ein weiterer 17-jähriger guineischer Staatsangehöriger wurde 2011 nach einem Aufgriff durch die Bundespolizei auf Antrag der Ausländerbehörde für 12 Tage in der Annahme in Gewahrsam genommen, dass es sich um einen Volljährigen handelt. Der Betroffene sollte im Dublin-Verfahren nach Belgien rücküberstellt werden. Nachdem Zweifel an dessen Volljährigkeit nicht ausgeräumt werden konnten, wurde der Betroffene aus der Abschiebungshaft entlassen, tauchte dann aber unter.

       Ein 16-jähriger afghanischer Staatsangehöriger wurde 2012 nach einem Aufgriff durch die Polizei auf Antrag der Ausländerbehörde mit Kenntnis des Jugendamtes für 42 Tage in Gewahrsam genommen. Der Betroffene sollte im Dublin-Verfahren nach Italien rücküberstellt werden. Das zuständige Verwaltungsgericht setzte auf Antrag des bestellten Vormunds gegen die Entscheidung des für Dublin-Verfahren zuständigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Abschiebungshaft bis zur Entscheidung in der Sache außer Vollzug. Der Minderjährige wurde daraufhin entlassen.

 

 

3.         Bei wie vielen der unter Punkt 2 aufgeführten Personen wurde in den Jahren 2010, 2011 und 2012 eine Vormundschaft eingerichtet?

Bitte nach Herkunftsland, Lebensalter, Geschlecht und Haftdauer aufschlüsseln.

 

Auf die Antwort zu Frage 2 wird verwiesen.

 

Entsprechend den AHaftRL sind die Ausländerbehörden gehalten, im Benehmen mit den zuständigen Jugendämtern abzuklären, ob anstelle der Abschiebungshaft eine Inobhutnahme bzw. Unterbringung in einer Jugendeinrichtung in Betracht kommt. Die Bestellung einer Vormundschaft liegt im Verantwortungsbereich der zuständigen Jugendämter. Auch die JVA Büren unterrichtet bei der Inhaftierung von unbegleiteten Minderjährigen generell das für den Haftort örtlich zuständige Jugendamt in Paderborn.

 

 

4.         Wie viele Personen in Abschiebehaft in NRW haben ein Alter angegeben, nachdem sie nach Art. 7 EGBGB nicht rechts- und geschäftsfähig waren und bei denen die Behörden dennoch davon ausgegangen sind, dass sie rechts- und geschäftsfähig sind?

Bitte in jedem Einzelfall aufführen, was dazu geführt hat, dass dem Betroffenen sein Alter nicht geglaubt wurde.

 

Auf die Antworten zu Fragen 1 und 2 wird verwiesen.

 

Es werden nur die Haftfälle von Minderjährigen erfasst. Statistische Informationen darüber, wie oft Betroffene vorgetragen haben, minderjährig zu sein, und die zuständigen Behörden nach Prüfung und Bewertung zu dem Ergebnis gekommen sind, dass es sich um eine nach deutschem Recht volljährige Person handelt, liegen der Landesregierung nicht vor.

 

 

5.         Gibt es besondere Vorschriften im Bereich der Haftvermeidung und Hafterleichterung für Personen, die nach Art. 7 EGBGB nicht rechts- und geschäftsfähig sind und bei denen die elterliche Sorge ruht? (Wenn ja, wie werden diese Vorschriften in der Praxis umgesetzt?)

 

Auf die Antworten zu Fragen 1 und 2 wird verwiesen.

 

Im Übrigen können Eltern(-teile) mit minderjährigen (aber über 16jährigen) Kindern in Familienzimmern, die in einem vom übrigen Haftbereich getrennten Anstaltsteil eingerichtet sind, untergebracht werden. Dieser Teil der Anstalt ist mit Begegnungsräumen und Kochgelegenheiten ausgestattet. Der Zugang zu allen sonstigen Beschäftigungs-, Freizeit- und Betreuungsangeboten in diesem Teil der Anstalt ist sichergestellt.

 

Für unbegleitete Minderjährige wird darüber hinaus ein individueller Betreuungsplan auf der Basis der Erkenntnisse und Einschätzungen aus dem Zugangsverfahren aufgestellt. Ihnen wird ein Betreuer zugeordnet, der sie täglich aufsucht und während des Haftvollzuges begleitet.

 

Auch wird jedem Minderjährigen vom Beginn der Inhaftierung an ein Sozialbetreuer als „Pate“ zugeordnet. Zu den speziellen Aufgaben dieses Sozialarbeiters gehört es, die dem Kindeswohl am besten entsprechenden Maßnahmen (insbesondere altersgerechte Beschäftigungs-, Freizeit- und Sportmaßnahmen) auszuwählen und dem Betroffenen zugänglich zu machen.

 

Eine Zusammenarbeit dieses Sozialarbeiters mit dem zuständigen Jugendamt, das über entsprechende Inhaftierungen informiert wird, ist sichergestellt. Auch das Jugendamt sucht die Anstalt auf, um sich von der Beachtung des Kindeswohls während der Inhaftierung zu überzeugen.